ra-2 Ludwig StephingerHeinrich CohnAugust DöringAlexius Meinong    
 
ROBERT EISLER
Zur Theorie des Werturteils
[ 1 / 2 ]

Sokrates:





Euthyphron:
Sokrates:

Euthyphron:
Sokrates:

Euthyphron:
Sokrates:
Bei welcherlei Fragen kann eine Meinungsverschiedenheit zu Haß und Zorn führen? Laß uns das untersuchen. Wenn etwa du und ich uneins wären, was für eine Zahl von zweien die größere ist, würden wir uns einer Meinungsverschiedenheit in diesem Punkt wegen erzürnen und einander feind werden? Oder würden wir nicht vielmehr durch Nachzählen bald über eine solche Frage einig werden?
Natürlich würden wir das.
Würden wir nicht auch, wenn wir über ein Größenverhältnis uneins wären, eine Messung vornehmen und so rasch unseren Streit beilegen?
Auch das.
Auch, welcher von zwei Gegenständen der schwerere ist, könnten wir doch, glaube ich, durch Wägen entscheiden?
Warum auch nicht?
Worüber müßten wir also verschiedener Ansicht sein, so daß wir, da wir eine Entscheidung zu treffen nicht vermögen, in Haß und Zorn gerieten? Vielleicht ist dir die Antwort nicht zur Hand, aber gib acht, ich will es dir sagen: Sind es nicht die Fragen, was recht, was unrecht, was gut, was böse, was schön, was häßlich ist?
blindfishPlaton, Euthyphron VIII.

Es braucht nicht erst eigens gezeigt zu werden, daß die Theorie des Werturteils in jeder Hinsicht von der zugrunde gelegten Auffassung des Wertbegriffes abhängt. Es ist daher selbstverständlich, daß wir nach einer so tiefgehenden Umbildung des Wertbegriffs daran gehen müssen, aus den geänderten werttheoretischen Voraussetzungen nunmehr die Konsequenzen auch in dieser Richtung zu ziehen. Eigentümlicherweise weichen die Abänderungen, die durch unsere neue Ableitung und Auffassung des Wertbegriffs sich als notwendig erweisen, nicht wesentlich von jenen ab, die sich bereits aus dem herkömmlichen werttheoretischen Subjektivismus ergeben oder, besser gesagt, bei konsequenter Verfolgung desselben hätten ergeben müssen.

Was wir unter dem herkömmlichen werttheoretischen Subjektivismus verstanden wissen wollen, ist mit wenigen Worten gesagt. Die allererste und primitivste, auf der Basis der engen assoziativen Verknüpfung zwischen Wollen und Fühlen, sowie der psychologischen Charakteristik des Gefühles als Umgebungsbestandteil entstandene Vorstellung vom Wert ist die einer objektiven Eigenschaft der Dinge, um derentwillen dieselben angestrebt werden, (1) d. h. in unserer Terminologie - durch die das subjektive Verhalten (Fühlen und Wollen) eindeutig bestimmt ist.

Im Gegensatz dazu treffen wir in der neueren Willenstheorie eine Anschauung, die zwar mit der früheren das ontologische Moment gemeinsam hat, jedoch das bestimmende Merkmal - den "Wert" - nicht mehr im Objekt, sondern in der subjektiven Erscheinung des betreffenden Wertgefühles erblick und demgemäß die Charakteristik des Wertes als Umgebungsbestandteil, als "fälschliche Objektivierung" bezeichnet.

Diese Anschauung, die nebenbei noch den Vorteil für sich hat, daß sie ziemlich allgemein anerkannt ist, würde eine hinreichende Grundlage für die von uns beabsichtigten Ableitungen betreffend das Werturteil abgeben. Daß wir trotzdem darauf verzichten, von dieser gegebenen Operationsbasis auszugehen und damit auch die Aussicht auf die unmittelbare Zustimmung eines großen Kreises aufgeben, wird den nicht wundern, der vom empiriokritischen Standpunkt aus die Geschichte des Übergangs vom naiven Objektivismus zum herkömmlichen Subjektivismus verfolgt. Ich wenigstens kann mich, wenn ich die Entstehung dieses werttheoretischen Subjektivismus mit der Entwicklung vergleiche, durch die die sinnlichen Qualitäten aus deskriptiven Bestimmtheiten der Umgebung zu "Empfindungen" geworden sind, dem Eindruck einer völligen Analogie der beiden Erscheinungen nicht verschließen. Ich glaube nämlich, daß auch bei der Grundlegung des gegenwärtigen werttheoretischen Subjektivismus nicht jene Erwägungen der obwaltenden Abhängigkeiten, auf denen wir unseren  phänomenalen  Subjektivismus aufgebaut wissen möchten, sondern eine ziemlich primitive Introjektion bestimmend war.

Gesetzt den Fall, es sei ein Wert nicht in der Eigenerfahrung, sondern nur als Aussageinhalt eines Dritten gegeben (Jemand bezeichne z. B. einen Gegenstand als schön, dessen Schönheit ich nicht miterlebe. (2) Was liegt näher, als den als wertvoll bezeichneten Gegenstand, den ich in meiner Umgebung wiederfinde, und den "Wert", den ich in derselben vergebens suche, voneinander zu trennen, den Wert als "subjektiv" in den anderen hineinzuversetzen und seine Aussage als eine "fälschliche Objektivierung" zu bezeichnen.

Daß dieser Vorgang erkenntnistheoretisch unzulässig ist und auf einer Verwechslung der Standpunkte beruth, brauche ich - hic et nun [hier und jetzt - wp] - wohl nicht mehr eigens auseinanderzusetzen. Jedenfalls wird man es uns nicht verdenken, wenn wir es ablehnen, diese sonderbaren Operationen mitzumachen, durch die aus dem farbigen und tönenden Reichtum der phänomenalen Umgebungskomplexe jene rätselhaften "dunklen Klumpen" abgeschieden werden, die der metaphysische Subjektivismus als "Ansich" dem "Schein" mit seiner qualitativ-quantitativen Bestimmtheit entgegengesetzt (3) und wenn wir die relative Betrachtungsweise auf einem einwandfreien Weg durchführend, bloß durch die Erwägungen der obwaltenden Abhängigkeitsverhältnisse zu einem rein phänomenalen Subjektivismus zu gelangen suchen.

Denken wir uns zu diesem Zweck die vielfachen, uns vorliegenden Wertphänomene als eine lange Reihe MILLscher Variationsversuche, angestellt zur Ermittlung der obwaltenden Abhängigkeitsbeziehungen, so ergibt sich zunächst zweifellos eine Abhängigkeit der Wertung von der Beschaffenheit des Wert objekts.  Das eine Objekt wird positiv, das andere negativ, das eine höher, das andere niedriger gewertet - eine Erfahrung, die auch der primitivsten Beobachtung nicht entgehen kann und ihr auch tatsächlich nie entgangen ist. Auf der Basis dieser Erfahrung allein ist man natürlich berechtigt, ein Gemeinsames an diesen Objekten anzunehmen, die Ursache der Wertung darin zu suchen und demgemäß diese Eigenschaft der betreffenden Objekte als "Wert" zu bezeichnen.

Die zweite werttheoretische Fundamentalerfahrung, daß nämlich eine Variation des Wertsubjekts die Wertung beeinflußt, d. h. präziser ausgedrückt, daß gleiche Objekte von verschiedenen Subjekten verschieden bewertet werden, war nicht so leicht zu gewinnen. Man muß bedenken, daß während die ersterwähnte Abhängigkeit in der Eigenerfahrung gegeben war, die Voraussetzung der letzteren in der Heranziehung fremder Aussagen zum Vergleich untereinander bzw. mit der Eigenerfahrung gelegen war. Dazu kommt noch der Umstand, daß die individuelle Differenzierung der wertenden Subjekte
    a) mit der zeitlichen und räumlichen Distanz der verglichenen Wertphänomene abnimmt,

    b) sich überhaupt desto mehr verringer, je weiter wir in der Zeit zurückgehen.
Es muß daher eine Zeit gegeben haben, wo die Wertungsdifferenzen zeitlich und räumlich nahestehender Individuen (und andere wird man anfangs kaum verglichen haben), noch zu gering waren, um sich auffällig bemerkbar zu machen.

So kam es, daß die auf der ersten Gruppe von Erfahrungen allein aufgebaute Werttheorie, zur Zeit, als endlich die Ergänzung der Erfahrung, die subjektive Abhängigkeit betreffend, sich geltend zu machen begann, vor der modifizierten Anschauung rein durch ihre zeitliche Stellung viel voraus hatte. Durch die lange Geschichte, die der objektivistische Wertbegriff damals schon hinter sich hatte, war er nach allen Seiten hin mit der herrschenden Lebensanschauung so innig verknüpft, daß eine kritische Auffassung als Freigeisterei und mutwillige Skepsis, ja, der objektivistische Wertbegriff spezielle in der hergebrachten Ethik eine grundlegende Bedeutung besaß, sogar geradezu als unmoralisch empfunden worden wäre.

Haben wir so die Gründe begriffen, die man hatte, sich gegen eine subjektivistische Umbildung des Wertbegriffs ablehnend zu verhalten, so handelt es sich nun noch um die Erkenntnis der Mittel und Wege, durch die man die alte Anschauung den neuen Erfahrungen gegenüber verteidigte.

Wenden wir zu diesem Zweck unsere Aufmerksamkeit der Theorie des Werturteils zu, wie sie sich auf dem Boden objektivistischer Anschauung herausgebildet hatte.

Nachdem aus dem, als Umgebungsbestandteil charakterisierten Gefühlston eine objektive Eigenschaft des Objekts geworden war, mußte sich folgerichtig nach dem bekannten Modus das Wertbewußtsein in ähnlicher Weise als "Wertgefühl" vom "Wert ansich" abheben wie beispielsweise die Farb-"Empfindung" von der "Farbe ansich".

Die nächste ebenfalls wohlbekannte und typische Erscheinung in diesem Verlauf ist dann die, daß der Wert zur Ursache des Wertgefühls wird. (z. B. Farbe und Farbempfindung)

Demnach erscheint dann das Werturteil als ein Schluß vom "Wertgefühl" auch bei gleichbleibendem Objekt (also auch ohne Änderung irgendeiner "objektiven Eigenschaft", als die ja der "Wert" angesehen wird), variabel ist, wird dann folgendermaßen interpretiert: "Zwei Fälle sind denkbar: entweder Wertgefühl und Wert befinden sich in der ursprünglich vorhandenen Übereinstimmung, oder sie geraten - infolge gewisser störender Ursachen (4) - untereinander in Widerspruch. Im ersten Fall wird der Schluß vom Wertgefühl auf den Wert richtig und das Werturteil ein wahres, im zweiten Fall der Schluß, bzw. das Werturteil ein falsches sein. (5)

Die ganze Unzulänglichkeit dieser Auffassung tritt im speziellen Fall eines Bewertungsstreites zutage. Nur solange kann sich der Glaube an sie erhalten, als das Wertgefühl im Verhältnis zum Wert nicht als unabhängig variabel erscheint. Von diesem Moment an vernichtet die Zerspaltung einer einzigen Tatsache in "Wert" und "Wertgefühl" gerade jene objektivistische Bedeutung des Wertbegriffs, die durch diese Annahme gegenüber den als "Schein" charakterisierten Wertungsdifferenzen gerechtfertigt werden sollte. Denn erscheint einmal das subjektive Verhalten (wozu ja das Wertgefühl gehört) als unabhängig vom objektiven Wert variabel, dann verliert entweder der objektive Wert jedwede Bedeutung für das Individuelle Leben und seine Erklärung, verfehlt also vollständig den eigentlichen Zweck seiner Konzeption, oder aber die Determination des Wertobjektes wird zu einer Teilursache neben anderen (subjektiven) Komplementärbedingungen und der objektivistische Wertbegriff ist aus sich selbst heraus überwunden.

Aber selbst abgesehen von diesen inneren Widersprüchen, muß der Objektivismus notwendig an folgender Klippe scheitern: Da der objektive Wert - angenommen es gibt eine solche vom Wertgefühl unabhängige Urvariable - unserer Erkenntnis doch jedenfalls nur auf dem Umweg über das Wertgefühl zugänglich ist, kann in einem Streitfall in keiner Weise festgestellt werden, ob "Wert" und "Wertgefühl" übereinstimmen oder nicht, wodurch der "objektive Wert" zu einem absolut metempirischen [überempirisch - wp] und unerkennbaren Ansich geworden ist.

Die gebräuchlichen Mittel zur Verschleierung dieser Sachlage und zu einer scheinbaren Entscheidung des Verwertungsstreites sind:

a)  Die Aufstellung apriorischer Obersätze  (allgemeiner Werturteile) nach dem Schema: "Wertvoll (schön, gut) ist, was die Eigenschaften  a, b, c, d ... usw.  hat. Das fragliche Objekt hat diese Eigenschaften (bzw. nicht): also ist es (bzw. nicht) wertvoll."

In dieser Schlußfolgerung liegt entweder eine petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] oder aber sie liefert ein bloß nominales Subsumptionsurteil ohne jede inhaltliche Bedeutung: Eine petitio principii liegt vor, so lange "wertvoll" (schön, gut, usw.) die Bedeutung "für unser subjektives Verhalten in einem gewissen Sinne (d. h. durch Erregung von Lust und Unlust) bedeutungsvoll" behält. Denn dann heißt der Obersatz: "Alles, was  a, b, c, ... usw.  ist, erregt Lust (Begehren)", was doch erst zu beweisen ist und speziell mit der Tatsache des Bewertungsstreites, die die Veranlassung zur Aufstellung jener apriorischen Obersätze gegeben hat, in striktem Widerspruch steht. Oder aber es wird jene "notwendige Verknüpfung" mit dem subjektiven Verhalten aus dem Inhalt von "wertvoll" eliminiert (6), dann enthält der mit so großem Apparat produzierte Obersatz nichts weiter als eine zusammenfassende nominale Bezeichnung für die Eigenschaften  a, b, c, d ... usw.  Wenn z. B. Schön-Sein nicht gleich Gefallen-Müssen, in der kunsthistorischen Entwicklung Vorgezogen-Werden etc., dann kann mir die Entscheidung des Problems, ob ein bestimmtes Objekt unter den Begriff  schön  fällt oder nicht, so gleichgültig sein, wie die analoge Frage, ob man das betreffende Objekt mit "Cuboa" oder sonst eine KNUT-HAMSUNschen Phantasiebezeichnung benennen dürfe oder nicht.

Was den Schein einer Apriorität dieser werttheoretischen Obersätze anlangt, so wird derselbe dadurch hervorgebracht, daß die betreffenden Kriterien (z. B. Zweckmäßigkeit, Einheit, Harmonie etc.) selbst in versteckter Weise einen Wertbegriff enthalten. Der Schein einer Entscheidung des Bewertungsstreites dagegen entsteht dadurch, daß das offenbar unrichtige und unbeweisbare "angestrebt werden müssen (nämlich mit Naturnotwendigkeit)" in den betreffenden Obersätzen durch ein "angestrebt werden sollen" ersetzt wird. Man vergißt dabei, daß ein solches Sollen, wenn es nicht eine durch gewisse Machtverhältnisse dynamisch aufrechterhaltene Verbindlichkeit bezeichnet (wie z. B. in den Normen: du sollst nicht stehlen, morden usw.), ein leeres Wort ohne Inhalt ist.

b) Die zweite Methode ist  die der Schichtung von Werturteilen.  Beispiel: Von den widersprechenden Werturteilen, die von  A  und  B  über dasselbe Objekt abgegeben werden, ist das eine richtig, das andere falsch, weil  A  einen guten (gebildeten, feinen, gesunden, hohen),  B  einen schlechten (ungebildeten, rohen, kranken, groben, perversen) "Geschmack" hat. Es ist klar, daß auf diese Weise die Evidenz der zu stützenden Urteile nicht nur nicht erhöht wird, sondern sich im Gegenteil bei jeder weiteren Schichtung verringert, da jedes neue Werturteil selbst wieder zu einem Bewertungsstreit führen muß. Einen scheinbar festeren Rückhalt erhält diese Methode dann durch eine Verbindung mit der ersterwähnten, indem man z. B. für den "guten Geschmack" objektive Kriterien aufsucht; dadurch wird dann zwar der regressus in infinitum abgeschnitten, dafür aber die Methode mit allen Schwächen der früheren beschwert.

Spezielle, hierhergehörige Fälle sind außer dem Argument vom "guten" und "schlechten" Geschmack, noch das vom "gebildeten" (hohen, feinen, gewählten) und vom "ungebildeten" (rohen, groben, niedrigen) sowie nicht zuletzt das vom "gesunden" und "kranken Geschmack. Das Argument vom gebildeten Geschmack, das von den angeführten die größte Bedeutung besitzt, ist - sobald der "gebildete" Geschmack nicht in beneidenswerter Naivität mit dem Geschmack der "Gebildeten" überhaupt verwechselt wird - in gewissem Sinne noch ganz spezielle auf der Annahme aufgebaut, der Bewertungsstreit könne durch apriorische Obersätze entschieden werden. Denn nur unter dieser Voraussetzung wird der theoretisch gebildete "Kenner", dem die apriorischen Obersätze bekannt und geläufig sind, ein "richtigeres" Urteil fällen. Was die Anwendung der Begriffe "krank" und "gesund" in diesem Zusammenhang anlangt, so ermöglichen sie dadurch, daß die wesentlich zum Inhalt dieser Vorstellungen gehörigen Werturteile (7) unkritisch in einem plump objektivistischen Sinn aufgefaßt werden, eine scheinbare Entscheidung des Bewertungsstreites - ein Verfahren, mit dem speziell in jüngster Zeit ein ganz ungeheuerlicher Mißbrauch getrieben worden ist. (8) In demselben Sinn wie "gesund" und "krank" werden auch gewisse evolutionistische Begriffe oder besser gesagt, Schlagworte mißbraucht.

Zur Kritik dieser Erschleichungen bemerke ich folgendes: Zum Inhalt der Begriffe "gesund" und "krank" gehören gerade so wie bei "schön und gut", "nützlich" etc.  wesentlich  gewisse Werturteile zum Unterschied von Begriffen, wie z. B. "wahr" und "falsch", mit denen zwar Werturteile gewöhnlich mitgedacht werden, aus deren Inhalt dieselben jedoch ganz wohl ausgeschieden werden können. (9) Es ist daher unmöglich, die Begriffe "gesund und krank" durch deskriptive Merkmale des Objekts allein restlos zu umschreiben und alle derartigen objektiven Definitionen, die allerdings einerseits zu praktischen Zwecken unentbehrlich sind, andererseits diesen Anforderungen näherungsweise genügen (vgl. z. B. die Abgrenzung der pathologischen von der deskriptiven Anatomie) (10), sind eben nicht mehr als rein konventionelle Begrenzungen. Ihre theoretische Unzulänglichkeit zur Entscheidung kritischer Fälle kann in allen einigermaßen komplizierten Sachlagen beobachtet werden (vgl. z. B. den Begriff der Geisteskrankheit und seine verschiedenen Definitionen; auch auf das sonderbare Spiel, das mit der Gleichsetzung der Begriffe "krank" = "abnormal" = "vom Durchschnitt abweichend" getrieben wird, sei noch an dieser Stelle hingewiesen (11). - Solange aber eine objektiv gültige Definition dieser Begriffe aussteht, solange wird natürlich auch das Urteil über "gesund" und "krank" nicht weniger zu einem Bewertungsstreit führen, wie das Urteil über "gut" und "schlecht", "schön" und "häßlich" etc. (12) Bemerkenswert ist endlich die geradezu lächerlich dumme Verwendung des Begriffes "pervers". Wenn einer z. B. das "Häßliche" "schön" findet (d. h., was ich häßlich finde), dann hat er eben einen "perversen" Geschmack und seine Bewertungen kommen, gegen die "normalen" gehalten, nicht in Betracht.

Derselben Kritik verfallen die Versuche, durch die Einführung von evolutionistischen Schlagworten wie Verfall, Entartung, Dekadenz etc., widersprechende Werturteile zu widerlegen. In den meisten Fällen ist eine solche Kritik weiter gar nichts als eine zeitgemäße Einkleidung und Verkleidung einer Bewertung, die man nackt und geradezu auszusprechen für unzweckmäßig befindet; allein selbst zugegeben, es sei der überaus schwierige Nachweis gelungen, daß eine bestimmte Weise zu fühlen und zu wollen das Resultat einer retrograden [rückläufigen - wp] Entwicklung ist, so erübrigt immer noch der Nachweis, daß eine retrograde Entwicklung, d. h. eine solche, die der allgemeinen Entwicklungsrichtung zuwiderläuft, einem Übergang von einer besseren zu einer schlechteren Form gleichkommt, d. h., daß umgekehrt die allgemeine Entwicklung eine solche von weniger gutem zum besseren darstellt, was offenbar selbst wieder Gegenstand eines Bewertungsstreites werden kann und werden muß. Es handelt sich hier um denselben Mißbrauch, der in der Geschichtsdarstellung mit den Begriffen "Fortschritt" und "Rückschritt" getrieben wird, indem in den objektiv gültigen, rein historischen und wertfreien Inhalt derselben Bewertungen hineininterpretiert werden. Die Restauration der Bourbonen bedeutet historisch, d. h. im Sinne eines Zurückgreifens auf eine zeitlich ältere Form, zweifellos einen Rückschritt; ob sie aber im bewertenden Sinne einen Rückschritt oder einen Fortschritt bedeutet, darüber gibt das historische Verhältnis, das im Begriff "Rückschritt" im obigen Sinne zum Ausdruck kommt, keinerlei Aufschluß, der geeignet wäre, den Bewertungsstreit zwischen republikanisch und monarchisch Gesinnten zur Entscheidung zu bringen.

Ein bemerkenswerter Fall verdeckter Schichtung von Werturteilen bleibt uns noch zu erledigen: der Rekurs auf die Autorität. Ein ausgezeichnetes Beispiel bietet uns PLATO in seinem Dialog  Euthyphron,  dem auch das dieser Studie vorangestellte Motto entnommen ist. EUTHYPHRON hat gegen seinen eigenen Vater eine peinliche Anklage eingebracht, eine Handlungsweise, die von SOKRATES mißbilligt, von EUTHYPHRON jedoch als  eysebes  (d. h. vom religiös-sittlichen Standpunkt aus gerechtfertigt) bezeichnet wird. Diesen Bewertungsstreit sucht nun EUTHYPHRON, der mit feinen Zügen als Vertreter einer dogmatisch-objektivistischen Weltanschauung gezeichnet ist, dadurch zu entscheiden, daß er sich auf den Götterwillen, der sich mit dem seinen Übereinstimmung befinde, beruft. SOKRATES aber ist keineswegs geschlagen. Es gibt ja, sagt er, eine Mehrheit von Gottheiten und bekanntlich sind diese untereinander keineswegs einig. Wenn es aber, fährt er fort, Streitigkeiten unter ihnen gibt, dann müssen es Bewertungsstreitigkeiten sein, denn über alle anderen Streitfragen müssen sie längst wieder einig geworden sein.

Mit diesen Worten spaltet er den bisher ungeschiedenen Komplex der Götter in eine Mehrheit von Individuen und zeigt so, daß mit diesem Rekurs das Problem des Bewertungsstreites nicht gelöst, sondern nur um eine Instanz verschoben ist.

Auf der späteren, monotheistischen Entwicklungsstufe animistischer Weltanschauung verlor natürlich das Argument des SOKRATES seine Pointe, so daß sich derartige Beziehungen zwischen dem objektiven Wert und der Gottesvorstellung mit großer Zähigkeit behaupteten, um dann mit der fortschreitenden Rückbildung des Animismus allmählich ihre Bedeutung zu verlieren. Es dürfte genügen, an dieser Stelle auf KANTs Ethik und die Behandlung der Ästhetik durch SCHELLING und viele andere hinzuweisen.

Daß das geschilderte Verfahren einer Schichtung von Werturteilen gleichzuachten ist, wird wohl nicht bestritten werden. Der Bewertungsstreit wird dadurch entschieden, daß beide Parteien die Wertungen der Gottheit über ihre eigenen stellen. Wirkliche Bedeutung hat dieses Phänomen nur auf ethischem Gebiet durch die enge historische Verknüpfung mit dem religiösen Leben gewonnen. Die Objektivisten haben es zu bedauern, daß ästhetische Normen z. B. niemals offenbart worden sind.

Es bleiben uns noch die modernen Formen, die den theologischen Autoritätsglauben abgelöst haben, zu besprechen. Und zwar kommen da als Autoritäten speziell im ästhetischen Bewertungsstreit in Betracht:
    a) der Ästhetiker,
    b) der Künstler,
    c) die Majorität.
Wir beginnen mit dem Ästhetiker, dem "Kenner", "Kunstrichter" etc. Seine Autorität ist und war natürlich von der Annahme abhängig, daß die ästhetischen "Normen" als apriorische Obersätze der Beurteilung geeignet sind, den Bewertungsstreit zu entscheiden und daß daher die Kenntnis dieser Obersätze den Kenner in die Lage setze, "richtiger" zu urteilen, als der wechselnde, unzuverlässige individuelle Geschmack. Alles, was weiter oben gegen das Argument vom "gebildeten" Geschmack vorgebracht worden ist, gilt natürlich im vollen Umfang auch für diesen, eigentlich nur in der Form verschiedenen Fall von Wertschichtung.

Die Ersetzung der Autorität des Kenners durch die des Künstlers (13) ist ein erfreuliches Zeichen der Überwindung des Intellektualismus durch eine reifere Kultur. Nichtsdestoweniger muß auch hier der Einwand des SOKRATES berücksichtigt werden: gibt es doch mehrere Götter und sie streiten ja untereinander um "schön" und "häßlich".

Was endlich die Autorität der Mehrheit anlangt, so kann natürlich das Moment der Majorität zwar bei einer dynamischen, nicht aber iner logischen Entscheidung eines Bewertungsstreits in Betracht kommen. Eine eingehendere Betrachtung erfordert, vom logischen Standpunkt, nur der von FECHNER in seiner Experimental-Ästhetik (14) unternommene Versuch, die Mehrheitsentscheidung in strittigen Fällen, gestützt auf folgende Überlegung, durchzuführen. Wenn nämlich - dies ist der Grundgedanke seiner Experimente - das Wertgefühl einerseits von dem zu untersuchenden Wert, andererseits von anderen zufälligen und wechselnden Umständen bestimmt wird, so ist anzunehmen, daß sich bei einer Summation einer großen Anzahl von Fällen, die "zufälligen Mitbestimmungen" gegenseitig aufheben und der gesuchte Wert rein zutage tritt. Zur Untersuchung dieser Annahme dürfte uns folgende Analogie behilflich sein.

Wenn eine Anzahl von Schüssen auf eine Scheibe abgegeben wird, so ist offenbar die Richtung der Geschosse einerseits von der Lage des Ziels, andererseits von einer ziemlichen Anzahl wechselnder Nebenumstände bestimmt. Die Schußlöcher werden sich demnach in einer bestimmten Weise um das Ziel scharen.

Gesetzt nun, auf einer Wand befinde sich eine Scheibe aufgezeichnet, auf die eine große Anzahl von Schüssen abgefeuert wurde. Der Regen haben nun zwar Zentrum und Scheibenringe weggewaschen, die Schußlöcher seien jedoch noch deutlich zu erkennen. In diesem Fall wird es, ganz so wie bei den FECHNERschen Reihen, möglich sein, aus der Scharung der Schußlöcher (etwa nach dem GAUSSschen Gesetz der zufälligen Abweichungen oder sonstwie) einen Schluß auf die Lage des unbekannten Scheibenzentrums zu ziehen. Gesetzt nun, auf unserer Wand wären zwei oder drei verschiedene Scheiben gezeichnet gewesen, auf die abwechselnd oder partienweise geschossen wurde. Denken wir uns ferner einen Beobachter, der von der Annahme ausgeht, es sei wie früher nur eine Scheibe vorhanden gewesen, so wird derselbe - vorausgesetzt, daß die Scharungsverhältnisse den wahren Sachverhalt nicht von vornherein erraten lassen, d. h. wenn z. B. die Scheiben nahe beisammen waren oder die Schüsse weniger zahlreich und ziemlich unregelmäßig abgegeben wurden - bei der Anwendung der früheren Methode, zum offenbaren Fehlschluß kommen, die Scheibe sei ungefähr im Zentrum jenes Kreises gezeichnet gewesen, den wir uns durch die  wahren  Zielpunkte gelegt denken können. Aus den Scharungsverhältnissen von Schüssen aber, die kein gemeinschaftliches Ziel hatten, ein solches zu bestimmen, ist natürlich sinnlos.

Ebenso hat das FECHNERsche Verfahren nur dann Sinn, wenn man Grund zu der Annahme hat, daß in einer Variationsreihe ein Punkt ein allgemein gültiges Wertmaximum darstellt, d. h. aber: das Verfahren steht und fällt mit dem werttheoretischen Objektivismus.

Nimmt man dagegen im subjektivistischen Sinn an, daß jeder Versuchsperson ein anderes gelegenes Maximum entspricht, dann hat es gar keinen Sinn, aus diesen Reaktionen einen mittleren, intersubjektiven Wert zu bestimmen.

Die Darlegung der Abänderungen, durch die das FECHNERsche Verfahren dem werttheoretischen Subjektivismus angepaßt werden könnte, bleibt einer spezielleren Untersuchung vorbehalten.

c) Der dritte Typus der Widerlegung eines widersprechenden Werturteils ist der Vorwurf der Unaufrichtigkeit. Das "unwahre" Werturteil wird in diesem Fall nicht als ein unrichtiger, aber doch im guten Glauben vollzogener Schluß vom "Wertgefühl" auf den "Wert", sondern als eine unrichtige, in der Absicht zu täuschen, zu verblüffen etc. abgelegte Aussage über Wertgefühl und Wert aufgefaßt. (Wie oft passiert es einem, wenn man einem Bekannten eine neue Erwerbung zeigt, daß man statt des erwarteten Lobes zu hören bekommt: "Es ist unmöglich, daß ihnen das gefällt, das wollen Sie mir nur einreden.") Dieser Einwand wird auch gegen Kunstwerke häufig in der Form vorgebracht, daß man behauptet, das betreffende Werk habe auch seinem Autor nicht gefallen und sei nur "auf bluff", "pour epater le bourgeois" [als Bürgerschreck - wp] etc. geschaffen worden. Wenn nun auch zugegeben werden muß, daß ein solches Vorgehen ansich möglich, ja sogar menschlich ganz wahrscheinlich ist, so wird man doch in dieser Hinsicht durch die Überlegung, daß es kein Mittel gibt, eines anderen Fühlen zu kontrollieren als eben seine Aussagen und daß auch einem BÖCKLIN, KLINGER, WAGNER, BEETHOVEN etc. solche Anschuldigungen nicht erspart geblieben sind, zur äußersten Vorsicht aufgefordert.
LITERATUR Robert Eisler, Zur Theorie des Werturteils, Studien zur Werttheorie, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Vgl. THOMAS von AQUINO "Appetitur aliquid, quia bonum est." [Etwas haben wollen, weil es gut ist. - wp]
    2) Daß dieser Fall, der uns im folgenden eingehend beschäftigen wird, überhaupt vorkommt, wird uns hoffentlich an dieser Stelle ohne Begründung zugegeben.
    3) Vgl. MACH, Festrede. FECHNER, Tag- und Nachtansicht. AVENARIUS, Weltbegriff.
    4) "Zufälliger Mitbestimmung" (FECHNER)
    5) In ganz analoger Weise entsteht bekanntlich aus der Verdoppelung von Farbe und Farbempfindung der Begriff der "Selbsttäuschung" in der Weise, daß zunächst die Farbempfindung als "Wirkung" der "Farbe" erscheint, wozu dann die Beobachtung hinzutritt, daß "dasselbe Objekt" unter gewissen Voraussetzungen verschiedene "Farbempfindungen" bewirken kann. Indem man nun die Empfindungen als "Zeichen" für "objektive Eigenschaften" (HELMHOLTZ) und die "Wahrnehmung" demgemäß als "Sinnesurteil" betrachtet, gelangt man dazu, die Begriffe "wahr" und "falsch" in diesem Zusammenhang zur Anwendung zu bringen. Zur Kritik vgl. HERING, MACH, AVENARIUS a. a. O.
    6) Vgl. EDUARD HANSLICK, Das Musikalisch-Schöne, Seite 6: "Das Schöne ist und bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt ..."
    7) Vgl. SIGWART, Kleinere Schriften II, Seite 50f, Der Kampf gegen den Zweck. WUNDT, Logik II.
    8) Vgl. TOLSTOI, Gegen die moderne Kunst. NORDAU, Entartung.
    9) Vgl. NIETZSCHE, Jenseits von Gut und Böse. 1. Über das Problem vom Wert der Wahrheit.
    10) Vgl. VIRCHOW, Zellularpathologie
    11) QUETELET, L'anthropométrie
    12) Vgl. NIETZSCHE, David Strauß als Bekenner und Schriftsteller. "Eben diese Schwachheit hatte sonst einen schöneren Namen; es war die berühmte  Gesundheit  der Bildungsphilister."
    13) MAX LIEBERMANN, Vorwort zum ersten Katalog der Berliner Sezession zitiert (angeblich aus dem heiligen AUGUSTINUS, jedoch sehr wenig dem Geist des Kirchenvaters entsprechend): "Schön ist, was die großen Künstler geschaffen haben."
    14) GUSTAV THEODOR FECHNER, Verhandlungen der sächsischen Gesellschaft, Bd. 9 und Vorschule der Ästhetik, 2. Teil