p-4cr-2p-4EbbinghausMeinongHochstetter-PreyerF. E. O. Schultze    
 
WILHELM DILTHEY
Ideen über eine beschreibende
und zergliedernde Psychologie


"Nur Hypothesen besitzen wir über die verursachenden Vorgänge, durch welche der erworbene, seelische Zusammenhang beständig unsere bewußten Prozesse des Schließens und Wollens so mächtig und rätselhaft beeinflußt. Hypothesen, überall nur Hypothesen! Und zwar nicht als untergeordnete Bestandteile, welche einzeln dem wissenschaftlichen Gedankengang eingeordnet sind. Solche sind ja unvermeidlich. Vielmehr Hypothesen, welche als Elemente der psychologischen Kausalerklärung die Ableitung aller seelischen Erscheinungen ermöglichen und sich an ihnen bewähren sollen."

"Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf also keiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen der seelischen Tatsachen herzustellen."

"Die Grundbegriffe der Vernunftkritik Kants gehören durchweg einer bestimmten psychologischen Schule an. Die klassifizierende Vermögenslehre der Zeit Kants hatte die harten Sonderungen, das trennende Fächerwerk in seiner Vernunftkritik zur Folge. Ich mache dies deutlich an seinen Sonderungen von  Anschauen und  Denken sowie von  Stoff und  Form des Erkennens. Beide Sonderungen, so hart wie sie bei Kant dastehen, zerreissen einen lebendigen Zusammenhang."

"Einer vollendeten, durchgeführten Psychologie bedarf die Erkenntnistheorie nicht, aber alle durchgeführte Psychologie ist doch nur die wissenschaftliche Vollendung dessen, was auch den Untergrund der Erkenntnistheorie bildet. Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einem bestimmten Ziel hin bewegend. In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund des seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage: Allgemeingültigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt."

Erstes Kapitel
Die Aufgabe einer psychologischen
Grundlegung der Geisteswissenschaften

Die erklärende Psychologie, welche gegenwärtig ein so großes Maß von Arbeit und Interesse in Anspruch nimmt, stellt einen Kausalzusammenhang auf, welcher alle Erscheinungen des Seelenlebens begreiflich zu machen beansprucht. Sie will die Konstitution der seelischen Welt nach ihren Bestandteilen, Kräften und Gesetzen genau so erklären, wie die Physik und Chemie die der Körperwelt erklärt. Besonders klare Repräsentanten dieser erklärenden Psychologie sind die Assoziationspsychologen, HERBART; SPENCER, TAINE, die verschiedenen Formen von Materialismus. Der Unterschied zwischen erklärenden und beschreibenden Wissenschaften, den wir hier zu Grunde legen, entspricht dem Sprachgebrauch. Unter einer erklärenden Wissenschaft ist jede Unterordnung eines Erscheinungsgebietes unter einen Kausalzusammenhang mittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elemnten (d. h. Bestandteilen des Zusammenhangs) zu verstehen. Dieser Begriff bezeichnet das Ideal einer solchen Wissenschaft, wie es sich insbesondere durch die Entwicklung der atomistischen Physik gebildet hat. Die erklärende Psychologie will also die Erscheinungen des Seelenlebens einem Kausalzusammenhang mittels einer begrenzten Zahl von eindeutig bestimmten Elementen unterordnen. Ein Gedanke von außerordentlicher Kühnheit, welcher in sich die Möglichkeit einer unermeßlichen Entwicklung der Geisteswissenschaften zu einem den Naturwissenschaften entsprechenden strengen System der Kausalerkenntnis tragen würde. Wenn jede Seelenlehre ursächliche Verhältnisse im Seelenleben zu Bewußtsein bringen will, so ist das unterscheidende Merkmal der erklärenden Psychologie darin gelegen, daß sie aus einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Elemente eine ganz vollständige und durchsichtige Erkenntnis der seelischen Erscheinungen herbeizuführen überzeugt ist. Sie würde mit dem Namen der konstruktiven Psychologie noch schärfer bezeichnet werden. Zugleich würde dieser Name den großen historischen Zusammenhang, in welchem sie steht, herausheben.

Die erklärende Psyschologie kann ihr Ziel nur durch eine Verbindung von Hypothesen erreichen. Der Begriff einer Hypothese kann verschieden gefaßt werden. Jeder einen Erfahrungsbegriff durch Induktion ergänzende Schluß darf zunächst als eine Hypothese bezeichnet werden. Der in einem solchen Schluß enthaltene Schlußsatz enthält eine Erwartung, welche sich über das Gegebene hinaus auch auf das Nichtgegebene erstreckt. Solche ergänzende Schlüsse sind in jeder Art von psychologischer Darstellung selbstverständlich enthalten. Ich kann nicht einmal eine Erinnerung auf einen früheren Eindruck ohne einen solchen Schluß zurückführen. Es wäre also töricht, aus der Psychologie hypothetische Bestandteile ausschließen zu wollen. Es wäre unbillig, der erklärenden Psychologie aus der Benutzung solcher Bestandteile einen Vorwurf machen zu wollen, da die beschreibende sie ebensowenig würde entbehren können. In den Naturwissenschaften hat sich nun aber der Begriff der Hypothese in einem bestimmteren Sinne aufgrund der dem Naturerkennen gegebenen Bedingungen ausgebildet. Wie in den Sinnen nur Koexistenz und Sukzession ohne ursächlichen Zusammenhang dieses zugleich oder nacheinander Bestehenden gegeben ist, entsteht Kausalzusammenhang in unserem Naturauffassen nur durch Ergänzung. So ist die Hypothese das notwendige Hilfsmittel der fortschreitenden Naturerkenntnis. Stellen sich in der Regel mehrere Hypothesen als gleich möglich dar, so ist die Aufgabe, mittels der Entwicklung dessen, was aus ihnen folgt und der Vergleichung desselben mit den Tatsachen Eine zu erproben und die anderen auszuschließen. Es ist die Stärke der Naturwissenschaften, daß sie in Mathematik und Experiment die Hilfsmittel haben, diesem Verfahren den höchsten Grad von Genauigkeit und Sicherheit zu geben. Das größte und am meisten belehrende Beispiel dafür, wie eine Hypothese so in den gesicherten Besitzstand der Wissenschaft übergeht, bildet die kopernikanische Hypothese, daß sich die Erde in 24 Stunden (minus 4 Minuten) um ihre eigene Achse dreht und zugleich eine fortschreitende Bewegung um die Sonne in 365 ¼ Sonnentagen besitzt, in ihrer fortschreitenden Entwicklung und Begründung durch KEPLER, GALILEI, NEWTON usw. zu einer keinem Zweifel mehr unterworfenen Theorie. Ein anderes berühmtes Beispiel der Zunahme von Wahrscheinlichkeit einer Hypothese bis zu dem Punkt, daß andere Möglichkeiten nicht mehr berücksichtigt zu werden brauchen, bildet die Erklärung des Lichtes durch die Undulationshypothese im Gegensatz zur Emanationshypothese. Bei welchem Punkt die einer naturwissenschaftlichen Theorie zugrunde liegende Hypothese durch die Verbindung mit der gesamten Naturerkenntnis und durch die Erprobung der Konsequenzen an den Tatsachen einen solchen Wahrscheinlichkeitsgrad erreicht, daß der Name  Hypothese  für sie aufgegeben werden kann, das ist natürlich eine müßige und zugleich unlösbare Frage. Es gibt zunächst ein sehr einfaches Merkmal, durch welches ich innerhalb des weiten Gebietes von auf Schlüsse gegründeten Sätzen Hypothesen unterscheide. Wo ein Schluß zwar eine Erscheinung oder einen Kreis von solchen in einen für sie ausreichenden Zusammenhang zu bringen vermag, welcher mit allen sonst bekannten Tatsachen und allgemeingültigen Theorien in Übereinstimmung ist, aber nicht andere Möglichkeiten der Erklärung ausschließen kann, da liegt sicher eine Hypothese vor. Niemals kann sich dieses Merkmal finden, ohne daß ein solcher Satz den Charakter einer Hypothese hätte. Aber auch wo es fehlt, wo entgegenstehende Hypothese nie ausgebildet wurden oder sich nicht bewährten, bleibt die Frage offen, ob ein auf induktive Schlüsse gegründeter Satz nicht dennoch den Charakter einer Hypothese hat. Besitzen wir doch schließlich kein absolutes Merkmal, durch welches wir unter allen Umständen naturwissenschaftliche Sätze, welche für alle Zeiten ihre definitive Formulierung gefunden haben, von solchen unterscheiden können, welche den Zusammenhang der Erscheinungen nur für die jetzige Lage unseres Wissens von diesen Erscheinungen angemessen ausdrücken. Immer bleibt zwischen dem höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit, welchen eine induktiv begründete Theorie erreicht und der Apodiktizität, welche den mathematischen Grundverhältnissen zukommt, eine unüberbrückbare Kluft. Nicht nur die Zahlenverhältnisse haben diesen apodiktischen Charakter; wie auch unser Raumbild sich gebildet haben mag, dieser Vorgang liegt jenseits unserer Erinnerung: es ist nun da: an jeder Stelle desselben können wir dieselben Grundverhältnisse auffassen, ganz unabhängig von der Stelle, an welcher sie auftreten: Geometrie ist die Analysis dieses vom Bestand der einzelnen Objekte ganz unabhängigen Raumbildes: hierin liegt der Charakter ihrer Apodiktizität, er ist gar nicht vom Ursprung dieses Raumbildes bedingt. In diesem Sinne haben Hypothesen nicht nur als bestimmte Stadien in der Entstehung naturwissenschaftlicher Theorien eine entscheidende Bedeutung: es läßt sich auch nicht absehen, wie bei äußerster Steigerung der Wahrscheinlichkeit unserer Naturerklärung ihr hypothetischer Charakter jemals ganz zum Verschwinden gebracht werden könnte. Unsere naturwissenschaftlichen Überzeugungen werden hierdurch nicht erschüttert. Als durch LAPLACE in die Betrachtung der induktiven Schlüsse die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt wurde, wurde auch auf den Grad von Sicherheit unserer Naturerkenntnis die Meßbarkeit ausgedehnt. Damit ist der Ausnutzung des hypothetischen Charakters unserer Naturerklärung im Interesse eines öden Skeptizismus oder eines im Dienste der Theologie stehenen Mystizismus der Boden entzogen. Indem nun aber die erklärende Psychologie das Verfahren der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung, durch welche zum Gegebenen eine Kausalzusammenhang ergänzend zugefügt wird, auf das Seelenleben überträgt: entsteht die Frage, ob diese Übertragung berechtigt ist. Es ist zu zeigen, daß diese Übertragung wirklich in der erklärenden Psychologie stattfindet, und die Gesichtspunkte sind anzugeben, unter welchen gegen diese Übertragung Bedenken entstehen: Beides hier nur vorläufig, da in der ganzen weiteren Darstellung direkt oder mittelbar weitere Ausführungen hierüber enthalten sind.

Wir stellen zunächst die Tatsache fest, daß jede erklärende Psychologie eine Kombination von Hypothesen zugrunde legt, welche sich durch das angegebene Merkmal zweifellos als solche kennzeichnen, indem sie andere Möglichkeiten nicht auszuschließen vermögen. Noch treten in ihr jeder solchen Hypothesenverbindung ein Dutzend andere gegenüber. Ein Kampf aller gegen alle tobt auf ihrem Gebiet, nicht minder heftig, als auf dem Feld der Metaphysik. Noch ist nirgends am fernsten Horizont etwas sichtbar, was diesen Kampf zu entscheiden die Kraft haben möchte. Zwar tröstet sie sich mit der Zeit, in welcher die lage der Physik und Chemie auch nicht besser schien; aber welche unermeßlichen Vorteile haben diese ihr voraus im Standhalten der Objekte, im freien Gebrauch des Experiments, in der Meßbarkeit der räumlichen Welt! Zudem hindert die Unlösbarkeit des metaphysischen Problems vom Verhältnis der geistigen Welt zur körperlichen die reinliche Durchführung einer sicheren Kausalerkenntnis auf diesem Gebiet. So kann niemand sagen, ob dieser Kampf der Hypothesen jemals in der erklärenden Psychologie enden wird, und wann das geschehen mag.

So sind wir, wenn wir eine volle Kausalerkenntnis herstellen wollen, in einen Nebel von Hypothesen gebannt, für welche die Möglichkeit ihrer Erprobung an den psychischen Tatsachen gar nicht in Aussicht steht. Einflußreiche Richtungen der Psychologie zeigen das deutlich. Eine Hypothese solcher Art ist die Lehre vom Parallelismus der Nervenvorgänge und der geistigen Vorgänge, nach welcher auch die mächtigsten, geistigen Tatsachen nur Begleiterscheinungen unseres körperlichen Lebens sind. Eine solche Hypothese ist die Zurückführung aller Bewußtseinserscheinungen auf atomartig vorgestellte Elemente, welche in gesetzlichen Verhältnissen auf einander wirken. Eine solche Hypothese ist die mit dem Anspruch der Kausalerklärung auftretende Konstruktion aller seelischen Erscheinungen durch die beiden Klassen der Empfindungen und der Gefühle, wodurch die beiden Klassen der Empfindungen und der Gefühle, wodurch dann das in unserem Bewußtsein und unserer Lebensführung so mächtig auftretende Wollen zu einem sekundären Schein wird. Durch bloße Hypothesen werden die höheren Seelenvermögen auf die Assoziation zurückgeführt. Durch bloße Hypothesen wird aus psychischen Elementen und den Prozessen zwischen ihnen das Selbstbewußtsein abgeleitet. Nur Hypothesen besitzen wir über die verursachenden Vorgänge, durch welche der erworbene, seelische Zusammenhang beständig unsere bewußten Prozesse des Schließens und Wollens so mächtig und rätselhaft beeinflußt. Hypothesen, überall nur Hypothesen! Und zwar nicht als untergeordnete Bestandteile, welche einzeln dem wissenschaftlichen Gedankengang eingeordnet sind. Solche sind ja, wie wir sahen, unvermeidlich. Vielmehr Hypothesen, welche als Elemente der psychologischen Kausalerklärung die Ableitung aller seelischen Erscheinungen ermöglichen und sich an ihnen bewähren sollen.

Die Vertreter der erklärenden Psychologie pflegen ich nun zur Begründung einer so umfassenden Anwendung von Hypothesen auf die Naturwissenschaften zu berufen. Aber gleich hier am Beginn unserer Untersuchungen stellen wir den Anspruch der Geisteswissenschaften fest, ihre Methoden ihrem Objekt entsprechend selbständig zu bestimmen. Die Geisteswissenschaften müssen von den allgemeinsten Begriffen der generellen Methodenlehre aus durch das Probieren an ihren besonderen Objekten zu bestimmteren Verfahrensweisen und Prinzipien innerhalb ihres Gebietes gelangen, wie es die Naturwissenschaften eben auch getan haben. Nicht dadurch erweisen wir uns als echte Schüler der großen naturwissenschaftlichen Denker, daß wir die von ihnen erfundenen Methoden auf unser Gebiet übertragen, sondern dadurch, daß unser Erkennen sich der Natur unserer Objekte anschmiegt und wir uns so zu diesem ganz so verhalten, wie sie zu dem ihrigen.  Natura parendo vincitur  [Die Natur kann nur dadurch besiegt werden daß man sich ihr unterwirft. - wp]. Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß in jenen die Tatsachen von außen, durch die Sinne, als Phänomene und einzelne gegeben sind, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, mittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrunde liegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das Erste, das Dinstinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, mittels derer wir Seelenleben verstehen wir. Denn in der inneren Erfahrung sind auch die Vorgänge des Erwirkens, die Verbindungen der Funktionen als einzelner Glieder des Seelenlebens zu einem Ganzen gegeben. Der erlebte Zusammenhang ist hier das Erste, das Distinguieren der einzelnen Glieder desselben ist das Nachkommende. Dies bedingt eine sehr große Verschiedenheit der Methoden, mittels derer wir Seelenleben, Historie und Gesellschaft studieren von denen, durch welche die Naturerkenntnis herbeigeführt worden ist. Für die Frage, welche hier erörtert wird, ergibt sich aus dem angegebenen Unterschied, daß Hypothesen innerhalb der Psychologie keineswegs dieselbe Rolle spielen als innerhalb des Naturerkennens. In diesem vollzieht sich aller Zusammenhang durch Hypothesen bildung, in der Psychologie ist gerade der Zusammenhang ursprünglich und beständig im Erleben gegeben: Leben ist überall nur als Zusammenhang da. Die Psychologie bedarf also keiner durch Schlüsse gewonnenen untergelegten Begriffe, um überhaupt einen durchgreifenden Zusammenhang unter den großen Gruppen der seelischen Tatsachen herzustellen. So kann sie auch da, wo eine Klasse von Wirkungen innerlich bedingt und doch ohne Bewußtsein der innen wirksamen Ursachen auftritt, wie dies in der Reproduktion oder in der Beeinflussung bewußter Prozesse von dem unserem Bewußtsein entzogenen erworbenen seelischen Zusammenhang aus geschieht, die Beschreibung und Zergliederung des Verlaufs solcher Vorgänge der großen kausalen Gliederung des Ganzen unterordnen, welche von den inneren Erfahrungen aus festgestellt werden kann. Und darum ist sie auch nicht genötigt, wenn sie über die Ursache solcher Vorgänge eine Hypothese bildet, dieselbe gleichsam in die Fundamente der Psychologie einzumauern. Ihre Methode ist von denen der Physik oder Chemie gänzlich verschieden. Die Hypothese ist nicht ihre unerläßliche Grundlage. Wenn also die erklärende Psychologie die Erscheinungen des Seelenlebens einer begrenzten Zahl eindeutig bestimmter Erklärungselemente von durchgehends hypothetischem Charakter unterordnet, so können wir nicht zugeben, daß dies von ihren Vertretern als das unvermeidliche Schicksal aller Psychologie aus der Analogie der Rolle von Hypothesen im Naturerkennen begründet werden kann. Zugleich besitzen aber Hypothesen auf psychologischem Gebiet keineswegs die Leistungsfähigkeit, welche sie im naturwissenschaftlichen Erkennen bewährt haben. Die Tatsachen können auf dem Gebiet des Seelenlebens nicht zu der genauen Bestimmtheit erhoben werden, welche zur Erprobung einer Theorie durch den Vergleich ihrer Konsequenzen mit solchen Tatsachen erforderlich ist. So ist an keinem entscheidenden Punkt die Ausschließung anderer Hypothesen, und die Bewahrheitung der übrig bleibenden Hypothese gelungen. Auf dem Grenzgebiet der Natur und des Seelenlebens haben Experiment und quantitative Bestimmung sich der Hypothesenbildung in ähnlicher Weise als dienstbar erwiesen wie das im Naturerkennen der Fall ist. In den zentralen Gebieten der Psychologie ist nichts hiervon zu bemerken. Insbesondere die für die konstruktive Psychologie so entscheidende Frage nach den ursächlichen Verhältnissen, welche die Beeinflussung bewußter Prozesse vom erworbenen seelischen Zusammenhang her sowie die Reproduktion bedingen, ist ihrer Lösung noch um keinen Schritt durch alle bisherigen Anstrengungen näher geführt worden. Wie verschieden kann man Hypothesen kombinieren und dann doch ziemlich gleich gut oder schlecht aus ihnen die großen entscheidenden seelischen Tatsachen, das Selbstbewußtsein, den logischen Vorgang und seine Evidenz oder das Gewissen ableiten! Die Vertreter einer solchen Hypothesenverbindung haben das schärfste Auge für das, was ihr zur Bestätigung dient und sie sind ganz blind für das, was ihr widerspricht. Hier gilt von der Hypothese, was SCHOPENHAUER irrtümlich von derselben behauptet: eine solche Hypothese führt im Kopf, in welchem sie einmal Platz gewonnen hat oder gar geboren ist, ein Leben, welches insofern dem eines Organismus gleicht, als sie von der Außenwelt nur das ihr Gedeihliche und Homogene aufnimmt, hingegen das ihr Heterogene oder Verderbliche entweder gar nicht an sich heran kommen läßt oder, wenn es ihr unvermeidlich zugeführt wird, es ganz unversehrt wieder exzerniert [ausgeschieden - wp]. Daher haben solche Hypothesenverbindungen der erklärenden Psychologie keine Aussicht zu einem Rang, den naturwissenschaftliche Theorien einnehmen, jemals erhoben zu werden. So legen wir uns die Frage vor, ob nicht ein anderes Verfahren in der Psychologie - wir werden es als das beschreibende und zergliedernde bezeichnen - die Fundierung unseres Verständnisses von allem Seelenleben auf einen Inbegriff von Hypothesen vermeiden kann.

Denn die Herrschaft der erklärenden oder konstruktiven Psychologie, welche mit Hypothesen nach Analogie des Naturerkennens wirtschaftet, hat außerordentlich nachteilige Folgen für die Entwicklung der Geisteswissenschaften. Es scheint heute den positiven Forschern auf diesen Gebieten entweder notwendig, auf jede psychologische Grundlegung zu verzichten oder sich alle Nachteile der erklärenden Psychologie gefallen zu lassen. So ist dann die gegenwärtige Wissenschaft in folgendes Dilemma geraten, das außerordentlich viel beigetragen hat zur Steigerung des skeptischen Geistes und der äußerlichen, unfruchtbaren Empirie, wie auch der zunehmenden Trennung des Lebens vom Wissen. Entweder bedienen sich die Geisteswissenschaften der in der Psychologie dargebotenen Grundlagen und erhalten dann hierdurch einen hypothetischen Charakter, oder sie versuchen, ohne die Grundlage irgendeiner wissenschaftlich geordneten Übersicht über die seelischen Tatsachen, nur gestützt auf die zweideutige und subjektive Psychologie des Lebens, ihre Aufgaben zu lösen. Im ersteren Fall aber teilt die erklärende Psychologie ihren gänzlich hypothetischen Charakter der Erkenntnistheorie und den Geisteswissenschaften mit.

Erkenntnistheorie und Geisteswissenschaften können in Bezug auf das Bedürfnis psychologischer Begründung, trotz eines erheblichen Unterschieds im Hinblick auf den Umfang wie der Tiefe dieser Begründung, doch zusammengestellt werden. Zwar hat die Erkenntnistheorie im Zusammenhang der Wissenschaften einen ganz anderen Ort als die Geisteswissenschaften. Unmöglich kann ihre eine Psychologie vorausgeschickt werden. Dennoch besteht in anderer Form auch für sie dasselbe Dilemma. Kann sie unabhängig von psychologischen Voraussetzungen gestaltet werden? Und falls dies nicht der Fall wäre: was würde die Folge davon sein, wenn ie auf eine erklärende Psychologie gegründet würde? Entstand doch die Erkenntnistheorie aus dem Bedürfnis, im Ozean metaphysischer Fluktuationen ein Stück festen Landes, allgemeingültige Erkenntnis irgendwelchen Umfangs zu sichern: sie würde nun unsicher und hypothetisch: so würde sie selber ihren Zweck vereiteln. So besteht dasselbe unglückselige Dilemma für die Erkenntnistheorie, wie es für die Geisteswissenschaften besteht.

Die  Geisteswissenschaften  suchen gerade für die Begriffe und Sätze, mit welchen sie zu operieren genötigt sind, eine feste, allgemein gültige Grundlage. Sie haben eine nur zu berechtigte Abneigung gegen philosophische Konstruktionen, welche dem Streit unterliegen und so in die empirischen Analysen und Vergleiche diesen Streit hineintragen. Daher ist in weiten Kreisen die gegenwärtige Tendenz der Jurisprudenz, der politischen Ökonomie wie der Theologie, psychologische Grundlegungen gänzlich auszuscheiden. Jede von ihnen versucht, aus der empirischen Verknüpfung der Tatsachen und der Regeln oder Normen in ihrem Wissensgebiet einen Zusammenhang herzustellen, dessen Analysis alsdann gewisse durchgehende Elementarbegriffe und elementare Sätze ergeben würde, als der betreffenden Geisteswissenschaft zugrunde liegend. Wie die Lage der erklärenden Psychologie ist, können sie nicht anders, sofern sie den vielfachen Untiefen und Strudeln der erklärenden Psychologie entgehen wollen. Indem sie nun aber den philosophischen Strudeln der Charybdis entfliehen, geraten sie auf die Klippe der Scylla, nämlich einer öden Empirie.

Es bedarf keines Beweises, daß die erklärenden Psychologie, sofern sie nur auf Hypothesen begründet werden kann, welche nicht fähig sind zum Rang einer überzeugenden, die anderen Hypothesen ausschließenden Theorie erhoben zu werden, ihre Unsicherheit den Erfahrungswissenschaften des Geistes, welche sich auf sie stützen würden, notwendig mitteilen müßte. Und daß jede erklärende Pspychologie solcher Hypothesen zu ihrer Begründung bedarf, das eben wird einen Hauptgegenstand unserer Beweisführung ausmachen. Aber das mun nun an dieser Stelle bewiesen werden, daß jeder Versuch, eine Erfahrungswissenschaft des Geistes ohne Psychologie herzustellen, ebenfalls unmöglich zu einem benutzbaren Ergebnis führen kann.

Eine Empirie, welche auf die Begründung dessen, was im Geiste geschieht, aus dem verstandenen Zusammenhang des geistigen Lebens verzichtet, ist notwendig unfruchtbar. Dies kann an jeder einzelnen Geisteswissenschaft nachgewiesen werden. Jede von ihnen bedarf psychologischer Erkenntnisse. So kommt jede Analyse der Tatsache "Religion" auf Begriffe wie Gefühl, Wille, Abhängigkeit, Freiheit, Motiv, welche nur in einem psychologischen Zusammenhang aufgeklärt werden können. Sie hat es mit Zusammenhängen des Seelenlebens zu tun, da in diesem das Gottesbewußtsein entsteht und Kraft gewinnt. Diese aber sind durch einen allgemeinen, regelmäßigen seelischen Zusammenhang bedingt und nur von ihm aus verständlich. Die Jurisprudenz hat in Begriffen wie "Norm", "Gesetz", "Zurechnungsfähigkeit" psychische Zusammensetzungen vor sich, welche eine psychologische Analyse erfordern. Sie kann den Zusammenhang, in welchem ein Rechtsgefühl entsteht, oder den, in welchem Zwecke im Recht wirksam werden und die Willen dem Gesetz unterworfen werden, unmöglich darstellen, ohne ein klares Verständnis des regelmäßigen Zusammenhangs in jedem Seelenleben. Die Staatswissenschaften, welche es mit der äußeren Organisation der Gesellschaft zu tun haben, finden in jedem Verbandsverhältnis die psychischen Tatsachen von Gemeinschaft, Herrschaft und Abhängigkeit. Diese fordern eine psychologische Analyse. Geschichte und Theorie von Literatur und Kunst findet sich überall auf die zusammengesetzten ästhetischen Grundstimmungen des Schönen, Erhabenen, Humoristischen oder Lächerlichen zurückgeführt. Dieselben bleiben dem Literaturhistoriker ohne psychische Analyse dunkle und tote Vorstellungen. Er kann das Leben keines Dichters verstehen ohne Kenntnis der Prozesse der Einbildungskraft. Es ist so, und keine Absperrung der Fächer kann es verhindern: wie die Systeme der Kultur: Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft, wie die äußere Organisation der Gesellschaft in den Verbänden der Familie, der Gemeinden, der Kirche, des Staates aus dem lebendigen Zusammenhang der Menschenseele hervorgegangen sind, so können sie schließlich auch nur aus diesem verstanden werden. Psychische Tatsachen bilden ihren wichtigsten Bestandteil, ohne psychische Analyse können sie also nicht eingesehen werden. Sie enthalten Zusammenhang in sich, weil Seelenlebenn ein Zusammenhang ist. So bedingt das Verständnis dieses inneren Zusammenhangs in uns überall ihre Erkenntnis. Sie konnten als eine übergreifende Macht über den Einzelnen nur entstehen, weil Gleichförmigkeit und Regelmäßigkeit im Seelenleben besteht und eine gleiche Ordnung für die vielen Lebenseinheiten ermöglicht. (1)

Und wie die Entwicklung der einzelnen Geisteswissenschaften an die Ausbildung der Psychologie gebunden ist, so kann auch die Verbindung derselben zu einem Ganzen ohne Verständnis des seelischen Zusammenhangs, in welchem sie verbunden sind, nicht herbeigeführt werden. Ohne die Beziehungen auf den psychischen Zusammenhang, in welchem ihre Verhältnisse gegründet sind, sind die Geisteswissenschaften ein Aggregat, ein Bündel, aber kein System. Jede noch so rohe Vorstellung von ihrer Verbindung untereinander beruth auf irgendeiner rohen Vorstellung vom Zusammenhang der seelischen Erscheinungen. Die Verbindungen, in welchen Wirtschaft, Recht, Religion, Kunst, Wissen untereinander und mit der äußeren Organisation der menschlichen Gesellschaft stehen, können doch nur aus dem umfassenden, gleichförmigen seelischen Zusammenhang verständlich gemacht werden, aus dem sie nebeneinander entsprungen sind und kraft dessen sie in jeder psychischen Lebenseinheit zusammen bestehen, ohne sich gegenseitig zu verwirren oder zu zersetzen.

Dieselbe Schwierigkeit lastet auf der  Erkenntnistheorie Eine durch den Scharfsinn ihrer Vertreter hervorragende Schule fordert die völlige Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie von der Psychologie. Sie behauptet, daß in KANTs Vernunftkritik diese Emanzipation der Erkenntnistheorie von der Psychologie durch eine besondere Methode im Prinzip vollzogen ist. Diese Methode will sie entwickeln. Hierin scheint ihr die Zukunft der Erkenntnistheorie zu liegen.

Aber augenscheinlich können die geistigen Tatsachen, welche den Stoff der Erkenntnistheorie bilden, nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellung des seelischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden. Keine Zauberkunst einer transzendentalen Methode kann dieses insich Unmögliche möglich machen. Kein Zauberwort aus der Schule KANTs kann hier helfen. Der Schein, dies leisten zu können, beruth schließlich darauf, daß der Erkenntnistheoretiker in seinem eigenen lebendigen Bewußtsein diesen Zusammenhang besitzt und aus ihm denselben in seine Theorie überträgt. Er setzt ihn voraus. Er bedient sich seiner. Aber er kontrolliert ihn nicht. Daher schieben sich ihm notwendig aus dem Sprachkreis und dem Gedankenkreis der Zeit Deutungen dieses Zusammenhangs in psychologischen Begriffen unter. So ist es gekommen, daß die Grundbegriffe der Vernunftkritik KANTs durchweg einer bestimmten psychologischen Schule angehören. Die klassifizierende Vermögenslehre der Zeit KANTs hatte die harten Sonderungen, das trennende Fächerwerk in seiner Vernunftkritik zur Folge. Ich mache dies deutlich an seinen Sonderungen von Anschauen und Denken sowie von Stoff und Form des Erkennens. Beide Sonderungen, so hart wie sie bei KANT dastehen, zerreissen einen lebendigen Zusammenhang.

KANT legte auf keine seiner Entdeckungen ein größeres Gewicht, als auf seine scharfe  Sonderung  von Natur und den Prinzipien des  Anschauens  und des  Denkens Aber in dem, was er "Anschauung" nennt, wirken überall Denkvorgänge oder ihnen äquivalente Akte mit. So das Unterscheiden, Abmessen von Grade, Gleichsetzen, Verbinden und Trennen. Daher hat man es hier nur mit verschiedenen Stufen im Wirken derselben Prozesse zu tun. Dieselben elementaren Prozesse von Assoziation, Reproduktion, Vergleichung, Unterscheiden, Abmessung der Grade, Trennung und Verbindung, des Absehens vom Einen und Herausheben des Anderen, worauf dann die Abstraktion beruth, wirken in der Ausbildung unserer Wahrnehmungen, unserer reproduzierten Bilder, der geometrischen Gestalten, der Phantasievorstellungen, welche dann auch in unserem diskursiven Denken walten. Diese Prozesse bilden das weite und unermeßlich fruchtbare Gebiet des schweigenden Denkens. Die formalen Kategorien sind aus solchen primären logischen Funktionen abstrahier. KANT hätte daher auch nicht nötig gehabt, diese Kategorien aus dem diskursiven Denken abzuleiten. Und alles diskursive Denken kann als eine höhere Stufe dieser schweigenden Denkvorgänge dargestellt werden.

Ebenso kann die in KANTs System durchgeführte Trennung von  Stoff  und  Form  der Erkenntnis heute nicht mehr so festgehalten werden. Viel wichtiger als diese Trennung sind die inneren Beziehungen, welche zwischen der Mannigfaltigkeit der Empfindungen, als dem Stoff unserer Erkenntnis, und der Form, in welcher wir diesen Stoff auffassen, überall bestehen. Wir besitzen gleichzeitige voneinander verschiedene Töne zugleich, und wir vereinigen sie im Bewußtsein, ohne daß wir ihr Auseinander in einem Nebeneinander auffassen. Dagegen können wir eine Mehrheit von Tast- oder Gesichtsempfindungen immer nur in einem Nebeneinander zusammen besitzen. Können wir doch nicht einmal zwei Farben zusammn und gleichzeitig anders als in einem Nebeneinander vorstellen. Ist nun augenscheinlich bei dieser Nötigung, im Nebeneinander zu besitzen, die Natur der Gesichtseindrücke und der Tastempfindungen im Spiel? Ist also hier nicht höchst wahrscheinlich durch die Natur des Empfindungsstoffs die Form seiner Zusammenfassung bedingt? Wie ergänzungsbedürftig KANTs Lehre von Stoff und Form des Erkennens ist, zeigt auch folgende Betrachtung. Eine Mannigfaltigkeit von Empfindungen als bloßer Stoff schließt an jedem Punkt Unterschiede, etwa Verhältnisse und Abstufungen von Farben gegeneinander ein. Diese Unterschiede und Grade bestehen aber nur für ein zusammenhaltendes Bewußtsein; daher muß die Form da sein, damit der Stoff da sein kann, so wie dann natürlich Stoff da sein muß, wenn Form auftreten soll. Es wäre ja auch ganz unverständlich, wie psychische Stoffelemente durch das Band eines vereinigenden Bewußtseins von außen verknüpft werden sollten. (2)

So wird man immer auch in der Erkenntnistheorie der willkürlichen und stückweisen Einführung psychologischer Ansichten nur dadurch entgehen, daß man ihr mit wissenschaftlichem Bewußtsein eine klare Auffassung des seelischen Zusammenhangs zugrunde legt. Man wird die zufälligen Einflüsse irriger Psychologien in der Erkenntnistheorie nur los werden, wenn es gelingt, ihr gültige Sätze über den Zusammenhang des Seelenlebens zur Verfügung zu stellen. Allerdings wäre untunlich, der Erkenntnistheorie eine durchgeführte beschreibende Psychologie als Grundlage vorauszusenden. Andererseits ist aber die voraussetzungslose Erkenntnistheorie eine Jllusion.

So könnte man sich zunächst das Verhältnis zwischen Psychologie und Erkenntnistheorie folgendermaßen vorstellen. In derselben Weise, in welcher sie allgemeingültige und sichere Sätze auch aus anderen Wissenschaften entnimmt, könnte die Erkenntnistheorie aus der beschreibenden und analysierenden Psychologie einen solchen Zusammenhang von Sätzen entnehmen, wie sie ihn bedarf und wie er keinem Zweifel ausgesetzt ist. Ein kunstvolles logisches Gespinst, von innen herausgesponnen und nun bodenlos in der leeren Luft schwebend - glaubt man, daß ein solches Spinngewebe sicherer und fester sein wird als eine Erkenntnistheorie, welche sich allgemeingültiger und fester Sätze bedient, die aus Anschauungen in den Einzelwissenschaften schon abgeleitet und bewährt sind? Kann etwa eine Erkenntnistheorie vorgezeigt werden, welche nicht stillschweigend oder ausdrücklich solche Anleihen macht? Nur darauf kann es ankommen, ob die entliehenen Sätze die Probe der Allgemeingültigkeit, der strengsten Evidenz bestanden haben, deren Begriff dann freilich seinen Sinn und die Rechtfertigung seiner Anwendung rückwärts in den Grundlagen der Erkenntnistheorie, die schließlich in der inneren Erfahrung liegen, finden muß. Darum allein könnte es sich also zunächst auch bei der Aufnahme psychologischer Sätze handeln. Es wäre demnach nur die Frage, ob solche Sätze ohne Hypothesenpsychologie geliefert werden können. Schon dies führt auf das Problem einer Psychologie, in welcher die Hypothesen nicht dieselbe Rolle spielen, wie es in der jetzt herrschenden erklärenden Psychologie der Fall ist.

Aber das Verhältnis der Psychologie zur Erkenntnistheorie ist noch ein anderes, als das irgendeiner anderen Wissenschaft zu dieser, selbst der von KANT vorausgesetzten Mathematik, mathematischen Naturwissenschaft und Logik. Der Seelische Zusammenhang bildet den Untergrund des Erkenntnisprozesses, und der Erkenntnisprozeß kann auch nur in diesem seelischen Zusammenhang studiert und nach seinem Vermögen bestimmt werden. Nun sahen wir aber darin schon den methodischen Vorzug der Psychologie, daß ihr unmittelbar, lebendig, als erlebte Realität der seelische Zusammenhang gegeben ist. Das Erlebnis desselben liegt allem Auffassen der geistigen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Tatsachen zugrunde. Mehr oder weniger aufgeklärt, zergliedert, erforscht. Die Geschichte der Wissenschaften des Geistes hat eben diesen erlebten Zusammenhang zu ihrer Grundlage, und sie erhebt ihn schrittweise zu einem klareren Bewußtsein. Von hier aus kann nun auch das Problem des Verhältnisses der Erkenntnistheorie zur Psychologie aufgelöst werden. Im lebendigen Bewußtsein und der allgemeingültigen Beschreibung dieses seelischen Zusammenhangs ist die Grundlage der Erkenntnistheorie enthalten. Einer vollendeten, durchgeführten Psychologie bedarf die Erkenntnistheorie nicht, aber alle durchgeführte Psychologie ist doch nur die wissenschaftliche Vollendung dessen, was auch den Untergrund der Erkenntnistheorie bildet. Erkenntnistheorie ist Psychologie in Bewegung, und zwar sich nach einem bestimmten Ziel hin bewegend. In der Selbstbesinnung, welche den ganzen unverstümmelten Befund des seelischen Lebens umfaßt, hat sie ihre Grundlage: Allgemeingültigkeit, Wahrheit, Wirklichkeit werden von diesem Befund aus erst nach ihrem Sinn bestimmt.

Ziehen wir das Fazit. Was von der Psychologie zu fordern war und was den Kern ihrer eigentümlichen Methode ausmacht: beides weist uns in dieselbe Richtung. Aus allen dargelegten Schwierigkeiten kann uns allein die Ausbildung einer Wissenschaft befreien, welche ich, gegenüber der erklärenden oder konstruktiven Psychologie, als beschreibende und zergliedernde bezeichnen will. Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern  erlebt  wird. Diese Psychologie ist also Beschreibung und Analysis eines Zusammenhangs, welcher ursprünglich und immer als das Leben selbst gegeben ist. Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung. Sie hat die Regelmäßigkeiten im Zusammenhang des entwickelten Seelenlebens zum Gegenstand. Sie stellt diesen Zusammenhang des inneren Lebens in einem typischen Menschen dar. Sie betrachtet, analysiert, experimentier und vergleicht. Sie bedient sich jedes möglichen Hilfsmittels zur Lösung ihrer Aufgabe. Aber ihre Bedeutung, in der Gliederung der Wissenschaften, beruth eben darauf, daß jeder von ihr benutzte Zusammenhang durch innere Wahrnehmung eindeutig verifziert werden kann und daß jeder solche Zusammenhang als Glied des umfassenderen aufgezeigt werden kann, der nicht erschlossen, sondern ursprünglich gegeben ist.

Was ich als beschreibende und zergliedernde Psychologie bezeichne, hat noch einer anderen Anforderung zu genügen, welche in den Bedürfnissen der Geisteswissenschaften und der Leitung des Lebens durch sie enthalten ist.

Die Gleichförmigkeiten, welche den Hauptgegenstand der Psychologie unseres Jahrhunderts ausmachen, beziehen sich auf die Formen des inneren Geschehens. Die mächtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens reicht über diese Psychologie hinaus. In den Werken der Dichter, in den Reflexionen über das Leben, wie große Schriftsteller, ein SENECA, MARC AUREL, AUGUSTIN, MACHIAVELLI, MONTAIGNE, PASCAL sie ausgesprochen haben, ist ein Verständnis des Menschen in seiner ganzen Wirklichkeit enthalten, hinter welchem alle erklärende Psychologie weit zurückbleibt. Aber in der ganzen reflektierenden Literatur, welche die volle Wirklichkeit des Menschen erfassen möchte, macht sich nun bis auf diesen Tag, neben ihrer inhaltlichen Überlegenheit, das Unvermögen zur systematischen Darstellung geltend. Wir finden uns durch einzelne Reflexionen bis ins innerste Herz getroffen. Die Tiefe des Lebens selbst scheint sich in ihnen aufzuschließen. Sobald wir aber aus denselben einen klaren Zusammenhang herzustellen streben, versagen sie. Von solchen Reflexionen ist die Weisheit der Dichter über den Menschen und über das Leben ganz verschieden, welche nur durch Gestalten und Fügungen von Schicksalen, hier und da höchstens blitzartig durch die Reflexion erleuchtet, zu uns redet. Aber auch sie enthält keinen faßbaren allgemeinen Zusammenhang des Seelenlebens. Man hört bis zur Ermüdung, daß in  Lear, Hamlet  und  Macbeth  mehr Psychologie steckt, als in allen psychologischen Lehrbüchern zusammen. Möchten uns doch diese Fanatiker der Kunst uns einmal die in solchen Werken eingewickelte Psychologie enthüllen! Versteht man unter Psychologie eine Darstellung des regelmäßigen Zusammenhangs des Seelenlebens, so enthalten die Werke der Dichter gar keine Psychologie; es steckt auch gar keine unter irgendeiner Hülle darin, und durch keinen Kunstgriff kann ihnen eine solche Lehre von den Gleichförmigkeiten der seelischen Prozesse entlockt werden. Wohl aber liegt nun in der Art, wie die großen Schriftsteller und Dichter über das Menschenleben handeln, für die Psychologie eine Aufgabe und ein Stoff. Hier ist das intuitive Verständnis des ganzen Zusammenhangs, welchem auf ihrem Weg die Psychologie sich verallgemeinernd und abstrakt ebenfalls zu nähern hat. Man wünscht sich eine Psychologie, welche in das Netz ihrer Beschreibungen einzufangen vermöchte, was diese Dichter und Schriftsteller mehr enthalten als die bisherige Seelenlehre; eine Psychologie, welche eben die Gedanken, die AUGUSTIN, PASCAL oder LICHTENBERG durch eine einseitige grelle Beleuchtung so eindringlich machen, in einem allgemeingültigen Zusammenhang erst für das menschliche Wissen nützlich machte; und nur eine beschreibende und zergliedernde Psychologie kann sich der Lösung dieser Aufgabe annähern; nur in ihrem Rahmen ist die Lösung dieser Aufgabe möglich. Denn sie geht vom erlebten, ursprünglich und mit unmittelbarer Mächtigkeit gegebenen Zusammenhang aus; sie legt auch das noch der Zergliederung Unzugängliche unverstümmelt dar.

Fassen wir alle diese Bestimmungen zusammen, welche wir nacheinander in Bezug auf eine solche beschreibende und zergliedernde Psychologie gegeben haben, so wird schließlich auch die Bedeutung klar, welche die Lösung dieser Aufgabe auch für die erklärende Psychologie haben würde. Diese erhielte in der beschreibenden ein festes deskriptives Gerüst, eine bestimmte Terminologie, genaue Analysen und ein wichtiges Hilfsmittel der Kontrolle für ihre hypothetischen Erklärungen.


Zweites Kapitel
Die Unterscheidung der erklärenden
und der beschreibenden Psychologie

Die Unterscheidung einer beschreibenden und einer erklärenden Psychologie ist nicht neu. Mehrmals in der Geschichte der modernen Psychologie ist der Versuch wiedergekehrt, zwei einander ergänzende Behandlungsweise derselben durchzuführen. CHRISTIAN WOLFF sah in der Sonderung der rationalen und empirischen Psychologie einen besonderen Ruhmestitel seiner Philosophie (3). Die empirische Psychologie ist nach ihm die Erfahrungswissenschaft, welche von dem, was in der menschlichen Seele ist, Kenntnis gewährt. Sie kann mit der Experimentalphysik verglichen werden. (Deutsche Logik, § 152, Nachr. v. s. Schriften, Seite 232). Sie setzt die rationale Psychologie nicht voraus, sie setzt überhaupt keine andere Wissenschaft voraus. Vielmehr dient sie der Prüfung und Bestätigung dessen, was die rationale Psychologie a priori entwickelt (Psychologia empirica, § 1, 4, 5). Die rationale Psychologie wird von ihm auch als die erklärende bezeichnet (Psychologia rationalis, § 4). Sie hat ihre Erfahrungsgrundlage in der empirischen. Sie entwickelt unter Beihilfe derselben a priori aus der Ontologie und Kosmologie das, was durch die menschliche Seele möglich ist. Und wie sie an der empirischen ihre Erfahrungsgrundlage besitzt, so hat sie auch an derselben ihre Kontrolle (Ps. emp. § 5). Nun wies zwar KANT die Unmöglichkeit einer rationalen Psychologie nach: dennoch blieb von diesen Sätzen WOLFFs als wertvoller Kern die Unterscheidung eines beschreibenden und eines erklärenden Verfahrens und die Einsicht, daß die beschreibende Psychologie die Erfahrungsgrundlage und Kontrolle der erklärenden ist.

Innerhalb der HERBART'schen Schule bildete dann THEODOR WAITZ diese Unterscheidung in einem modernen Sinn fort. Er hatte 1849 in seiner Psychologie als Naturwissenschaft die Methode dieses Werkes dahin bestimmt, daß es die in der Erfahrung gegebenen psychischen Erscheinungen mittels der ihnen angemessenen Hypothesen erklärt; so hatte er zuerst in Deutschland eine erklärende Psychologie nach modernem naturwissenschaftlichen Zuschnitt begründet: nun stellte er 1852 in der "Kieler Monatsschrift" dieser erklärenden Psychologie den Plan einer beschreibenden zur Seite. Er begründet diese Unterscheidung durch die in der Naturerkenntnis bestehende Sonderung der deskriptiven und theoretischen Wissenschaften. Die deskriptive Psychologie hat, entsprechend den Wissenschaften des organischen Lebens, zu ihren methodischen Hilfsmitteln: Beschreibung, Analyse, Classification, Vergleichung und Entwicklungslehre; insbesondere hat sie sich als vergleichende Psychologie und psychische Entwicklungslehre auszubilden. Die erklärende oder naturwissenschaftliche Psychologie arbeitet mit dem Material, das die beschreibende liefert, an demselben erforscht sie die allgemeinen Gesetze, welche die Entwicklung und den Verlauf des psychischen Lebens beherrschen, und sie stellt die Abhängigkeitsverhältnisse dar, in denen das Seelenleben zu seinem Organismus und der Außenwelt steht; so besteht sie in einer erklärenden Wissenschaft des Seelenlebens und in einer Wissenschaft von der Wechselwirkung zwischen ihm, dem Organismus und der Außenwelt: wir würden heute sagen einer  Psychophysik.  Und nun bestimmt er schließlich: "Die Klarheit der wissenschaftlichen Behandlung ist wesentlich davon abhängig, in welcher Schärfe und Reinheit diese Teilung der Aufgaben durchgeführt und festgehalten wird." Sein großes Werke über die Anthropologie der Naturvölker war ein Teil der damals von ihm geplanten Arbeiten über beschreibende Psychologie. Innerhalb der HERBART'schen Schule hat dann auch DROBISCH sich dieser Sonderung bedient, neben seine mathematische Psychologie hat er die meisterhafte empirische gestellt, deren Beschreibungen noch heute wertvoll sind.

So hielt WAITZ nicht nur an den Einsichten WOLFFs fest, er machte auch infolge der Ausscheidung des Metaphysischen aus der erklärenden Psychologie mehrere wichtige Fortschritte in der Bestimmung des Verhältnisses beider Darstellungen zueinander. Er erkannte, daß die Elemente der Erklärung, von denen die naturwissenschaftliche Psychologie ausgeht, den Charakter von Hypothesen haben, ja er sprach aus, daß die erklärende Psychologie nur "die  Möglichkeit  zeigen kann, daß durch das Zusammenwirken der angegebenen Elemente nach einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit sich gerade solche komplizierte, psychische Erscheinungen bilden, wie wir sie mittels der Beobachtung in uns finden" (Psychologie, Seite 26). Ihm ging auch schon die außerordentliche Ausdehnung der Hilfsmittel einer beschreibenden Psychologie auf: vergleichendes Studium, welches das Seelenleben der Tiere, der Naturvölker, die seelischen Veränderungen im Fortschritt der Kultur benutzt: Entwicklungsgeschichte der Individuen und der Gesellschaft. Und ohne noch einen Blick rückwärts auf die Lehrbücher der HERBART'schen Schule zu werfen, drang er auf der hohen See der Anthropologie der Naturvölker und der unermeßlichen Religionsgeschichte vorwärts: ein kühner beharrlicher Entdecker, dem nur zu früh sein Ziel gesetzt wurde; sonst hätte er neben LOTZE und FECHNER in der Geschichte der modernen Psychologie einen ganz anderen Einfluß gewonnen, als der ihm nun zuteil geworden ist.

Zwei Gesichtspunkte scheinen mir eine weitere Umformung des Verhältnisses der beschreibenden zur erklärenden Psychologie über WAITZ hinaus zu fordern.

Die erklärende Psychologie entstand aus der Zergliederung der Wahrnehmung und der Erinnerung. Ihren Kern bildeten von Anfang an Empfindungen, Vorstellungen, Lust- und Unlust gefühle als Elemente, sowie die Prozesse zwischen diesen Elementen, insbesondere der Prozeß der Assoziation, zu welchem dann als weitere erklärende Vorgänge die  Apperzeption  und  Verschmelzung  hinzutraten. So hat sie gar nicht die ganze volle Menschennatur und deren inhaltlichen Zusammenhang zum Gegenstand. daher stellte ich zu einer Zeit, in welcher diese Grenzen der erklärenden Psychologie noch schroffer als heute hervortraten, ihr den Begriff einer Realpsychologie gegenüber (1865, NOVALIS, "Preußische Jahrbücher", Bd. 15, Seite 622), deren Beschreibungen die ganze Totalität des Seelenlebens, die in ihr bestehenden Zusammenhänge, und zwar neben ihren Formen auch ihre Inhaltlichkit zur Auffassung brächte. Dieser Inhaltlichkeit gehören Tatsachen an, deren Härte bisher keine überzeugende Zergliederung aufzulösen vermocht hat. Solche sind innerhalb unseres Gefühls- und Trieblebens das Streben nach Erhaltung und Erweiterung unseres Selbst, innerhalb unseres Erkennens der Charakter von Notwendigkeit in gewissen Sätzen, und im Umkreis unserer Willenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewußtsein auftretenden Normen. Es bedarf einer psychologischen Systematik, in welcher die ganze Inhaltlichkeit des Seelenlebens Raum findet. So reicht dann auch die mächtige Wirklichkeit des Lebens, wie die großen Schriftsteller und Dichter sie aufzufassen bestrebt waren und sind, über die Grenzen unserer Schulpsychologie hinaus. Was dort intuitiv, im dichterischen Symbol, in genialen Blicken ausgesprochen ist, muß eine solche den ganzen Inhalt des Seelenlebens beschreibende Psychologie festzustellen, an seinem Ort darzustellen und zu zergliedern versuchen.

Daneben macht sich für den, der sich mit dem Zusammenhang der Geisteswissenschaften beschäftigt, ein anderer Gesichtspunkt geltend. Diese bedürfen einer Psychologie, welche vor allem fest und sicher ist, was niemand der jetzigen erklärenden Psychologie nachrühmen kann, welche zugleich aber die ganze mächtige Wirklichkeit des Seelenlebens zur Beschreibung und, soweit möglich, zur Analysis bringt. Denn die Analyse der so komplexen gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit kann nur ausgeführt werden, wenn diese Wirklichkeit zunächst in die einzelnen Zwecksysteme zerlegt wird, aus denen sie besteht; jedes dieser Zwecksysteme, wie Wirtschaftsleben, Recht, Kunst und Religion, gestattet dann vermöge seiner Homogeneität eine Zergliederung seines Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang in einem solchen System ist aber kein anderer als der seelische Zusammenhang in den Menschen, welche in demselben zusammenwirken. Dementsprechend ist er schließlich ein psychologischer. Er kann daher nur von einer Psychologie verstanden werden, welche gerade die Analysis dieser Zusammenhänge in sich faßt, und das Ergebnis einer solchen Psychologie ist für den Theologen, Juristen, Nationalökonomen oder Literaturhistoriker nur dann benutzbar, wenn nicht ein Element von Unsicherheit, von Einseitigkeit, von wissenschaftlicher Parteiung aus dieser Psychologie in die Erfahrungswissenschaften des Geistes dringt.

Offenbar stehen die beiden dargelegten Gesichtspunkte in einer inneren Beziehung zueinander. Die Betrachtung des Lebens selber fordert, daß die ganze unverstümmelte und mächtige Wirklichkeit der Seele von ihren niedrigsten bis zu ihren höchsten Möglichkeiten gelant. Dies liegt innerhalb der Forderungen, welche die Psychologie selber an sich stellen muß, wenn sie nicht hinter Lebenserfahrung und dichterischer Intuition zurückbleiben will. Eben dasselbe fordern die Geisteswissenschaften. In ihrer psychologischen Grundlegung müssen alle psychischen Kräfte, alle psychischen Formen, von den niedrigsten bis zu den höchsten, bis zum religiösen Genius, bis zum Religionsstifter, dem geschichtlichen Heldung und dem künstlerischen Schöpfer, welche die Geschichte und die Gesellschaft vorwärts bewegen, ihre Darstellung und gleichsam ihre Lokalisierung finden. Und gerade indem man die Aufgabe so bestimmt, öffnet sich der Psychologie ein Weg, welcher einen viel höheren Grad an Sicherheit verspricht, als derjenige ist, den die erklärende Psychologie nach ihrer Methode erreichen kann. Man gehe von einem entwickelten Kulturmenschen aus. Man beschreibe den Zusammenhang seines Seelenlebens, man lasse die hauptsächlichsten Erscheinungen desselben mit allen Hilfsmitteln künstlerischer Vergegenwärtigung so deutlich wie möglich sehen, man analysiere die in diesem umfassenden Zusammenhang enthaltenen Einzelzusammenhänge tunlichst genau. Man gehe in dieser Zergliederung soweit wie möglich, man lasse das, was der Zergliederung widersteht, sehen wie es ist, man gebe von dem, dessen Zusammensetzung wir tiefer durchblicken können, die Erklärung seiner Entstehung, jedoch mit Angabe des Grades von Gewißheit, die dieser Erklärung zukommt, man ziehe überall vergleichende Psychologie, Entwicklungsgeschichte, Experiment, Analysis der geschichtlichen Produkte hinzu: dann wird die Psychologie das Werkzeug des Historikers, des Nationalökonomen, des Politikers und Theologen werden; dann wird sie auch den Menschenbeobachter und den Praktiker leiten können.

Von diesen Gesichtspunkten aus gestaltet sich nun der Begriff der erklärenden Psychologie, der Begriff der beschreibenden und das Verhältnis dieser beiden Darstellungen des Seelenlebens zueinander in der von den nächsten Kapitel bestimmten Weise.


Drittes Kapitel
Die erklärende Psychologie

Wir verstehen unter erklärender Psychologie im Folgenden die Ableitung der in der inneren Erfahrung, dem Versuch, dem Studium anderer Menschen und der geschichtlichen Wirklichkeit gegebenen Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von analytisch gefundenden Elementen. Unter Element wird dann jeder Bestandteil der psychologischen Grundlegung, welcher zur Erklärung der seelischen Erscheinungen gebraucht wird, verstanden. Dementsprechend ist der Kausalzusammenhang der seelischen Vorgänge nach dem Prinzip:  causa aequat effectum  [Ursache gleich Wirkung - wp], oder das Assoziationsgesetz gerade so gut ein Element für die Konstruktion der erklärenden Psychologie wie die Annahme unbewußter Vorstellungen oder ihre Verwertung.

Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie ist also, wie schon WOLFF und WAITZ annahmen, ihr synthetischer oder konstruktiver Gang. Sie leitet alle in der inneren Erfahrung und in deren Erweiterungen auffindbaren Tatsachen aus einer begrenzten Zahl von eindeutig auffindbaren Elementen ab. Die Entstehung dieser konstruktiven Richtung in der Psychologie hängt geschichtlich mit dem konstruktiven Geist der großen Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts zusammen. DESCARTES und seine Schule wie SPINOZA und LEIBNIZ konstruierten von Hypothesen aus, unter der Voraussetzung der gänzlichen Durchsichtigkeit dieses Verhältnisses, die Beziehungen zwischen körperlichen Prozessen und seelischen Vorgängen. LEIBNIZ hat dann zuerst, gleichsam hinter das gegebene Seelenleben greifend, die Beeinflussung des bewußten Gedankenverlaufs durch den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens und die Reproduktion der Vorstellungen durch Hilfsbegriffe, welche er zur Ergänzung des Gegebenen ersann, zu konstruieren unternommen: das Prinzip der Stetigkeit und dadurch bedingt die Kontinuität in den Gradverschiedenheiten der Bewußtseinszustände von unendlich kleinen Graden von Bewußtheit aufwärts waren solche Hilfsbegriffe, und man bemerkt leicht den Zusammenhang, in welchem sie mit seinen mathematischen und metaphysischen Erfindungen standen. Von derselben konstruktiven Richtung des Geistes, welche das im Seelenleben Gegebene durch ergänzende Hilfsbegriffe zu ganz durchsichtiger Begreiflichkeit erheben zu können postulierte, ging der Materialismus aus. Ja, durch die Bewußtseinsstellung des konstruktiven Geistes sind entscheidende Züge der konstruktiven Psychologie des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts bedingt, welche noch heute fortwirken. Einflußreiche Konzeptionen sind Derivate der konstruktiven Bewußtseinsstellung und Tendenz, indem man diesen Beziehungen nachgeht, erfaßt man die geschichtliche Bedingtheit der konstruktiven Psychologie: die in allen Zweigen des Wissens sich äußerende Macht der Methoden und Grundbegriffe der Naturwissenschaft spricht sich in ihr aus: von hier aus könnte sie auch einer geschichtlichen Kritik unterworfen werden.

Eine begrenzte Anzahl von eindeutig bestimmten Elementen, von denen aus alle Erscheinungen des Seelenlebens konstruierbar sein sollen: das ist also das Kapital, mit welchem die erklärende Psychologie wirtschaftet. Die Herkunft dieses Kapitals ist nun aber eine verschiedene. In diesem Punkt unterscheiden sich die älteren Schulen der Psychologie von der heute herrschenden. Leitete die ältere Psychologie noch bis auf HERBART, DROBISCH und LOTZE einen Teil dieser Elemente aus der Metaphysik ab, so gewinnt die moderne Psychologie - diese Seelenlehre ohne Seele - die Elemente für ihre Synthesen nur aus der Analysis der psychischen Erscheinungen, in ihrer Verbindung mit den physiologischen Tatsachen. Dementsprechend besteht die strenge Durchführung eines modernen erklärenden psychologischen Systems aus der Analysis, welche in den seelischen Erscheinungen die Elemente auffindet, und der Synthesis oder Konstruktion, welche aus ihnen die Erscheinungen des Seelenlebens zusammensetzt und so ihre Vollständigkeit erprobt. Der Inbegriff und das Verhältnis dieser Elemente macht die Hypothese aus, durch welche die seelischen Erscheinungen erklärt werden.

Das Verfahren des erklärenden Psychologen ist also ganz dasselbe, dessen sich auf seinem Gebiet der Naturforscher bedient. Die Ähnlichkeit im Verfahren beider wird dadurch noch größer, daß das Experiment jetzt Dank einem bemerkenswerten Fortschritt, das Hilfsmittel der Psychologie auf vielen ihrer Gebiete geworden ist. Und diese Ähnlichkeit würde weiter zunehmen, wenn irgendeiner der Versuche gelungen wäre, quantitative Bestimmungen nicht nur in den Außenwerken der Psychologie, sondern in ihrem Inneren selber zur Anwendung zu bringen. Für die Einordnung eines Systems in die erklärende Psychologie ist es natürlich gleichgültig, in welcher Reihenfolge diese Elemente eingeführt werden. Nur darauf kommt es an, daß der erklärende Psychologe mit dem Kapital einer begrenzten Zahl eindeutiger Elemente wirtschaftet.

Mittels dieses Merkmals kann nun von einigen der einflußreichsten psychologischen Werke der Gegenwart nachgewiesen werden, daß sie dieser erklärenden Richtung der Psychologie zugehörig sind; zugleich können von diesem Merkmal aus die Hauptrichtungen der modernen erklärenden Psychologie verständlich gemacht werden.

Bekanntlich fand nach dem Voranschreiten von HUME (1739/40) und HARTLEY (1746) die englische Psychologie ihre erste umfassende Darstellung in dem großen Werk von JAMES MILL "Analysis der Erscheinungen des menschlichen Geistes". Dieses Werk legt die Hypothese zugrunde, daß sich das ganze Seelenleben in seinen höchsten Äußerungen aus einfachen, sinnlichen Elementen in einem Inneren, in welchem die Assoziationsgesetze wirken, mit kausaler Notwendigkeit entfaltet. Das Beweisverfahren dieser erklärenden Psychologie liegt in der Zergliederung und Zusammensetzung, im Nachweis, daß die aufgezeigten Elemente die höchsten Vorgänge des Seelenlebens zureichend erklären. Der Sohn von JAMES MILL und der Erbe seiner Gedanken, JOHN STUART MILL, beschreibt in seiner Logik die Methode der Psychologie als ein Zusammenwirken von induktiver Auffindung der Elemente und synthetischer Erprobung derselben ganz in Übereinstimmung mit dem Verfahren des Vaters.

Aber er entwickelt bereits mit dem größten Nachdruck den logischen Wert eines Denkmittels, daß sich in dieser Psychologie der beiden MILL als erforderlich herausstellte. Er nimmt eine psychische Chemie an; wenn einfache Ideen oder Gefühle sich zusammensetzen, so können sie einen Zustand erzeugen, welcher für die innere Wahrnehmung einfach und zugleich qualitativ ganz verschieden von den Faktoren ist, welche ihn hervorgebracht haben. Die Gesetze des Geisteslebens sind mitunter mechanischen, mitunter aber auch chemischen Gesetzen vergleichbar. Wenn viele Eindrücke oder Vorstellungen im Geist zusammenwirken, so findet mitunter ein Hergang statt, der einer chemischen Verbindung ähnlich ist. Wenn man Eindrücke so oft in Verbindung erfahren hat, daß jeder von ihnen leicht und augenblicklich die ganze Gruppe hervorruft, so verschmelzen jene Ideen bisweilen miteinander und erscheinen nicht mehr als mehrere, sondern als  eine  Idee; in derselben Weise wie die sieben Farben des Prisma, wenn sie dem Auge in rascher Folge vorübergeführt werden, den Eindruck der weißen Farbe hervorbringen. Es ist klar, die Annahme eines solchen ganz allgemeinen und unbestimmten Satzes, welcher sonderbar mit der Genauigkeit wirklicher Naturgesetze kontrastiert, muß dem erklärenden Psychologen sein Geschäft ausnehmend erleichtern. Denn er verdeckt die Mängel der Ableitung. Er gestattet, sich an gewisse regelmäßige Antezedenzien [Vorausgehendes - wp] zu halten und die Lücke zwischen ihnen und dem folgenden Zustand durch psychische Chemmie auszufüllen. Sie muß aber zugleich den ohnehin schon niederen Grad von Überzeugungskraft, welcher dieser Konstruktion und ihren Ergebnissen zukommt, auf Null herabdrücken.

Über diese psychologische Schule erhob sich in England HERBERT SPENCER. Im Jahre 1855 erschienen die beiden Bände seiner Psychologie zum ersten Mal und sie erlangten einen großen Einfluß auf die europäische psychologische Forschung. Das Verfahren dieses Werkes war sehr verschieden von dem, welches die beiden MILL angewandt hatten. SPENCER bediente sich nicht nur der naturwissenschaftlichen Methode, wie jene beiden getan hatten, sondern er schritt dazu fort, im Einverständnis mit COMTE, die psychischen Phänomene dem realen Zusammenhang der physischen Phänomene, und dann die Psychologie der Naturwissenschaft unterzuordnen. Und zwar begründete er die Psychologie auf die allgemeine Biologie. In dieser aber führte er die Begriffe von Anpassung der Lebewesen an ihr Milieu, Evolution der ganzen organischen Welt und Parallelismus der Vorgänge im nervösen System mit den inneren oder seelischen Vorgängen durch. Er interpretierte also die inneren Zustände und ihren Zusammenhang mittels des Studiums des Nervensystems, der vergleichenden Betrachtung der äußeren Organisationen in der Tierwelt und der Verfolgung der Anpassung an die Außenwelt. So treten von Neuem in die erklärende Psychologie deduktiv bestimmte Erklärungselemente ein, ganz wie dies bei WOLFF, HERBART und LOTZE der Fall gewesen war. Nur daß dieselben nunmehr nicht aus der Metaphysik stammen, sondern, der Veränderung der Zeiten entsprechend, aus der allgemeinen Naturwissenschaft. Auch unter diesen neuen Bedingungen ist und bleibt das Werk SPENCERs eine erklärende Psychologie. Sogar in ihrer äußeren Anordnung zerfällt diese Psychologie in zwei Teile, der erste leitet aus dem Studium des Nervensystems, der vergleichenden Übersicht über die Tierwelt und der inneren Erfahrung durch konvergierende Schlüsse eine Verbindung von Hypothesen ab, der zweite Teil legt dann diese Hypothesen dem erklärenden Verfahren zugrunde. Nur daß SPENCER dieses Verfahren auf die Untersuchung des menschlichen Verstandes einschränkte. Die Erklärung der emotionellen Zustände erschien ihm zur Zeit unausführbar. "Wenn man etwas durch die Sonderung seiner Teile und eine Untersuchung der Art und Weise, wie dieselben miteinander verknüpft sind, erklären will, so muß dies etwas sein, was wirklich unterscheidbare und in bestimmter Art verbundene Teile besitzt. Haben wir es aber mit einem Gegenstand zu tun, der zwar augenscheinlich zusammengesetzt ist, dessen verschiedenartige Elemente aber so durcheinander gemengt und verschmolzen sind, daß sie sich nicht einzeln scharf erkennen lassen, so ist von vornherein anzunehmen, daß der Versuch einer Analyse wenn nicht völlig fruchtlos bleiben, so doch nur zu zweifelhaften und unzulänglichen Folgerungen führen wird. Dieser Gegensatz besteht nun in der Tat zwischen den Formen des Bewußtseins, die wir als intellektuelle und emotionale unterschieden haben."

In diesem Zusammenhang In diesem Zusammenhang entstehen nun für SPENCER folgende weitere Denkmittel der erklärenden Psychologie. Er überträg von der äußeren auf die innere Entwicklung der animalischen Welt ein Prinzip der zunehmenden Differenzierung der Teile und Funktionen und der Integration, d. h. der Herstellung höherer und feinerer Verbindungen zwischen diesen differenzierten Funktionen, und nun bedient er sich zur Erklärung von Problemen, welche die Individualpsychologie nicht hatte überzeugend lösen können, vor allem des Problems vom Ursprung des a priori, dieses Prinzips der Entwicklung, das innerhalb des ganzen animalischen Reiches wirksam ist. Alsdann erläutert er aus der Struktur des Nervensystems, seiner Nervenzellen und verbindenden Nervenfäden die Gliederung des seelischen Lebens, seiner Elemente und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Schließlich kann dann aufgrund der Hypothese vom psycho-physischen Parallelismus, da wo der psychische Zusammenhang Lücken zeigt, der physiologische Zusammenhang eingeschaltet werden.

Augenscheinlich nähert sich diese erklärende Psychologie SPENCERs in manchen Punkten der Lebendigkeit des seelischen Zusammenhangs mehr, als dies in der Schule der MILLs erreicht worden war. Auch gibt die Einordnung mittels der Lehre vom psycho-physischen Parallelismus macht nun die so bedingte erklärende Psychologie zur Sache einer wissenschaftlichen Partei. Sie gibt ihr das Gepräge eines verfeinerten Materialismus. Diese Psychologie ist für den Juristen oder Literaturhistoriker nicht eine gesicherte Grundlage, sondern eine Gefahr. Die ganze weitere Entwicklung hat gezeigt, wie in politischer Ökonomie, Kriminalrecht, Staatslehre dieser verschleierte Materialismus der erklärenden Psychologie, wie sie SPENCER gestaltet hat, zersetzend gewirkt hat. Und die psychologische Rechnung selbst, sofern sie mit inneren Wahrnehmungen operiert, wird durch die Einführung einer weiteren Hypothese doch noch unsicherer gemacht.

Diese erklärende Psychologie der SPENCER'schen Richtung breitete sich unaufhaltsam auch über Frankreich und Deutschland aus. Sie verband sich vielfach mit dem Materialismus. Dieser ist in all seinen Schattierungen erklärende Psychologie. Jede Theorie, welche den Zusammenhang in den physischen Vorgängen zugrunde legt und diesem die psychischen Tatsachen nur einordnet, ist Materialismus. Vom Materialismus beeinflußt, am strärksten doch von SPENCER bedingt, trat die Psychologie des größten wissenschaftlichen französischen Schriftstellers der letzten Generation hervor. Das erste Stück, welches SPENCER aus seiner Psychologie veröffentlicht hatte, war schon 1853 erschienen, vor der Veröffentlichung des ganzen Werkes (1855), und es hatte die Untersuchung über die Grundlage unseres Verstandes zum Gegenstand. 1864 erschien nun das philosophische Hauptwerk von HIPPOLYTE TAINE über den menschlichen Verstand. Es ruhte vorwiegend auf SPENCER, unter Benutzung der beiden MILL. SPENCER selbst schreibt über die Ausbreitung seiner psychologischen Gedanken: "In Frankreich hat Herr TAINE Gelegenheit genommen, in seinem Werk "de l'intelligence" einige derselben allgemeiner bekannt zu machen." Aber auch TAINE hat den Methoden der erklärenden Psychologie etwas hinzugefügt. Das Studium der anomalen psychischen Tatsachen wurde damals in Frankreich bevorzugt, und es bestand die Neigung, die Erscheinungen, welche der Irrenarzt, der Nervenarzt, der Magnetiseur und der Kriminalist gesammelt und interpretiert hatten, für das Studium der Gesetze des Seelenlebens zu verwerten. Die Lehre von der Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn ist eine echt französische Erfindung; wie durchweg die französischen Erfindungen fand sie Beifall in Italien. TAINE war nun der erste erklärende Psychologe, welcher diese Erweiterung der psychologischen Methoden durch das Studium der anomalen seelischen Tatsachen in die eigentliche Psychologie aufnahm. Die sonderbare Hypothese, welche er, hierdurch bedingt, den Annahmen der erklärenden Psychologie hinzufügte, braucht hier nicht erwähnt zu werden, da sie keinen durchgreifenden Einfluß gewonnen hat. "Die Natur erzeugt mit Hilfe von Wahrnehmungen und Bildergruppen nach Gesetzen Phantome in uns, die wir für äußere Objekte halten und meist ohne uns zu täuschen, denn es sind in der Tat ihnen entsprechende äußere Objekte vorhanden. Die äußeren Wahrnehmungen sind wahre Halluzinationen." Aber ein allgemeineres Interesse bietet doch die Beobachtung des verhängnisvollen Einflusses, welchen diese Theorie auf die Geschichtsschreibung TAINEs geübt hat. Wie die einseitige erklärende Psychologie der MILL große historische Talente wie GROTE und BUCKLE höchst nachteilig beeinflußt hatte, so hat der Philosoph TAINE, welcher uns alle zu beständigen Halluzinanten macht, dem Historiker TAINE seine Darstellung SHAKESPEAREs und seine Auffassung der französischen Revolution als einer Art von Massenverrückung eingegeben. - RIBOT schloß sich dann an TAINE an.

In Deutschland hatte inzwischen HERBART eine erklärende Psychologie ausgebildet, welche sich besonders in Österreicht und Sachsen der Katheder bemächtigte. Ihre außerordentliche Bedeutung für den Fortschritt der erklärenden Psychologie lag nun darin, daß sie mit den methodischen Anforderungen, welche in der Aufgabe einer Erklärung nach dem Vorbild der Naturwissenschaften enthalten sind, strengen wissenschaftlichen Ernst machte. Soll die erklärende Psychologie den Zusammenhang der seelischen Vorgänge ausnahmslos begreiflich machen, so muß sie die Voraussetzung des Determinismus zugrunde legen. Von dieser Voraussetzung aus wird sie aber nur dann hoffen dürfen, die Schwierigkeiten der Instabilität psychischer Vorgänge, ihrer individuellen Verschiedenheiten und der engen Grenzen der Beobachtung zu überwinden, wenn sie wie die physikalischen Wissenschaften quantitative Bestimmungen in ihre erklärende Rechnung einzuführen vermag. dann wird sie auch den Gesetzen eine strengere Fassung zu geben vermögen: eine Mechanik des Seelenlebens kann entstehen. Gelang nun das HERBART in seinen eigenen Arbeiten nicht wirklich, so setzte dann doch FECHNER diese Richtung fort; indem er die Versuche ERNST HEINRICH WEBERs verwertete, stellte er ein quantitatives Verhältnis zwischen der Zunahme der Stärke von Sinnesreizen und dem Wachstum der Empfindungsgrößen auf. Und es wurde für die Einführung von Messen und Zählen in das psycho-physische und psychische Gebiet ebenso wichtig, daß er nun bei diesen Untersuchungen die Methoden der Minimaländerungen, der mittleren Abstufungen, der mittleren Fehler, der richtigen und falschen Fälle entwickelte. Noch von einem anderen Punkt aus eröffnete sich die quantitative Betrachtung den Zugang zu den seelischen Vorgängen. Der deutsche Astronom BESSEL stieß bei der Vergleichung der Zeitbestimmungen verschiedener Astronomen über denselben Vorgang auf die Entdeckung der persönlichen Differenz der Astronomen. Die Zeit, in welcher ein Stern etwa den Meridian passiert, wird von verschiedenen Beobachtern verschieden bestimmt. Dies ist durch den Unterschied in der Zeitdauer bedingt, welche das Zustandekommen der Sinneswahrnehmung und ihrer Registrierung beansprucht. Astronomen und Biologen bemerkten die psychologische Tragweite dieser Tatsache. Versuche entstanden, die Zeit zu messen, welche der Ablauf der verschiedenen psychischen Vorgänge beansprucht.

Indem sich nun aber diese Arbeiten zugleich auch als psychologische und psycho-physische Experimente darstellten, wirkten sie in der Richtung auf eine experimentelle Psychologie, zusammen mit den großen Analysen unserer Gesichts- und Tonwahrnehmung, durch welche besonders HELMHOLTZ dem Experiment einen anderen Weg in das Seelenleben hinein eröffnete. So wurden hierdurch in Deutschland die Denkmittel der erklärenden Psychologie durch die Ausbildung des psycho-physischen und psychologischen Experiments außerordentlich erweitert. Dies war ein Vorgang, welcher von den 60er Jahren unseres Jahrhunderts ab Deutschland die unbestrittene Herrschaft in der psychologischen Wissenschaft verschafft hat. Mit der Einführung des Experiments wuchs zunächst die Macht der erklärenden Psychologie außerordentlich. Eine grenzenlose Aussicht eröffnete sich. Durch die Einführung des Versuchs und der quantitativen Bestimmung konnte nach dem Vorbild der Naturwissenschaft die erklärende Seelenlehre eine feste Grundlage in experimentell gesicherten und zahlenmäßig bestimmten, gesetztlichen Verhältnissen gewinnen. Aber in dieser entscheidenden Situation trat nun das Gegenteil von dem ein, was die Enthusiasten der experimentellen Methode erwartet hatten.

Der Versuch führte auf dem psycho-physischen Gebiet zu einer höchst wertvollen Zergliederung der menschlichen Sinneswahrnehmung. Er erwies sich als das unentbehrliche Instrument der Psychologen für die Herstellung einer genauen Beschreibung innerer psychischer Vorgänge, wie der Enge des Bewußtseins, der Geschwindigkeit seelischer Prozesse, der Faktoren des Gedächtnisses, des Zeitsinnes, und es wird gewiß der Geschicklichkeit und der Geduld der Experimentatoren gelingen, auch für die Behandlung anderer inner-psychischer Verhältnisse Angriffspunkte für den Versuch zu gewinnen. Aber zur Erkenntnis von Gesetzen auf inner-psychischem Gebiet hat er schlechterdings nicht geführt. Er hat sich also für Beschreibung und Analyse höchst nützlich erwiesen. Dagegen hat er die Hoffnungen, welche die erklärende Psychologie auf ihn setzte, bisher getäuscht.

Unter diesen Umständen zeigt die gegenwärtige deutsche Psychologie zwei merkwürdige Erscheinungen in Bezug auf die Benutzung der erklärenden Methode.

Eine einflußreiche Schule geht auf dem Weg der Unterordnung der Psychologie unter das Naturerkennen mittels der Hypothese vom Parallelismus der physiologischen und psychischen Vorgänge entschieden weiter (4). Grundlage der erklärenden Psychologie bildet das Postulat: kein psychisches Phänomen besteht ohne ein begleitendes physisches. So entsprechen einander im Vorgang des Lebens die Reihe der physiologischen Prozesse und die der psychischen Begleiterscheinungen. Die physiologische Reihe bildet einen geschlossenen, lückenlosen und notwendigen Zusammenhang. Dagegen lassen sich die psychischen Veränderungen, wie sie in die innere Wahrnehmung fallen, nicht zu einem solchen Zusammenhang verbinden. Welches Verhalten folgt nun hieraus für den erklärenden Psychologen? Er muß den notwendigen Zusammenhang, den er in der physischen Reihe findet, auf die psychische übertragen. Näher wird seine Aufgabe so bestimmt: "Die Gesamtheit der Bewußtseinsinhalte in ihre Elemente zu zerlegen, die Verbindungsgesetze und einzelne Verbindungen dieser Elemente festzustellen und für jeden elementaren psychischen Inhalt empirisch die begleitende physiologische Erregung aufzusuchen, um aus der kausal verständlichen Koexistenz und Sukzession jener physiologischen Erregungen die rein psychologisch nicht erklärbaren Verbindungsgesetze und Verbindungen der einzelnen psychischen Inhalte mittelbar zu erklären." Hiermit ist doch der Bankrott einer selbständig erklärenden Psychologie ausgesprochen. Ihre Geschäfte werden von der Physiologie in die Hand genommen. Für die Interpretation psychischer Tatsachen sind nun dem mit Psychologie beschäftigten Naturforscher höchst ausgiebige Hilfsmittel gegeben. Wo in der inneren Erfahrung zwischen den Bedingungen und der Wirkung keine Gleichung besteht, braucht derselbe nur physiologische Zwischenglieder einzuschalten, welche kein psychisches Äquivalent haben. Diese erklären dann leicht dasjenige, was aus den angenommenen psychischen Erklärungselementen in einer Erscheinung wie der Willenshandlung nicht erklärbar ist.

Überblickt man den Inbegriff der so ausgebildeten Denkmittel einer erklärenden Psychologie, so bilden schließlich den Gegenstand einer solchen erklärenden Psychologie nur Möglichkeiten, und ihr Ziel ist nur irgendeine Probabilität.

Der Gang der experimentellen Untersuchung hat aber zugleich zu einer anderen höchst beachtenswerten Wendung geführt. WILHELM WUNDT, welcher zuerst unter allen Psychologen das Ganze der experimentellen Psychologie als einen besonderen Wissenszweig abgrenzte, ein Institut in großem Stil für dieselbe schuf, von dem der stärkste Anstoß zum systematischen Betrieb der experimentellen Psychologie ausging, und welcher dann in seinem Lehrbuch die Ergebnisse der experimentellen Psychologie zuerst zusammenfaßte, fand sich durch den Verlauf seiner umfassenden experimentellen Erfahrungen selber genötigt, zu einer Auffassung des Seelenlebens überzugehen, welche den bis dahin vorherrschenden Standpunkt der Psychologie verläßt. "Als ich", so erzählt er, "zum ersten Mal an psychologische Probleme herantrat, teilte ich das allgemeine dem Physiologen nahe liegende Vorurteil, daß die Bildung der Sinneswahrnehmung lediglich ein Werk der physiologischen Eigenschaften unserer Sinnesorgane ist. Ich lernte zuerst an den Leistungen des Gesichtssinns jenen Akt schöpferischer Synthese begreifen, der mir allmählich der Führer wurde, um auch der Entwicklung der höheren Phantasie- und Verstandesfunktionen ein psychologisches Verhältnis abzugewinnen, für das mir die alte Psychologie keine Hilfe geboten hatte." Er bestimmte nunmehr das Prinzip des Parallelismus näher dahin, "daß der psycho-physische Parallelismus immer nur auf die elementaren psychischen Prozesse,denen eben allein bestimmt abgegrenzte Bewegungsvorgänge parallel gehen, nicht aber auf beliebig komplizierte, erst aus einer geistigen Formung des sinnlichen Stoffs hervorgegangene Produkte des geistigen Lebens oder gar auf die allgemeinen, intellektuellen Kräfte, aus denen man diese Produkte ableitet, angewandt werden kann." (Menschen- und Tierseele, Seite 487, vgl. "Psychische Kausalität und Prinzip des psychischen Parallelismus, bes. Seite 38f) Er gab ferner die Geltung des  causa aequat effectum  für die geistige Welt auf; er erkannte die Tatsache der schöpferischen Synthese an; "unter ihr verstehe ich die Tatsache, daß die psychischen Elemente durch ihre kausalen Wechselwirkungen und Folgewirkungen Verbindungen erzeugen, die zwar aus ihren Komponenten psychologisch erklärt werden können, gleichwohl aber neue qualitative Eigenschaften besitzen, die in den Elementen nicht enthalten waren, wobei namentlich auch an diese neuen Eigenschaften eigentümliche, in den Elementen nicht vorgebildete Wertbestimmungen geknüpft werden. Insofern die psychische Synthese in allen solchen Fällen ein Neues hervorbringt, nenne ich sie eben eine schöpferisch"; im Gegensatz zum Gesetz der Konstanz der physischen Energie ist nach ihm in der "Verkettung schöpferischer Synthesen zu einer progressiven Entwicklungsreihe" ein "Prinzip des Wachstums geistiger Energie" enthalten (a. a. O., Seite 116). Noch stärker als WUNDT betonen JAMES in seiner "Psychologie" und SIGWART in den neuen Kapiteln seiner Logik über die Methode der Psychologie, in denen er auch die Pflege der beschreibenden Psychologie empfiehlt, das Freie und Schöpferische im Seelenleben. In dem Maße, als diese Bewegung fortschreitet, muß die erklärende und konstruktive Psychologie an Einfluß verlieren.

Das erste Merkmal der erklärenden Psychologie war in der Ableitung aus einer abgegrenzten Zahl eindeutiger Erklärungselemente gelegen. Durch dieses ist innerhalb der modernen Psychologie als ein zweites Merkmal bedingt, daß die Verbindung dieser Erklärungselemente nur den Charakter einer Hypothese hat. Dies ist schon von WAITZ anerkannt worden. Überblickt man nun den Gang der erklärenden Psychologie, so fällt besonders die beständige Zunahme der Zahl der erklärenden Elemente und der Denkmittel auf. Dies geht naturgemäß aus dem Streben hervor, die Hypothesen der Lebendigkeit des seelischen Vorgangs immer mehr anzunähern. Es hat aber zugleich die beständige Zunahme des hypothetischen Charakters der erklärenden Psychologie zur Folge. In demselben Maß, wie die Erklärungselemente und die Denkmittl gehäuft werden, nimmt der Wert ihrer Erprobung an den Erscheinungen ab. Zumal die Denkmittel der psychischen Chemie und der Ergänzung psychischer Reihen durch physiologische Zwischenglieder, welche keine Repräsentation in der inneren Erfahrung haben, eröffnen der Erklärung ein Feld unbegrenzter Möglichkeiten. Damit ist dann der eigentliche Kern der erklärenden Methode, die Erprobung der hypothetischen Erklärungselemente an den Erscheinungen, aufgelöst.
LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, vorgetragen am 22. Februar und am 7. Juni 1894, Berlin 1894
    Anmerkungen
    1) SCHMOLLER hat in seiner Abhandlung über Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und deren Methode im neuen Handwörterbuch der Staatswissenschaften überzeugend an der politischen Ökonomie die Abhängigkeit einer einzelnen Geisteswissenschaft, sofern dieselbe dem praktischen Leben Ziele vorschreiben soll, von einem umfassenderen Zusammenhang dargelegt. Er bringt auch zur Anerkennung daß nur ein teleologischer Zusammenhang diese Aufgabe lösen kann. Die folgende Abhandlung will nun zeigen, wie in der beschreibenden Psychologie die Mittel für eine allgemeingültige Erkenntnis eines solchen den Geisteswissenschaften zugrunde liegenden Zusammenhangs gegeben ist.
    2) Zur Ergänzung dieser kurzen Darlegung verweise ich auf die scharfsinnige Untersuchung von CARL STUMPF über Psychologie und Erkenntnistheorie in den Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
    3) WOLFF gab die Sonderung zuerst im "Discursus praeliminaris logices", § 112, dann nachdem THÜMING ihm in der Ausführung zuvorgekommen war, erschien seine empirische Psychologie1 1732, die rationale 1734.
    4) Das Verfahren dieser Schule ist am einfachsten aus MÜNSTERBERGs Schrift über die "Aufgaben und Methoden der Psychologie" zu ersehen. Dieser Schrift kommt das Verdienst einer sehr klaren Präzisierung des betreffenden Standpunktes zu.