ra-2Sollen und WertSollen und SeinÜber logische und ethische Geltung    
 
GEORG SIMMEL
Das Sollen

"Daß jener höchste Gedanke des Sollens, sei er die Glückseligkeit der Gesamtheit, oder der Wille Gottes, oder die Ausbildung der Individualität, oder die Rationalität der Handlungen - daß dieser gesollt wird, ist und bleibt unbewiesen. Immer nur ein Inhalt des Sollens kann auf einen anderen zurückgeführt werden, aber an irgendeinem bleibt es schließlich als am ursprünglichen haften, von ihm entlehnen alle andern die Würde des Sollens, ohne daß er selbst sie von einer anderen Instanz herleitete."

"Das Letzte, das wir erklären können, ist das Vorletzte. Die Hauptfrage, weshalb denn die einzelne Tat gesollt wird, ist auf diese Weise nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben. So schiebt jeder höhere mathematische Satz die Forderung seine Wahrheit zu beweisen auf einen vorhergehenden einfacheren, und dieser wieder weiter bis zurück zu den Axiomen, von denen alle andern ihre Wahrheit borgen und mit deren unbeweisbarer Gültigkeit sie stehen und fallen. So kann auch das Recht den Beweis für die Gerechtigkeit seiner höheren Bestimmungen nur so führen, daß es dieselben als logische Folge gewisser letzter Prinzipien aufzeigt, die einfach als Recht hingenommen, aber nicht bewiesen werden können."


Vorwort zur ersten Auflage

Die unübersehbare Fülle der Moralprinzipien und die Entgegengesetztheit in ihnen und ihren Ausführungen beweist unmittelbar, daß die Ethik diejenige Sicherheit der Methoden noch nicht gefunden hat, die in anderen Wissenschaften ein harmonisches Nebeneinander und aufsteigendes Nacheinander der Leistungen bewirkt. Von der Form der abstrakten Allgemeinheit, die zu den Einzelerfahrungen kein erkenntnistheoretisch geprüftes Verhältnis hat, von ihrer Verquickung mit der Moralpredigt und den Reflexionen der Weisheit scheint mir ihr Weg zu einer historisch-psychologischen Behandlung aufwärts zu gehen. Sie hat einerseits, als Teil der Psychologie und nach deren sonst festgestellten Methoden, die individuellen Willensakte, Gefühle und Urteile zu analysieren, deren Inhalte als sittliche oder unsittliche gelten. Sie ist andererseits ein Teil der Sozialwissenschaft, in dem sie die Formen und Inhalte des Gemeinschaftslebens darstellt, die mit dem sittlichen Sollen des Einzelnen im Verhältnis von Ursache oder Wirkung stehen. Endlich ist sie ein Teil der Geschichte, indem sie auf beiden genannten Wegen jede gegebene moralische Vorstellung auf ihre primitivste Form, jede Weiterentwicklung derselben auf die historischen Einflüsse, die sie treffen, zurückzuführen hat und so auch auf diesem Gebiet die historische Analyse als die Hauptsache gegenüber der begrifflichen anerkennen läßt.

Für diese Auffassung ist es fraglich, ob die Ethik überhaupt als eine besondere Wissenschaft bestehen bleiben wird. Es wird vielleicht eines Tages nicht mehr zweckmäßig erscheinen, unter dem von ihr gestellten Gesichtspunkt Teile so mannigfaltiger Wissenschaften zusammenzubringen. Dies ist indessen eine bloß praktische Frage der wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Dagegen dürfte es schon heute feststehen, daß, wenn die Moralwissenschaft sich über die Eingrenzung zwischen abstrakten Imperativen und unmethodische oder spekulative Betrachtungen erheben will - daß dann ihre Aufgaben nicht mehr von einem einzelnen Arbeiter, sondern nur von der Gesamtentwicklung der Wissenschaft zu lösen sind. Ich hoffe, die Zeit ist nicht mehr fern, wo ein einzelnes Buch so wenig den Titel "Ethik" schlechthin führen wird, wie etwa den Titel "Physik" schlechthin.

Zu der bezeichneten, in Abschnitten der ethischen, psychologischen und soziologischen Literatur schon partiell verwirklichten Behandlung der Moralwissenschaft wollen die nachfolgenden Gedankenreihen gewissermaßen ein Vorwort oder eine Überleitung sein, indem sie ihre Ausgangspunkte noch von der reflektierenden und teilweise spekulativen Denkart nehmen und auf dem Boden dieser selbst zu dem Punkt führen, wo sie über sich hinaus auf die Notwendigkeit exakter Einzeluntersuchungen weist. Sie kritisieren deshalb die scheinbar einfachen Grundbegriffe, mit denen die Ethik zu arbeiten pflegt, und zeigen einerseits deren höchst komplizierten und vieldeutigen Charakter auf, andererseits den Begriffsrealismus, mit dem man sie aus nachträglichen Abstraktionen zu wirkenden psychischen Kräften gemacht hat; sie zeigen, daß die Unsicherheit in Sinn und Begrenzung dieser Begriffe ihre Verknüpfung zu ganz entgegengesetzten Prinzipien gestattet, von denen jedes das gleiche Maß scheinbarer Beweisbarkeit besitzt wie das andere; sie weisen endlich auf die Schichtung belastender und entlastender Momente hin, die die einzelne Tat in der Verzweigtheit ihrer psychologischen Vorbedingungen ebenso wie in der ihrer sozialen Folgen findet.

Praktisch versittlichend wird freilich eine dementsprechende positive Ehtik nicht wirken, der das Gute wie das Böse ein gleichmäßig gleichgültiges Objekt bloßer genetischer Erkenntnis ist. So weni es indessen der Realität der Dinge versagt ist, im System der vorschreibenden Sittenlehre zum Material einer idealen Normgebung zu dienen, so wenig werden umgkehrt die idealen Momente des Menschenlebens sich dagegen wehren können, Gegenstand einer realistischen Wissenschaft zu werden.



Vorwort zum Neudruck

Statt einer zweiten Auflage dieses seit längerer Zeit vergriffenen Buches biete ich hier nur eine chemiegraphische Reproduktion der ersten Aufgabe - nicht obgleich, sondern weil ein inzwischen vollzogener Wandel meiner prinzipiellen Überzeugungen eine völlige Umarbeitung des Werkes meiner prinzipielle Überzeugungen eine völlige Umarbeitung des Werkes nötig gemacht hätte. Denn an einer solchen verhindern mich für absehbare Zeit anderweitige wissenschaftliche Verpflichtungen, während die weiterbestehende Nachfrage erkennen läßt, daß das Buch auch in seiner jetzigen Gestalt nicht völlig überflüssig geworden ist. Daß ich diesem Bedürfnis entgegenkomme, glaube ich verantworten zu können, weil die Weiterbildung meiner Ansichten mehr eine Ergänzung als eine einfache Verneinung der früheren Darlegungen fordern würde. Hauptsächlich aber, weil - wie es in philosophischen Entwicklungen häufig der Fall ist - die beiden Standpunkte, die ein Einzelgeist  nacheiander  erlebt, in rein sachlicher Hinsicht koordiniert sind. Von den Gegensätzlichkeiten der empiristischen und der metaphysischen Überzeugung, der historischen Wirklichkeitsentwicklung und der Wertprüfung, der psychologischen und der sachlichen Methode - ist eine jede ansich und für andere Persönlichkeiten darum noch nicht die höhere, weil sie es für eine individuelle Entwicklung geworden ist. Diese Differenzen sind der Ausdruck von Grundgesinnungen, die jenseits der Alternative von wahr und falsch stehen. Die Einsicht in eigentliche und wesentlich  Irrtümer  hätte eine Umänderung oder Unterdrückung des Buches gefordert; jene prinzipielle Wendung aber gestattet seine erneute Darbietung seitens des Verfassers, in demselben Sinn, in dem er das Buch eines Dritten herausgeben könnte, das ihm objektiv der Veröffentlichung nicht unwürdig erscheint, obgleich es eine andere Weltanschauung als die seinige vertritt.


Erstes Kapitel
Das Sollen

Die geistige Entwicklung der Menschheit hat eine Stufe durchgemacht, auf der man sich keines Unterschiedes zwischen den Vorstellungen, denen eine Wirklichkeit entspricht, und denen, die unwahr und rein psychologische Vorgänge sind, bewußt war. Von den Naturvölkern hören wir vielfach, daß sie den Vorstellungen des Traumes dieselbe Wirklichkeit zuschreiben und dieselben Folgen geben, wie denen des Wachens; daß die tollste Einbildung, z. B. die Anwesenheit von Geistern, genau diese Realität für sie besitzt, wie irgendein sinnlich wahrnehmbares Ding; daß sie die Vorstellung eines Menschen, die sein Bildnis hervorruft, von der seiner wirklichen Gegenwart nicht zu unterscheiden wissen. Die Kulturvölker zeigen an ihren Kindern noch die gleiche Erscheinung; es ist oft unmöglich dem Kind klar zu machen, daß eine Wendung des Spiels oder des erzählten Märches, die ihm Tränen entlockt, nicht Wirklichkeit, und daß die Puppe, die es wegen einer eingebildeten Ungezogenheit schlägt, kein wirklicher Mensch ist; ein Kind im dritten Jahr, zu dessen Belustigung man Papierfiguren ausschnitt, weinte heftig, wenn eine Figur durch rasches Schneiden in Gefahf kam, ein Glied zu verlieren; ein anderes, das geträumt hatte, seine Mutter verließe es, machte dieser nach dem Erwachen die größten Vorwürfe darüber. Entsprechend tritt dieser Mangel an Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und dem bloß Vorgestellten bei weniger entwickelten Geistern vergleichsweise stärker hervor; die Juristen bemerken bei ihrem Verkehr mit den ungebildeten Klassen, daß es diesen fast unmöglich ist, die Tatsachen und ihre Auslegungen und Phantasiegebilde auseinander zu halten. Aber auch in den höheren Kulturkreisen sind noch genug Überbleibsel dieser Unvollkommenheit auffindbar. Man scheut sich etwas Böses auch nur beim Namen zu nennen, man darf gewisse Dinge nicht einmal im Scherz sagen, offenbar weil für uns an der bloßen Vorstellung schon ein Teil Realität haftet; daß man den Teufel nicht an die Wand malen, daß auch an der unsinnigsten Verleumdnung immer etwas daran sein soll und daß immer etwas von ihr hängen bleibt - das alles ist die Folge einer nicht genügend scharfen Scheidung des bloßen Gedankens von demjenigen, der zugleich die Wirklichkeit bedeutet. Noch in der Symbolik des brahmanischen Opfers läßt die gleiche Verschwommenheit des Denkens das gesprochene Wort als Gewißheit, die mitschwebende Bedeutung der Sache als ihre Wirklichkeit erscheinen: "Prajapati schuf zu seinem Abbild das was das Opfer ist; darum sagt man: das Opfer  ist  Prajabati."

Um was es sich hier handelt, das ist nicht der Irrtum, der das Erzeugnis der Einbildung in das Gewand der Wahrheit kleidet und so bei prinzipieller Klarheit über den Unterschied zwischen bloß psychologischer und objektiv wahrer Vorstellung die Inhalte beider vertauschte, sondern darum handelt es sich, daß bei primitiverem Denken der Unterschied zwischen Denken und Sein nicht nur nicht in abstrakter Weise, sondern nicht einmal tatsächlich in der Anwendung auf den einzelnen Fall gemacht wird. Die Vorstellungsinhalte tauchen zunächst rein als solche psychologisch auf und es bedarf erst eines langen Differenzierungsprozesses, um sie in wahre und unwahre, logische und psychologische zu teilen. Überall, wo das Bewußtseins ganz und gar von einer Vorstellung ausgefüllt ist, so daß kein Vergleich und kein reflektierendes Zusammenhalten mit der Gesamtheit der andern stattfindet, da pflegt sie sich auch in späteren Stadien der Geistesentwicklung noch unmittelbar als reale darzustellen. Darum erscheinen einem die meisten Gedanken im Augenblick der Konzeption als wahre, darum ist der Schöpfer einer Idee, die sein ganzes Denkvermögen ausfüllt, ihr gegenüber meistens so kritiklos, darum sind wir meistens von der objektiven Richtigkeit von Parteimeinungen durchdrungen, die durch die Fülle der mit ihnen verbundenen Interessen unser Bewußtsein ganz und gar ausfüllen; selbst in der Wissenschaft ist diese Überschätung des eigenen Gebietes ganz gewöhnlich, weil die subjektiv-psychologische Bedeutung für uns gar zu leicht den Anschein einer sachlichen annimmt; so, um ein weniger bekanntes Beispiel zu nennen, zeigt die Geschichte der Tierpsychologie, daß die wirklichen Beobachter, die sich eingehend mit der Tierwelt beschäftigt haben, die Fähigkeiten der Tierseele fast durchgehends überschätzten. So gewinnt auch das erste Dogma, dem unser Studium sich hingibt und das noch unbestrittenen Raum zur Ausbreitung in unserem Geist findet, uns so oft zu seinen Anhängern; darum übt das Gegenwärtige, bloße weil es ein solches ist, eine psychologische Kraft, die über seine objektive Bedeutung oft weit hinausreicht. Denn das Sein oder die Wahrheit ist auch nur ein Verhältnisbegriff, d. h. die Majorität der miteinander zusammenhängenden und übereinstimmenden Bewußtseinsinhalte nennen wir Wahrheit, gegenüber der Minorität, und wiederholen damit im Individuellen das schon sonst ausgesprochene Verhältnis, daß Wahrheit die Vorstellung der Gattung, Irrtum aber die schlechthin individuelle Vorstellung wäre. Wenn also die Enge des Bewußtseins es verhindert, daß sich neben eine sehr mächtige Vorstellung noch andere setzen, wenn anstelle eines vollkommenen Weltbildes, an dem sich die Kraft, d. h. hier: die Wahrheit einer Vorstellung erst zu messen hätte, nur diese letztere allein unseren Geist ausfüllt, so ist sie eben für uns wahr, weil kein ihr überlegenes Kriterium vorhanden ist. So wenig  cogito ergo sum  ein Schluß ist, der von einer vorher gesetzten Beziehung zwischen Denken und Sein abhängig wäre, so wenig stammt der Glaube an die Realität jedes Phantasmas, den wir auf den niedrigen Denkstufen finden, aus einem bewußten oder unbewußten Schluß:  cogitatur ergo est.  Da vielmehr die Zweiheit: Denken und Sein, noch gar nicht als solche aufgetaucht ist, so findet kein Prozeß der psychologischen Überführung von jenem in dieses statt, sondern für den ganz unerfahrenen Geist ist das eine unmittelbar das andere, oder vielmehr keines von beiden, sondern der reine sachliche Inhalt der Vorstellung übt auch die psychologischen Wirkungen, die bei differenzierterem Vorstellen nur den mit dem Zeichen der Realität versehenen Inhalten zukommt.

Es werden ausschließlich praktische Veranlassungen sein, die dann zwischen Denken und Sein scheiden lehren. Wenn die Handlungsweisen, die von gewissen Vorstellungen ausgingen, den gehofften Erfolg nicht erzielten, so wird sich mit diesen Vorstellungen ein anderes Gefühl psychologisch assoziieren, als mit anderen, aufgrund deren man seine Zwecke erreichte. Nicht die Kategorie eines Seins liegt zugrunde, in welche auf solche Erfahrungen hin die Vorstellungen eingereiht oder von der sie ausgeschlossen würden; sondern begreiflicher erscheint der Vorgang so, daß sich aufgrund praktischer Erfahrungen von Täuschung und Befriedigung eine Differenzierung innerhalb der Vorstellungen bildet, deren einer Teil dann die Wirklichkeitsvorstellung, der andere eine bloße Idee genannt wird; oder vielmehr mangels der Klarheit darüber, daß im letzten Grund ja auch die Wirklichkeit nur Vorstellung ist, heißt der eine Teil der Vorstellungen schließlich das Sein schlechthin, der andere das Denken. Das Sein ist freilich keine Eigenschaft der Dinge, denn damit sie überhaupt eine Eigenschaft sein können, müssen sie schon sein; dagegen kann man es als eine Eigenschaft der Vorstellungen bezeichnen; indem wir einer Vorstellung das Sein zusprechen, drücken wir damit das Vorhandensein gewisser Beziehungen derselben zu unserem Empfinden und Handeln aus. Die Realität ist etwas, was zu den Vorstellungen psychologisch hinzukommt, aber nicht ursprünglich irgendwie an ihnen haftet; es ist erst Sache einer späteren Entscheidung, ob wir einer Vorstellung das Sein zusprechen oder sie als bloße, vielleicht irrende Vorstellung betrachten, während sie bei ihrem Auftauchen einen Indifferenzzustand zwischen beiden darstellt; der bloße Inhalt der Vorstellung, der zunächst das Bewußtsein füllt, läßt es noch zweifelhaft, unter welche von beiden Kategorien er gehört.

Aber auch für den Geist, der über die Zweiheit derselben vollkommene Klarheit erreicht hat und gerade für ihn steht der sachliche Inhalt der auftauchenden Vorstellung noch immer am Scheideweg zwischen Sein und Nichtsein. Sicherlich zwar ist die Hypothese falsch, nach der ein Schluß von der Wirkung auf die Ursache dazu gehörte, um von den bloßen Bewußtseinstatsachen zur Vorstellung einer realen Welt zu kommen. das ist der alte Irrtum der Projektionslehre, der durch den richtig verstandenen KANT unmöglich gemacht sein sollte. Es existiert nicht ein Raum außerhalb unser, in den wir unsere Empfindungen hineinsetzen wie Möbel in ein Zimmer; sondern die Räumlickeit der Dinge selbst ist gar nichts anderes, als ein Verhältnis von Vorstellungen untereinander, eine Ordnung der Empfindungen, die nicht außerhalb ihrer existiert; einen Gegenstand anschauen, heißt Empfindungen in einer Art ordnen, die wir räumlich nennen. Ebenso ist auch die Wirklichkeit nichts was außerhalb der Vorstellungen derart existierte, daß diese nun erst in jene versetzt würden; sondern eine gewisse psychologische Qualität der Vorstellungen wird dadurch bezeichnet, daß wir diese wirkliche nennen - wenn sich diese Qualität auch erst im Lauf der Entwicklung des Vorstellungslebens einstellt; zusammenfassend könnte man sagen, daß die Räumlichkeit und die Wirklichkeit der Dinge nichts anderes sind, als psychische Prozesse, die am Inhalt der Vorstellungen vor sich gehen. Ebenso sicher aber ist es, daß es oft sehr mannigfaltiger Umstände und Kombinationen als psychologischer Vorbedingungen bedarf, um die verschiedenartigen Bestandteile der Vorstellungswelt in die Kategorie des Seins emporzuheben. Nachdem die Scheidung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit einmal vollzogen ist, hat die Gattungserfahrung aus der Summe der einzelnen Fälle die Merkmale der Scheidung feststellt: bald durch direkten Augenschein, bald durch logische Überlegung, bald durch Ausschluß des Gegenteils, bald durch glaubensmäßige Motive wird die auftauchende Vorstellung als reale oder irrende beurteilt; vielerlei Brücken führen in unserem jetzigen Vorstellen von der Gedankenwelt zur Welt der Wirklichkeit, auf vielerlei Quellen kann sich der Gedanke zurückleiten, um aus ihnen das Prädikat der Realität zu schöpfen. Zwar führen oft erst mannigfaltige Schlußreihen zu der Überzeugung, daß eine Vorstellung Realität besitzt; allein dies bedeutet nur, daß nun die Bedingungen zu jenem psychischen Zustand der Vorstellung gegeben sind, den wir Wirklichkeit nennen, und daß der innerliche Vorgang, der zu ihm führt, sich nun in einem verstandesmäßige Bewußtsein spiegelt, in dem er natürlich die diesem eigenen Formen, hier die des Schlusses, annimmt. Die Beschaffeheit, welche die Vorstellung durch die angeführten Merkmale erhält,  ist  unmittelbar ihre Realität; das Sein und das bloße Gedachtwerden einer Vorstellung sind sozusagen nur verschiedene Zustände derselben, oder verschiedene Lokalzeichen, welche den gleichen Inhalt begleitend ihm verschiedene Stellen anweisen, von denen sich dennoch keine von der andern anders unterscheidet, als durch immanente psychologische Mermale.

Auch in rein logischer Beziehung gewinnt die Sonderung des Inhalts der Vorstellung von der Frage nach ihrem Sein oder Nichtsein Bedeutung. Wir weisen jedem Begriff seinem sachlichen Inhalt nach eine Stelle zwischen über- und untergeordneten an, die er behält, gleichviel ob wir ihn oft oder selten realisiert finden; wir erkennen gesetzliche Beziehungen zwischen den Dingen an, deren Gültigkeit völlig unabhängig davon ist, wie oft oder ob überhaupt der Verlauf der Wirklichkeit die Bedingungen ihres Inkrafttretens darbietet; ja, alles über den einzelnen Fall hinausgehende Erkennen, betrifft es den logischen Schematismus oder die Naturgesetzlichkeit der Dinge, bezieht sich auf deren bloßen Inhalt, in scharfer Abscheidung von der Frage, wann und wo dieser Inhalt die psychologische Form gewinnt, die wir Wirklichkeit nennen.

Dieses Fürsichbestehen der bloßen Sachlichkeit der Vorstellung, die ihre Bestimmung nach Sein oder Nichtsein erst von ihrem weiteren psychologischen Schicksal erwartet, gibt auch noch anderen Bestimmungen als der der genannten scharfen Alternativen Raum. Auch der Wille als solcher ist in der Selbstbesinnung von jedem Inhalt abtrennbar. Ich kann jeden Moment der Handlung, ein Stück Holz zu einem Pfeil zu schnitzen, völlig klar und lückenlos, aber bloß theoretisch denken; tritt das Bewußtsein hinzu, daß ich dies nun in Wirklichkeit ausführen will, so verändert sich dadurch im Inhalt der Vorstellung nicht das Geringste: sonst würde ich nicht eben dieses wollen. Die bloß abstrakte Vorstellung meines Handelns unterscheidet sich nur durch ein Gefühl von der Beabsichtigung dieses Handelns, durch ein Gefühl, über dessen Eigenart wir in einem späteren Kapitel zu handeln haben. So wenig sich hundert gedachte Taler inhaltlich von hundert wirklichen unterscheiden, so wenig auch von hundert, die durch meinen Willen wirklich werden sollen. Das Wollen einer Sache ist gewissermaßen ein mittlerer Zustand zwischen ihrem Nichtsein und ihrem Sein, wie es ein mittlerer zwischen Haben und Nichthaben ist; so wenig wir es weiter erklären können, was es denn bedeute, daß eine Vorstellung, die wir denken, außerdem auch wirklich ist, wie dies vielmehr nur ein Gefühl ist, das woraus auch immer entstanden, die Vorstellung begleitet: so wenig können wir mit Worten sagen, was das Wollen einer solchen Vorstellung eigentlich ist; auch dies ist nur eine gefühlsmäßige Begleitung der Vorstellung. In ganz derselben Weise ist das Hoffen ein Gefühl, welches den objektiven Inhalt von Vorstellungen begleitet, ebenso nun auch das Sollen; der ganz gleiche Inhalt erscheint uns einfmal als wirklicher, ein anderes Mal als gewollter, als erhoffter, als gesollter. Das Sollen ist eine Kategorie, die zu der sachlichen Bedeutung der Vorstellung hinzutretend, ihr eine bestimmte Stelle für die Praxis anweist, wie sie eine solche auch durch die Begleitvorstellung des Seins, des Nichtseins, des Gewolltwerdens usw. erhält. Ihrer Bedeutung nach zu beschreiben ist aber keine von diesen, wenn auch vielleicht die Bedingungen, gelegentlich derer sie sich entwickeln, und die Folgen, für deren Eintreten sie die Motive bilden; es sind Gefühle, die durch die Ausbildung und Notwendigkeiten des Lebens hervorgerufen, die reine Sachlichkeit des Vorstellens von Dingen und Geschehnissen begleiten, sozusagen die gleiche Melodie immer in verschiedene Tonarten transponieren. Man könnte sie sämtlich in eine phänomenologische Reihe eingliedern, welche von der Vorstellung des Nichtseins, des bloßen Gedachtwerdens zu der der vollkomenen Wirklichkeit führt; das Wollen, das Hoffen, das Können, das Sollen - all das sind gewissermaßen Zwischenzustände und Vermittlungen zwischen dem Nichtsein und dem Sein, die wir für denjenigen, der sie nie empfunden hätte, so wenig beschreiben könnten, wie wir zu sagen wissen, was denn das Sein oder das Denken eigentlich ist: es gibt keine Definition des Sollens. Wie die gleiche Materie verschiedene Aggregatzustände annehmen kann, von dem der größten Festigkeit bis zum gasförmigen und vielleicht dem noch darüber hinausliegenden strahlenden, so kann auch die gleiche Vorstellung ihren Inhalt gewissermaßen in verschiedenen psychologischen Aggregatzuständen darstellen, von der vollkommenen Realität bis zur vollkommenen Idealität. Das Sollen ist nur einer dieser Zustände; es betrifft Vorstellungen, denen wir das Sein noch absprechen, oder wenigstens in soweit nicht zusprechen, als sie eben bloß gesollt werden, und die dennoch nicht in der Gleichgültigkeit des Nichtseins verharren. Es ist von jedem Inhalt vollkommen abtrennbar, denn sonst wäre die für jedes beliebige Tun anzustellende Überlegung, ob ich es soll oder nicht, eine Unmöglichkeit. Das Sollen ist ein Denkmodus wie das Futurum und das Präteritum, oder wie der Konjunktiv und der Optativ; durch die Form des Imperativs hat die Sprache diesem Verhalten Ausdruck gegeben. Auch findet die Bestimmung des Inhalts für das Sollen auf ganz so mannigfaltige Weise statt, wie für das Sein. Wie durch all die oben angeführten Kriterien immer die eine Form des Sollens gewinnen: bald die Realität, bald die Nichtrealität, bald der Vorteil für den Einzelnen, bald der für die Gesamtheit, bald der Befehl einer egoistischen Autorität, bald gerade die Entgegensetzung gegen einen solchen. Und wie wir uns eine ganze Welt theoretisch vorstellen können, mit allen Gesetzen und Einzelheiten, und dann noch zu fragen haben, ob sie wirklich ist oder nicht, so können wir ebenso fragen, ob sie sein soll oder nicht. Denn von vielem sagen wir, daß es sein soll, was persönlich anzubefehlen sinnlos wäre; wenn KANT behauptet, der Natur gegenüber könne es kein Sollen geben, seil sie einfach den Gesetzen ihrer Wirklichkeit gehorcht und kein Ohr hat einen darüber hinausgehenden Imperativ zu vernehmen, so ist dies psychologisch nicht ganz richtig; auch vom natürlichen Lauf der Dinge, an dessen Notwendigkeit wir nicht zweifeln, sagen wir oft genug, daß er hätte anders sein sollen. Und zwar nicht nur im Vorblick, der uns noch keine Sicherheit des Verlaufs gewährt, sondern auch im Rückblick auf das schon Vollendete. Wenn wir uns nicht scheuen, dem unausweichlich bestimmten Handeln der Menschen doch ein Sollen anderen Inhalts gegenüberzustellen, so sehe ich nicht, weshalb wir uns durch die nicht größere Besimmtheit der übrigen Natur bräuchten verhindern zu lassen, auch für sie ein Sollen zu konstruieren. Nur daß es unnütz ist, weil ganz allein an psychologischen Wesen das ausgesprochene Sollen seine Nützlichkeit ausüben kann, dürfte den Hinderungsgrund bilden. Und gerade KANT, indem er die ungerechte Verteilung von Tugend und Glückseligkeit in der wirklichen Welt als etwas ganz Unerträgliches hervorhebt, empfindet das angemessene Verhältnis, nach dem der Gute seinen Lohn und der Böse seine Strafe erhält, als ein Sollen, das der Natur gegenüber gilt und dem sie dann auch in einer jenseitigen Welt nachkommt. Der Imperativ ist nur ein einzelner Fall des Sollens oder vielmehr ein Mittel, durch welches das Sollen in das Sein geführt wird.

Aus diesem Erkenntnistheoretischen Charakter des Sollens ergibt sich zunächst die Vergeblichkeit aller Versuche, aus dem Begriff desselben heraus einen bestimmten Inhalt seiner zu gewinnen. Sobald wir erkennen, daß das Sollen nur eine der Formen ist, welche der rein sachliche ideelle Inhalt der Vorstellungen annehmen kann, um eine praktische Welt zu bilden, ist klar, daß wir ihm von vornherein keine stärkere innerliche Beziehung zum einen wie zum andern Inhalt zusprechen können. Darum hat KANT schon zuviel getan, als er die, wenn auch noch so allgemeine Formel des kategorischen Imperativs aus dem Begriff des Sollens überhaupt heraus deduzierte. Er begeht damit einen ontologischen Irrtum, nicht geringer als der, den er am Begriff des Seins so schlagend gerügt hatte. Weder läßt sich aus dem Begriff eines Dings erkennen, ob es ist oder nicht, noch aus dem Begriff des Seins, daß es irgendeinem besonderen Inhalt zukommen muß; und ebensowenig gibt uns irgendein Geschehen seinem Begriff nach eine Anweisung darauf, daß das Sollen mit ihm verbunden sein muß, noch das Sollen, daß es sich irgendeinen bestimmten Inhalt aneignet. Wollen wir uns über das Sollen klar werden, so müssen wir es scharf von denjenigen Inhalten sondern, mit denen es durch die unantastbare Heiligkeit derselben und durch lange Gewöhnung psychologisch so eng assoziiert ist, daß eines unmittelbar das andere reproduziert; die Vorstellung gewisser Handlungsweisen erscheint uns unabtrennbar von einem Sollen, das ihre Verwirklichung entweder gebietet oder verbietet, und ebenso scheint es leicht undenkbar, daß das Sollen begrifflich von gewissen wenigstens allgemeinsten Inhalten ablösbar wäre. Erst wenn wir uns klar werden, daß unser ganzes Vorstellen aus zwei Elementen besteht: einerseits dem sachlichen ideellen Inhalt, dem Was der Dinge, andererseits den Gefühlen, die diesen Inhalt begleitend ihm eine positive, negative oder Übergangsbeziehung zur Realität geben - erst dann ist die Grundlage da, auf der sich eine reine Betrachtung des Sollens erheben kann. Daß das Sollen freilich in diese Reihe gehört, daß sein Begriff noch keine Spur eines Inhaltes, sei er sozialer, individualistischer, eudämonistischer, pessimistischer Art einschließt, daß es nur sozusagen ein gefühlter Spannungszustand von Inhalten ist, der wie das Können, das Sein, das Wünschen eine Art ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit ausdrückt, das ist so wenig exakt und unwiderleglich auszumachen, wie überhaupt die Bedeutung psychologischer Begriffe, für die man nur an die Selbstbesinnung appellieren kann, deren Ergebnisse schließlich von der der logischen Deduktion entzogenen Subjektivität abhängen. In solchen begrifflichen und zugleich auf ein Gefühl zurückweisenden Erörterungen gibt es nur Indizienbeweise und der Forscher darf sich kaum ein höheres Ziel stecken, als denjenigen Geistern, die das Material und die Disposition zur gleichen Erkenntnis latent in sich tragen, zu deutlicherem Bewußtsein darüber zu verhelfen.



Wir haben oben gemacht, daß es kein verstandesmäßiger Schluß ist, der uns ursprünglich von den Empfindungen, die gewisse Inhalte begleiten, zur Vorstellung von deren Wirklichkeit führt; vielmehr  ist  dies unmittelbar ihr reales Sein; Wirklichkeit einer Sache ist nichts anderes als der Name für einen bestimmten psychologischen Charakter ihrer Vorstellung und aller verstandesmäßige, logische Beweis, daß eine Vorstellung Wirklichkeit ist, bedeutet nur das Herbeiführen oder das Bewußtwerden der Vorbedingungen für das Eintreten jener psychologischen Verfasseung der Vorstellung, die wir Wirklichkeit nennen. Zudem kann der Beweis, daß etwas ist, immer nur geführt werden, wenn eine andere Vorstellung schon als wirklich gesetzt wird und nun die gleichen inneren Bedingungen, die sie charakterisieren, am anderen erkannt werden, sei es direkt oder durch Übertragung oder durch Analogie; denn das Sein überhaupt kann nicht bewiesen, sondern nur erlebt und gefühlt werden, und darum käßt es sich nie aus bloßen Begriffen deduzieren, sondern nur aus solchen, in welche irgendwo das Sein schon aufgenommen ist. Das Sollen verhält sich in gleicher Weise. Daß wir etwas sollen, läßt sich, wenn es logisch erwiesen werden soll, immer nur durch Zurückführung auf ein anderes als sicher vorausgesetztes Sollen erweisen; ansich betrachtet ist es eine Urtatsache, über die wir vielleicht psychologisch aber nicht mehr logisch hinausfragen können. Kein Schluß könnte uns lehren, daß wir etwas sollen, wenn wir dieses Sollen nicht wenigstens anderweitig empfunden hätten; er lehrt es uns, wenn nun die Bedingungen des damaligen Empfindens am jetzigen Fall so aufgezeigt und zu Bewußtsein gebracht werden, daß sich die gleiche Gefühlsfolge einstellt; und dieses eintretende Gefühl ist nun nicht etwa ein solches, aus dem erst geschlossen würde: also soll ich dies und jenes - sondern es ist unmittelbar das Gesolltwerden der Vorstellung selbst.

Ist so das Sollen eine ursprüngliche Kategorie wie das Sein und das Vorstellen und nimmt es an der ganzen Unerklärlichkeit dieser letzten Tatsachen Teil, so verdeutlichen sich von hier aus die verschiedenen Erscheinungen, die mit der Unbegründbarkeit der Moral zusammenhängen. Alle Versuche, die Vielheit der Inhalte des Sollens auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen, mögen im günstigsten Fall nachweisen können, daß sich unter der Voraussetzung jener höchsten und allgemeinsten Pflicht die Verpflichtung zu den einzelnen Handlungen logisch und psychologisch erklärt; umgekehrt mögen diese Handlungen auf jenes Prinzip dadurch hinweisen, daß ihre Mannigfaltigkeit keiner anderen Gleichheit Raum gibt, als einerseits dem formalen Charakter des Sollens, andererseits der gemeinsamen Zweckbeziehung, so daß die Zusammengehörigkeit dieser beiden nahe gelegt wird. Daß sie aber zusammen gehören, daß jener höchste Gedanke, sei er die Glückseligkeit der Gesamtheit, oder der Wille Gottes, oder die Ausbildung der Individualität, oder die Rationalität der Handlungen - daß dieser gesollt wird, ist und bleibt unbewiesen. Immer nur ein Inhalt des Sollens kann auf einen anderen zurückgeführt werden, aber an irgendeinem bleibt es schließlich als am ursprünglichen haften, von ihm entlehnen alle andern die Würde des Sollens, ohne daß er selbst sie von einer anderen Instanz herleitete. Identifizieren wir das Sollen mit irgendeinem Inhalt und sei es selbst nur der des kategorischen Imperativs, so nimmt dieser ander ganzen Unbegründbarkeit Teil, die dem Sollen selbst eigen ist. Wenn der Metaphysiker eine letzte Substanz aufgefunden hat, aus deren Wesen sich alle Erscheinungen des Kosmos folgern lassen; wenn wir eine ursprünglichste Summe der Kraft entdeckt haben, die die Quelle für alle aufzeigbaren Kraftwirkungen im Weltgeschehen bildet: so können wir weder fragen woraus sich das Wesen jener Substanz erklären läßt, noch was die Ursache dieser Kraft ist, ohne unsere eben gewonnene Erkenntnis selbst wieder in Frage zu stellen. Und ganz ebenso können wir nicht fragen, woher der letzte gesollte Inhalt, auf den wir kommen, sein Sollen begründen kann.

Auch operiert alle Zurückführung der sittlichen Mannigfaltigkeit auf ein letztes Prinzip nicht eigentlich mit dem Sollen; sie schiebt es vielmehr von einem Inhalt auf den andern, indem sie nachweist, daß die einzelne Pflicht ihr Sollen nicht in sich, sondern von jenem tiefsten zu Lehen trägt, zu dem sie im Verhältnis des Mittels steht. Nicht daß irgendeine bestimmte Handlung, z. B. Fürsorge für die Familie, ansich Pflicht sei, beweist der monistische Ethiker, z. B. der Utilitarier; sondern nur dies, daß jene Handlung das Glück der Gesamtheit steigern helfe und sein soll, weil diese Glückssteigerung sein soll; das Gesolltwerden dieser aber läßt sich nirgendwoher leiten, sondern nur als Tatsache oder als Dogma aussprechen. Das Sollen begleitet die ganze Reihe von Ursachen und Wirkungen, die etwa vom Geldverdient für die Familie bis zur Glückssteigerung für die Allgemeinheit oder zur Erfüllung der kantischen Formel oder zur Realisierung einer HERBART'schen Idee führt, ohne in ihr selbst eine Erklärung zu finden. Jedes Glied vielmehr erklärt sein Sollen aus dem Gesolltwerden des folgenden, und wo wir an dasjenige kommen, welches das Sollen nicht wieder von sich abwälzen, seine Dignität nicht mehr von einem andern herleiten kann, da bricht die Reihe ab und läßt es an diesem genauso unerklärt, wie es am ersten war: das Letzte, das wir erklären können, ist das Vorletzte. Die Hauptfrage, weshalb denn die einzelne Tat gesollt wird, ist auf diese Weise nicht gelöst, sondern nur zurückgeschoben. So schiebt jeder höhere mathematische Satz die Forderung seine Wahrheit zu beweisen auf einen vorhergehenden einfacheren, und dieser wieder weiter bis zurück zu den Axiomen, von denen alle andern ihre Wahrheit borgen und mit deren unbeweisbarer Gültigkeit sie stehen und fallen. So kann auch das Recht den Beweis für die Gerechtigkeit seiner höheren Bestimmungen nur so führen, daß es dieselben als logische Folge gewisser letzter Prinzipien aufzeigt, die einfach als Recht hingenommen, aber nicht bewiesen werden können.

Ließe sich ein Inhalt finden, dessen Erfüllung unmittelbar mit Sittlichkeit zusammenfällt, so wäre die Frage, weshalb wir ihn denn erfüllen sollen, allerdings sinnlos; denn sie hieße dann nur: weshalb sollen wir überhaupt sittlich sein? Diese aber können wir nicht stellen, weil sittlich sein ja nichts anderes bedeutet, als tun was wir tun sollen, so daß sie nur fragte: weshalb sollen wir tun was wir tun sollen? Oft genug freilich ist der Skeptizismus auch zu ihr fortgeschritten; oft genug hat man gefragt, worauf sich denn das Gebot gründet, daß der Sittlichkeit den Vorzug des Seinsollenden vor der Unsittlichkeit gibt. Wo so gefragt wurde, war es immer schon ein bestimmter  Inhalt  der Sittlichkeit, der subintelligiert [untergeschoben - wp] und in seiner Berechtigung ein Sollen darzustellen angezweifelt wurde, eine bestimmte Handlungsweise, die selbstverständlich als mit dem Begriff der Sittlichkeit synonym vorausgesetzt wurde. Daß wir niemanden beschädigen, uns keinen unrechtmäßigen Vorteil verschaffen, unseren Mitmenschen soviel wie möglich nützen sollen - das scheint der stets sich gleichbleibende Inhalt der Sittlichkeit zu sein, und immer hat man diese materialen Pflichtgebote vor Augen gehabt, wenn man nach der Begründung des sittlichen Sollens überhaupt fragte. In dieser Beschränkung ist die Frage auch stets berechtigt, wenn sie einerseits von der Erfahrung ausgeht, daß bis jetzt kein einziges materiales Pflichtgebot dem sittlichen Bewußtsein der Menschheit immer und unbedingt entsprochen habe, andererseits von der Überlegung, daß das Sollen, welches an diesem höchsten Inhalt haftet, unbegründet und unbegründbar ist. Löst man aber diese enge psychologische Verbindung, die dem Sollen sogleich einen bestimmten Inhalt unterlegt, und fragt, weshalb das Seinsollende als solches einen Vorzug vor dem Nichtseinsollenden hat, so behandelt man einen analytischen Satz wie einen synthetischen: das Seinsollen bedeutet ja nichts anderes, als einen solchen Vorzug, beides sind nur verschiedene Ausdrücke für eine und dieselbe Qualität von Handlungsweisen, und jene Frae ist ebenso leere wie die, weshalb  A  denn wirklich  A  ist; denn wenn der Begriff des Sittlichen einmal da ist, so kann er schon an und für sich nur bedeuten, daß wir ihm nachleben  sollen.  Wir könnten deshalb vielleicht fragen, weshalb wir sittlich sind, keinesfalls aber, weshalb wir es sein sollen.

Wenn schon der Moralphilosophe das Sollen nicht erklären, sondern nur unter der Voraussetzung seines Haftens an einem letzten Inhalt es auf andere Inhalte überleiten kann, so reißt die Kette der Erklärungsgründe dem praktischen Moralbewußtsein natürlich noch früher ab; die logische Grundlosigkeit des Sollens überhaupt spiegelt sich in der psychologischen Grundlosigkeit seiner einzelnen Inhalte. Bedeutsame und unbedingte, aber auch schon niedrigere sittliche Vorschriften beruhen auf so langer Vererbung, daß die Reihe der Erfahrungen und Überlegungen, die einst zu ihnen hinführte, immer mehr verdichtet wurde und schließlich nur noch ihr Resultat dem Bewußtsein übrig blieb; wie der Kulturmensch eine Fülle von Einrichtungen und Produkten jeder Art benutzt, ohne sich darum zu kümmern oder auch nur immer verstehen zu können, wie sie hergestellt sind, so hält sich sein sittliches Leben an Vorschriften, deren Ursprung ihm gleichgültig, unauffindbar oder unverständlich ist. Die arbeitsparende Tendenz organischer Entwicklung entlastet das Bewußtsein von der Vorstellung der Gründe einer Sittenregel, sobald diese selbst durch Vererbung und Überlieferung fest genug geworden ist. Die Würde, welche die einzelne materiale Vorschrift durch die Beziehung auf tiefere und weitere Zwecke erhielt, bleibt als selbständige Tatsache bestehen, wenn jene Beziehungen auch längst verdunkelt und vergessen sind.

Aber es ist gleichsam nicht nur die Länge, sondern auch die Breite der Beziehungen, die auf diesen Erfolg hinwirkt; nicht nur so lange vererbt sind die Gründe einer Sittenregel, daß sie durch Verdichtung ihren Raum im Bewußtsein verlieren, sondern auch so weit verzweigt, so mannigfaltig, in so viele Gebiete eingreifend, daß sie sich für das Bewußtsein des Einzelnen wie der Gattung gegenseitig verdunkeln und paralysieren. Bedenkt man, daß es doch durchgehends die soziale Wirkung einer Handlungsweise ist, von der ihre sittliche Schätzung irgendwie ausgeht, daß diese Wirkung sich auf die umfänglichsten, kompliziertesten, oft gegensätzlichen Interessenkreise zu erstrecken und mit ihnen sich auseinanderzusetzen hat, so begreift man, daß in dieser Fülle der ins Bewußtsein drängenden Gesichtspunkte einer dem andern den Raum darin streitig macht. Die Zweckmäßigkeit unserer sittlichen Normen stellt sich aus dem Kampf unzähliger Interessen, dem Kompromiss unzähliger Ansprüche, dem Gestaltet- und Umgestaltetwerden durch unzählige Kräfte her; in keinem Bewußtsein kann jede Phase und jedes wirkende Moment dieser Entwicklung haften, sondern wie es überall zu keinem bestimmtem Vorstellen kommt, wo das Bewußtsein sich an eine zu große Anzahl von Vorstellungen verteilen muß, oder wo der Schwingungsradius zwischen diesen ein allzuweiter ist, so drücken sich die Gründe selbst für eine einfachere Sittenregel durch ihre Fülle gegenseitig unter die Schwelle des Bewußtseins herab und bringen eben dadurch den Anschein der Grundlosigkeit hervor. Ja, gerade wie im Denken das Einfachste das Letzte ist, so im Sittlichen; denn je mehr Interessen in ihm zusammenströmen, desto allgemeiner muß es sein. Daher zeigen die letzten Imperative hochstehender Menschen eine gewisse Einfachheit, die zwar nicht den Konflikt ausschließt, aber sich charakteristisch von den krausen und komplizierten Imperativen abhebt, an denen das sittliche Bewußtsein unkultivierter Völker - besonder im Religiös-Sittlichen - Halt macht.

Diese Unerklärtheit des Sollens, mag sie nun seinen abstrakten Begriff, oder seine höchste prinzipielle Ausgestaltung, oder seine einzelnen und konkreten Inhalte betreffen, trägt zweifellos zu seiner Würde und psychologischen Kraft erheblich bei. Je dunkler und unverständlicher der Ursprung und die Berechtigung einer ethischen Norm ist, umso viel heiliger pflegt sie zu gelten, wozu der angeführte Gesichtspunkt von der Fülle der unbewußten Motive mitwirken mag. Wie dieselben objektiv und für die Gattung die Norm zustande bringen, so veranlassen sie subjektiv den Einzelnen zu deren Erfüllung; und je massenhafter und mannigfaltiger nun innerliche Triebe und Gründe uns bewegen, desto lebhafter und tiefer wird unser Gefühlsleben überhaupt erregt. Jene alte Lehre, die das Gefühl mit einer Fülle von Vorstellungen, deren keine für sich zu einem klaren Bewußtsein zureicht, identifizieren wollte, hatte psychologisch wenigstens so weit recht, als die Einfachheit und Deutlichkeit der Gedanken und Motive im umgekehrten Verhältnis zur Stärke des begleitenden Gefühls zu stehen pflegt. Darum erklärt sich gerade aus dem sozialen Charakter des sittlichen Sollens und der Unzählbarkeit der Fäden, die in ihm zusammenlaufen, das starke und dunkle Gefühl, von dem es begleitet wird. Wenn die allgemeine Erfahrung ein gutes Gewissen das beste Ruhekissen nennt und, über diesen negativen Ausdruck hinaus, die Erfüllung der Pflicht vielfach ein beseligenderes Gefühl bereitet, als alles abseits ihrer liegende Tun, so ist auch diese Gefühlsseite des Sollens aus seinen sozialen Zusammenhängen erklärbar. Denn wenn es die Interessen einer Allgemeinheit gegenüber denen des Einzelnen sind, die vom Sollen gewahrt werden, so wird der Einzelne in solchen Augenblick gewissermaßen über sein Ich hinausgehoben, die Allgemeinheit stellt sich in ihm dar, erweitert ihn um ihren eigenen Umfang. Durch die Selbstvergessenheit der Pflichterfüllung wird im Ich Platz für die Interessen der Allgemeinheit, die sich freilich in höheren Kulturverhältnissen oft als Pflichten ganz individueller Art, von Mensch zu Mensch und aus persönlichsten Verhältnissen entsprungen darstellen; durch diese hindurch wirkt indessen offenbar, für das Gefühl noch hinreichend, die Summe gattungsmäßiger Interessen und Antriebe, um jene Erhöhung und Erweiterung des Gefühls gelegentlich der Pflichterfüllung hervorzubringen, die vom rein individualistischen Gesichtspunkt aus völlig rätselhaft ist. Aus der Geschichte des Individuums ist die Stärke der Gefühlsreflexe nicht erklärbar, die sich an die sittliche Tat heften, und deshalb ist es begreiflich, daß man um dieser Erklärung willen an metaphysische Instanzen appellierte; wie überhaupt die tiefe und dunkle Macht von Gefühlserregungen, die zu mystischen Vorstellungen veranlaßt, meistens mit ihrer Herleitung aus sozialen Verhältnissen, aus der Beeinflussung des Individuums durch die Allgemeinheit verständlich werden dürfte. Denn in der sozialen Gruppe fließen unzählige Quellen, die auf den EInzelnen durch Vererbung, Tradition, Beispiel einwirken, die ihn gestalten, erschüttern, erheben; aber das gewöhnliche Bewußtsein verfolgt diese Vorgänge nicht bis an ihre wahre Quelle, aus der sich ihre psychologische Eigenheit zulänglich erklärte, sondern genügt seinem Kausalbedürfnis durch die Erdichtung einer veranlassenden transzendenten Kraft. Jene überwältigenden und überraschenden Gefühlsfolgen erklären sich daraus, daß der Einzelne in solchen Augenblicken die Erbschaft der Gattung antritt, deren Wirkung eben jene Plötzlichkeit, jenes Geben von Vielem mit einem Schlag aufweist, wodurch sich das Erben vom Erwerben unterscheidet. Es ist immer hervorgehoben worden, welches erhebende Gefühl eine ARNOLD von WINKELRIED in dem Augenblick gehabt haben müsse, wo er der Freiheit eine Gasse bracht, indem er die feindlichen Lanzen in seiner Brust begrub. Hat ein solches Hochgefühl einen so Handelnden wirklich erfüllt, so bestand es aus der Erweiterung seiner Persönlichkeit um das soziale Ganze, dem er dadurch zum Sieg verhalf. Tieferen Einblick gewinnen wir noch von der Erkenntnis aus, daß die soziale Gruppe im Allgemeinen dasjenige als Pflicht vom Einzelnen fordert, was mehr oder minder tatsächlich und von jeher in ihr geübt wird, weil es die Bedingung ihrer Selbsteraltung ist; und daß, dieses Moment noch steigernd, solche Handlungsweisen, die heute als besondere sittliche Pflicht gelten, lange Zeit hindurch einfach selbstverständlich geübt wurden: die Hingabe von Gut und Blut für das Ganze, die Unterordnung unter die höheren Stufen der sozialen Leiter, der Verzicht auf individuell-egoistisches Handeln gegenüber den gemeinsamen Aktionen - das alles sind Charakterzüge, die beim Zustand der Homogenität und Undifferenziertheit der sozialen Gruppe sich ganz von selbst verstehen und mit dem höheren Herausarbeiten der Einzelpersönlichkeit zu verschwinden beginnen, um dann erst auf dem Wege bewußter Sittlichkeit wieder gewonnen zu werden. Lange genug jedoch walteten jene Zustände des Kommunismus und der Gruppensolidarität, um als dunkle Triebe und Instinkte vererbt zu werden. Und diese offenbar sind es, die bei der Erfüllung des sittlichen Sollens in uns zur Befriedigung kommen. Immer sind es wirkliche, historische Zustände der Gattung, die in einem Einzelnen zu triebhaftem Sollen werden; deshalb äußern sich auf niederem Gebiet im Kind höchst lebhafte Triebe nicht nur nach solchen Betätigungen, die auch im Erwachsenen den Charakter des Verlangens tragen, wie Essen und Trinken, sondern auch nach solchen, die für diesen einfachen tatsächliche, oft keineswegs lustvolle Ausübungen sind: Sprechen, Laufen, Aufnehmen von Sinnesempfindungen usw. Entsprechend befriedigen sich mit der Ausübung jener Inhalte des gesellschaftlichen Lebens die altererbten, in den tiefsten Tiefen des Bewußtseins lagernden Sozialinstinkte. Daher die Zufriedenheit, die Meeresstille der Seele, die uns nach den sittlichen Handlungen überkommt, das Gefühl vollkommenen Sichauslebens und tiefster Ruhe.

Die überwiegende und bindende Kraft, welche die Idee der Allgemeinheit gegenüber der Vorstellung einzelner und eng umschriebener Interessen hat, stammt wenigstens zum Teil sicherlich aus der psychologischen Unklarheit und Verschwommenheit, die vermöge der Fülle der hineinragenden Einzelvorstellungen und Beziehungen jene Vorstellung begleiten. Je massenhafter, mannigfaltiger und verschlungener die Teilvorstellungen einer Vorstellung sind, desto eher tritt bei ihr jene phantastische Verklärung, jene reizvolle und ahnungsreiche Verschwommenheit ine, welche auch das körperliche und geistige Überblicken großer Raum- und Zeitmaße charakterisiert. Wo wir nicht mehr Einzelnes in seiner Bestimmtheit unterscheiden können, fängt sofort der Optimismus unserer Natur zu wirken an, der alles Undeutliche, Unbekannte, Unbegrenzte zu idealisieren pflegt. Da nun Sittlichkeit im Verhältnis zur Allgemeinheit besteht, aus ihm wenigstens ihren noch stets unbewußt fortwirkenden Ursprung herleitet, so wird auch die Stärke und Unklarheit der Begeisterung für das Sittliche überhaupt zum Teil aus der Massenhaftigkeit der in ihm verdichteten Beziehungen stammen. Nicht trotzdem wir die Einzelnen nicht kennen, die in unsere Begeisterung für die Allgemeinheit eingeschlossen sind, sondern gerade weil wir sie nicht kennen, entsteht die charakteristische Kraft dieser Begeisterung, dieser Vorstellung einer Pflicht, die alles Individuelle und bestimmt Begrenzte überragt.

Dem Zusammenhang zwischen dem Quantum gleichzeitig andrängender Vorstellungen und dem begleitenden Gefühl mag unsere Überlegung zu ihrer Bestätigung noch auf einem anderen Gebiet nachgehen. Wenn wir das künstlerisch Befriedigende, das Wesen der ästhetischen Forderung in der Darstellung des Typischen, Generellen, Allgemeingültigen erblicken. so scheint mir der Reiz davon gerade in der Fülle der ineinander verschwimmenden Vorstellungen zu liegen, welche die Allgemeinvorstellung gleichsam als ihren Indifferenzpunkt umspielen; die Undeutlichkeit der unzähligen Einzelvorstellungen, die von der typischen Vorstellung auf eine gewisse niedere Bewußtseinsstufe gehoben werden, bringt die Anregung der Phantasie mit sich, in der jedenfalls ein großer Teil des eigentlich ästhetischen Genusses beruth. Wie die organische Entwicklung auf ein Maximum von Leben geht, so geht - in tiefem Zusammenhang damit, da der Geist jedenfalls die höchste und konzentrierteste Lebensform darstellt- die psychische auf ein Maximum von Vorstellungen, das mittels der Verdichtung in typischen Vorstellungen erreicht wird. Das Maß, bis zu welchem die Verallgemeinerung gehen darf, um noch diese Wirkung hervorzubringen, wird durch die Tatsache bestimmt, daß bei einer allzugroßen Fülle der gehobenen Vorstellungen jeder einzelnen ein zu geringes Maß von Bewußtsein zuteil wird, um überhaupt noch einen psychischen Wert zu haben; daher die Interesselosigkeit und das Gefühl der Leere gegenüber allzuallgemeinen, schematischen Darstellungen in der Kunst. Auch das ethische Interesse hat eine gewisse Grenze für die Größe der von ihm umfaßten Allgemeinheit, wenn es nicht an Kraft verlieren soll. - Ein ähnliches psychologisches Verhalten wie zur Gesamtheit pflegt sich auch der Idee der Persönlichkeit gegenüber einzustellen und deren Wert über jede angebbare Eigenschaft hinaus an das Ganze derselben zu heften; durch den Reichtum der mannigfaltigen in diesem Ganzen zusammentreffenden Einzelheiten erregt dasselbe ein Gefühl, das die kausale Beziehung zu irgendeiner einzelnen Qualität der Person oft ausdrücklich von sich ablehnt. Es läßt sich beobachten, daß stolze Naturen sich nichts aus ihnen entgegengebrachten Gefühlen machen, wenn sie dieselben auf bestimmte einzelne Vorzüge ihrer zurückführen können; sie wollen nicht auf diese oder jene Gründe hin - und seien sie noch so umfassend und tief - sondern überhaupt und als ganze Persönlichkeit geliebt und geschätzt werden; tatsächlich pflegen auch die leidenschaftlichsten Neigungen gerade die zu sein, die sich durch keine einzelne Eigenschaft der Person erklären lassen. Der Vergleichspunkt mit dem Gefühl für die Allgemeinheit liegt darin, daß auch hier die psychologischen Faktoren, die das Gefühl begründen, wegen ihrer Fülle und Verzweigtheit im Unbewußten bleibend, sich als Grundlosigkeit darstellen, und daß der Wert und die Kraft, die dieser Fülle zukommen, sich deshalb auf die anscheinende Grundlosigkeit übertragen und als deren Folgen gelten.

Die relative Schnelligkeit im Wechsel der geistigen Vorgänge, die Fähigkeit des Geistes die Formen seines Inhalts zu konservieren, während dieser letztere selbst wechselt, ebenso wie umgekehrt den gleichen Inhalt unter verschiedenen Formen zu bewahren, begünstigt das Rudimentärwerden seiner Gebilde. Und nun ist zu bemerken, daß gerade solche äußerlichen Vorschriften, deren Gründe vollkommen ins Unbewußte gesunken sind, mit der unausweichlichsten Gewalt wirken: Ritualgesetze, Umgangsformen, Sitten, deren Sinn längst durch veränderte Lebensbedingungen hinfällig geworden und die nur noch als Überbleibsel einer nicht mehr angebbaren Zweckmäßigkeit fortbestehen. Und während im Physiologischen die Rudimente ganz besonders veränderliche Teile sind, weil weder Gebrauch noch Zuchtwahl auf ihre Erhaltung ein bestimmten Formen hinwirken, ist im Geistigen oft das Gegenteil zu beobachten; gerade das Nicht-Nützliche, dasjenige, dessen eigentlicher Sinn von ihm abgelöst oder verdunkelt ist, nimmt die Dauerformen der Sitte und des Vorurteils an. Gerade weil es der Berührung mit dem Fluß einer lebendigen Entwicklung entzogen ist, gewinnt es eine besondere Festigkeit und jenen dämonischen Reiz des Dogmatischen, für das der Verstand keinen Grund kennt, aber einen umso tieferen und mystischeren annimmt. Was durch Gründe gestützt ist, kann durch Gründe zufall gebracht werden, es ist, im älteren Sinn des Wortes,  zufällig.  Was dagegen die verstandesmäßige Begründung abgestreift hat und dennoch Macht über uns besitzt, die ethische  causa sui  [Ursache seiner selbst - wp], gewinnt den Charakter des Absoluten; was keine Stützen hat und braucht, dem können keine fortgezogen werden.

Hier liegt eine der tiefsten Analogien des religiösen mit dem sozial-sittlichen Verhalten. Was der Frömmigkeit den besonders sittlichen Charakter gibt, ist das Handeln "um Gotteswillen"; wie wir der Allgemeinheit gegenüber nur um ihrer selbst willen pflichtvoll handeln, ohne einen darüber hinausgehenden Grund dazu im Bewußtsein zu haben, so wird durch jene religiöse Gesinnung die teleologische Kette an einem nur durch sich selbst gerechtfertigten Glied abgeschnitten; das Bezeichnende des sittlichen Handelns: keinen Grund zu haben, ist hier der Form nach vollkomen vorhanden. Es ist eine Art ethischer Ontologie: wie aus dem Begriff Gottes ohne alles weitere seine Existenz folgen soll, ebenso die Pflicht ihn zu lieben und seine Gebote zu erfüllen. Schon in den Sentenzen ISIDORs und bei GREGOR von NYSSA wird es ausgesprochen, daß die sittlichen Vorschriften nicht um einstiger Belohnung oder Bestrafung willen erfüllt werden sollen, sondern einzig und allein um der Liebe Gottes willen, welche ein letzter, keiner Rechtfertigung weiter bedürftiger Beweggrund ist. Übrigens war von da aus der Übergang zu Ideal, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, leicht, den ISIDOR schon angedeutet und CHRYSOSTOMUS vollzieht. Es ist nur das ganz entsprechende Gegenstück dazu, wenn ABÄLARD meint, daß der Schmerz über die Sünde weiter kein Motiv hat, daß der Gedanke an Lohn und Strafe die Reue verfälscht und diese schlechthin nur sich selber zum Gegenstand hat. Der Pflicht überhaupt nun gibt dies ihren unbedingten Charakter, daß sie Mittel zu einem Zweck ist, während diejenige Bedingtheit, die das Mittel sonst durch den darüberstehenden Zweck erhält, vermöge der Verdunkelung dieses letzteren wegfällt. Wenn eine Handlungsweise unter einer gegebenen Bedingung notwendig ist, so muß sie den Charakter  schlechthin unbedingter  Notwendigkeit dann annehmen, wenn jene Bedingung nicht mehr ins Bewußtsein tritt. Dieser auch an anderen als ethischen Überzeugungen sich vollziehende Prozeß wird häufig durch eine Persönlichkeit vermittelt, die als eine Autorität auftritt, über welche nicht weiter hinausgefragt wird. Viele Prinzipien würden ihre Anhängerschaft und ihre Gemeinde nicht gewinnen, wenn sie nicht durch eine  Persönlichkeit  geschaffen wären, an die sich der Glaube anschließen kann; denn diesen zu gewinnen, reicht die abstrakte Vorstellung der Gründe häufig nicht aus; woher es dann auch kommen kann, daß die Apostel einer Lehre sie rückhalt- und vorbehaltloser und für sicherer annehmen, als der Schöpfer derselben, der dem Objekt unmittelbar gegenübersteht. Wer nicht tiefer hinabsteigt als bis zum einmal gewonnenen Dogma, findet an diesem einen festeren und unfraglicheren Boden, als wer das Dogma selbst auf der Wirklichkeit der Dinge begründen will. Der Glaube an eine Person als die höchste Instanz, von der es keine Appellation mehr gibt, ist so einerseits die Brücke, über die hinweg gewisse, eigentlich von höheren Prinzipien abzuleitendene Lehren ihre Festigkeit entlehnen - eine Festigkeit, die größer ist als etwa jene höchsten, aber von einem Lehrer nicht ausgesprochenen Prinzipien sie für den Gläubigen besitzen; andererseits ist dieser Vorgang nur die personale Wendung oder eine Analogie des psychologischen Ereignisses, das dem abgeleiteten Imperativ oft eine unfraglichere Würde verschafft als dem höchsten Prinzip, auf das er logisch hinweist. Wenn gewisse materiale Handlungsweisen für unser Bewußtsein eine sittliche Verpflichtung mit sich führen, so gründet sich diese rationalerweise auf ein allgemeines regulatives Prinzip als Obersatz, zu dem die gegebene Lage als Untersatz tritt, damit die Pflicht in dieser Folge der Verpflichtung durch jenes höchste Gesetz steht uns oft lange nicht so fest, wie das davon Abgeleitete. Die Wirkung jenes Prinzips ist sicherer als es selsbt ist, das Gebäude fester als seine Fundamente. So machen sich viele Leute nichts daraus, den Staat unmittelbar zu betrügen z. B. durch Steuerhinterziehung, während sie davor zurückbeben würden einen Einzelnen zu betrügen oder falsches Geld zu machen, ein Verbrechen, das doch ein solches nur durch viel mittelbarere Rücksicht auf die ökonomischen Verhältnisse des Staates ist, als jenes. Der Gedanke, die Glückssumme auf Erden zu vermehren, dürfte von vielen kühl oder gar skeptisch betrachtet werden, die ein konkreter, dieser Glücksmehrung dienender Fall in den zweifelsfreiesten sittlichen Enthusiasmus versetzt.

Tatsächlich kennen wir keine reale oder moralische Notwendigkeit eines Geschehens, es sei denn als Folge von oder als Mittel zu einem anderen, welches andree seine Notwendigkeit gleichfalls wieder nur von einem höher gelegenen entlehnen kann; und so münden wir den schließlich an einem höchsten Sein oder Vorstellen, welches wir, da wir nach der kantischen Kritik der Ontologie kein durch sich selbst Notwendiges begreifen, nur als einfache Tatsache, aber nicht als notwendige hinnehmen können. Nicht logisch, sondern nur psychologisch kann ein Geschehen zu einem Charakter schlechthin unbedingter Notwendigkeit kommen, wenn jene höheren Stufen, von denen es seine Notwendigkeit logisch zu Lehen trägt, ins Unbewußte sinken, und die von ihnen geschaffene Notwendigkeit gleichsam als ihre Erbschaft im Bewußtsein zurücklassen. Begründet die Länge der Vererbung die Verdunkelung der Gründe einer Pflicht, so begreift man demnach, daß die so verdunkelte, alles Übrige gleichgesetzt, auch im gleichen Verhältnis die mächtigere ist; denn beides, die Macht wie die Verdunkelung, gehen vom gleichen Moment der Vererbungsdauer aus: die ältesten Vererbungen sind auf geistigem wie auf körperlichem Gebiet die am wenigsten variabeln.

Wo eine hervorragend sittliche Tat  M  geschehen ist, da hören wir leicht, wenn sich später ein egoistisches Motiv als das eigentlich treibende herausgestellt hat: "Nun verstehe ich  M  erst!" Die Metaphysik der kantischen Ethik beruth darauf, daß, solange wir die Handlungen der Menschen  verstehen  wollen, wir sie nur auf Motive der sinnlichen Erscheinungswelt, d. h. der Selbstliebe, zurückführen können. Ein ähnliches Verhältnis wie hier zum Ethischen, zeigt das Psychologische auch zum Logischen: die objektive Wahrheit einer Vorstellung wird uns leicht zweifelhaft, wenn wir die psychologische Genesis erkennen, durch welche sie im Bewußtsein entstanden ist, ihre logischen  Gründe  sind verdächtig, wenn wir statt auf sie nur auf psychologische  Ursachen  für das Auftauchen der Überzeugung zurückzugehen brauchen; wir werden z. B. von vornherein mit Skeptizismus an eine Lehre herantreten, von der wir wissen, daß gewisse Gefühlsmomente im Gemüt des Urhebers ihr das Leben gegeben haben. Die Veranlassung dieser Erscheinung ist vielleicht das Mißtrauen in den Zufall, daß zwei so heterogene Reihen, wie das Logische und das Psychologische, unabhängig voneinander zu demselben Resultat führen sollten. Eine entsprechende Empfindung mag in unserem Fall herrschen. Sobald man der Meinung ist, daß die sittlichen Ideale ein in sich geschlossenes, der Wirklichkeit heterogenes Reich bilden, liegt der Gedanke nahe, daß sich auch ihre Realisierung, wenn auch durch ein tatsächliches Bewußtseins, dennoch außerhalb des Mechanismus psychologischer Naturgesetze vollziehen muß. Wo dieser gilt, müßte die Erfüllung der sittlichen Forderung aus vorhergehenden gleichfalls mechanisch hergestellten Bedingungen ohne Rest erklärbar sein. Es erscheint als ein wunderlicher Zufall, wenn die Naturgesetzlichkeit des Vorstellens mit einer idealen Ordnung der Dinge zusammenfällt, die aus ganz anderen Quallen fließt als die Wirklichkeit - wobei es dann freilich angesichts des rein zufälligen Verhältnisses zwischen dem mechanisch naturgesetzlichen Geschehen und den menschlichen Ideen und Prinzipien ebenso wunderlich wäre, wenn jener mechanische Verlauf unseres Handelns immer der Idee der Selbstliebe gemäß wäre, die doch auch ein teleologisches Prinzip ist. Es kommt hinzu, daß das Verständnis der Willensakte nur durch das Kausalgesetz möglich ist und dabei die Freiheit wegfällt, die so vielen für die Sittlichkeit unentbehrlich scheint.

Dieser letztere Gesichtspunkt hilft uns vielleicht noch zu einer weiteren Verständnis für die Grundlosigkeit des Sollens. Wenn die strenge Kausalität die Freiheit ausschließt, so folgt analytisch, daß wir diese nur da erkennen können, wo jene unerkennbar ist. Und zwar ist die Unerkennbarkeit des Mechanismus nicht nur die  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] für die Anerkennung der Freiheit, sondern auch der positive Grund für sie. Ein Geschehen, für das keine Ursachen zu erkennen oder zu vermuten sind, nennt der Sprachgebrauch frei; und es ist sehr begreiflich, daß das menschliche Handeln am längsten dieses Prädikat behält, weil seine psychologischen und physiologischen Veranlassungen sehr verwickelte und schwer enträtselbare sind, und weil Unbewußtes die Quelle des Bewußten ist und so dessen ursächliche Erkenntnis erschwert. Die Freiheit ist tatsächlich nur der Ausdruck für die Unentdecktheit der Kausalität; sie ist nicht ein Charakter, den ein Geschehen trüge, welchem wir auf diesen hin die Ausnahme vom Kausalgesetz zusprächen, sondern umgekehrt, solange wir eine solche Ausnahme noch annehmen, solange wir die Einreihung des Geschehens in den naturgesetzlichen Mechanismus noch nicht bewirken können,  nennen  wir es frei. Ähnlich nun ließe sich denken, daß die ausschließliche Zurückführbarkeit der Handlung auf das sittliche Sollen nicht einen an und für sich erkennbaren Charakter derselben bedeutet, sondern nur der Ausdruck dafür ist, daß eine anderweitige Erklärung der Handlung noch nicht gefunden ist. Dies bedarf einer näheren Auseinandersetzung.
LITERATUR - Georg Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft, Stuttgart und Berlin 1904