cr-2p-4ra-1p-4P. SternW. G. PetschkoH. CohenJ. VolkeltE. Laas    
 
WILHELM DILTHEY
Erfahren und Denken
[Eine Studie zur erkenntnistheoretischen Logik
des 19. Jahrhunderts / 1892]


"Der empiristischen Ansicht einer bloß äußerlichen, in der Wahrnehmung gegebenen und durch Gewohnheit sich befestigenden Assoziation verschiedener Empfindungen ist der Satz gegenüberzustellen, daß im Begriff des Dings eine Synthese vorhanden ist, welche nicht aus den sinnlichen Faktoren unseres Vorstellens erklärt werden kann, sondern in letzter Instanz auf eine ursprüngliche Funktion zurückgeht, vermöge der wir die Empfindungen verschiedener Sinne aufeinander beziehen, um sie zur Vorstellung eines räumlichen Objekts zu gestalten."

"So entspringen die allgemeinsten Voraussetzungen über den Zusammenhang der Dinge aus einem Drang zu ihrer Bezwingung, der in der innersten Natur unseres einheitlichen Geistes gegründet ist. Und zwar betont 'Lotze in Bezug auf diese eigenste Natur des Denkens immer als dessen Grundzug, daß das Tatsächliche, die empirische Gleichförmigkeit, die hieraus entstehende Erwartung, daß ein Vorgang eintreten wird, im Gedanken eines allgemeinen Gesetzes seinen Rechtsgrund erhält."

"Warum ist nun durch diese Schriftsteller der Empirismus nicht wenigstens in Deutschland überwunden worden? Warum hat diese nationale Philosophie, gegründet von 'Kant, entwickelt von einer großen Zahl beredter und scharfsinniger Schriftsteller, unwiderleglich in dem, was sie verneint, nicht wenigstens bei uns die Übermacht des Empirismus in den Wissenschaften zu brechen vermocht? Weil die Stärke dieses Empirismus darin liegt, daß sich mit ihm etwas anfangen läßt."

"Hier liegt der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt: Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit."

Motto: amicus Socrates, amicus Plato,
magis amica veritas.

[Sokrates und Plato sind mirlieb,
aber noch lieber ist mir die Wahrheit.]


I. Die Schwierigkeiten, welche eine empiristische Begründung der Logik belasten, sind zuerst von SIGWART in seiner fortlaufenden Kritik der Logik JOHN STUART MILLs überzeugend dargelegt worden. Er zeigt nach KANTs Methode, wie das Wirken von Assoziation und von Regelmäßigkeit nicht ausreicht, aus Eindrücken und Vorstellungen Zahl, Raum, Ding, Ursache, die Gültigkeit des Urteils und die Evidenz des induktiv gewonnenen Gesetzes abzuleiten. Vielmehr müssen zu den Eindrücken die Handlung der Synthesis, die in ihr enthaltenen Prinzipien und das diese Handlung begleitende Bewußtsein der Notwendigkeit hinzutreten, damit Zahl, Raum, Zeit, Kategorie, das gültige Urteil und die Allgemeinheit des Naturgesetzes entstehen. Am einfachsten zeigt sich dies bei der Entstehung der Zahl.
    "Damit daß wir dreimal nacheinander einen Schlag hören, ist nichts als eine Sukzession von drei Empfindungen, aber nicht die Vorstellung dieser Sukzession noch die Vorstellung der Zahl Drei gegeben."
Ebenso überzeugend ist SIGWARTs Widerlegung von HUMEs und MILLs Ableitung des Ding- oder Substanzbegriffs aus der regelmäßigen Koexistenz.
    "Der empiristischen Ansicht einer bloß äußerlichen, in der Wahrnehmung gegebenen und durch Gewohnheit sich befestigenden Assoziation verschiedener Empfindungen ist der Satz gegenüberzustellen, daß im Begriff des Dings eine Synthese vorhanden ist, welche nicht aus den sinnlichen Faktoren unseres Vorstellens erklärt werden kann, sondern in letzter Instanz auf eine ursprüngliche Funktion zurückgeht, vermöge der wir die Empfindungen verschiedener Sinne aufeinander beziehen, um sie zur Vorstellung eines räumlichen Objekts zu gestalten." (1)
Ebenso überzeugend erweist SIGWART, daß im Kausalgesetz, nach welchem jede Veränderung eine äußere Ursache haben muß, ein in den Erfahrungen nicht gegebenes Postulat enthalten ist. Dieses fordert die Zusammenfassung der Vielheit der Wahrnehmungen nach einheitlichen Prinzipien. Es ist als Kausalgesetz nichts anderes als die Tendenz, das Gegebene als notwendig zu begreifen (2). Weiter weist SIGWART nach, daß in jedem diskursiven Denkakt ein in der Handlung des Denkens enthaltenes apriorisches Prinzip wirksam ist, das aus keiner Anhäufung von Erfahrungen abgeleitet werden kann. Das Bewußtsein der objektiven Gültigkeit, das in jedem richtig gebildeten Urteil mitenthalten ist, ist nach ihm nicht unmittelbar darauf gegründet, daß die subjektive Verknüpfung der Vorstellungen den Verhältnissen des Seienden entspricht, sondern vielmehr darauf, daß das Prinzip der Übereinstimmung und weiter zurück die Konstanz der Vorstellungen in der Urteilshandlung wirksam ist. (3)

Diese Ansicht SIGWARTs ist unwiderleglich in dem Hauptpunkt, daß in der Urteilshandlung ein Prinzip wirksam ist, durch welches mittels der Unterscheidung und dann wieder der zum klaren Bewußtsein erhobenen Verbindung ein Verhältnis von Inhalten aus dem momentanen Veränderlichen herausgehoben und in den Denkzusammenhang aufgenommen wird. SIGWARTs nähere Bestimmungen bleiben hierbei der Diskussion unterworfen. Subjekt und Prädikat sind, wie er richtig bemerkt, nicht durch das Prinzip der logischen Identität verbunden. Diese sagt aus, daß, was ich (nur) zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedener Veranlassung vorstelle, nichts Verschiedenes, sondern inhaltlich dasselbe ist. Man kann vielmehr nur von einer Übereinstimmung von Subjekt und Prädikat reden. Was ich bei einem Prädikatswort denke, finde ich in meiner Subjektsvorstellung wieder. Auch ERDMANNs "Theorie der Einordnung" ist mit dieser Auffassung SIGWARTs übereinstimmend. Aus dem Wirken dieses apriorischen Prinzips stammt dann nach SIGWART der Charakter der Notwendigkeit im gültigen Urteil. So ist, da jeder Denkakt ein Urteil ist, in jedem Denkakt ein in der Synthesis gelegenes Prinzip wirksam, welches der Verbindung des empirisch Gegebenen den Charakter der Notwendigkeit aufdrückt. Folgerecht müssen alle weiter zusammengesetzten Denkvorgänge denselben Charakter haben und SIGWART hat das bekanntlich nach APELTs Voranschreiten an der Induktion MILL gegenüber einleuchtend nachgewiesen. Unbestreitbar ist in seiner ganzen Auseinandersetzung vor allem, daß die Erkenntnis unmöglich in den bloßen einzelnen und momentanen Erfahrungen gegründet sein kann. Es muß eine andere Art von Erfahrung hinzutreten; denn auch diesen Ausdruck Erfahrung will SIGWART sich gefallen lassen. (4) Im einzelnen Tun müssen wir sicher sein, daß dasselbe, "nicht von den momentanen und wechselnden Bedingungen des einzelnen Moments abhängig ist, sondern in allen wechselnden Momenten noch dasselbe sein wird".

Und SIGWART ist in dieser Polemik gegen die empiristische Logik überall in Übereinstimmung mit LOTZE. Das Ergebnis der psychologischen Untersuchung von LOTZE in Bezug auf die Entstehung des Erkennens ist:
    "Man hat alle logischen Rückwirkungen des Geistes als ein in sich zusammengehöriges Ganzes, als eine einheitliche Tendenz aufzufassen, deren einzelne Äußerungen ihrem Sinne nach sich verständlich in eine Reihe gliedern lassen, dagegen sind sie nach ihrer Entstehung als psychische Vorgänge noch gänzlich unbegreiflich."
Immer wieder hebt er es hervor:
    "In welchen fein abgemessenen Beziehungen auch immer unsere Vorstellungen sich befinden mögen, alle ihre innere Ordnung würde nicht von selbst den Gedanken einer notwendigen Verbindung zwischen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des Geistes die Forderung einer solchen bereits in sich trüge." (5)
Über dem Mechanismus der Wechselwirkung psychischer Zustände ist die aus ihm nie abzuleitende beziehende Tätigkeit ausgespannt, welche das Mannigfaltige der Eindrücke im Sinne eines zusammenhängenden Ganzen deutet (6). So entspringen die allgemeinsten Voraussetzungen über den Zusammenhang der Dinge aus einem Drang zu ihrer Bezwingung, der in der innersten Natur unseres einheitlichen Geistes gegründet ist. Und zwar betont er in Bezug auf diese eigenste Natur des Denkens immer als dessen Grundzug, daß das Tatsächliche, die empirische Gleichförmigkeit, die hieraus entstehende Erwartung, daß ein Vorgang eintreten wird, im Gedanken eines allgemeinen Gesetzes seinen Rechtsgrund erhält.

Dieselbe Methode der Widerlegung des Empirismus, welche so auf dem Boden KANTs von LOTZE und SIGWART angewandt wird, wird auch von LIEBMANN und zwar besonders eindrucksvoll in seiner "Klimax der Theorien" (7), von VOLKELT in seinem Werk über "Erfahrung und Denken" und von nicht wenigen anderen Schriftstellern angewandt. Überall ist die Methode dieselbe: das, was das Zusammenwirken von Erfahrungen in einem Bewußtsein unter den uns bekannten psychischen Gesetzen leisten kann, wird verglichen mit dem Tatbestand unserer Erkenntnis. Das, was aus uns bekannten Vermögensquellen im Vermögensbestand unserer Erkenntnis stammt, wird mit dessen Gesamtsumme verglichen. Und es zeigt sich ein Überschuß im Vermögensbestand, der auf andere Einnahmequellen hindeutet.

Warum ist nun durch diese Schriftsteller der Empirismus nicht wenigstens in Deutschland überwunden worden? Warum hat diese nationale Philosophie, gegründet von KANT, entwickelt von einer großen Zahl beredter und scharfsinniger Schriftsteller, unwiderleglich in dem, was sie verneint, nicht wenigstens bei uns die Übermacht des Empirismus in den Wissenschaften zu brechen vermocht? Weil die Stärke dieses Empirismus darin liegt, daß sich mit ihm etwas anfangen läßt. In der Erkenntniskritik versichert er dem Forscher die Realität seiner Objekte, und ohne diese Gewißheit verlieren die Naturwissenschaften wie die Geisteswissenschaften die Energie ihrer Tätigkeit. Er ermöglicht einen durchsichten Aufbau der Psychologie, die Anwendung des Experiments in derselben. Eine Philosophie, die den Empirismus überwinden soll, muß für die Auflösung der Probleme, welche die gegenwärtige Gesellschaft bewegen, Mittel enthalten. Dazu aber verfallen auch diese auf KANT gestellten Logiker in Schwierigkeiten, welche nicht geringer sind als die, um derentwillen sie den empiristischen Standpunkt verworfen haben. Diese Schwierigkeiten betrachten wir zuerst.

II. LOTZE und SIGWART stehen zunächst auf den Voraussetzungen der kantischen Philosophie, nach welcher in unserer Erfahrung vom Stoff der Eindrücke die Form des Anschauens und Denkens abzusondern ist. Diese Sonderung wird von KANT mit auf den Satz gegründet: "Das, was macht, daß die Empfindungen (das Mannigfaltige der Erscheinung) in Verhältnisse geordnet werden, kann unmöglich selbst wieder Empfindung sein." Gegen diese Sonderung von Materie und Form sind von psychologischen Gesichtspunkten aus Bedenken zu erheben.

Zunächst führen einfache psychologische Tatsachen über sie hinaus. Wir besitzen gleichzeitig voneinander unterschiedene Töne, ohne ihr Außereinander in einem Nebeneinander aufzufassen. Dagegen ist auf dem Gebiet der Tast- und Gesichtsempfindungen nur ein Nebeneinander für uns da. Augenscheinlich bedingt also hier die Natur der Empfindungsinhalte die Form ihrer Zusammenfassung. Hierzu kommen Erwägungen allgemeinerer Art. Eine Empfindungsmannigfaltigkeit kann nicht gesondert werden vom verbindenden Bewußtsein auch nur vorgestellt werden, geschweige denn existieren. Sie wäre so eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp]. Denn Mannigfaltigkeit setzt Unterschiede voraus. Jeder Unterschied aber ist ein Verhältnis zwischen Inhalten. Verhältnis ist nur für ein zusammenhaltendes Bewußtsein. Diese ist also schon für die Existenz einer Mannigfaltigkeit die Bedingung. Ferner findet jede Funktion der Synthesis nur zwischen Inhalten statt. Soll diese Funktion also eine Bedingung der Wahrnehmung sein, so setzt sie, um als solche Bedingung da zu sein, Wahrnehmungsinhalte schon voraus. Hierin sah PLATO tiefer als KANT. So ist es unmöglich, etwa ein angeborenes Kausalgesetz anzunehmen. Ferner ist, wenn ich die Empfindungen als psychische Elemente setze, gänzlich unverständlich, wie sie von außen durch das Band des vereinigten Bewußtseins verknüpft werden sollen. Hebe ich aber ihre Vereinzelung auf, so hebe ich damit die ganze Bedeutung der Sonderung von Stoff und Form auf.

Eine weiterführende Einwendung gegenüber der Auffassung des Raumes als einer Form der Anschauung ist von CARL STUMPF (8)entwickelt worden. Er weist darauf hin, wie die in KANTs Schematismus gelegene Anforderung einer Vermittlung zwischen dem Stoff und der Form zu LOTZEs Theorie der Lokalzeichen für den Raum geführt hat: hierbei stellte sich aber heraus, daß die Beziehung solcher Lokalzeichen auf die Eindrücke ein weiteres Zeichensystem fordert.
    "Lokalzeichen in Lotzes Sinn können überhaupt nichts helfen, auch wenn man statt der Muskelempfindungen irgendeine andere Gattung von Qualitäten einsetzt oder auch sich auf das bloß abstrakte Postulat solcher Hilfsempfindungen beschränkt. Wir heben eben in allen diesen Fällen gleichzeitig zwei Summen von Qualitäten in der Empfindung, die der Farben und die der Hilfsempfindungen, und es fehlt an Anhaltspunkten, wie die einen den anderen zuzuordnen sind, welche Glieder beider Mengen zueinander gehören. Man müßte wieder ein Zeichensystem dafür postulieren, und so ins Unendliche." (9)
Verallgemeinern wir: Liegt doch hier ein ganz allgemeines Problem vor. Man hat ja folgerichtig auch Temporalzeichen gefordert, ebenso hat man Analoga von Lokalzeichen selbst für die Abstufung und Anordnung von Intensitäten verlangt, damit die bestimmte Empfindung in der Intensitätsreihe einen bestimmten Platz einnimmt.
    "Liegt also", so sagt Stumpf, "in jeder Reihenbildung und Anordnung von Empfindungen ein Problem, das nur durch die Annahme eines Zeichensystems zu lösen ist, so geht es ins Unendliche. Irgendwo muß also doch in den Empfindungen unmittelbar auch ihre Ordnung als immanente Eigentümlichkeit mitgegeben sein."
So werden wir durch die Tatsachen selbst zu einem Postulat einer Immanenz der Ordnung oder Form im Stoff unserer Erfahrungen geführt. Die falsche Sonderung des Stoffes der Eindrücke von den Formen des zusammenfassenden Anschauens und Denkens, die damit zusammenhängende falsche Trennung eines aus dem Verhalten isolierter Empfindungen und Vorstellungen zueinander entspringenden Mechanismus von einem darüberschwebenden Denken: diese ganze Erneuerung des psychischen Dualismus muß aufgehoben werden.

III. Ich gehe weiter: Wir haben bei SIGWART und den anderen von KANT bedingten Logikern ein Mannigfaltiges der Empfindungen, deren Koexistenz und Folge, ihre Assoziationen, ihr so bedingtes zufälliges Zusammengeraten. Wir haben gesondert davon einen Logismus, welcher den Zusammenhang in der Erkenntnis herbeiführt. Diese Schule KANTs erkennt die Undurchführbarkeit des Empirismus. Sie ersetzt ihn durch eine ursprüngliche Dualität der Empfindungen und der Denkhandlung. Daher kann die Beziehung zwischen beiden nur von außen, durch Postulate herbeigeführt werden.

So beginnt nach SIGWART die Logik, überhaupt also die Philosophie mit dem Postulat, daß das unmittelbare Bewußtsein der Evidenz, durch welches wir notwendiges Denken unterscheiden, zuverlässig ist.
    "Der Glaube an das Recht dieses Gefühls und seine Zuverlässigkeit ist der letzte Ankergrund aller Gewißheit überhaupt; wer dieses nicht anerkennt, für den gibt es keine Wissenschaft, sondern nur zufälliges Meinen."
Hierin wird ihm niemand widersprechen. Wir können nur so zu denken beginnen. Dieses Postulat spezifiziert sich dann am Beginn der Methodenlehre in folgenden zwei Postulaten:
    "Es ist die Voraussetzung unseres theoretischen Erkennens, daß unsere gegebenen Wahrnehmungen, den Forderungen unseres Denkens sich fügend, eine Einordnung in ein Begriffssystem und einen gesetzmäßigen Zusammenhang gestatten."
Der Verstand schreibt nicht der Natur Gesetze vor, sondern wir treten in die denkende Bearbeitung der Natur mit Voraussetzungen, an die wir glauben müssen und welche den Grundsätzen auf ethischem Gebiet verwandt sind. Und es ist entsprechend das Postulat unseres praktischen Denkens, "daß unser wirkliches Tun sich einem einheitlichen Zweck unterordnen läßt." (10)

Das aber ist nun das Entscheidende. Wir können gewiß nur in das Denken eintreten, indem wir uns an das Merkmal gültigen Wissens, das in unserem Überzeugungsgefühl liegt, halten. Wir merken auch zunächst nur an, daß dieses Überzeugungsgefühl verschiedene Formen nach der Natur des Wissens annimmt. Seine einfachste Form ist die Gewißheit der Wahrnehmung, die Gültigkeit des Urteils, welches das Enthaltensein eines Tatbestandes oder Verhältnisses in der Wirklichkeit aussagt. Evidenz dagegen ist eine Form des Überzeugungsgefühls für abstrakte Wahrheiten. Es kann als verhängnisvoll werden, wenn SIGWART das Merkmal der Evidenz als das einzige für die Anwesenheit eines gültigen Urteils ansieht. Aber über seine Philosophie entscheidet doch erst ein anderes. Wie SIGWART mit diesen Postulaten in die Logik eintritt, so entläßt er uns mit der Umwandlung derselben in Voraussetzungen über den Weltzusammenhang: das Nebeneinander der Empfindungen und der Logismus ist durch keine erkenntnistheoretische Analyse aufgeflöst: die Erfahrungselemente und das Denken liegen starr nebeneinander: so entsteht aus dem Postulat ihres Füreinanderseins die metaphysische Formel.
    "Für unsere unmittelbare Auffassung", - so stellt er noch einmal die allgemeinste kantische Voraussetzung seines Systems hin, als handle es sich um einen zweifellosen Tatbestand - "sind einerseits unser Einheit und Zusammenhang suchendes Denken, mit seinen Verknüpfungsformen des Begriffs und des Urteils, mit seinen Kategorien der Substanz und der Kausalität, andererseits die Vielheit der Empfindungen unabhängig voneinander; weder auf rein subjektivistischem Boden, noch unter der Annahme einer realen Außenwelt läßt sich der Beweis führen, daß sie sich entsprechen müssen."
Das Empfinden und das Denken erscheinen selbständig gegeneinander. Jenes unwillkürlich und gegeben. Dieses einheitlich und vom Wollen geleitet. Die Beziehung beider aufeinander kann nur durch die teleologische Voraussetzung hergestellt werden, daß "die Natur von Gedanken beherrscht, und unser Geist so organisiert ist, um diese Gedanken zu denken". Die Gesetzmäßigkeit der Welt ist sonach nur als teleologischer Zusammenhang denkbar. Denn
    "Gesetze haben nur in Form des zusammenfassenden Gedankens ihr wirkliches Dasein, und nur in der Form des Gedankens ist die konstante Beziehung einer Vielheit von Elementen aufeinander möglich". (11)
Und wie die Selbstgewißheit des Denkens, so führt auch die des Wollens zu der Voraussetzung eines metaphysischen Zusammenhangs. Zwischen den Forderungen des Sollens und den Gesetzen der Natur fordern wir eine Harmonie: auch dieses Postulat führt auf die Idee einer gedankenmäßig vorhandenen, sonach in Gott gegründeten teleologischen Ordnung zurück. (12)

Indem aus dem Postulat, welches im Wissen- und Handelnwollen enthalten ist, die metphysische Formel eines gedankenmäßigen teleologischen Zusammenhangs in Gott entwickelt wird, geht der Standpunkt von KANT in den verwandten Standpunkt von SCHLEIERMACHERs Dialektik über. Nur daß für den plato-erfüllten SCHLEIERMACHER die ganze Dialektik die Explikation eines großen religiösen Lebensgefühls ist, das mitten in der Spannung des Willens, der auf Wissen und Handeln gerichtet ist, zugleich der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, des Sieges des Göttlichen in der Welt gewiß ist. Wogegen bei den Neueren, die aus dieser kontemplativen und ästhetischen Gemütsverfassung herausgetreten sind, das Hypothetische und Problematische in diesem Standpunkt, die Beziehungen von Postulaten zu metaphysischen Voraussetzungen überwiegen. So tritt die Verwandtschaft mit dem Okkasionalismus [Lehre von den Gelegenheitsursachen - wp] und mit der prästabilierten [vorgefertigten - wp] Harmonie stärker hervor.

Soll ich das Entscheidende an diesem Standpunkt nun genauer bezeichnen, so ist es, daß zwischen dem Anfang der Logik, mithin der Philosophie, und dem Schluß derselben keine Analyse des Erfahrens, Denkens und Begreifens liegt, sondern eine formale Logik. Diese setzt das Mannigfaltige der Empfindungen und den unwillkürlichen Gedankenlauf voraus. Gleichsam in der Region über ihnen sucht sie die Denkhandlung oder das Urteilen auf und beschreibt sie. Dann stellt sie Bedingungen und Gesetze ihres normalen Vollzugs hin. Und dann folgen jene schönen Kapitel über Zahl, Raum, Zeit, Bewegung, Empfindung, Ding, Wirken, psychologische Begriffselemente, auf deren Grundlage die in den Methoden vorliegenden Anwendungen der Denkfunktionen und Denkgesetze abgeleitet werden können.

So ist trotz der veränderten philosophischen Methode doch schließlich die alte Vernunftwissenschaft Metaphysik wieder da: Erkenntnis verbürgt durch den teleologischen Zusammenhang zwischen dem Logismus und der Natur, dieser Zusammenhang selber verbürgt durch die Gottesidee. ARISTOTELES und THOMAS von AQUIN kehren zurück. Und dies alles dependiert [abgeleitet - wp] davon, daß der unanalysierte Logismus äußerlich zu der in der Koexistenz und Abfolge isolierter Empfindungen gegebenen Natur in das teleologische Verhältnis gesetzt wird, aus welchem die Erkenntnis erklärbar wird. Gott ist hier wirklich das vinculum substantiale [substanzielles Band - wp], welches das uns ursprünglich und gänzlich getrennt Gegebene durch einen supponierten [unterstellten - wp] Zusammenhang verknüpft.

IV. Im Grunde finden wir bei LOTZE dieselbe Position. Er läßt über dem Spiel der Empfindungen und dem Mechanismus des unwillkürlichen Gedankenlaufs den Logismus als ein all dem Fremden sich erheben. Er begründet dessen Unabhängigkeit in KANTs Weise. Ja, er erweist die selbsttätige, in eigenen Formen und Prinzipien des Denkens sich kundgebende Spontaneität des verknüpfenden Denkens lieber durch eine metaphysische Spekulation als durch psychologische Analyse. Ich gebe den Kern dieser metaphysischen Spekulation. Alles Wirken besteht darin, daß ein Element ein anderes anregt, in einen neuen Zustand, welcher dann aber durch die Natur dieses zweiten bedingt ist, überzugehen. Alle Rezeptivität, in welcher das, was den Eindruck empfängt, auf ihn reagiert, setzt Spontaneität voraus; die Reize können das Subjekt nur zu einer Tätigkeit anregen, welche der eigenen Natur desselben entspricht. Aus diesem allgemeinen metaphysischen Verhältnis folgert er nun seine erkenntnistheoretische Grundansicht. Welche Verkehrung des Sachverhalts! Unsere Begriffe von Wirken und Leiden, die doch alle primär aus unserer inneren Erfahrung stammen, werden von LOTZE benutzt, diese Erfahrung zu interpretieren. Das also, wovon wir allein wissen durch die innere Erfahrung, soll benutzt werden, diese aufzuklären. Und mehr noch. Die metaphysische Entität einer selbsttätigen Seelensubstanz, die aber von anderen Substanzen affiziert werden kann und dann nach ihrer selbsttätigen Natur reagiert, soll dienen, erkenntnistheoretische Einsichten zu gewinnen.

Wird so die erkenntnistheoretische Grundansicht durch eine ganz problematische metaphysische Spekulation begründet, so wird andererseits jede psychologische Analyse zunächst durch einen Hinweis auf den problematischen Zustand der Psychologie abgewiesen. Aber so problematisch auch heute noch die erklärende Psychologie ist: zur Lösung dieser Aufgabe reichen Analysen, die von der empirischen Psychologie ausgehen, aus. Alsdann aber wird diese Ablehnung durch folgende allgemeine Betrachtung begründet, mit der wir SIGWART einstimmig finden. Jede Analysis des Satzes der Identität oder des Kausalgesetzes setzt diese Prinzipien selber und deren Gültigkeit voraus. Diese Gültigkeit, wie sie sich im Gefühl der Evidenz ausdrückt, ist der letzte Halt des Denkens selber. Über ihn kann man daher nicht zurückgreifen. (13)

Hiergegen ist mehreres zu bemerken. Erstens haftet der hier auftretende Zirkel auch dem Gang der Logik LOTZEs, ja dem der formalen Logik an, weil er in der Stellung des Denkens gelegen, sonach unvermeidlich ist. Ich kann mir die Prinzipien des Denkens nur zu Bewußtsein bringen, ich kann sie nur in Urteilen formulieren, indem ich die Funktion derselben in einem Denkvorgang walten lasse: mein Kriterium für gültiges Denken ist dabei das Überzeugungsgefühl; sonach setze ich eben diese auch voraus, indem ich sie nur abstrahiere und (als) Prinzipien in Urteilen ausspreche.

Ferner kann ich allerdings, indem ich diese Prinzipien analysiere, hinter das Denken selber nicht zurückgehen wollen. Dieser Satz LOTZEs ist zweifellos richtig. Ist doch das Streben, hinter das Leben selber als das Gegebene zu einem gar nicht gegebenen rein rationalen Zusammenhang zurückgehen zu wollen, eben die Wurzel der ganzen Metaphysik, welche den Weltzusammenhang in Wissen auflöst. Insofern verfältt der Metaphysiker LOTZE seiner eigenen Kritik. Dagegen ist ein solches Zurückgehen hinter das Denken für die Analysis des Denkens nicht erforderlich. Das Wissen muß nur in der primären Urteilsform aufgesucht werden. Dieselbe liegt aber natürlich nicht in dem durch das Merkmal der Evidenz verbürgten Denken vor. Sie liegt vielmehr in dem Urteil, das die Wirklichkeit eines Tatbestandes oder Verhältnisses aussagt. Ja, die Analysis kann weiter von dieser primären Form des diskursiven Denkaktes zu den Vorgängen zurückgehen, welche in der Wahrnehmung enthalten sind und deren Intellektualität ausmachen. Solche Vorgänge sind Vergleichen, Unterscheiden, Ähnlich-, Gleichfinden, Grade bestimmen, Verbinden, Trennen. Ich will ihren Inbegriff als den Kreis der elementaren logischen Operationen bezeichnen. Noch tiefer reicht, was ich zunächst nur andeuten kann. Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt: Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit. Schon die bloße Analyse der logischen Formen und Prinzipien ist unmöglich, wenn wirklich der Vorstellungsablauf gänzlich vom Denkvorgang unterschieden ist. Unter dieser Voraussetzung LOTZEs und SIGWARTs sind wir der Problematik, den Postulaten, den Voraussetzungen: dem ganzen Apparat, mit welchem diese Logik arbeitet, verfallen. Soll es ein nicht bloß hypothetisch gültiges Wissen geben, dann muß zwischen dem Wahrnehmen und Denken ein genetisches Verhältnis bestehen, welches die Dualität der Grundlagen der Erkenntnis aufhebt und so die bloß hypothetischen, vorausgesetzten, postulierten Beziehungen in objektiv gültige umwandelt.

Es gibt für LOTZE kein Entrinnen. Sein Standpunkt stellt ihn zwischen eine zu einer ganzen Fabelwelt ausgebildeten Metaphysik und die phänomenalistische Problematik. Dort Monaden und ihre Einheit im Weltgrund. Hier wie ein Erwachen aus einem schönen Traum der folgende Weg.
    "Für jeden Einzelnen hat daher das Vorstellen die Aufgabe, wahr zu sein, aber doch nur in dem Sinne, daß es jedem die gleiche Welt vorhält, die es anderen zeigt. Unbestimmt bleibt es dabei gänzlich, ob die Welt, deren Anschauung wir übereinstimmend durch unsere Vorstellungen erhalten, für alle ein gleich folgerechter Irrtum ist." (14)
Hierzu ist dann hinzunehmen, daß auch diese Personen natürlich nur eine phänomenale Wirklichkeit haben. Sonst widerspräche dieser Standpunkt sich selbst.

Ich hebe noch einen Grundzug dieser Logik hervor, die von KANTs Dualismus zwischen dem Gegebenen und dem Denken ausgeht. Dieser Grundzug liegt in der Bestimmung des Kriteriums für das gültige Denken durch rein formale Eigenschaften desselben.

Für das natürliche Denken ist das Urteil eine Behauptung über etwas, das in der Wirklichkeit enthalten ist. Macht die naive Auffassung der erkenntnistheoretischen Platz, dann strebt der Standpunkt des natürlichen Denkens immer noch sich zu behaupten. Es müßte seine Stellung etwa von folgenden Sätzen aus zu verteidigen suchen. Der Denkzusammenhang, welcher sich im Menschengeschlecht ausgebildet hat, bezieht sich auf den Zusammenhang aller Wahrnehmungen, welche in den aufeinanderfolgenden Generationen gemacht wurden, und ist in ihnen enthalten. Die Denkregeln sind nur die Prinzipien, nach welchen dieser Denkzusammenhang in der Wirklichkeit enthalten ist und aus ihr abgeleitet werden kann. Man könnte daher die formalen Denkregeln einem obersten Prinzip unterordnen, von welchem die materiale Wahrheit dieses Zusammenhangs abhängig ist. Nach diesem muß jede Aussage schließlich im Inbegriff unserer Wahrnehmungen enthalten sein. Auch wo die Beziehung auf die Wirklichkeit in einem Urteil ganz zu verschwinden scheint, ist sie eben nur eine sehr vermittelte. Man darf hierbeit nur das einzelne Urteil nicht isoliert betrachten, sondern muß es in dem Zusammenhang nehmen, der zwischen dem ganzen Denkzusammenhang und dem Inbegriff der Wahrnehmungen besteht.

Unter dem Einfluß des kantischen Kritizismus ist nun in der auf demselben begründeten formalen Behandlung der Logik das Streben entstanden, diese natürliche Auffassung des Urteils zu beseitigen und formale Kriterien seiner Gültigkeit dafür einzusetzen.

Das Kriterium der Gültigkeit des Denkens liegt für SIGWART in der Notwendigkeit der Aussage, sekundär in ihrer Allgemeingültigkeit. Und zwar gründet er die Ausschließung der Beziehung des Denkens auf das Sein darauf, daß der Nachweis dieser Beziehung durch ein Denken geführt werden müßte, welches sich des Merkmals der Notwendigkeit, d. h. der Gebundenheit für die gültige Aussage bedient. Hieraus folgert er, daß das Enthaltensein des gültigen Urteils in der Wirklichkeit ein abgeleitetes Merkmal des Denkens ist, das Merkmal der Gebundenheit oder Notwendigkeit aber das ursprüngliche.

Diese Sätze von SIGWART sind auf dem Standpunkt der deskriptiven oder formalen Logik in ihrem positiven Gehalt unwidersprechlich. Um zu denken, um zu reflektieren, müssen wir zunächst diesem Überzeugungsgefühl vertrauen, uns seiner Leitung überlassen. Aber neben ihm steht eine zweite ursprüngliche Tatsache, welche von diesem Überzeugungsgefühl getrennt werden muß. Uns ist in der Gewißheit der Aussage über ein Erlebtes, einen inneren Tatbestand die Realität doch nicht erst durch die Vermittlung des Denkens gegeben. Ist ja doch eben dieses Überzeugungsgefühl nur in der inneren Erfahrung gegeben und durch sie beglaubigt. Beide Tatsachen wirken zusammen. Ohne Vermittlung des Denkens, sonach unmittelbar, können wir keine Realität, auch nicht die unserer eigenen Zustände, in unseren klaren, distinguierenden [unterscheidenden - wp], orientierten Besitzstand aufnehmen. Immer müssen wir sie in den Zeitverlauf, in den örtlichen Zusammenhang einordnen, um sie in gültiger Weise zu behaupten. Die beiden Kriterien gültiger Urteile, Enthaltensein eines Inhalts oder eines Verhältnisses von Inhalten in der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit und Gebundenheit oder Notwendigkeit des Denkvorgangs wirken zusammen. Man wird bei näherem Zusehen sagen müssen, daß die Gewißheit des Denkzusammenhangs, in welchem unsere Urteile auftreten, aus dem Zusammenwirken des Kriteriums der Gewißheit für unmittelbares Wissen mit dem Kriterium der Gebundenheit oder Notwendigkeit für vermitteltes Denken entsteht. Auch Urteile, die einen inneren Tatbestand aussprechen, sind in den Denkzusammenhang eingeschaltet, was unmittelbar gegeben scheint, ist vermittelt. Müssen wir nun zwei ursprüngliche Tatsachen als voneinander unabhängige Grundlagen des Denkens anerkennen? Das Überzeugungsgefühl, welches die Denkhandlungen begleitet, und dann die unmittelbare Gewißheit des in der inneren Erfahrung, vielleicht der Erfahrung überhaupt Gegebenen? Auf dem Standpunkt der logischen Reflexion ist es sicher so. Auf ihm muß es hierbei sein Bewenden haben. Die ganze formale Logik beruth auf dieser Dualität der letzten Erkenntnisgründe. Diese setzt sie voraus und entwickelt für ihren Teil nur das im Überzeugungsgefühl, das unsere Denkhandlungen begleitet, Enthaltene. Ich will die Logik, welche durch eine wirkliche Zergliederung hierüber hinauszugehen strebt, als analytische Logik bezeichnen. Machen wir uns der Schule KANTs gegenüber zumindest die Möglichkeit einer solchen Logik klar.

Was als Axiom oder Prinzip mit dem vorherrschenden Charakter der Gebundenheit des Denkens an ein Verhältnis von Inhalten, sonach mit dem Charakter der Notwendigkeit auftritt, kann vielleicht durch so eine analytische Behandlung als ebenfalls, nur auf andere Art, in der erfahrenen Wirklichkeit enthalten, nachgewiesen werden. Daher hat es dann auch im Überzeugungsgefühl den Charakter einer in der Sache gegründeten Gebundenheit. Im Sinne dieser allgemeinen analytischen Einsicht habe ich von unserem Glauben an die Außenwelt in einer früheren hier gelesenen Abhandlung nachzuweisen unternommen, daß derselbe aus der Verbindung unmittelbar gegebener Erfahrungselemente im vermittelnden Denken entsteht. Konnte es nun in dieser Abhandlung so erscheinen, als ob sonach die Gültigkeit des ganzen Logismus mit seinen Prinzipien und Formen die Voraussetzung unseres Glaubens an die Außenwelt ist, so erfährt jene Abhandlung hier ihre Ergänzung. Diese liegt in der analytischen Einsicht über das Verhältnis des unmittelbar gegebenen Wissens zum Denken. Ist diese Dualität in kantischer gegenseitiger Ausschließung unaufhebbar, dann gibt es keine Erkenntnis, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinliche Annahmen über das Wirkliche. Es ist aber klar, in welcher Richtung die Auflösung des Problems zu suchen ist. Entweder hat unser Urteilen zwei ganz verschiedene Merkmale seiner Gültigkeit, das erste in der unmittelbaren Gewißheit, das andere in der Gebundenheit oder Notwendigkeit. Zwei Merkmale, welche sich ganz selbständig gegeneinander verhalten. Oder die Analyse muß hier einen genetischen Zusammenhang aufsuchen. Es ist dann aber klar, daß das Erfahren als die primäre Tatsache aufzuzeigen ist und das Denken als sekundäre. Das Bewußtsein des in der Wirklichkeit Enthaltenseins der Aussage als das erste, das der Gebundenheit im Denken als das zweite.

Nur eine Perspektive auf Untersuchungen und Ergebnisse, die sich erst zu bewahrheiten haben werden, tut sich in diesen Sätzen über logische Analysis vor uns auf. Eins ist aber nicht erst zu erweisen, sondern kann und darf nicht bezweifelt werden. Neben einem Überzeugungsgefühl, das die Denkhandlungen begleitet, steht als eine unabhängige Grundlage der Logik die Sicherheit der Wahrnehmungen, zunächst der inneren. Die Nutzlosigkeit des ganzen Unternehmens, das Enthaltensein in der Wirklichkeit aus den Bestimmungen über die Gültigkeit des Denkens zu eliminieren, wird noch klarer, wenn man das Verhältnis der Notwendigkeit zur Allgemeingültigkeit in der logischen Schule KANTs, zunächst bei SIGWART nunmehr ins Auge faßt. Die Notwendigkeit der Aussage, das Bewußtsein des Nichtanders-Könnens ist im gültigen Denken objektiv; wir finden sie im Inhalt und Gegenstand des Denkens begründet. Sie besteht also nicht in der psychologischen Gesetzmäßigkeit, mit welcher ein Denkakt hervortritt. Auch nicht im Bewußtsein dieser Gesetzmäßigkeit. Diese psychologische Notwendigkeit ist ganz von der logischen zu trennen. In der letzteren findet das Denken sich durch die Verhältnisse seiner Inhalte, also durch die Sache gebunden.

In diesen Sätzen stimmt SIGWART mit LOTZE überein. Denn schon LOTZE ersetzte die Übereinstimmung der Vorstellungsverbindung mit dem Gegenstand als Merkmal der Wahrheit des Urteils durch die Gebundenheit des Denkens an eine Beziehung der vorgestellten Inhalte.

Hieraus ergibt sich dann bei LOTZE wie bei SIGWART, daß diese Beziehung auch von jedem Bewußtsein in derselben Art anerkannt werden muß. So ist mit dem Merkmal der Notwendigkeit für das gültige Urteil das der Allgemeingültigkeit gegeben. Um nun aber den Zirkel zu vermeiden, daß so im Merkmal der Allgemeingültigkeit doch die Annahme anderer Personen, sonach die Voraussetzung eines äußeren Seins mitgesetzt ist, die ausgeschlossen war, faßt SIGWART die Allgemeingültigkeit als die Übereinstimmung hypothetisch angenommener Wesen in der Gebundenheit an ein Verhältnis von Inhalten.

Nun ist aber nichts klarer, als daß durch diesen phänomenalistischen Vorbehalt an den Beziehungen zwischen der Sache, dem Denken und der Übereinstimmung denkender Subjekte in Bezug auf die Sache nicht das Mindeste geändert wird. Der ganze reale Zusammenhang von denkendem Subjekt, Objekten, dasselbe Objekt auffassenden anderen denkenden Subjekten ist eben nur um das entscheidende Bewußtsein der äußeren Realität vermindert. In dieser phänomenalen Schattenwelt tritt an die Stelle der Erfahrung überall nur die logische Gebundenheit des Bewußtseins an Inhalte und deren Verhältnisse.

So erklärt sich nun das Schwanken in LOTZE zwischen einer massiven Metaphysik und dem Phänomenalismus. Führt er Postulate auf Postulate ein, dann entsteht ihm eine Metaphysik, diese ist aber dann in der Wurzel problematisch. Sieht er von diesen Postulaten ab, so bleibt ihm ein bloßes Geltenlassen, das nicht einmal der Gültigkeit der Denkformen [katego] sicher ist, sonach nur einen durch Zusammenhang und innere Gebundenheit charakterisierten Inbegriff von Bewußtseinstatsachen übrig läßt.

V. Fassen wir nun die Situation der Logik und Erkenntnistheorie so allgemein wie möglich auf. Durch die neuere Philosophie geht der Streit zwischen Empirismus und Rationalismus. Die letzte klassische Darstellung des empiristischen Standpunktes war die Logik von MILL. Ich denke, daß die Widerlegung derselben durch die Schule KANTs, insbesondere durch SIGWART ein Faktum ist, das nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Die rationalistische Position wird heute von der Schule KANTs hauptsächlich zur Geltung gebracht. Der Vater dieser Position war DESCARTES. Er hat zuerst der Souveränität des Intellekts einen siegreichen Ausdruck gegeben. Diese Souveränität hatte ihren Rückhalt in der ganzen religiösen oder metaphysischen Position seiner Epoche, und sie bestand ebenso bei LOCKE und NEWTON wie bei GALILEI und DESCARTES. Nach dieser ist die Vernunft eben das Prinzip der Konstruktion der Welt, nicht eine episodische Erdentatsache. Doch kann niemand sich dem heute entziehen, daß dieser großartige religiös-metaphysische Hintergrund nicht mehr selbstverständlich ist. Vieles wirkte in dieser Richtung. Die Analyse der Natur scheint die konstruktive Vernunft als ihr Prinzip allmählich entbehrlich zu machen; LAPLACE und DARWIN repräsentieren am einfachsten die Umwandlung. Und die Analysis der menschlichen Natur scheint ebenfalls dem heutigen wissenschaftlichen common sense den Zusammenhang dieser Natur mit einer höheren Ordnung entbehrlich zu machen. In beiden Veränderungen ist als drittes enthalten, daß der religiöse Zusammenhang zwischen Schöpfer und Geschöpf für uns keine zwingende Tatsache mehr ist. Aus all dem geht hervor, daß eine Ansicht, welche den souveränen Intellekt eines DESCARTES als ein vorübergehendes singuläres Produkt der Natur auf der Oberfläche der Erde und vielleicht anderer Gestirne ansieht, nicht mehr von vornherein abzuweisen ist. Viele unserer Philosophen bekämpfen sie. Aber für keinen derselben ist Vernunft als Hintergrund des ganzen Weltzusammenhangs selbstverständlich. So wird das Vermögen dieser Vernunft, sich der Realität denkend zu bemächtigen, zur Hypothese oder zum Postulat. Auch daß wir durch diese Vernunft zweckmäßig in den Weltlauf eingreifen und nach unseren Ideen ihn verändern, daß wir durch sie einen gesetzlichen Zusammenhang in der Natur erfassen und benutzen: erweist doch nur, daß ein Zusammenhang im Bewußtsein besteht, welcher Bilder von Dingen und Personen mit dem denkenden Subjekt verbindet. Die Problematik des modernen Denkens, die Abneigung, über das Gegebene und das Rechnen mit ihm hinauszugehen, der äußerliche Tatsachenstandpunkt, die zerrissene pessimistisch-skeptische Denkhaltung, dann wieder eine hiervon Stütze ziehende kirchliche Theologie: all das sind Symptome derselben Zuständlichkeit des gegenwärtigen Denkens.

Das ist aber die Frage. Soll die Philosophie wieder eine Macht werden, welche das menschliche Handeln und Denken zu bestimmen vermag, so muß sie wieder zu behaupten, festzuhalten vermögen. Welchen mächtigen Ausdruck gab einst HEGEL diesem Bedürfnis und Willen, als er die Reflexionsphilosophie der kantischen Epoche angriff! Wie hat in England CARLYLE, in Frankreich COMTE dasselbe Bedürfnis und denselben Willen zum Ausdruck gebracht! Beiträge, sich einem solchen Ziel zu nähern, dürfen eine nachsichtige Beurteilung erbitten.
LITERATUR: Wilhelm Dilthey, Erfahren und Denken, Gesammelte Schriften, Bd. 5 (Die geistige Welt), Leipzig und Berlin 1924
    Anmerkungen
    1) Sigwart, Logik II, Methodenlehre, Seite 41 und 117
    2) SIGWART, a. a. O., Seite 41, vgl. Seite 45 Anm.
    3) SIGWART I, Seite 77
    4) SIGWART I, Seite 333 und 547
    5) LOTZE, Mikrokosmus I, Seite 248
    6) LOTZE, a. a. O., Seite 248
    7) LIEBMANN, Klimax der Theorien, Abschnitt "Die theoretischen Interpolationsmaximen der Erfahrungswissenschaft".
    8) CARL STUMPF, Psychologie und Erkenntnistheorie, 1891, Seite 17f des Sonderdrucks (Abhandlungen der Münchener Akademie der Wissenschaften XIX, Bd. II, Seite 483f).
    9) STUMPF, a. a. O., Seite 22 (bzw. 486)
    10) SIGWART I, a. a. O., Seite 15. Nähere Erläuterungen über diese Voraussetzungen Seite 360f
    11) SIGWART II, a. a. O., Seite 596, 598
    12) SIGWART II, a. a. O., Seite 597
    13) LOTZE, Logik (1874), Seite 570f.
    14) LOTZE, Logik, a. a. O., Seite 394f.