p-4ra-2cr-2cr-2Janik/ToulminE. LuckaH. KleinpeterR. Thiele    
 
HEDWIG CONRAD-MARTIUS
Die erkenntnistheoretischen
Grundlagen des Positivismus

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"Jede Realitätssetzung als solche (welcher Artung auch das in ihr Angesetzte sein mag) ist in einem 'allerstrengsten erkenntnistheoretischen Sinn angreifbar: zumindest insofern, als ein solcherweise Angesetztes als ein über die momentane Gegebenheit hinaus Dauerndes gefaßt ist; da mit dem realen Abfluß der Bewußtseinsakte in der Zeit immer nur das momentan Gegebene zur Selbstgegebenheit im strengsten Sinn zu kommen vermag."


Einleitung

MACH spricht im Vorwort von "Erkenntnis und Irrtum" mehrfach von einem in diesem Buch gebotenen Versuch einer Erkenntnispsychologie. Dies ist eine in der Tat kennzeichnende Ausdrucksweise für die wesentlichen Ausführungen dieses Werkes. Die psychologischen und biologischen Gesetzmäßigkeiten, die Erkenntnis und Wissenschaft hervorgetrieben haben, die Forscher und Forschergenerationen von Fragestellung zu Fragestellung, von Auffassung zu Auffassung führten, zur Darstellung zu bringen, das ist die hier gestellte Aufgabe. In seiner "Wärmelehre" und "Mechanik" ist MACH im Wesentlichen historisch und entwicklungstheoretisch orientiert. Der zweite Band der "Kritik der reinen Erfahrung" von AVENARIUS untersteht analogen Zielen, wenn auch die schematisierende und systematisierende Geistesrichtung dieses Philosophen seinen Untersuchungen eine vollkommen andere Fassung und Gewandung verleiht. AVENARIUS sucht zu zeigen, wie ganze Weltanschauungen durch die Macht biologischer Gesetzmäßigkeiten zum Entstehen und Schwinden gebracht werden und in ihren immerwährenden Abwandlungen auf dieser biologischen Grundlage verständlich zu machen sind.

Bei den genannten Versuchen fällt vor allem ein für uns bedeutsames Moment auf: Daß die Entwicklung von Erkenntnis, Forschung und Wissenschaft Gesetzmäßigkeiten untersteht, die eine völlige Blindheit der Lebewesen dem gegenüber möglich machen soll, was durch diese ihre eigene Lebensentwicklung letztlich erreicht wird, nämlich reine Erkenntnis. Nicht die bewußte Einstellung und Erkenntnis und die bewußte Einsicht in einen vom Seienden selbst geforderten Erkenntnisweg leitet zur Problemstellung und -lösung, sondern biologische Gesetzmäßigkeiten der Selbsterhaltung und Daseinsanpassung, die als solche nichts weniger als reinen Erkenntniszielen dienen. Ganz zufällig gewissermaßen treffen von hier aus gesehen die sich herausbildenden Meinungen über das Seiende mit der tatsächlichen Artung dieses Seienden letzten Endes zusammen. Weil die Lebenwesen sich in ihrem Dasein erhalten müssen, darum und nur darum kommt Erkenntnis und Erkenntnisfortschritt zusammen.

Aber bei dieser eigentümlichen Auffasung des Erkenntnisweges bleibt doch der reine Sinn dessen, was Erkenntnis selbst ist, im Wesentlichen erhalten. Das ist für die Charakterisierung des Positivismus wichtig. Es ist eine wenn auch in sich blinde Entwicklung zu einer immer reineren Erfassung dessen hin, was da gegeben ist. Es ist eine mehr und mehr fortschreitende "Anpassung der Gedanken an die Tatsachen", wie MACH sich phänomenologisch gesehen ungenau, aber für seinen von uns hier hervorgehobenen Standpunkt kennzeichnend genug ausdrückt. Und wenn für AVENARIUS letztlich der "analytische Erfahrungsbegriff" mit dem "synthetischen" zusammenfällt, so besagt dies, daß all dasjenige, was als Erfahrung dasteht und aufgefaßt wird, an einem idealen Endpunkt der biologischen Entwicklung mit wirklicher Erfahrung zusammenfällt, d. h. daß in ihm nur Bestandteile des wirklich Seienden fixiert sind. Der Positivismus ist also streng zu scheiden von einem Pragmatismus (1), der den Sinn von Erkenntnis selbst verkehrt, indem er das Wahre identifiziert mit dem biologisch in irgendeinem Sinn Relevanten: wahr ist das, was zu biologisch fördernden Handlungen führt. Für die Pragmatismus ist ein Gegebenes, das in der Erkenntnis als ein solches zu fassen wäre, überhaupt nicht vorhanden. Das gerade zeichnet den Positivismus vor jeder irgendwie pragmatisch gewendeten Erkenntnistheorie aus, daß ihm die wissenschaftliche Ehrfurcht vor dem Gegebenen immanent ist, dem man sich erkennend "anzupassen" und hinzugeben hat. In der Erkenntnis schaffen wir nicht das Seiende (in keinem Sinn), sondern wir beugen uns ihm (2).

In einem weitesten Sinn kann man von Positivismus überall dort sprechen, wo ein letztlich gegebenes Seiendes vorausgesetzt wird, das als solches zu erfassen Sinn und Wesen aller Erkenntnis ist. Wir werden uns allerdings mit einem "Positivismus" im engeren Sinn zu beschäftigen haben, an dessen inhaltlich bestimmte Lehren sich historisch der Name Positivismus vorzüglich heftet.

Dieser (historische) Positivismus ist fast immer verwurzelt in einer skeptischen Wendung, gerichtet gegen die tatsächliche Gegebenheit all dessen, was nach seiner Meinung zu Unrecht als seiend angesetzt worden ist und damit auch gegen bestimmte der Artung dieser vermeintlichen Seinsbestände korrespondierende Erkenntnismöglichkeiten (3), wie solche in der "reinen Anschauung" und in der neuerdings herausgestellten "kategorialen (4) Wahrnehmung" vorliegen. Dieser Skeptizismus wird inhaltlich bestimmt durch die Lehre, daß die sinnliche Wahrnehmung (äußere oder innere) die einzige Seinserfahrungsweise und dementsprechend das "sinnlich Wahrnehmbare" oder auch die "Empfindung" das einzig gegebene Erkenntnismaterial ist (5). Indem also das "Gegebene", nach dem sich die Erkenntnis zu richten hat, festgelegt wird auf das sinnlich Wahrnehmbare, erhält damit jenes positivistische Grundprinzip schon eine inhaltlich ganz bestimmte Ausdeutung. Es ist aber zu beachten: wenn jener ersterwähnte Satz, daß das Gegebene als der letzte Grund aller Erkenntnis anzusehen ist, aus dem Wesen der Erkenntnis selbst einsichtig ist, so gewiß nicht die positivistische Einschränkung auf das in der Weise des sinnlich Wahrnehmbaren Gegebene. Wenn Erkenntnis die Erfassung des Seienden ist und aus diesem Sinn von Erkenntnis (6) folgt, daß sich vermeintliche Erkenntnis als wirkliche da letztlich ausweist, wo das Seiende zur Selbstgegebenheit kommt und mit dem Bedeutungsgehalt des Vermeinten zur Deckung gebracht wird, so bedarf es für die Einsichtigkeit dieses Zusammenhangs in keiner Weise der Voraussetzung, daß dieses "Seiende" ein nur in der Art eines sinnlich Wahrnehmbaren Seiendes sein kann und darf. Diese letztere sensualistische Lehre scheint uns nirgends erwiesen und erkenntnistheoretisch gerechtfertigt zu sein, sondern in den positivistischen Schriften in völlig dogmatischer Weise vorausgesetzt zu sein. Gegen diese unrechtmäßige Aus- und Umdeutung der an und für sich durchaus rechtmäßigen positivistischen Grundtendenz auf das Gegebene hin richten wir uns. Wir haben es daher nicht mit dem Inhalt jener Erkenntnispsychologien und -biologien zu tun, obwohl wir keineswegs glauben, daß diese in irgendeiner der von positivistischer Seite gegebenen Formen angenommen werden könnten. Gründen sie doch schon selbst im erwähnten positivistisch-erkenntnistheoretischen Dogma. Zudem geraten sie da, wo sie wir bei AVENARIUS die Gewandung naturgesetzlicher Absolutheit und Undurchbrechbarkeit erhalten, in recht wunderliche Widersinnigkeiten: denn ihre inhaltliche Fassung setzt die Einsicht in die wahrhafte Artung des Seienden voraus, eine Einsicht, die andererseits erst das letzte ideale Ziel einer biologischer Entwicklung sein soll. Ein Vertreter einer solchen Theorie müßte selbst außerhalb der biologischen Entwicklungsgesetzlichkeiten stehen, die jede jedweilige Lehrmeinung inhaltlich auf den jeweiligen biologischen Entwicklungszustand relativ macht. Aber wie gesagt: wir wollen hierauf nicht näher eingehen, ebensowenig auf die naturwissenschaftlichen (physiologischen oder biologischen Grundlagen) (7). Sondern wir wollen in rein erkenntnistheoretischer Einstellung fragen, ob das, was der Positivist als das einzige Gegebenheitsmaterial ansetzt, in der Tat eine solche Vorzugsstellung besitzt.

Und zwar scheint es und die einzig mögliche Methode zu sein, auf dieses Gegebene selbst hinzublicken und es in seiner Eigenart zu fassen versuchen. Eines ist jedenfalls von vornherein klar: wenn wir fragen, was als ein realiter Seiendes gegeben ist, so können wir uns unmöglich auf irgendwelche naturwissenschaftliche Tatsächlichkeiten stützen, weder um die Meinung, daß nur bestimmt Qualifiziertes, wie etwa Empfindung, gegeben sein kann, zu erhärten, noch um zu erklären, wie wir zu Vorstellungsweisen kommen, die sich nicht auf dieses sinnlich Gegebene zurückführen lassen. Denn jeder naturwissenschaftliche Satz schließt als solcher die ganze erkenntnistheoretische Problematik in sich (8).

Und zweitens glauben wir, daß uns die gestellte Aufgabe nur dann wahrhaft gelingen kann, wenn dasjenige, nach dessen realer Gegebenheit erkenntnistheoretisch gefragt wird, zunächst in seiner Wesenseigenart rein gefaßt wird. Denn sonst könnte es geschehen, wie es in den positivistischen Schriften nur zu oft geschieht (wir werden später im Einzelnen darauf hinweisen), daß man in den erkenntnistheoretischen und erklärenden Erörterungen gar nicht das im Auge hat und behält, um dessen beständige Setzung es sich in der natürlichen Weltanschauung und der Naturwissenschaft handelt und auf das die erkenntnistheoretische Skepsis ursprünglich gerichtet war (Kausalität, Materialität usw.) Diese Wesensauffassungen sind zudem, wie wir meinen, die eigentlich philosophischen Aufgaben. Es hat dagegen keinen Sinn, aufgrund der erkenntnistheoretischen Voraussetzung, daß die in gewissen Bedeutungen umgriffenen Wesenseinheiten nicht realiter selbstgegeben sein können, auch das phänomenale Vorhandensein dieser Wesenseinheiten zu leugnen, ("denn woher sollten wir sie sonst genommen haben?"). Denn zunächst ist der Tatbestand, daß dies alles nicht nur Gegenstände weit greifender phänomenologischer Untersuchungen sind (ein Tatbestand, der am besten durch die positive phänomenologische Arbeit selbst sichtbar gemacht werden kann), sondern daß sie auch in der natürlichen Einstellung, die die Naturwissenschaft teilt, einer fortwährenden realen Setzung unterliegen, als solcher anzuerkennen. Dann ist erst die erkenntnistheoretische Frage zu stellen.

Wir wollen hier, um die gröbsten Mißverständnisse auszuschalten, die der Ausdruck "ihr phänomenales Gegebensein" mit sich bringen könnte, vorläufig Folgendes unterscheiden: Auch in der positivistischen Literatur wie in der sie kritisierenden wird des öfteren von Phänomenalismus, vom Phänomenalen gesprochen. Hier hat der Ausdruck vPhänomen überall den Sinn des in einem bestimmten Moment einem bestimmten wahrnehmenden Subjekt Erscheinenden und zwar in sinnlicher Weise Erscheinenden (9). In einer etwas weiteren Bedeutung kann er dann jedes irgendeinem realiter vollzogenen Akt (einem Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, Meinen), also jedem realiter vorhandenen Gegenstandsbewußtsein korrelate Gegenständlilche (eben das Wahrgenommene, Vorgestellte, Gedachte, Gemeinte als solches) bezeichnen. Wenn wir etwa (mit DESCARTES) sagen: ich weiß nicht, ob das, was ich in diesem Augenblick wahrnehme, realiter vorhanden ist, (oder ob ich es etwa bloß träumte); aber daß dies alles meinerseits in diesem Augenblick erlebte Wahrnehmungsgegenstände sind, daran kann ich nicht zweifeln - und wenn wir dann davon sprechen, daß gegen das reale Vorhandensein der Bewußtseinserscheinungen (oder Phänomene) keine Erkenntnisskepsis gerichtet werden kann, dann haben wir ein Phänomen oder eine Bewußtseinserscheinung in diesem zweiten Sinn) (10). Dieser Sinn von "Phänomen" schließt, wie wir sehen, eine reale Setzung in sich, indem es das mir Gegebene, von mir Vorgestellte oder von mir Gemeinte in einem bestimmten Zeitmoment ist. Wir meinen aber, daß eine radikale Erkenntnisskepsis (wenn wir schon in eine solche eintreten) sich in einem bestimmten Sinn mit ebensoviel als so wenig Recht auf die Realitätssicherung von "Bewußtseinserscheinungen" (in der eben gekennzeichneten Bedeutung) beziehen könnte, wie auf die Realitätssicherung all dessen, was als zur physischen Sphäre gehörig angesetzt wird. Wir sagen: in einem bestimten Sinne; denn wir meinen allerdings, daß der physischen Sphäre gegenüber spezifisch in deren Eigenart gründende erkenntnistheoretische Schwierigkeiten auftauchen, mit denen wir uns weiterhin vorzüglich beschäftigen werden. Aber jede Realitätssetzung als solche (welcher Artung auch das in ihr Angesetzte sein mag) ist in einem allerstrengsten erkenntnistheoretischen Sinn angreifbar: zumindest insofern, als ein solcherweise Angesetztes als ein über die momentane Gegebenheit hinaus Dauerndes gefaßt ist; da mit dem realen Abfluß der Bewußtseinsakte in der Zeit immer nur das momentan Gegebene zur Selbstgegebenheit im strengsten Sinn zu kommen vermag. Diese subtilsten erkenntnistheoretischen Fragen (was z. B. "momentane Gegebenheit" heißt und wie das jeweilig "in die Vergangenheit hineinrücken" zu bestimmen ist), müssen wir hier als solche stehen lassen. Schon die auch innerhalb der psychischen Sphäre in weitem Umfang vorhandenen möglichen Täuschungen (11) lassen erkenntnistheoretische Bedenken aufsteigen (durch die uns allerdings, wie wir glauben, ebensowenig eine wirkliche Erkenntnisskepsis geboten erscheint, wie durch die möglichen Täuschungen bezüglich der Gegebenheit physischer Gegenständlichkeiten; über diesen letzteren Punkt vgl. die späteren Ausführungen). Aber wir werden uns mit den erkenntnistheoretischen Frage, die die Gegebenheit von realem Sein überhaupt betreffen, nicht in dieser Allgemeinheit zu beschäftigen haben; für eine Kritik des Positivismus kommen zunächst speziellere erkenntnistheoretische Probleme in Betracht. Im Hinblick auf die Ziele dieser Arbeit war das eben Angeführte darum wichtig, weil wir betonen mußten, daß wir von einer letztlichen phänomenologischen Klärung des Gegebenen (als notwendig vor aller erkenntnistheoretischen Fragestellung) sprechend uns nicht etwa auf das in jedem gegebenen Moment jeweilig realiter für das individuelle Bewußtsein Erscheinende zurückziehen wollen (die descarteschen cogitationes).

Wir sprachen oben von notwendigen Wesenserklärungen. Innerhalb dieser Wesenserklärungen bleibt es zunächst völlig dahingestellt, und kann völlig dahingestellt bleiben, ob das so in seiner Wesensartung zu Erfassende realiter existiert oder nicht und ob es im Einzelfall realiter gegeben ist oder nicht (12). Für eine solche realiter vollzogene Wesenserklärung muß es allerdings in einem realen Bewußtseinsakt zur Gegebenheit kommen und zwar zu einer völlig adäquaten, wenn die betreffenden Einsichten erwachsen sollen. Aber wenn dies eine reale Vorbedingung für eine mögliche reale Wesenseinsich im Einzelfall darstellt, so kommt es doch innerhalb dieser selbst auf dieses in einem bestimmten Augenblick mir oder einem anderen realiter Gegebensein in keiner Weise an. Denn für das, was hier erfaßt werden soll, ist dieses Moment realer Gegebenheit völlig irrelevant. Ich komme mit der Wesensfrage in eine von der jeder Realitätsfrage völlig verschiedene Dimension. Ich frage nach dem wesenhaften "Was" des Gemeinten, nicht aber nach seinem realen Vorhandensein oder seinem realen Mir-vorstellig-sein.

Wenn man diese erschaubaren Wesenseinheiten (in dieser ihrer Erschaubarkeit) auch "Phänomene" nennt, so ist jedenfalls die fundamental verschiedene Bedeutung dieser Ausdrücke hier und in den beiden oben angegebenen Fällen streng festzuhalten. (13)

Wir übersehen nicht, daß man auch hier wieder erkenntnistheoretische Schwierigkeiten finden könnte, die sich jedoch, wie wir meinen, wesentlich von allen unterscheiden, die im Hinblick auf irgendeine Realitätssetzung erstehen. Wenn überhaupt irgendwo, dann gelangen wir hier zu letzten Evidenzen und damit zu reiner Erkenntnis.

All das kann mit den in diesem Sinne geführten Untersuchungen selbst erst in seiner vollen Bedeutsamkeit heraustreten.

Von diesen jeder erkenntnistheoretischen Untersuchung im Einzelfall notwendig, wie wir meinen, vorauszuschickenden Wesenserklärungen zu trennen sind dann die eigentlich erkenntnistheoretischen Fragen, ob und wie sich diese "Washeiten": Materie, Kausalität und dgl. als realiter vorhandene ausweisen, in wie gearteteten Erlebnissen sie eventuell als realiter vorhandene Gegebenheit kommen und ob diese Gegebenheitsweisen ihr reales Dasein letztlich zu sichern vermögen. Diese Fragen sind, wie schon gesagt, nur zu entscheiden im Hinblick auf das Gegebene und seine Artung selbst (14).

Ich füge nur noch einige Bemerkungen über unsere spezielle Vorgangsweise und Problemauswahl hinzu. Wir werden uns nicht so sehr mit den Widersinnigkeiten beschäftigen, in die der Positivismus mit seinen eigenen erkenntnistheoretischen Lehren hineinzugeraten scheint; wir können nicht ganz übersehen, ob er sich gegenüber einer solchen immanenten Kritik nicht doch letztlich da und dort zu retten vermöchte. Wenn man ihm z. B. vorwirft (15), daß seine eigenen Thesen den Anspruch auf eben die Allgemeinheit und Notwendigkeit (in einem kantischen Sinn) besitzen, die er durch seine Lehren aufheben will, so könnte immer von positivistischer Seite entgegnet werden, daß die gefällten Urteile gar nicht als in diesem Sinne notwendige und allgemeine gelten sollen. Vor allem aber wollen wir nicht untersuchen, ob bei den positivistischen Voraussetzungen Wissenschaft (bestimmbar als eine Erkenntnis des realen Seins) möglich wäre. Auch hier wagen wir keinen letzten Entscheid zu geben.) (16)

Daß dagegen die tatsächlich vorhandenen Naturwissenschaften ihrer spezifischen Artung nach ganz andere Ansprüche machen, als unter jenen erkenntnistheoretisch-positivistischen Voraussetzungen zu erfüllen wären, geben auch wir natürlich zu. Gerade diesen Tatbestand hoffen wir nach verschiedener Hinsicht mit den folgenden Ausführungen sichtbar machen zu können. Aber diese Unmöglichkeit einer naturwissenschaftlichen Erfahrung (in jenem prägnanten Sinn) kann bei solchen erkenntnistheoretischen Lehren nicht als entscheidendes Kriterium gegen eben diese vorgebracht werden. Warum soll es denn durchaus so etwas wie Naturwissenschaft in einem so beanspruchten Sinn geben? Die Realität dieser ist doch kein letztes unantastbares Datum, nach dem sich die reine Erkenntnis zu richten hat. Wollen wir doch gerade umgekehrt den Gültigkeitsanspruch dieser Wissenschaften erkenntnistheoretisch begründen, d. h. das in ihnen Gesetzte oder vielmehr naiv Vorausgesetzte am wahrhaft Gegebenen in reiner Erkenntniseinstellung messen. Wenn sich eine solche letzte erkenntnistheoretische Fundierung in der Gegebenheit als unmöglich erweisen würde, dann würden wir es in Übereinstimmung mit dem Positivismus als einzig mögliche Konsequenz erachten, nach dieser Richtung zu resignieren. Wir wollen also nicht indirekt vorgehen (und damit notwendig gewisse selbst allererst erkenntnistheoretisch abzuwertende Voraussetzungen machen), sondern direkt, das Gegebene selbst befragen. Und zwar werden wir uns bei der ungeheuren Fülle des Stoffes, die aus einer solchen positiven Kritik aller postivistischen Anschauung ersteht, auf den Gegebenheitsbereich beschränken, innerhalb dessen die positivistischen Grundlehren (17) - die von der Relativität allen Wahrnehmungsgehaltes und der Sensualismus - zum Austrag kommen können: nämlich auf den Gegebenheitsbereich des Physischen.

Hier wiederum werden es zunächst und vor allem nicht die allgemeineren erkenntnistheoretischen Fragen sein (wie z. B. die allgemeinen und notwendigen Urteile der Naturwissenschaft oder auch die "komparativ-allgemeinen" Urteile erkenntnistheoretisch fundiert werden können), auf die wir unser Hauptaugenmerk richten, sondern die erkenntnistheoretische Bedeutung des schlichten, auf Erfahrung gegründeten Einzelurteils. Denn wir glauben, daß mit den hier notwendigen, keineswegs einfachen Analysen (die andererseits für jene allgemeineren erkenntnistheoretischen Fragen, wie wir selbst sehen werden, eine unerläßliche Voraussetzung sind) über Sein oder Nichtsein jener positivistischen Dogmen und damit der ganzen positivistischen Dogmen und damit der ganzen positivistischen Erkenntnistheorie und Philosophie das letztlich entscheidende Wort gesprochen werden kann.


I. Die der "natürlichen Weltansicht" immanente Vorstellung einer "bewußtseinsunabhängigen Außenwelt".
[Darstellung positivistischer Anschauungen]

1. Die Stellungnahme des Positivisten
zur "natürlichen Weltansicht".

Wir gehen aus von der natürlichen Weltansicht (der naiven oder der des gemeinen Mannes, wie es in der positivistischen Literatur so häufig heißt). Das heißt, wir wollen zusehen, in welcher Weise jemandem, der nicht irgendwie von erkenntnistheoretischen Einstellungen und Vorurteilen belastet ist, die reale physische Welt dazustehen und sich zu geben scheint. Es kann uns dabei völlig gleichgültig sein, wie diese "Weltansicht" entstanden sein mag, wie sie sich etwa aus der irgendeines Urwesens oder des Wilden oder schließlich eines Kindes entwickelt hat; es handelt sich um Etwas, das, wie auch immer es entstanden ist, wie auch immer es sich entwickelt haben mag, wie auch immer es erkenntnistheoretisch gerechtfertigt werden soll, nun einmal vorhanden ist und in seiner ihm wesentlichen Eigenart gefaßt werden kann.

In der positivistischen Literatur finden wir die "Weltanschauung des gemeinen Mannes" der des positivistischen Schriftstellers einerseits und andererseits der des spekulativen Philosophen (oder des "Philosophen" schlechthin) gegenübergestellt. Die naive Weltansicht ist dabei dem Positivisten weit sympathischer als die stets durch verstiegene Spekulationen und Konstruktionen ausgezeichnete Welt des Philosophen (18).

Zwei philosophische Lehrmeinungen sind es vor allem, denen gegenüber für den Positivisten der naive Mensch mit seiner natürlichen Weltanschauung den richtigen Standpunkt einnimmt. Nach der verschiedenen historischen Stellung des positivistischen Forschers tritt die Bekämpfung der einen oder anderen mehr oder weniger deutlich hervor. In der modernen positivistischen Literatur (der nachkantischen) finden wir den Kampf gegen einen in der Tat völlig absurden sogenannten "Idealismus", wie ihn AVENARIUS in seiner Schrift "Der menschliche Weltbegriff" in glänzender Weise zur Darstellung gebracht und ad absurdum geführt hat. Ob man im einzelnen mit der psychologischen Theorie über die Genesis solcher "idealistischer" Anschauungen mit AVENARIUS übereinstimmen mag oder nicht - den wesentlichen Punkten seiner sachlichen Kritik wird sich kaum jemand mit gutem intellektuellem Gewissen entziehen können. Bei MACH, der an der Bekämpfung solcher Theorien geringeres Interesse hatte, finden wir ebenfalls sehr deutliche nach dieser Richtung gehende Bemerkungen. Er tritt besonders gegen die an eben diesen erkenntnistheoretischen Vorstellungen orientierten Scheinprobleme der Außenprojektion der Empfindungen auf (AdE 28 unten, 44 unten).

Man kann es jedenfalls den Positivisten als ein nicht genug hervorzuhebendes Verdienst anrechnen, daß sie gegenüber derlei erkenntnistheoretischen Verirrungen zum ersten Mal wieder mit einer gesunden und natürlichen Denk- und Anschauungsweise Front gemacht haben - und zwar aus ihrem leider an keiner Stelle konsequent durchgeführten Grundprinzip heraus, das Gegebene so stehen zu lassen, wie es sich gibt und da stehen zu lassen, wo es sich gibt. Wir kommen weiter unten auf diesen ersten Punkt zurück. Wir erwähnen zunächst das zweite jener bekämpften "philosophischen Dogmen". MACH meint an der oben angeführten Stelle, an der er sich mit der Introjektionstheorie von AVENARIUS auseinandersetzt, daß er - in Bezug auf die kritische Stellung seiner Ausführungen, - eher von einer "Extrajektion" sprechen könnte. Er deutet hiermit offenbar auf die von ihm beabsichtigte Elimination all der als Realitäten vorausgesetzten Bestandteile, die sich seiner Meinung nach in der Gegebenheit nicht aufweisen lassen, also in das perhorreszierte [verabscheute - wp] Gebiet des "Metaphysischen" verwiesen werden. Zunächst richtet sich diese Stellungnahme gegen eine dogmatische Philosophie, die hinter der Welt der Gegebenheiten (der Erscheinungen) noch eine Welt nicht gegebener und prinzipiell nicht zur Gegebenheit zu bringender Dinge-ansich annimmt, welche als Urbilder, Urgründe oder Ursachen, als letzte Träger oder unenthüllbare Kerne in irgendeiner geheimnisvollen Beziehung zum tatsächlich Gegebenen stehen (z. B. die Annahme einer Materie als Träger aller physischen, einer Seele als Träger aller psychischen Erscheinungen). An die Stelle dieser zweigespaltenen Welt (dieses metaphysischen Dualismus) (19) will der Positivist wieder die eine einheitliche Welt setzen, die mit der Welt der Gegebenheiten schlechthin zusammenfällt. (20)

Auch für die natürliche Weltansicht ist (nach Meinung der Positivisten) die gegebene Welt die allein realiter angesetzte. Auch hiervor später. Das Erwähnte mag in den folgenden Ausführungen zur Orientierung dienen.


2. Die "objektive Stellung" der "Empfindungsinhalte" als
eine für den Positivisten ursprünglich gegebene.

Wenn sich der Positivist gegen die Absurditäten eines introjizierenden Idealismus wehrt, so geschieht dies vor allem mit der Betonung zweier Tatbestände. Der Introjizierende verlegt das Wahrgenommene in das Gehirn des wahrnehmenden Menschen, bzw. in eine an das Gehirn gebunden gedachte Seelensubstanz. Diese Stellung des Ich (sei es des Ichleibes, des eigenen Gehirns oder einer substanziellen Ichseele) als originärer Träger oder als Gefäß der jeweiligen Wahrnehmungswelt wird aufgehoben. Die den eigenen Leib umgebende Außenwelt ist in dieser ihrer außerweltlichen Stellung ebenso ein ursprünglich Vorgefundenes, wie das Ich selbst. Zweitens aber hat dieses Ich (und zwar als Ichleib) doch insofern eine Vorzugsstellung vor dem übrigen Vorgefundenen, als es stets und notwendig als Zentralglied (AVENARIUS) gegeben ist, in Bezug auf das die übrige Wahrnehmungswelt (zunächst räumlich) orientiert ist. Hierdurch ist die Gegenüberstellung oder auch Umgebungsstellung des jeweilig Wahrgenommenen gegenüber dem Ichleib bestimmt.

[Die Meinung, daß die Möglichkeit dieser ganzen Vorfindung der in diesem Sinne räumlich angeordneten Welt irgendein vorfindendes Subjekt (ein Bewußtsein oder wie man sich ausdrücken mag) wiederum voraussetzt, für das diese gesamte jeweilige Wahrnehmungssphäre Objekt ist (wobei dieses Subjekt nicht mit dem vorgefundenen und darum zu den Objekten gehörigen Ichleib und den an ihn gebundenen ebenfalls vorgefundenen psychischen Tatbeständen verwechselt werden darf), wird nicht von allen Positivisten vertreten. Sie scheidet vor allem die sogenannte Immanenzphilosophie (SCHUPPE) von den Positivisten im engeren Sinne (21). Auch LAAS vertritt mit seinem "Korrelativismus" oder "Subjektobjektivismus" einen ähnlichen Standpunkt.]

MACH beginnt in "Erkenntnis und Irrtum" Seite 5 seine Beschreibung der natürlichen Weltansicht ("die jeder Einzelne beim Erwachen zu vollem Bewußtsein vorgefunden hat und zu deren Bildung er nichts absichtlich beigetragen hat") mit dem Satz: "Ich finde mich im Raum, umgeben von verschiedenen in demselben befindlichen Körpern" ... "mein im Raum befindlicher Leib ist für mich ein ebenso sichtbares, tastbares, überhaupt sinnliches Objekt, welches einen Teil des sinnlichen Raumfeldes einnimmt, neben und außer den übrigen Körpern sich befindet wie diese selbst." AVENARIUS im "menschlichen Weltbegriff" in Bezug auf die Ansicht, "die am Anfang meines Philosophierens war": "ich mit allen meinen Gedanken und Gefühlen fand mich inmitten meiner Umgebung". (22)


3) Die jeweiligen Wahrnehmungsinhalte gleich dem allein
sinnvollerweise als realiter existierend Anszusetzenden.

Diese jeweilig wahrnehmungsmäßig Vorgefundene ist zugleich für den Positivisten das allein mit erkenntnistheoretischer Berechtigung als existierend Anzusetzende oder vielmehr ist dieses Vorfinden (auch Wahrnehmen, Empfinden, Innewerden eines Inhaltes usw.) von einem besonderen Existentialbewußtsein gar nicht zu trennen (23). Das so Vorgefundene ist in seiner Vorgefundenheit ein für mich Existierendes. Das mit Wahrnehmung verknüpfte Existentialbewußtsein bezieht sich auf nichts anderes, als eben die in jener räumlichen Anordnung vorgefundenen und wahrgenommenen Inhalte (geht nicht auf etwas diesen Inhalten in irgendeinem Sinne Transzendentes. Die naive Weltanschauung soll nur darin über die positivistische hinausgehen, daß sie dem so in einer Wahrnehmungsweise Vorgefundenen eine Existenz auch unabhängig von dieser Wahrnehmung zuschreibt.

Diesem letzteren Tatbestand gegenüber verhält sich der Positivist in einer zweifachen Weise: Erstens: Er sucht zu zeigen, daß die Annahme einer Existenz des Wahrgenommenen unabhängig von einem Wahrgenommen- oder Vorgefundensein als solche widersinnig ist, so daß sich also schon durch eine völlig klare Herausstellung dessen, was man sich dabei vorstellt, das Angesetzte als ein realiter Unmögliches erweisen müßte. Zweitens: daß diese völlig verworrene und in sich widersinnige Vorstellungsweise doch aus einem gegebenen Tatbestand erklärt zu werden vermag, der für das naive Bewußtsein eben jene unklare Form angenommen hat. Dieser Tatbestand ist die gesetzmäßige (oder für einige Positivisten, so MACH, nur relativ konstante) Verknüpfung der Wahrnehmungsinhalte. Das Bewußtsein, daß sich (erfahrungsgemäß) zu bestimmten Inhalten auch bestimmte andere wieder dazufinden werden, gibt den Inhalten eine über die jeweilige Vorfindung selbst hinausgehende Bedeutung (24). Auf einem analogen Weg entsteht für den Positivisten auch das Dingbewußtsein, wie wir später sehen wwerden. Auch hier erleidet ein gegebener Tatbestand für das naive Bewußtsein eine Verschiebung zu einer ähnlich verworrenen und unhaltbaren Vorstellungsweise (MACH: "Das dunkle Bild des Beständigen" usw.)

Für diese ganzen Theorien spielt der Begriff der Vorstellung eine fundamentale Rolle. Denn wie sollte das nicht selbst Vorgefundene unter bestimmten Bedingungen zu Erwartende anders gefaßt werden als in einer Vorstellungsweise. Das Bewußtsein, daß ein so Vorgestelltes unter bestimmten Bedingungen wieder selbst vorgefunden wird, ist identisch mit dem Bewußtsein, daß es wirklich werden wird; und dies ist zugleich auch der einzige Sinn eines Bewußtseins, daß etwas schon wirklich ist, wenn es nicht gerade "empfunden" wird. Da seine "Wirklichkeit" nichts anderes bedeutet als eben sein eventuelles Wahrgenommenwerden, kann es natürlich in der Vorstellung nur als ein eventuell (unter bestimmten Bedingungen) Wahrzunehmendes oder eventuell wirklich Werdendes, nicht aber als ein schon Wirkliches (im eigentlichen und ursprünglichen Sinn) vorkommen. Diese Lehre hat bei den verschiedenen Positivisten verschiedene Ausgestaltungen erfahren (25), die hier für unsere Zwecke nicht von Interesse sind. Das Wesentliche für uns ist die Gleichsetzung des Existentialbewußtseins mit dem Wahrnehmungserlebnis (wobei es sich natürlich auch um die Wahrnehmung der sogenannten psychischen Phänomene wie der Vorstellungsinhalte oder Phantasmen als Vorstellungsinhalt selbst handelt; CORNELIUS). Das Wesentliche ist, daß man sich unter Existenz schlechterdings nichts anderes vorzustellen vermag: Wenn ich mir etwas als existierend (ohne daß es selbst gegenwärtig ist) vorstelle, so muß ich doch immer mich selbst als den es Wahrnehmenden mitvorstellen, d. h. aber das Betreffende als ein vor mir unter bestimmten Bedingungen Vorgefundenes vorstellen.

Sofern es nämlich nicht möglich sein sollte, mit dem Existentialbewußtsein einen anderen Sinn zu verbinden als den der jeweiligen wahrnehmungsmäßigen Vorgefundenheit eines Inhalts, sofern also jede andere versuchte Vorstellungsweise widersinnig wäre, insofern wäre natürlich auch die erkenntnistheoretische Frage, ob und in welcher Weise ich eine über die jeweilige Wahrnehmung hinausgehende Existenz des Wahrgenommenen annehmen darf, selbst widersinnig. In der Tat ist für den Positivisten mit der gekennzeichneten Grundanschauung die hier aufgeworfene erkenntnistheoretische Frage in der Hauptsache abgetan.

So eindeutig die ganze Problemstellung und die Lösung, die sie von positivistischer Seite erfährt, zunächst zu sein scheint - wir werden uns vor allem Versuch einer erkenntnistheoretischen Stellungnahme in sehr weitgehende Analysen einlassen müssen, um die dem natürlichen Bewußtsein immanente Vorstellung einer über die jeweilige Wahrnehmung hinausreichende Existenz des Wahrgenommenen einigermaßen klar zu fassen.


4) Phänomenologische Untersuchung
über das "Umgebungsbewußtsein"

Das für das natürliche (d. h. nicht durch erkenntnistheoretische Erwägungen in künstliche Einstellungen hineingezwungene) Bewußtsein so charakteristische und die Wahrnehmungserlebnisse in ihrer Eigenart bedeutsam bestimmende Moment, daß ich mich mit meinem Leib in einer mich (räumlich) umgebenden Dingwelt weiß, ist durchaus zu unterscheiden von jenem oben angegebenen von positivistischer Seite stets hervorgehobenen Tatbestand, daß die in einem jeweiligen Wahrnehmungserlebnis gegebenen Inhalte in jener räumlichen Anordnung vorgefunden werden, die auf wahrgenommene Stücke meines eigenen Leibes jeweilig orientiert ist. Im Letzteren handelt es sich um die räumliche Ordnung wahrgenommener Inhalte zueinander, im Ersteren um die erlebte Position meines realen Leibes in der realen Raumwirklichkeit. Das Bewußtsein, sich in einer räumlichen Welt von realen Dingen zu befinden, von denen nur ein kleiner Ausschnitt jeweils zur Wahrnehumgsgegebenheit kommt, kann natürlich nicht mit einem Tatbestand, der sich nur auf die jeweilige Wahrnehmungssphäre selbst bezieht, identifiziert werden (26).

Der positivistischen These gegenüber, daß eine solche Vorstellung einer mehr als den jeweiligen Wahrnehmungsausschnitt umfassenden realen Raumwirklichkeit doch nur in der sinnlich-anschaulichen Vorstellung bestimmter möglicher Wahrnehmungsinhalte bestehen kann, läßt sich zunächst antworten, daß nicht jedes Gegenstandsbewußtsein (also hier Bewußtsein einer solchen Raumwirklichkeit, in der ich mich befinde) in der Weise sinnlicher Anschauung gegeben zu sein braucht. Aber lassen wir das vorerst dahingestellt und fragen wir, ob es sich mit der sinnlich-anschaulichen Vorstellung selbst und ihrem Verhältnis zum Wirklichkeitsbewußtsein in der Tat so einfach und eindeutig verhält, wie jene positivistischen Theorien voraussetzen.


a) "Vorstellung" und mögliche Arten
des Eingehens des als realiter existieren
Erlebten in diese.

Wir meinen nämlich, daß ich mich nicht nur in der Vorstellung (in einer allerdings sehr schwer faßbaren Weise) auf das Wirkliche selbst beziehen kann, so daß dieses Wirkliche selbst in der Vorstellung "vorkommt" (27) - also im Gegensatz zu jener Abbildtheorie -, sondern, daß in ganz bestimmten und wesentlich leichter zu klärenden Fällen das Wirkliche in einer vorstellungsmäßigen Gegebenheit in genau demselben Sinn selbstergriffen dasteht, wie in einer wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit. (Mit Wahrnehmung und Vorstellung sind hier jene korrespondenten Akte gemeint, die eine sinnlich-anschauliche Gegebenheit der Gegestände einschließen. Wenn ich sage, daß eine Farbe wesenhaft nur als gesehene zur Gegebenheit kommen kann oder ein Ton als gehörter, so sind diese Erlebnisse des Sehens und Hörens durch eine ganz bestimmte Art sinnlich-anschaulicher Gegebenheit ausgezeichnet, die der Wahrnehmung wie der Vorstellung dieser Gegenständlichkeiten gleichermaßen immanent ist. Auch wenn ich eine Farbe vorstelle, kann ich sie nur in sehender Weise vorstellen.)

Man hat vor allem zwei Momente herausgehoben, die Vorstellung von Wahrnehmung rein deskriptiv unterscheiden sollen:
    Erstens die so oft erwähnte größere "Undeutlichkeit", "Mattigkeit", "Verschwommenheit" des Vorgestellten,

    zweitens das Erscheinen des Vorgestellten nicht dort, wo das Wahrgenommene erscheint, sondern in einer von dieser Wahrnehmungssphäre deutlich zu unterscheidenden Sphäre; und damit zusammenhängend ein Wechsel der Blickrichtung, wenn ich beispielsweise von der Wahrnehmungseinstellung in die Vorstellungseinstellung übergehe
(so z. B. bei MACH, wenn er AdE Seite 16 "in einem anderen Feld" spricht und vor allem Seite 163 von einem Wechsel der Aufmerksamkeitsrichtung: "ich fühle, wie ich beim Übergang zur Vorstellung die Aufmerksamkeit vom Auge (?) abwende und anderswohin richte". So wenig wir glauben, daß MACH die Sachlage hier richtig beschrieben hat, so hat er doch sicherlich ein ganz bestimmtes vorfindbares Moment im Auge gehabt, dessen Eigenart auch wir späterhin zu bestimmen versuchen werden).

Daß das erste der angeführten Momente nicht gedeckt wird mit der Angabe einer bloß geringeren Intensität des vorstellungsmäßig Gegebenen oder einer größeren Verschwommenheit und Undeutlichkeit, ist oft genug betont worden und mit dem Argument ad absurdum geführt, daß ein Wahrgenommenes durch eine Abnahme seiner Intensität oder durch ein Undeutlicherwerden nie in ein Vorgestelltes überführt werden kann. Es handelt sich um unüberbrückbare Wesensunterschiede in der Gegebenheitsweise, es handelt sich um eine wesensverschiedene Artung der Anschaulichkeit selbst. Mir scheint, daß man in Bezug auf die vorstellungsmäßige Anschaulichkeit am besten von einer "verdeckten" (28) Anschaulichkeit sprechen kann. Die Verdecktheit der Anschaulichkeit ist natürlich nicht zu verwechseln mit dem Bewußtsein, daß der betreffende zur Anschauung kommende Gegensteand nicht in seinem leibhaften Selbst in die Vorstellung eintritt. Denn jenes Moment der verdeckten Anschaulichkeit scheint uns alle wie auch im Übrigen verschiedenen Arten vorstellungsmäßiger Gegebenheit als solche zu umgreifen, sie alle zu einen gegenüber der wahrnehmungsmäßigen Gegebenheit. Während das andere Moment, das nicht volle Selbstdarinstehen des wirklichen Gegenstandes, nur eine gewisse Gruppe von Vorstellungserlebnissen der Wahrnehmung gegenüberordnen läßt, eine Gruppe, der andererseits allein das "Erscheinen in einem anderen Feld" eigentümlich ist.

Ich sitze in meinem Zimmer bei geschlossener Tür und erwarte einen Bekannten. Man kennt das Erlebnis, daß man etwa in der Ungeduld der Erwartung diesen Menschen schon fortwährend gleichsam draußen die Treppe heraufkommen sieht. Dies kann geschehen mit einem mehr oder weniger ernsthaften Glauben daran, daß er wirklich gerade jetzt die Treppe heraufkommt, oder wie wir auch - und besser - sagen können: mit einem mehr oder weniger ausgesprägten Wirklichkeitsbewußtsein (da es sich weniger um eine verschiedene Auffassungsweise des "Gesehenen" von meiner Seite handelt, als um ein verschiedenes Darstehen des Vorgestellten oder "gleichsam Gesehenen" für mich, eben ein Mal als eines wirklichen, das andere Mal als eines unwirklichen). Wenn dieses Wirklichkeitsbewußtsein vollkommen fehlt, kann das Erlebnis einen spielerischen Charakter erhalten; ich vertreibe mir die Zeit mit einer solchen Vorstellungsweise, obwohl ich genau weiß, daß in ihr in Wahrheit nichts Wirkliches ergriffen wird. Andererseits vermag das mit dem sehenden Haben des Vorgangs da draußen verwobene Wirklichkeitsbewußtsein so stark zu sein, daß ich das Eintreten des Bekannten in die Tür in dem entsprechenden Augenblick mit voller Sicherheit erwarte. Aber uns kümmert zunächst nicht diese Möglichkeit eines mitvorhandenen Wirklichkeitsbewußtseins, sondern das in allen solchen Fällen gleicherweise vorhandene Moment des "gleichsam Sehens" des in vorstellungsmäßiger Anschaulichkeit gegebenen Vorgangs. Da draußen auf dem Korridor, der zu meiner Umgebung gehört, wird der Vorgang gesehen, dorthin bin ich gerichtet. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, ob ich den Blick von einem wahrgenommenen Gegenstand meines Zimmers auf einen anderen richte oder von einem solchen auf den nicht im engeren Sinne wahrgenommenen Korridor und seine Gegenstände. Von einem Richtungswechsel in eine wesenhaft andere Sphäre hinein, von dem wir oben sprachen, kann hier offenbar keine Rede sein - auch da, wo ich den betreffenden Vorgang oder Gegenstand bei fehlendem Wirklichkeitsbewußtsein nur in jener spielerischen Weise in die mich umgebende Wirklichkeit hineingesetzt habe.

[Es ist übrigens zu beachten: wir spielen mit seiner Wirklichkeit, nicht mit dem ihn Vorstellen; wir tun gewissermaßen so, als ob er in der Tat zu der mich umgebenden Wirklichkeit gehört; wir geben ihm die "Allüren" eines solchen zur Wirklichkeit Gehörigen und können uns von da aus (d. h. aufgrund der ihm verliehenen Wirklichkeitsallüren) mehr oder weniger in seine tatsächliche Wirklichkeit hineinreden. Wir sehen gleich aus, was die heißt, wenn wir demgegenüber eine Gegenständlichkeit in den Wahrnehmungsausschnitt der Wirklichkeit hineinzusetzen versuchen. Ein solcher Fall wäre der von MACH an der oben zitierten Stelle angeführte: "ich sehe eine schwarze Tafel. Ich kann mir mit der größten Lebhaftigkeit auf dieser Tafel ein mit scharfen weißen Strichen gezogenes Sechseck oder eine farbige Figur vorstellen." Aber da für die Zugehörigkeit zur wahrnehmungsmäßig gegebenen Wirklichkeit die unverdeckte Anschaulichkeit wesenhaft ist und ich diese nicht in der Vorstellungsspontaneität hervorzaubern kann (Halluzinationen sind natürlich hiervon wohl zu unterscheidende Fälle), so kann ich wohl eine solche künstliche Projektion vollziehen, aber nie mit der Wirklichkeit des so Projizierten spielen; denn zur Vollständigkeit der Allüren eines wahrnehmungsmäßig sichtbaren Wirklichen gehört unbedingt die unverdeckte Anschaulichkeit.]

Nun gibt es offenbar andere Vorstellungserlebnisse, und an diesen ist man meist orientiert, bei denen sich ein solcher Richtungswechsel in eine andere Sphäre hinein tatsächlich konstatieren läßt, etwa wenn wir uns eine auf einer Reise gesehene Landschaft wieder vergegenwärtigen wollen. Wir ziehen hier unseren Blick von der uns sichtbaren Wirklichkeit ab; ihr Vorhandensein stört uns; sobald sie unseren Blick wieder auf sich zieht, verschwindet auch jenes Vorgestellte. Hier erst hat das vorstellungsmäßig Gegebene jenen Charakter des "vor mir Schwebenden". Im ersten Fall steht ja das Vorgestellte als ein in der mich umgebenden Wirklichkeit Verwurzeltes da, und das für uns Wichtigste: wenn hier (bei der Verwurzelung in der mich umgebenden Wirklichkeit) bei vorhandenem Wirklichkeitsbewußtsein der als wirklich gehabte Gegenstand selbst und direkt ergriffen zu sein scheint, selbst sichtbar zu sein scheint, wenn auch mit jener verdeckten Anschaulichkeit (wenn ich ihn an eben der Stelle fasse, an die er als wirklicher gehört oder vielmehr als gehörig erlebt wird), so finden wir bei jenem Vorschwebenserlebnis (der Vorstellung im eigentlichen und engeren Sinn) zwar eine sehr intime Beziehung zum wirklichen Gegenstand selbst, aber doch nicht ein solches mit dem geistigen Blick an seine eigene Wirklichkeitsstelle Hinreichen. Von einem "gleichsam selbst sehen" könnte hier nur in einem wesentlich anderen Sinn die Rede sein. Wir erinnern jetzt vor allem an die mögliche Art der Gegebenheit unserer näheren und uns bekannten Umgebung, des Korridors draußen mit seinem Spiegel, seinem Kleiderriegel, das angrenzende Schlafzimmer, schließlich das ganze Haus, die Straße drunten usw. Aber man behalte immer die Position des von der eigenen Raumwirklichkeitsstelle aus zu den betreffenden Gegenständlichkeiten oder Gegenstandssphären Hinsehenden bei. Daneben gibt es natürlich auch in Bezug auf die nähere Umgebung ein Herausheben des Vorzustellenden aus seinem Wirklichkeitsstandort und ein ihn sich in jener "Vorschwebensweise" vergegenwärtigen. Das sich selbst in das betreffende Raumwirklichkeitsstück Hineinversetzen (ein äußerst schwierig faßbares und klärungsbedürftiges Phänomen) verändert andererseits die Sachlage wesentlich.

Was ist nun das Moment, das die beiden Arten vorstellungsmäßiger Gegebenheit zu so bedeutsam verschiedenen macht? Oder was bringt die eine dem Wahrnehmen so nahe und zeichnet sie vor der eigentlichen Vorstellung aus? Es ist im Vorigen schon immerwährend herausgetreten, wenn wir von einer Einordnung oder Verwurzelung des Vorgestellten in der Umgebungswirklichkeit sprachen. In eben der Sphäre, in der die wahrgenommenen Gegenstände gefaßt werden, werden auch die in dieser letzteren Weise vorstellungsmäßig gegebenen sichtbar. Aber wie nun? Um die Einheit der wahrnehmungsmäßigen und dieser vorstellungsmäßigen Gegebenheit zu fassen, müssen wir von einer mich umgebenden Raumwirklichkeit sprechen, in der gleichermaßen die in der einen wie in der anderen Art gegebenen Gegenstände gesehen werden. Also das, was wir schon oben als vorhanden hinstellten, das Bewußtsein einer über die Gesamtheit des jeweils Wahrgenommenen hinausreichenden mich umgebenden Raumwirklichkeit haben wir auf einem anderen Weg wiedergefunden. Es ist aber andererseits offenbar unmöglich, jetzt zu den Wahrnehmungsinhalten etwa die in der gekennzeichneten Weise vorstellungsmäßig gegebenen noch hinzunehmen, um das Bewußtsein einer vorhandenen Wirklichkeit aus der Gesamtheit dieses in zweierlei sinnlicher Anschaulichkeit gegebenen Bestandes zu konstituieren. Denn darin gerade lassen sich ja die beiden Arten vorstellungsmäßiger Gegebenheit überhaupt nur unterscheiden, daß das eine Mal das Vorgestellte als ein in der Raumwirklichkeit Darinstehendes aus dieser herausgesehen wird. Dieses Bewußtsein der Raumwirklichkeit ist also für die mögliche Fassung dieses Unterschiedes schon vorauszusetzen.

Wir machen auf folgenden Tatbestand aufmerksam: die mit der Realsetzung unseres eigenen Leibes wesenhaft mitgesetzte Raumwirklichkeit, in der wir eine bestimmte (miterlebte) Stelle jeweils einnehmen, wird als eine unendliche gehabt. Und zwar ist die Unendlichkeit der Raumwirklichkeit ein vom Bewußtsein der Raumwirklichkeit unabtrennbares Moment. Diese wesenhaft unendliche Raumwirklichkeit, innerhalb deren ich mit meinem Leib eine zufällige Stelle einnehme, wird nun zwar in diesem Umgebungsbewußtsein als solche gefaßt, kann aber natürlich nicht sinnlich-anschaulicher Vorstellungsinhalt sein. Dieses wäre wesenhaft unmöglich (29).

Es gibt nun das von meiner erlebten Raumposition aus in die mit meinem Leib gesetzte unendliche Raumwirklichkeit Hineinsehen. Mit diesem Erlebnis des Hineinsehens ist das sinnlich anschaulich gesehene
Raumstück als ein Ausschnitt des wirklichen (unendlichen) Raums gegeben. Diese Sphäre möglicher sinnlich anschaulicher Gegebenheiten dieser Raumwirklichkeit ist aber offenbar nicht durch die zufälligen Grenzen, die meine Zimmerwände oder die Häuserfronten usw. setzen, selbst begrenzt. Mit ihnen hört zwar die Wahrnehmungssphäre im engeren Sinn auf, nicht aber die Sichtbarkeitssphäre. Wir vermögen über diesen Wahrnehmungsausschnitt hinaus in die Raumwirklichkeit hineinzusehen. Aber es gibt doch eine wenn auch nicht genau bestimmbare Grenze, über die wir von unserer Sehposition aus sehend nicht hinausgelangen können. Schließlich verliert sich der Blick. Wir können - immer von unseren Positionen aus - mit dem Blick nicht weiter in diesen unendlichen Raum hinein vordringen; falls wir uns nicht vorstellungsmäßig an eine andere Stelle im Raum hineinversetzen und von dieser Stelle aus weitersehen. Diese letztere Möglichkeit macht aber nur die von uns angegebene Sachlage noch einleuchtender. Ein durch die Sehposition bestimmter Ausschnitt der unendlichen (und als solcher erlebten) Raumwirklichkeit kann also von eben dieser Sehposition aus jeweilig direkt und unmittelbar übersehen werden und hiermit alles, was als ein in diese sichtbare Raumwirklichkeitssphäre Eingeordnetes dasteht. Zu all dem kann ich mit meinem geistigen Auge selbst und direkt hindringen. All das steht durch seine sichtbare, wenn auch teils mit verdeckter Anschaulichkeit sichtbare Einordnung in die Raumwirklichkeitals ein sich den Wirklichkeitsanschein Gebendes da. Es ist ein anderes, ob mit der Vorstellung eines Gegensetandes das Bewußtsein seiner realen Wirklichkeit (und damit seines tatsächlichen Eingeordnetseins in die Raumwirklichkeit) verbunden ist oder ob es mir aus dieser Raumwirklichkeit heraus, soweit sie eine selbst übersehbare ist, sichtbar wird. In den Fällen, in denen wir eine Gegenständlichkeit in diese sichtbaren Raumwirklichkeitssphäre (soweit sie mit verdeckter Anschaulichkeit gegeben ist) hineinstellen oder hineinsetzen, spielen wir mit ihrer Wirklichkeit. Wir geben ihr den Anschein eines sichtbar Wirklichen; wir lassen sie genau so auftreten, als gehörte sie zu den selbst sichtbaren Realitäten. Wir geben ihr, wie wir oben sagten, Wirklichkeitsallüren.


b) Das Umgebungsbewußtsein selbst

So wie die mit der Raumposition gesetzte Sichtbarkeitssphäre der Raumwirklichkeit als ein Ausschnitt eben dieser unendlichen Raumwirklichkeit erlebt wird, so die Wahrnehmungssphäre als ein Ausschnitt aus diesem Sichtbarkeitsbereich (bzw. aus der unendlichen Raumwirklichkeit selbt). Dies ist ein wichtiges Moment, das auch später für die Kennzeichnung des Wahrnehmungserlebnisses in natürlicher Einstellung von Bedeutung sein wird. Nicht erst durch das Wahrgenommene als solches wird eine reale Raumwirklichkeit gesetzt, sondern dieses tritt aus der schon gesetzten heraus, gibt sich aus dieser heraus kund. Und das über den engen Wahrnehmungsausschnitt hinaus Sichtbare ist kein mit dem Wahrgenommenen nur Mitgegebenes - in dem Sinne, daß das Wahrgenommene immer das primär Gegebene bleibt, das dann irgendwie auf das Vorhandensein auch eines anderen hindeutet und so erst zu dessen Setzung führt - sondern das darüber hinaus Sichtbare ist ein in genau derselben Weise primär Gegebenes wie das Wahrgenommene selbst, nur daß das Wahrgenommene in jener anderen Anschaulichkeitsweise dasteht. Sehr deutlich wird dies, wenn wir auf den Übergang achten, der sich vollzieht, wenn ein vorher schon Sichtbares in die Wahrnehmungssphäre eintritt. Also wenn ich etwa die Obstfrau, die bekanntermaßen hinter der Ecke sitzt, schon immerwährend sehe, ehe ich um die Ecke herumgebogen bin. Der einzige, in der natürlichen Lebenseinstellung oft gar nicht beachtete Unterschied besteht in jenem Anschaulichkeitswechsel. Daß man hier mit jener positivistischen Theorie: Ich stelle sie mir schon vorher vor (in dem Sinne, daß ich ein Phantasma von ihr habe) und erwarte, daß bei der Erfüllung einer gewissen Bedingung der entsprechende Gehalt wahrnehmungsmäßig gegeben sein wird, in keiner Weise auskommt, bedarf wohl keiner weiteren Erörterung mehr. Schon die Überlegung, wie denn hier "die Erfüllung der notwendigen Bedingung" (also in unserem Fall das um die Ecke Herumbiegen) "vorgestellt" wird, müßte diese Theorie ad absurdum führen. Denn schließt nicht diese Vorstellung des um die Ecke Herumbiegens das Bewußtsein ein, sich in ein und derselben Raumwirklichkeit (von der von der jeweiligen Position aus nur ein gewisser Ausschnitt gerade wahrnehmbar ist) mit der hinter der Ecke sitzenden Obstfrau zu befinden?

Durch diese Betrachtungen ist das für die Charakterisierung aller Wahrnehmungs- und Vorstellungserlebnisse in natürlicher Lebenseinstellung so fundamental wichtige Moment des sich mit seinem Leib eingeordnet Findens in eine unendliche Raumwirklichkeit deutlich hervorgetreten. Nicht irgendein "Bewußtsein" ist für dieses nicht erkenntnistheoretisch orientierte Erleben das primäre, ein Bewußtsein, in dem oder für das alles Andere allererst da ist - sondern diese unendliche Raumwirklichkeit mit den in sie eingeordneten Dingen und Inhalten, in der auch ich mit meinem Leib eine variable Stelle einnehme. Hiermit hängt zusammen das Bewußtsein der vollkommensten Existenzautonomie alles zur realen Wirklichkeit irgendwie Gehörigen. Ich muß mich zu den Dingen hinbemühen, wenn ich in irgendeine Beziehung zu ihnen treten will. Daß sie mir bei irgendeiner Position überhaupt sichtbar werden oder mir in wahrnehmungsmäßiger Sichtbarkeit ihre eigene Eigenschaft enthüllen, wird als ein für ihre Eigenexistenz vollkommen gleichgültiges Moment erlebt. Auch das Bewußtsein, sich durch diese reale Welt und die zu ihr gehörigen Gegenstandsbereiche hindurchzubewegen, so daß das, was jetzt noch vor mir war, sich jetzt an meiner Seite befindet und jetzt hinter mir zurückbleibt, jetzt ferner und ferner rückt, ist nur auf dieser Grundlage zu verstehen. Es ist völlig unmöglich, für alle diese in ihrer Eigenart deutlich heraustretenden (und ihrer Trivialität wegen in wissenschaftlich-philosophischer Haltung meist unbeachtet gelassenen) Erlebnisse in der positivistischen Welt eine Stelle finden. Ehe man frägt, wie ein solches Bewußtsein einer unendlichen Raumwirklichkeit und der völligen Existenzautonomie der zu ihr gehörigen Gegenständlichkeiten möglich ist, wie es etwa erkenntnistheoretisch begründet oder auch psychologisch erklärt werden mag, muß es in dieser seiner Eigenart anerkannt werden.

Wenn wir im Folgenden versuchen werden, dasjenige, was als in dieser existenzautonomen Weise zur realen Wirklichkeit Gehöriges und in sie Eingeordnetes erlebt wird (hierher gehört das Dingproblem) und andererseits seine Beziehung zu den "Erscheinungs"gehalten (hierzu das Wahrnehmungsproblem) etwas näher zu fassen, so wird auch das Bisherige noch mehr anschauliche Fülle und Lebendigkeit erhalten. Denn da jetzt das von einem natürlichen Bewußtsein als wirklich Angesetzte nicht mehr mit den jeweiligen Wahrnehmungsinhalten zusammenfällt, so frägt es sich, was denn eigentlich dasjenige ist, was als das jenseits allen Wahrnehmungszusammenhangs Stehende erlebt wird.
LITERATUR Hedwig Conrad-Martius, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus, Bergzabern 1920
    Anmerkungen
    1) vgl. das Buch von MAX SCHELER über "Pragmatismus".
    2) LAAS spricht immer wieder von den Tatsachen, die wir aufzusuchen und nach denen wir uns zu richten haben, ebenso vom "Gegebenen", dem "unmittelbar Gegebenen", "der reinen Tatsache" (Idealismus und Positivismus). Vgl. die unten angegebenen Stellen. Das wissenschaftliche Ideal von MACH besteht bekanntermaßen in einer "übersichtlichen Darstellung des Tatsächlichen" ("Analyse der Empfindungen" im Folgenden immer AdE, Vorwort zur vierten Auflage); für AVENARIUS, wie schon der Titel seines Werkes zeigt, in der "reinen Erfahrung".
    3) Sehr charakteristisch für diesen skeptisch bestimmten Positivismus scheint uns die Wendung zu sein, daß sich die Erkenntnis auf das tatsächlich Gegebene "beschränken" muß und eine vorerste Eliminierung alles "Metaphysischen" zu erfolgen hat. Uns dagegen bedeutet bei der unerschöpflichen Fülle eigenartiger Gegebenheiten eine solche Grundintention auf das wahrhaft Gegebene in keinem irgendwie relevanten Sinn eine Resignation.
    4) vgl. HUSSERL, Logische Untersuchungen II.
    5) LAAS, a. a. O., Bd. 1, Seite 183 (positive Tatsachen = äußere und innere Wahrnehmungen), Bd. 3, Seite 76 (Erkenntnis = Bearbeitung starr gegebener Tatsachen, der Urempfindungen), Seite 82, 125 (alle unsere Begriffe sinnlichen Ursprungs) vor allem Bd. 3, Seite 5. MACH, AdE, Vorwort zur vierten Auflage, besonders das erste Kapitel: die antimetaphysischen Vorbemerkungen.
    6) Es scheint uns, daß jene erkenntnistheoretischen Lehren, die diesen Sinn von Erkenntnis anscheinend verkehren und aufheben (wie der oben erwähnte Pragmatismus und andererseits in weit tieferer Weise der Neukantianismus), indem Erkenntnis nicht als Sein nehmendes, sondern als in irgendeinem Sinn Sein schaffendes, = formendes oder = setzendes Prinzip gefaßt wird, in Wahrheit jenen eigentlichen Sinn von Erkenntnis nicht antasten und nicht antasten können, sondern sich nur auf der Grundlage Geltung zu schaffen vermöchen, daß eine Erkenntnis als solche tatsächlich nirgends vorhanden ist oder vorhanden sein kann, sondern daß alles, was sich als Erkenntnis ausgibt und einen Anschein von Erkenntnis hat, im Grunde kein Erkennen, sondern ein Formen, Setzen oder Schaffen ist.
    7) vgl. WUNDT, "Über naiven und kritischen Realismus", Philosophische Studien 12.
    8) vgl. HUSSERL, Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos, Bd. I, Heft III, besonders Seite 300 die beiden mittleren Abschnitte.
    9) hierzu: LAAS, a. a. O., Bd. III, Seite 75 und an anderen Stellen: der Begriff der Existenz findet seine ursprüngliche und eigentliche Bewährung nur in jedem gegebenen Moment. Seite 139 unten: Als absolut sichere Realität gilt nur der jeweilige Bewußtseinszustand und -inhalt.
    10) vgl. hierzu LIPPS, Psychologische Untersuchungen, Bd. II, erstes Heft, 1912: Das cogito ergo sum.
    11) Zur Phänomenologie der Täuschungen auf dem Gebiet des Psychischen: MAX SCHELER, Über Selbsttäuschungen, Zeitschrift für Patho-Psychologie, hg. von SPECHT, Bd. I, erstes Heft.
    12) vgl. wiederum wie auch für das Folgende: HUSSERL, Philosophie als strenge Wissenschaft, a. a. O., hier besonders Seite 316.
    13) Wir wollen hier in keinem Sinn eine streng verbindliche Bestimmung der Phänomenologie geben, da diese wiederum in größte phänomenologische Schwierigkeiten hineinführt. Diese vorläufigen Unterscheidungen und Bestimmungen schienen uns jedoch im Interesse unserer Arbeit wichtig.
    14) Da uns der Einwand, den JOHN STUART MILL (An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy) gegen die Möglichkeit einer solchen Vorgehensweise macht, und seine Ansicht über das, was er an ihre Stelle setzen zu müssen glaubt, für die positivistische Anschauung typisch zu sein scheint, sei Folgendes aus seiner Polemik gegen COUSIN (Kapitel 8) angeführt (Zitat nach der Übersetzung von WILLMANNS, Halle/Saale 1908, Seite 199f): Denn er (COUSIN) mußte, wenn nicht die Tatsache, so doch den Glauben seiner Gegner kennen, daß die Gesetze des Geistes - die Assoziationsgesetze nach einer Klasse von Denkern, die Verstandeskategorien nach der anderen - imstande sind, aus denjenigen Bewußtseinsdaten, die unbestritten sind, rein geistige Vorstellungen zu schaffen, die in Gedanken mit allen unseren Bewußtseinszuständen derartig identifiziert werden, daß es uns scheint, als ob wir sie durch direkte Intuition empfangen, wie z. B. der Glaube an die Materie ..." "Wir haben aber kein Mittel, jetzt durch direkte Evidenz festzustellen, ob wir uns äußerer und ausgedehnter Gegenstände bewußt waren, als wir zum ersten Mal die Augen zum Licht öffneten ..." "Wenn irgendein Modus angegeben werden kann, wie es innerhalb des Bereichs der Möglichkeit hineingelangt sein könnte, so müßte die Hypothese untersucht und widerlegt werden, bevor wir berechtigt sind zu schließen, daß die fragliche Überzeugung eine ursprüngliche Kundgebung des Bewußtseins ist." - - - Abgesehen von den im Text angegebenen Widersinnigkeiten, in die eine solche anstelle der eigentlichen Erkenntnisbegründung zu setzende "psychologische" Untersuchung über den "Ursprung der Ideen" führen würde, scheinen mir MILL gegenüber vor allem zwei Punkt betont werden zu müssen:
      1) daß eine Klärung der - wie er sich ausdrückt - im Bewußtsein gegenwärtig vorhandenen Ideen keineswegs eine so einfach und schnell zu erledigende Aufgabe ist, deren vernachlässigte Durchführung allein zu all den falschen psychologischen Theorien über den Ursprung unserer Ideen führen konnte, deren völlige Unhaltbarkeit an jeder Stelle wir später nachweisen werden.
      2) daß wir nicht in unser "Bewußtsein mit seinen gegenwärtigen Ideen" (mögen sie sich wie auch immer gebildet haben) wie in einen Kasten eingeschlossen sind, sondern daß wir immer wieder in einer reinen Erkenntniseinteilung das Gegebene selbst befragen und damit unsere Ideen an diesem messen können.
    15) wie z. B. NELSON, Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich?, Göttingen 1908, besonders Seite 283 unten.
    16) In diesem Sinn kritisiert HÖNIGSWALD, Zur Kritik der Machschen Philosophie, Berlin 1903.
    17) LAAS, unter anderem a. a. O., Seite 188, 49, 221, Bd. III, Seite 5.
    18) vgl. u. a. HUME, Traktat [Übersetzung von LIPPS), Seite 281; MACH, AdE, Seite 30 (vgl. Erkenntnis und Irrtum, Seite 55; LAAS, a. a. O., Bd. III, Seite 75 unten; bei AVENARIUS die Tendenz der ganzen Schrift "Der menschliche Weltbegriff".
    19) vgl. HUME, a. a. O., Seite 283/84, 272; LAAS, a. a. O., Bd. III, Kap. 4 und 6; MACH, AdE Seite 13 unten und 22, 24, 28, 36 unten.
    20) Wenn in der modernen positivistischen Literatur die "fälschlicherweise" gezogene Grenze zwischen einer "physischen" und "psychischen" Welt bekämpft wird und demgegenüber die eine einheitliche Welt des Gegebenen oder Vorgefundenen angesetzt werden soll, so ist das allein in diesem Sinn gemeint. - Nicht der Unterschied zwischen physischen und psychischen Tatbeständen als solchen wird bestritten, sondern der zwischen einer prinzipiell transzendenten Welt der Dinge ansich (der physischen) und einer bloßen Erscheinungswelt (der psychischen).
    21) WILHELM SCHUPPE, Die Bestätigung des reinen Realismus, Offener Brief an AVENARIUS in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philolosophie, Bd. 17, 1893
    22) Vgl. dazu CORNELIUS, Logos Bd. 1, Seite 365, "Die Erscheinungswelt ist uns als eine räumliche jenseits unseres eigenen Körpers unmittelbar gegeben".
    23) vgl. besonders CORNELIUS, Versuch einer Theorie der Existentialurteile, München 1894.
    24) Vgl. besonders JOHN STUART MILL, a. a. O., Kapitel 11. "The psychological Theorie of the belief in an external world". (Zitat nach der deutschen Übersetzung von WILLMANNS: "Die Vorstellung, die ich mir von einer Welt
    bilde, wie sie in einem Moment existiert, umfaßt neben den Wahrnehmungen (sensations), die ich besitze (feel) eine unzählbare Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungsmöglichkeiten (possibilities of sensation): nämlich die Gesamtheit der Wahrnehmungen, die ich nach früherer Beobachtung unter irgendwelchen annehmbaren Umständen in diesem Moment erfahren könnte, zusammen mit einer ... unbeschränkten Menge anderer, die ich doch ... möglicherweise unter mir unbekannten Umständen erfahren könnte."
    25) HUME hat mit der Einführung seines Glaubensbegriffs insofern eine sehr wesentlich von dieser positivistischen Auffassung abgeweichende Stellung, als er durch diesen jenen eigentümlichen Tatbestand zu fassen suchte, daß ich mich offenbar in gewissen Fällen auf ein Wirkliches selbst zu beziehen scheine - wenn er auch die Analyse nicht weit und tief genug geführt hat, um das Vorliegende in seiner wesentlichen Eigenart herauszuheben. Vgl. wiederum den eben zitierten Aufsatz von CORNELIUS, in dem CORNELIUS gegen die Notwendigkeit der Einführung eines solchen Glaubensbegriffs polemisiert.
    26) Daß wir hier wie in den ganzen folgenden Ausführungen rein phänomenologisch sprechen, d. h. daß die Frage, ob das jeweilig analysierte Bewußtsein (wie hier das Umgebungsbewußtsein) einen realen Tatbestand trifft oder nicht, als für die Wesensanalyse völlig irrelevant dahingestellt bleicht, ist wohl nach dem früher Gesagten selbstverständlich. Auch im Traum haben wir das hier zu fassende Umgebungsbewußtsein.
    27) vgl. hier wie für das zunächst Folgende: THEODOR CONRAD, Über Wahrnehmung und Vorstellung, Münchner Philosophische Abhandlungen 1911.
    28) Die Einführung dieses Ausdrucks soll nichts weiter leisten, als zu einem gemeinten Phänomen in möglichst kennzeichnender Weise hineinzuführen, auf dessen genauere Fassung wir uns hier nicht einlassen können. "Verdeckte" Anschaulichkeit darum, weil es mir das Charakteristische an der vorstellungsmäßigen Anschaulichkeit zu sein scheint, daß das in ihr Gegebene stets etwas Verhülltes, etwas Zurückweichendes hat.
    29) Nur weil man auf positivistischer Seite an dieser sinnlich anschaulichen Gegebenheit als einzigmöglicher Gegebenheitsweise festhielt, konnte man zu der Meinung kommen, die Unendlichkeit des Raumes (wie vieler anderer der realen Wirklichkeit als solcher wesenhaftt zugehöriger Momente) sei etwas Unvorstellbares, in sich Widersinniges.