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ERNST LAAS
Kants Analogien der Erfahrung
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"Auf welchem Grund beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? Wenn intellektuelle Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen?, diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Anbetracht unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst kommt? Erst die Kritik der reinen Vernunft glaubte diese Dunkelheit zerstreut zu haben. Jene angeblich kantianisierenden Lehren aber kennen das Problem nicht einmal."


Einleitung

1. Seit SCHOPENHAUERs wiederholten, nachdrücklichen und vorwurfsvollen Ermahnungen ist das Kantstudium in frischesten Fluß gekommen (1); der Königsberger Philosoph findet von Neuem seine Kommentatoren und Paraphrasten wie am Ende des vorigen Jahrhunderts; den SCHULTZ, MELLIN, REINHOLD und BECK haben sich die K. FISCHER, E. ANRNOLDT, H. COHEN, J. WITTE u. a. an die Seite gestellt; der tiefbohrende und vielseitig orientierte Denker ist uns wieder "ganz nahe" (2) gebracht. Und während SCHLEIERMACHER vor 80 Jahren noch mit einer gewissen Verdrießlichkeit "an der räucherigen Schwarte" (3) nagte, hören wir jetzt von Kantlesern und Kantforscher über ihr Studium manch tröstliches Wort (4). Die Dunkelheit der Lehre und Darstellung weichen immer emehr der vollen und ganzen "Sonnenhelle" (5). Immer mehr wächst die Aussicht, daß man auch in nicht philosophischen Kreisen nicht bloß die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Beschäftigung mit KANTs Schriften bald gebührend würdigen, sondern auch für das echt Kantische dermaßen Verständnis und sozusagen instinktives Gefühl bekommen wird, um in der Subsumtion [Einordnung - wp] von Lehren und Gelehrten unter das große Schulhaupt etwas wählerischer zu sein als bisher; denn es sind bei Weitem nicht alle Schriftsteller "Kantianer", die sich dafür ausgeben oder von Anderen als solche bezeichnet werden. (6)

So verdienstlich die neue schon vielbändig sich darstellende Kantphilologie ist, wenn es zu verhüten gilt, daß fremdartige und synkretistische Ideen hinter KANTs marmornem Ruhm Deckung und Verbreitung suchen, so kann hier so wenig wie sonst Philologie letzter wissenschaftlicher Zweck sein. Und wie es nicht genügen kann, den Kritizismus seinem authentischen Sinn nach festzustellen, ihn zu durchleuchten und genetisch zu begreifen, um selbst danach etwa mit irgendeiner Köhlermetaphysik weiter zu vegetieren, so darf man ihn auch nicht unter allen Umständen "retten" wollen, um etwa, wie Jemand spottend bemerkt, "doch irgendein anständiges Obdach zu haben", das sich bei der allgemeinen, "philosophischen Wohnungsnot" (7) zur Unterkunft eignet: obwohl nicht zu leugnen ist, daß einige Kantforscher vorläufig in dieser bescheidenen, aber sterilen Unterordnung ihre volle Befriedigung finden (8). Es bedarf, je vertrauter uns KANT wieder wird, umso mehr der kritischen Vorsicht, der selbständigen Prüfung und wo es nötig scheint der Weiter- oder Umbildung. Nur so dürfte übrigens auch Hoffnung werden, daß der gegenwärtigen Epoche aus jenen intensiven philologisch-historisch-apologetischen Bemühungen schließlich das erwächst, wonach sie, wenn man den ziemlich lauten und verbreiteten Wehklagen glauben darf, ein so großes Verlangen trägt, nämlich eine kritisch vorsichtige und wissenschaftlich wohlbegründete Welt- und Lebensansicht.

2. Das Fundament einer wissenschaftliche Philosophie kann nur in einer kritischen Untersuchung über die letzten Prinzipien unserer Erkenntnis oder wie HELMHOLTZ (*Über das Sehen des Menschen*, 1855, Seite 5) es ausdrückt, über "die Quellen unseres *Wissens und den Grad seiner Berechtigung": es kann nur in einer besonnenen und unbefangenen Erkenntnistheorie gefunden werden, der sich, gleichfalls nach HELMHOLTZ, "kein Zeitalter", wir fügen hinzu: sicher kein Philosoph "ungestraft (9) wird entziehen können". Offenbar ist es auch eine von den Hauptursachen, auf die die umfassende und tiefgehende Wiederaufnahme des Kantstudiums zurückzuführen ist, daß dieser Philosoph von jener Überzeugung innerlichst durchdrungen war (10). Es ist daher nicht zufällig, daß von seinen Schriften gerade diejenigen am eifrigsten durchmuster und am hellsten beleuchtet werden, welche seine eigentümlich tiefsinnige Erkenntnislehre, seine Transzendentalphilosophie auseinanderlegen. Jedermann fühlt es, daß in ihnen niicht bloß der Kern seiner eigenen Gedanken steckt, sondern auch, daß hier die Dinge verhandelt werden, bei deren Erörterung und Erledigung unsere gegenwärtigen Bestrebungen wieder einzusetzen haben.

Eine Kritik der kantischen Erkenntnislehre ist etwas, was nicht bloß unzählige Mal nebenbei stattgefunden hat, sondern was sehr oft auch geflissentlich für sich unternommen worden ist. Wenn diese zum Teil hochverdienstlichen Bemühungen bis jetzt noch nicht den Erfolg gehabt haben, ein wissenschaftlich brauchbares und wohlbefestigtes Fundament für einen etwaigen Weiterbau zu gewinnen, so scheint eine Hauptursache dieses Mangels die zu sein, daß meist das grundlegende Referat über die kantischen Lehren nicht konzentriert genug war; ich meine daß man sich erstens wieder und immer wieder noch weitläufig exponierend auf Dinge einließ, über die unter Urteilsfähigen kaum noch ein Mißverständnis möglich ist - so kann es wohl allmählich als ausgemacht gelten, wie KANT die Apriorität von *Raum und Zeit* hat verstehen wollen, - und daß man zweitens sich in all die vielverschlungenen und oft erzscholastischen Umständlichkeiten, Wendungen und Windungen verlocken und auseinanderzerren ließ, durch welche die kantischen Schriften und vorzüglich die Kr. d. r. V. (gerade wie die aristotelische Metaphysik und Analytik) einem angestrengten Nachdenken und mühevoller Forschung leider ebensosehr Anlaß und Beschäftigung bieten, wie durch den Gedankengehalt und die zum Teil frappierende Neuheit der darin herausgearbeiteten, aus der Tiefe emporgeholten Ergebnisse.

Die folgenden Blätter suchen dem angedeuteten Fehler und Mißerfolg dadurch aus dem Weg zu gehen, daß sie erstens sofort diejenige Partie der kantischen Erkenntniskritik in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen, welche die Eigentümlichkeit der Denkart des Autors am kräftigsten hervortreten läßt, welche dabei nachweislich vielfach mißverstanden worden ist, in welcher ferner diese Theorie kulminiert, ja in welche schließlich alle wirklich wichtigen Gedankenlinien des Systems der Art zusammenlaufen, daß wenn sie in den inneren Blickpunkt gerückt wird, die Gefahr kaum entstehen kann, für die Vorteile der Konzentration all die schiefen und gewaltsamen Auffassungen einzutauschen, welche die Herauslösung eines Gliedes aus einer sorgfältig verschlungenen Gedankenkette sonst mit sich zu bringen pflegt.

Diese Kardinalstelle der Kritik der reinen Vernunft ist die, welche überschrieben ist: Die Analogien der Erfahrung, jene merkwürdige Stelle, welche den Beweis dafür zu erbringen versucht, daß wir ein volles und unzweifelhaftes Recht haben, vor aller Erfahrung von aller Erfahrung, die wir machen können, auszusagen, daß sie ein Beharrliches als Substanz enthalten, so wie, daß sie dem Gesetz der Kausalität und Wechselwirkung unterworfen sein muß. Diese Stelle steht mitten in der "systematischen Vorstellung aller synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes"; sie setzt durchweg die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, so wie den Schematismus derselben voraus; sie weist durch letzteren in die Erörterungen der transzendentalen Ästhetik über die Zeit hinein; es wird sich unten zeigen, daß sich die Lehre von der transzendentalen Idealität des Raumes überall zum kritischen Vergleich herandrängt; der Substanzbegriff nötigt, auf die psychologischen Paralogismen, der Kraftbegriff in seinem Verhältnis zur Substanz und Kausalität, in die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft einen Blick zu werfen, durch den Kausalitätsbegriff wird die Teleologie, wie die Freiheitslehre nahe gerückt; und von da aus eröffnet sich die Aussicht in die weiten unabsehbaren Gefilde der Metaphysik. Die verstärkte und konzentrierte Beleuchtung einer solchen Stelle ist so weit davon entfernt, das kantische System in ein fremdartiges, gefälschtes Licht zu rücken, daß sie vielmehr die Einheit und Vergliederung des Ganzen recht deutlich und kräftig zu markieren imstande ist.

Um indessen alle Vorsicht walten zu lassen, soll auch die kritische Behandlung der Analogien in jeder dem Verständnis und der Würdigung förderlich erscheinenden Weise zu denjenigen Gedankengruppen der kantischen Philosophie jedesmal absichtlich ausbiegen, welche entweder von dorther Licht empfangen oder dorthin Licht zu spenden vermögen. Es besteht auf keinen Fall die absurde Tendenz, mit der Heraussonderung und Bevorzugung des einen Lehrartikels eine Verkümmerung der kantischen Theorie zu verbinden, um etwa gar leichter über sie obsiegen zu können. Man wird eher Zeichen des Gegenteils finden, Zeichen der Absicht meine ich, KANTs Position möglichst zu decken und zu halten. Sollte z. B. die außer- oder nachkantische Forschung auf Tatsachen geführt und Anschauungen entwickelt haben, welche der kantischen Lehre sei es Zeugnis geben, sei es eine vorteilhaftere Fassung verleihen, so wird man die Kritik bemüht sehen, zu KANTs Gunsten, so weit der Wunsch Wahrheit zu finden es erlaubt und in Pflicht stellt, davon Gebrauch zu machen.

Diese Weise der Behandlung schien umso mehr angezeigt, als zweitens überall die Absicht vorschwebte, die Erläuterung und Kritik KANTs, so ausführlich und einläßlich dieselbe auch geraten möchte, in letzter Instanz nur als Vorbereitung und Handhabe für eine eigene positive Grundlegung zu benutzen. Auch aus diesem Grund hat gelegentlich über die Sphäre der kantischen Schriften, ja des kantischen Zeitalters überhaupt, nach vorwärts und rückwärts hinausgegriffen werden müssen. -

Unter den Philosophen, welche die Gegenwart beherrschen und mit KANT im Einklang oder sich im Gegensatz befinden, schienen JOHN STUART MILL und SCHOPENHAUER die meiste Berücksichtigung zu verdienen. Man wird es aber bald genug empfinden, aus welchen Gründen, trotz vielfältiger Übereinstimmung mit den Prinzipien und Methoden des Ersteren, der Verfasser doch der Ansicht ist, daß es denselben nur zum Vorteil gereicht haben würde, wenn sie mehr aufgrund eingehender Vertrautheit mit KANT als im Gegensatz zu den wenngleich wohlunterrichteten und nachdenklichen, aber bei Weitem nicht so tief, kräftig, und ich möchte sagen zugreifend angelegten englischen Aprioristen WHEWELL und HAMILTON entwickelt worden wären; und weshalb er es gar in hohem Grad bedauern müßte, wenn man durch die zum Teil knappere und durchsichtigere Darstellung, welche der Letztere einigen kantischen Gedanken verdienstvoller Weise gegeben hat und durch die in manchen Punkten zutreffende (11), ja schlagende Kritik, die er an andern geübt hat, in noch weiteren Kreisen als jetzt schon sich bewegen ließe, der Beschäftigung mit KANT selbst sich zu überheben, um lieben an den inexakten, ja zum Teil wüsten Vorstellungen des Schülers ein träges, steriles, wo nicht gar bloß provokatorisches Ergötzen zu suchen, anstatt sich durch die schwieriger und abstoßender gefaßten, aber im Großen und Ganzen doch abgeklärteren und vor allem exakteren Ideen des Meisters in der Tiefe aufrütteln, belehren und wenn es sein kann zu wirklich gesunden Neuschöpfungen sich anregen zu lassen. Zumal dasjenige, was uns dieser Schüler als die "Basis" und "Seele" der kantischen Philosophie bezeichnet - er findet es selbst seinen indisch-romantischen Bizarrerien und Paradoxien verwandt - von KANT selbst auf das Energischste perhorresziert [abgelehnt - wp] sein würde. (12)

Von wissenschaftlichen Verächtern der Philosophie ist mehr als andere GUSTAV THEODOR FECHNER berücksichtigt, dessen gehaltreiche Schrift über die physikalische und philosophische Atomlehre (erste Auflage 1855, zweite 1864) den Prinzipien echter, nämlich wissenschaftlicher Philosophie - zu einer solchen rechne ich die kantische, nicht aber die SCHELLINGs - gar nicht fern steht, und die in ihren zum Teil heftigen Ausfällen gegen dieselbe nur beweist, wie F. A. LANGE (Geschichte des Materialismus II, zweite Auflage, Seite 193) mit zurückfliegendem, leichtblütigem Spott sich ausdrückt, daß ihr Verfasser jeden Philosophen hinter der Ofenbank sucht, hinter welcher er selbst gesteckt hat.

Ich habe zunächst vor, die den Analogien der Erfahrung vindizierte [zugesprochene - wp] Bedeutung durch eine Auseinandersetzung mit SCHOPENHAUER und durch die Berufung auf KANTs eigene Bemerkungen noch genauer zu bestimmen und fester zu begründen.
LITERATUR: Ernst Laas, Kants Analogien der Erfahrung, Berlin 1876
    Anmerkungen
    1) Übrigens bemerkte auch HERBART in der dritten und vierten Auflage seines "Lehrbuchs zur Einleitung in die Philosophie" (1834 und 1837), § 150 (Werke I, Seite 260): Ungeachtet all dessen, was hier und anderwärts gegen Kants Lehre vorgetragen wurde, gehören seine Schriften noch heute zur gegenwärtigen Philosophie. Das Studium derselben muß diejenigen, welche sich auf Philosophie legen wollen, noch nötiger und anhaltender beschäftigen, als Spinoza und Platon. Vgl. ferner BENEKE, Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit, 1832, Seite 12f, 43f, 83f, 89.
    2) Ausdrücke DILTHEYs im "Leben Schleiermachers" (1870), Seite 102, 84.
    3) Ausdrücke DILTHEYs im "Leben Schleiermachers" (1870), Seite 102, 84.
    4) vgl. z. B. AUGUST STADLER, Kants Teleologie, 1874; A. FICK, Die Welt als Vorstellung, 1870, Seite 5. Über HELMHOLTZ' und ZÖLLNERs Anerkennung der kantischen Leistungen handelt gut W. TOBIAS, Grenzen der Philosophie, 1875, Seite 15f, 159f. Nicht unrecht hat HERMANN COHEN, wenn er (Kants Theorie der Erfahrung, Seite 7) bemerkt: "Die dem Aristoteles zugewendete verdienstvolle Arbeit hat reiche Ausbeute gebracht: sollte Kant, mit philologischer Genauigkeit behandelt, geringeren Ertrag erwarten lassen?" Gewiß! vor allem in dem Fall, wenn es der Kantphilologie gelingt etwas Ähnliches zu leisten, als was F. A. LANGE in der "Geschichte des Materialismus" (zweite Auflage, Bd. I, Seite 135) von den Arbeiten der neuaristotelischen Schule erwartet, nämlich uns vom Druck der bloßen Autorität als solcher "definitiv zu befreien".
    5) Ausdrücke DILTHEYs im "Leben Schleiermachers" (1870), Seite 102, 84.
    6) Man wird künftig Doktrinen, wie z. B. die, nach welcher die "Apriorität" des Kausalitätsgesetzes dadurch "bewiesen" ist, daß der "Intellekt" schon beim Aufbau der räumlich ausgedehnten sogenannten "objektiven" Welt dem "Satz vom Grund" gemäß "funktioniert", indem er in "spontaner" Tat jeden Eindruck "den der Leib erhält", auf seine äußere Ursache bezieht und diese im "a priori" angeschauten Raum als Objekt dahin versetzt, von wo die Wirkung ausgeht, - womit weder der transzendente Realismus ausgeschlossen, noch die immanente Herrschaft des Kausalitätsgesetzes innerhalb des Inbegriffs der solchergestalt aufgebauten Erscheinungen "bewiesen" ist, - man wird weder diese Lehre noch die verwandte, nach welcher "wir" von einer solchen "physisch-psychischen" oder "geistigen Organisation" sind, daß wir auf "Reize" einer transzendenten Welt von Dingen in Form von sinnlichen Empfindungsqualitäten "reagieren", die sich, einer gesetzmäßigen Ordnung außer uns entsprechend, in den "apriorischen" Anschauungsformen des Neben- und Nacheinander räumlich und zeitlich gruppieren: man wird Doktrinen der Art, welche die Prinzipien der "transzendentalen Deduktion" und die "Paralogismen der reinen Vernunft" nicht streng und ernst genug nehmen, ja zum Teil gänzlich außer Acht lassen, bald nicht mehr wie bisher als "Kantisch" gelten lassen. Liegen sie doch auch allzu sichtlich jenseits der Frage, welche nachweisbar der eigentliche Keim der "Kritik der reinen Vernunft" ist, mit welcher denn doch erst das ins Leben zu treten begann, was wir die kantische Philosophie nennen. Sie sind noch unbeeinflußt durch die Frage, welche KANT unter dem 21. Februar 1772 seinem Schüler MARCUS HERZ auseinander legte (Kants Werke XI, Ausgabe ROSENKRANZ, Seite 25f: "Auf welchem Grund beruth die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand? ... Wenn ... intellektuelle Vorstellungen (nach der Inauguraldissertation de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis vom Jahr 1770 sind "hujus generis: possibilitas, existentia, necessitas, substantia, causa etc., cum suis oppositis aut correlatis") auf unserer inneren Tätigkeit beruhen, woher kommt die Übereinstimmung, die sie mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden, und die Axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände" (wir werden z. B. an das Kausalitätsaxiom zu denken haben), "woher stimmen sie mit diesen überein, ohne daß diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen?" woher stimmen unsere Vorstellungen mit den Gegenständen auch außerhalb der Mathematik, außerhalb der Größenbegriffe, wo diese Übereinstimmung begreiflich ist, weil wir diese Objekte selbsttätig erzeugen, indem "wir Eines etliche mal nehmen? Allein im Verhältnis der Qualitäten, wie mein Verstand gänzlich a priori selbst Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen notwendig die Sachen übereinstimmen sollen wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Erfahrung getreu einstimmen muß und die doch von ihr unabhängig sind, diese Frage hinterläßt immer eine Dunkelheit in Anbetracht unseres Verstandesvermögens, woher ihm diese Einstimmung mit den Dingen selbst kommt?" Erst die Kritik der reinen Vernunft glaubte diese Dunkelheit zerstreut zu haben. Jene vorgeblich kantianisierenden Lehren aber kennen das Problem nicht einmal; sie sind vielleicht akzeptabler und faßbarer (vgl. F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, zweite Auflage, Bd. II, Seite 125f) als KANTs eigene Ideen, aber sie sind eben nicht im Sine des KANT von 1781; man kann sie gewinnen und besitzen, ohne je die Kr. d. r. V. gelesen zu haben; es genügt für sie, mit LOCKEs oder MILLs Relativismus (vgl. SCHOPENHAUER, Werke V, Seite 91f; A. SPIR, Denken und Wirklichkeit, Bd. I, Seite 132f) mit DESCARTES' Ideae innatae in ihrer vorsichtigen Fassung (vgl. DESCARTES' Lehre von den angeborenen Ideen, von E. GRIMM, 1873, Seite 54f, 69f; HERBART, Werke V, Seite 234f) und vielleicht KANTs Inauguraldissertation (vgl. COHEN, Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften, 1873, Seite 52, 55) bekannt zu sein.
    7) Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 66, Seite 185. Vgl. JÜRGEN BONA-MEYER, Kants Psychologie, 1870; E. MONTGOMERY, die kantische Erkenntnislehre, widerlegt vom Standpunkt der Empirie, 1871, Seite 30.
    8) So heißt es z. B. bei FRIEDRICH PAULSEN, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der kantischen Erkenntnistheorie, 1875, Seite VIf: "Die Untersuchung ist eine rein historische ..., sie schließt alle anerkennende oder ablehnende Beurteilung des kantischen Gedankens aus."
    9) Eine Vernachlässigung in dieser Beziehung kann überhaupt, wie HERBART mit Recht bemerkt (Vorrede zur Einleitung in die Philosophie, 1821, Werke I, Seite 15), nur "eine leichtsinnige oder verschrobene Behandlung der Grundbegriffe aller Wissenschaften zur Folge haben".
    10) Vgl. des Verfassers Auseinandersetzungen hierüber im Artikel "Über die Unsterblichkeit der Seele", Philosophische Monatshefte, Bd. X, Seite 131f.
    11) In anderen ist sie aber auch höchst leichtfertig und ungerecht. Um eins der ärgsten Beispiele zu nennen, so wirft er (II, 514, 517f) KANT in harten Ausdrücken vor, er habe die Untersuchung übergangen: "was nenne ich den Gegenstand, den ich von der Vorstellung unterscheide?" - was denn aber nun gerade die Frage ist, zu deren Lösung KANT seine Kr. d. r. V. geschrieben hat (vgl. Anm. 6 und aus KANT vorzüglich Kr. d. r. V., erste Auflage) - SCHOPENHAUER selbst zeigt übrigens durch seine eigenen Berichte und Erörterungen oft genug, daß KANT die vermißte Untersuchung nicht "übergangen" hat (vgl. z. B. Seite 526); aber dann wird es ihm wieder "schwer zu glauben", daß KANT dabei "selbst sich etwas völlig Bestimmtes und eigentlich deutliches gedacht habe" (Seite 521) - wie gesagt: bei dem eigentlichen Kerngedanken der Transzendentalphilosophie! - ja er meint wohl gar, es habe "ihm an gutem Willen gefehlt, um hierüber ins Reine zu kommen und sich deutlich zu erklären" (Seite 518).
    12) Vgl. vorzüglich "Kritik der kantischen Philosophie" (II, Seite 496f, 503) und KANTs Prolegomena, § 13, Anm. 3 und im Text § 26.