W. SesemannJ. CohnE. Dubois-ReymondG. OakesG. Spicker | ||||
Der Zusammenbruch des Rationalismus [ 1 / 2 ]
I. Einleitung Verdeutlichen wir uns den Sinn des obigen Satzes: Die Wissenschaft ist mehr als die Summe ihrer Resultate. Sie ist ihrem Wesen nach eine durch viele Erfolge bewährte Methode, Erfahrung darzustellen. Wer nun von der Wissenschaft aus die letzten Probleme des Daseins behandelt wissen will, der trägt durch die der Wissenschaft wesentliche Methode schon eine ganz bestimmte Lösung in die Untersuchung der philosophischen Fragen hinein. Zwei Probleme mögen das näher erläutern. Die Wissenschaft muß auf einem geschlossenen Determinismus allen Geschehens bestehen. Wo sie keinen solchen aufzeigen kann, da muß sie annehmen, daß sie bisher noch nicht in den Besitz aller Daten zur Bestimmung dieses Determinismus gelangt ist. Wenn man z. B. die Frage der Willensfreiheit nur von den Motiven der Wissenschaft her aufnimmt, so hat man sie von vornherein in einem negativen Sinn entschieden. Nicht deshalb, weil Wissenschaft die Daten zur Entscheidung schon geliefert hat - das kann sie der Beschaffenheit des Problems nach niemals - sondern weil sie als Wissenschaft auf einem Determinismus des Geschehens bestehen muß. Ihr Reich würde an dem Punkt aufhören, wo ein Moment der Freiheit vorhanden wäre. Wenn daher nur die Prinzipien der Wissenschaft in der Philosophie gelten dürften, so würde, zumindest für unsere Erfahrungswelt, eine Forderung des Lebens, die Freiheit des Willens, vernichtet sein (1). Ebenso scharf tritt das Problem zutage, wenn es sich um die Frage der Religion handelt. HÖFFDING hat in seiner Religionsphilosohie dies in überzeugender Weise zum Ausdruck gebracht:
So ist auf der ganzen Linie ein Gegensatz zwischen dem geistigen Leben und der Wissenschaft; was das Leben als wertvoll am Dasein schätzt, hat keine Bedeutung für die Wissenschaft; ja, mehr als das: das Ganze des Lebens wird für die Wissenschaft bedeutungslos. Die Wissenschaft kann uns keinen Sinn des Lebens angeben, weil sie als Wissenschaft überhaupt keinen solchen suchen kann, weil für sie die Welt nicht so beschaffen ist, um der Frage nach einem Sinn der Welt eine Berechtigung zu geben. Und hier entstehen nun schwere Konflikte. Durch Jahrtausende hat sich das Verlangen nach einem Sinn und einer metaphysischen Bedeutung des Lebens erhalten; in diesem Verlangen zittert die tiefste Sehnsucht der Menschenseele; alles, was an idealen Mächten die dumpfe Schwere des Menschenschicksals erleichtern wollte, entlieh seinen Glanz und seine Verklärung dem Glauben an eine metaphysische Bedeutung des Lebens. Aber seit einigen Jahrhunderten hat eine andere Macht, ebenfalls aus dem Schoß des Lebens selbst geboren, immer mehr an Glauben gewonnen. Der Glaube an die Wissenschaft hat die Menschheit mit dem ganzen siegenden Zauber ergriffen, welcher dem Erfolg eigen ist. Denn unter dem Zeichen dieses Glaubens sind wirklich Berge versetzt worden, ist eine neue Welt aus Stahl und Eisen, eine Natur in der Natur entstanden, sind, wie im Märchen, Raum und Zeit ihrer Gewalt beraubt worden. Unter dem Zeichen dieses Glaubens ist eine neue Menschheit geworden, welche das Dunkel des Chaos gelichtet und Ordnung und Maß da eingeführt hat, wo früheren Geschlechtern Willkür und Zufall zu herrschen schien, eine Menschheit, welche sich von der Wissenschaft die Waffen schmieden ließ, um die feindlichen Gewalten des Daseins immer siegreicher zurückzudrängen. Lag es da nicht nahe, der Wissenschaft auch die letzten Fragen unseres Lebensschicksals in die Hände zu geben? Der Versuch hat mit einem Mißerfolg geendet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat die Wissenschaft eine Weltanschauung, den Naturalismus, entworfen, dem sich das Leben zur metaphysischen Bedeutungslosigkeit verflüchtigt hat. Anfangs zwar empfand man die Herrschaft der Wissenschaft über alle Probleme des Daseins als etwas Großes und Befreiendes. Je mehr sich aber die negativen Folgen dieses Szientismus herausstellten, je mehr der Siegesrausch über die scheinbare Allwissenheit und Allmacht der Wissenschaft angesichts neuer Probleme gedämpft wurde, umso mehr brach eine Enttäuschung an der Wissenschaft herein, umso mehr empörte sich das Leben gegen die Wissenschaft: "Wir sind am Besten des Daseins durch die Wissenschaft betrogen worden", das klingt als erschütternder Refrain durch TOLSTOIs "Meine Beichte". Das verhängnisvolle, mißleitende Schlagwort vom "Bankrott der Wissenschaft" wird von BRUNETIÉRE ausgegeben. Hinter NIETZSCHEs unruhevollem Schaffen liegt das ernste und wahrhaftige Ringen nach einer Weltanschauung, welche dem Leben Atemraum gibt gegenüber der Wissenschaft. Als besonders typisches Beispiel für die Wandlung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Verhältnis von Leben und Wissenschaft eingetreten ist, möchte ich aber RENANs "L'avenir de la science" anführen. Die Schrift entstand im Jahr 1849 und bedeutet den Absagebrief RENANs an seine theologische Jugend. Aus dem Buch spricht der stolze siegesgewisse Glaube an die Wissenschaft, das sichere Vertrauen, nun endlich einmal auf dem Weg des Heils zu sein. L'avenir de la science - Zukunft und Wissenschaft werden miteinander verbunden, verschlingen und durchdringen sich in einem vorwärts gerichteten Blick. Aus der Stimmung eines wissenschaftstrunkenen Geistes heraus entwirft RENAN, hin und wieder sich kokett in gelinden Glaubenszweifeln wiegend, eine Religion der Wissenschaft. "La science seule peut résoudre à l'homme les éternels problémes dont sa nature exige impérieusement la solution." [Die Wissenschaft allein kann für den Menschen die ewigen Probleme lösen, deren Lösung seine Natur zwingend verlangt. - wp] Die Religionen enthalten ein unvollkommenes Wissen. Die moderne Wissenschaft macht die Religion überflüssig. L'avenir de la science ist, wie ich schon sagte, der Absagebrief RENANs an seine Vergangenheit. Dieses sein persönliches Erlebnis wächst ihm zu einer Art geschichtsphilosophischer Notwendigkeit empor. Wie früheren Jahrhunderten alles zur Religion, so scheint seit dem 19. Jahrhundert alles zur Geschichtsphilosophie zu werden. "Chacun de nos jours est ce qu'il est par la facon dont il entend l'histoire." [Jeder dieser Tage ist das, was er ist, weil er die Geschichte versteht. - wp] (Seite 272) Jeder moderne Denker hat seine Geschichtsphilosophie. Sie ist die belebende Atmosphäre seiner Gedanken. RENANs Geschichtsphilosophie ist charakterisiert durch die von ihm übernommene Dreiphasentheorie COMTEs, die er mit Gedanken HERDERs und HEGELs bereichert. Mit intellektueller Inbrunst umfaß RENAN die Wissenschaft, aber dennoch vermag er ihr gegenüber nicht einen leisen Seufzer der Wehmut zu unterdrücken: "Ce que me donne la science ne me suffit pas, j'ai faim encore. Sie je croyais à une religion ma foi aurait plus d'aliment, je l'avoue; mais mieux vaut peu de bonne science que beaucoup de science hasardée." [Was mir die Wissenschaft gibt, ist nicht genug, ich habe immer noch Hunger. Wenn ich an eine Religion glauben würde, würde mein Glaube mehr Nahrung haben, gestehe ich; aber besser wenig gute Wissenschaft als eine Wissenschaft des Zufalls. - wp] (Seite 93). Die Schrift blieb vierzig Jahre lang im Pult liegen. Dann erst gibt sie RENAN mit einer neuen Vorrede heraus. Aber was für ein anderer Geist spricht aus dieser Vorrede im Vergleich zur ursprünglichen Niederschrift! Löst uns die Wissenschaft die Probleme des Daseins? "Elle préserve de l'erreur plutôt qu'elle ne donne la vérité [Sie bewahrt uns vor Fehlern, anstatt die Wahrheit zu sagen. - wp] (Seite XIX). Gibt uns die Wissenschaft einen neuen Glauben über Sinn und Bedeutung des Lebens, so daß die Religion überflüssig wird? "Il se peut, que tout le dèveloppement humain, n'ait pas plus de conséquences que la mousse ou le liche dont s'entoure toute surface humectée." [Es kann sein, daß jede menschliche Entwicklung nicht mehr Konsequenzen hat als das Moos oder die Flechten, die eine feuchte Oberfläche umgeben. - wp] Wir diese Auffassung von der Bedeutung des Lebens den ethischen Idealismus stützen und stärken können? "Il est don possible que la ruine des croyances surnaturelles, et qu'un abaissement réel du moral de l'humanité date du jour oú elle a vu la réalité des choses. A force de chimére on avait réussi à obtenir du bon gorille un effort moral surprenant; ôtées les chiméres une partie de l'energie factice qu'elles éveillaient disparaîtra ... je le dis franchement, je ne me figure pas comment on rebâtira sans les anciens rêves les assises d'une vie noble et heureuse ..." [Es ist daher möglich, daß der Ruin übernatürlicher Überzeugungen und eine echte Senkung der Moral der Menschheit von dem Tag an erfolgte, an dem sie die Realität der Dinge sah. Durch Schimären war es uns gelungen, vom guten Gorilla eine überraschend moralische Anstrengung zu erhalten; von den Chimären entfernt, wird ein Teil der künstlichen Energie, die sie geweckt haben, verschwinden ... Ich sage es ehrlich: ich kann mir nicht vorstellen, wie wir ohne die alten Träume die Grundlagen eines edlen und glücklichen Lebens wieder aufbauen werden ... - wp] So endet und so muß eine Philosophie enden, welche sich nur von der Wissenschaft und ihren Motiven bestimmen läßt. Die Metaphysik ist dann einfach nichts anderes als eine erweiterte Naturwissenschaft. Der Naturalismus und der ihm verwandte Positivismus setzen ihren Stolz gerade da hinein, sich nur von den Motiven der Wissenschaft leiten zu lassen. Sie betrachten die metaphysische Bedeutungslosigkeit des Lebens als das notwendige Ergebnis der geistigen Entwicklung der Menschheit. Wer sich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden gibt, bei dem, so heißt es, wirken Bedürfnisse nach, die einer historisch und wissenschaftlich überwundenen Stufe der Weltauffassung angehören, anthropomorphe Bedürfnisse, die kein Recht haben, mitzusprechen. Doch braucht uns der Vorwurf des Anthropozentrismus [Menschheitszentrierung - wp] nicht zu schrecken. Denn einmal ist es eben die Frage, ob das Verlangen nach einem Sinn des Lebens nur einer historisch zufälligen Lage der Menschheit angehört und nicht vielmehr zum Grundbestand des Menschen zu rechnen ist (3), und dann wurzelt auch die Weltbetrachtung des Positivismus und Naturalismus in einem Anthropomorphismus eigener Art. Dieselben Männer, welche den Glauben, daß die Wirklichkeit den ethischen und religiösen Postulaten des Menschen nicht fremd gegenübersteht, als Anthropomorphismus verspotten, hängen sich naiv an einen ähnlichen Anthropomorphismus: nämlich an den Glauben, daß die Dinge gewissermaßen dazu da sind, um von uns wissenschaftlich erkannt zu werden. - In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat eine neue Art "wissenschaftlicher" Philosophie eine andere Verteilung von Wissenschaft und Leben in ihren Beziehungen zur Philosophie vorgenommen. Man konstruiert nur vom Standpunkt der Wissenschaft und ihrer Motive aus die Philosophie, und wenn das Gebäude der Wahrheit dann fertig ist, wenn alles unter Dach und Fach gebracht ist, dann bringt man hie und da, wie an einer schlechten Architektur, als überflüssige Schnörkel noch "Gemütsbedürfnisse" an. Man hat die dunkle Empfindung, daß man die Forderungen des Lebens nicht unbeachtet lassen darf, aber an der unabhängig von ihnen festgesetzten philosophischen Wahrheit können sie nichts ändern; sie kommen nicht über den Stand wohlwollend betrachteter harmloser Jllusionen hinaus. Psychologisch läuft das ungefähr auf die Worte NIETZSCHEs hinaus, mit denen dieser den Konflikt zwischen Wissenschaft und Leben schildert:
In der Tat hat seit ungefähr zwei Jahrzehnten die Wissenschaft ihre Eindeutigkeit verloren. Eine weitgehende Strukturveränderung im Wesen der Wissenschaft hat die Stützpunkte für den Glauben des Rationalismus erschüttert. Ich nenne hier einstweilen die Namen MACH, POINCARÉ, DUHEM, um die Richtung auf das Relative, Bedingte, historisch Zufällige anzudeuten, das nach diesen Männern auch den scheinbar ewigen Voraussetzungen der Wissenschaft zukommt. Die Wissenschaft hat die inneren Wesensschranken ihrer selbst erkannt, wie ein reifer Mensch in wahrhaftiger Selbstbesinnung aus den unbestimmten unendlichen Möglichkeiten der Jugend zur Erkenntnis der Schranken seines Wesens zukommt. Hinter der Wissenschaft wurde der Mensch, der irrende, tastende, wagende Mensch entdeckt; die wissenschaftsbildenden Potenzen wurden nicht länger in einer überpersönlichen freischwebenden Vernunft gefunden; man hob vielmehr die biologischen Untergründe ans Licht, um in diesen die Motive zur Wissenschaft aufzuzeigen. Das Irrationale lag nicht nur vor der Wissenschaft als ein Objekt der Bewältigung, es lag schon an ihrem Ausgangspunkt.
Das alles wogt noch ungeklärt durcheinander; das alles marschiert noch getrennt, ohne einen Vereinigungspunkt zu haben, an dem es gemeinsam die Schlacht des Neuen gegen das Alte schlagen kann. Ich möchte in dieser Schrift einen solchen Vereinigungspunkt aufweisen; ich möchte den Versuch machen, dem Neuen, das sich in den verschiedensten Gebieten der geistigen Arbeit aufdrängt, mit zum Durchbruch zu verhelfen, indem ich es zusammenrücke, verbind und verstärke in seinen gleichartigen Tendenzen. Dieser Vereinigungspunkt liegt in der neuen Behandlung des Problems von Leben und Wissenschaft. An einem Überblick über die Hauptmomente des neuzeitlichen Rationalismus werden wir die Eigentümlichkeiten des rationalistischen Wissenschaftsbegriffs kennen lernen. Aus dem Rationalismus hat sich das gegenwärtige Problem von Wissenschaft und Leben gebildet. Gegen die rationalistische Auffassung der Wissenschaft hat sich die neue Auffassung durchzusetzen. Die Kritik des Rationalismus an den verschiedenen Punkten wird uns gleichzeitig das Wesen des Neuen enthüllen. Der Gegenlauf gegen den Rationalismus hat sich dann zu positiven neuen Versuchen einer Weltanschauung gesteigert, von denen ich unter dem Gesichtspunkt Leben und Wissenschaft diejenigen drei Männer und Richtungen besonders behandeln will: den radikalen Empirismus eines WILLIAM JAMES, die Psychologie und Metaphysik eines HENRI BERGSON und die aktivistische Philosophie RUDOLF EUCKENs. In den Werken dieser drei Männer kommen die prinzipiellen Wandlungen der gegenwärtigen Philosophie am deutlichsten zum Ausdruck. des Rationalismus Der Rationalismus ist die kühne Glaubensform der Neuzeit. Diese Glaubensform bindet eine geistige Entwicklung von Jahrhunderten zusammen und treibt die Probleme zu einer rastlosen Umgestaltung vorwärts. Denn hinter aller Erkenntnistheorie, hinter aller Gestaltung der wissenschaftlichen Einzelprobleme lebte das starke Verlangen nach einer neuen Einordnung des Menschen im All, nach sicheren eindeutigen Antworten auf die letzten Daseinsfragen. Im religiösen System des Mittelalters waren solche Antworten gegeben. Als man aber mit diesem System gebrochen hatte, war man im tiefsten Lebensgefühl erschüttert. Man hatte die geistige Orientierung verloren, wie man durch KOPERNIKUS die räumliche Orientierung verloren hatte. Aber die alten Fragen hatten nicht aufgehört, die Seelen dieser Menschen zu bewegen, die Fragen nach einem Sinn und einem Wert des Lebens, nach der Stellung des Menschen im All. Im Verlangen jedoch, diese Fragen zu beantworten, war etwas Neues hinzugekommen: man verlangte eine Art von Sicherheit wie die Kirche sie geboten hatte. Tradition und Offenbarung genügten nicht mehr. Nicht das von der Autorität Gesetzte, sondern das Gesetz der Vernunft soll von nun an die letzte Entscheidung über Wahr und Falsch bringen. Nie zuvor ist das Problem der Gewißheit so tief empfunden und so heiß umkämpft worden wie in der Neuzeit, denn der neuzeitliche Geist wurzelt nicht mehr wie der antike in einem umfassenden Volksgeist und empfängt nicht mehr wie der mittelalterliche seine Richtlinien von der Kirchenlehre. Der leitende Begriff, mit dem sich die Neuzeit gegen das Mittelalter durchsetzt, ist die Autonomie. Sie ist zunächst ein rein formales Prinzip, sie bedeutet anfangs nur eine Veränderung im Grund der Geltung. Aber der Begriff der Autonomie hätte nicht so viel bedeuten können, wenn nicht hinter ihm ein großes konkretes Werk gestanden hätte, auf das man sich als auf eine richtende Macht berufen konnte: die Wissenschaft. Wie das Mittelalter, um ein Letztes zu bezeichnen, "Dogma und Kirche" sagte, so sagt die Neuzeit "Wissenschaft". Sie besitzt dabei eine ganz bestimmte Auffassung vom Wesen der Wissenschaft. Dieses ist ihr vorbildlich in der Mathematik gegeben. Die Mathematik gibt der Wissenschaft das ungeheure Selbstvertrauen und die Macht über die Gemüter. Der Rationalismus ist nichts weiter als eine von der Mathematik beeinflußte Auffassung vom Wesen der Wissenschaft, verbunden mit dem Versuch, die Gegebenheiten des Lebens in Einklang zu bringen mit dem Weltbild der mathematischen Physik. Das geschieht in verschiedenen Etappen. Die erste Etappe ist der ontologische Rationalismus eines DESCARTES und SPINOZA, die zweite Etappe ist der phänomenologische Rationalismus KANTs. Der Angelpunkt der kantischen Gedanken ist die Mathematik. Um die den mathematischen Urteilen eigene Notwendigkeit zu retten, unternimmt er die bekannte kopernikanische Umwälzung. Eine Abwandlung des ontologischen Rationalismus stellt der spekulative deutsche Idealismus dar, sofern er die Logisierung von der Natur auf die geschichtliche Welt überträgt und in dieser die gleichen Vernunftnotwendigkeiten entdecken zu können glaubt, die der ontologische und phänomenologische Rationalismus in der Natur entdeckt hat. Ich bezeichne ihn deshalb als geschichtsphilosophischen Rationalismus. Diesen drei Formen des Rationalismus ist ein Moment gemeinsam: sie lassen, ohne es freilich offen zuzugestehen, Motive außerwissenschaftlicher Art mitsprechen bei der letzten Bestimmung ihres Weltbildes. Wenn man hingegen bei der Wissenschaft, wie sie der Rationalismus auffaßt, stehen bleibt, wenn die Forderungen des Lebens sich zu puren Gemütsbedürfnissen verflüchtigen und das Weltbild der Wissenschaft als etwas Letztes gilt, dann haben wir den Naturalismus. Der Naturalismus, sagt EUCKEN einmal, gibt ein Bild vom All unter Absehung von allem charakteristisch Menschlichen. Da in dieser Metaphysik nur die Motive der rationalistisch gefaßten Wissenschaft gegeben sind, so möchte ich diese "wissenschaftliche" Philosophie als Szientismus bezeichnen. Der Szientismus ist ein säkularisierter Rationalismus. Allen vier Arten des Rationalismus ist eine Voraussetzung gemeinsam: die erkenntnistheoretische Autonomie der Wissenschaft. Sie baut sich auf dem Glauben auf, daß die die Wissenschaft beherrschenden Tendenzen eine ganz besondere Dignität besitzen, weil die Wissenschaft als Ganzes etwas Absolutes, von allem übrigen Losgelöstes, ist. Die Voraussetzungen der rationalistischen Wissenschaftsauffassung bestimmen die gesamte Art des neuzeitlichen philosophischen Denkens. Wenn ich sage, daß das Leben von der Wissenschaft aus erfaßt und gedeutet wird, so meine ich damit, daß gewisse Tendenzen und Motive, die dem rationalistischen Wissenschaftsbegriff eigentümlich sind, unbesehen in die metaphysische Spekulation hinübergenommen werden. Nach Aufdeckung dieser heimlichen Voraussetzungen wird die Kritik zeigen, in welchen Punkten unsere Wissenschaft diese Voraussetzungen verlassen hat und welche Folgen dies für das Verhältnis von Leben und Wissenschaft, und deshalb auch für die Metaphysik, haben muß. Bei der Schilderung des rationalistischen Wissenschaftsbegriffs berücksichtige ich nur diejenigen Momente, die zu unserem Problem eine nähere Beziehung haben. - Die rationalistische Wissenschaftsauffassung ist dadurch vor allem charakterisiert, daß ihr die Mathematik als Typus der Wissenschaft gilt. Das hat weittragende Folgen. Die Mathematik geht aus von einer Reihe von Axiomen, aus denen alle weiteren Sätze abgeleitet werden. Diese Axiome haben zeitlose Gültigkeit; sie sind unwandelbar und unbeweisbar, weil alles Spätere sich auf ihnen aufbaut. Sie haben den Charakter absoluter Sicherheit. Die Erfahrung, so glaubt man, kann ihnen weder etwas hinzufügen noch etwas fortnehmen. So werden sie dem Geist als feste Besitztümer zugeschrieben. Das verführt nun leicht dazu, in der gegebenen Wissenschaft und in dem von der Wissenschaft geschaffenen Weltbild etwas Letztes, mit dem Wesen des Geistes selbst Gesetztes zu sehen. Die Resultate der Wissenschaft verlieren ihren zeitlich bedingten Charakter und nehmen Teil an der absoluten Sicherheit der Axiome. Oder anders: nur das wird als Wissenschaft anerkannt, was denselben apodiktischen [Gewißheits- | wp] Charakter trägt wie die letzten Axiome. Das geschlossen System der mathematischen Physik gilt als die Wissenschaft. Das Ideal der Wissenschaft als einer Summe unveränderlicher, zeitlos gültiger Urteile und die wirkliche in der Zeit sich entwickelnde, sich verändernde Wissenschaft fällt mit dem Rationalismus zusammen. Dieser Zug kehrt auf allen Gebieten wieder denen sich der rationalistische Geist zugewandt hat. Er deutet darauf hin, daß der rationalistische Geist von einem der Vergangenheit zugewandten Lebensgefühl beherrscht ist und von der Zukunft keine Überraschungen mehr erwartet. Es äußert sich hierin eine gewisse Genügsamkeit hinsichtlich des erprobten Beweismaterials; es herrscht hier der Glaube, daß die eigentlichen Entscheidungen unserer Wissenschaft und unseres Lebens schon gefallen sind. Indem der Rationalismus eine Reihe von Urteilen der Erfahrung, d. h. der Veränderung, entrückt, glaubt er, feste Maßstäbe zu haben, an denen er alles andere messen kann. Er hat sozusagen die Grenzen des Möglichen umschrieben (6). In Bezug auf die einzelnen Tatsachen war man bescheiden, hingegen die Axiome und Gesetze hielt man für alle Zeiten gesichert und für unerschütterlich. Verstärkt wurde dieser Glaube noch durch den Eindruck einer eindeutigen und imposanten Entwicklung der mathematischen Physik. ABEL REY schildert diesen Eindruck in seinem Werk "Die Theorien der Physik bei den modernen Physikern" mit folgenden anschaulichen Worten:
Ein weiterer Zug der Wissenschaft, den der Rationalismus ohne weiteres ins Metaphysische ausdehnt, ist das Streben, mit einem Minimum von Prinzipien auszukommen und im Einfachen zugleich das Wahre zu sehen. Es ist dies ein anderer Ausdruck für das Bestreben, die Welt zu intellektualisieren. Dieser Zug zur Einheit und Einfachheit wirkt mit geradezu elementarer Wucht. Wiederumg ware es starke Eindrücke von den Leistungen der mathematischen Physik, welche auch der Philosophie die Sicherheit gaben, sie könnte leicht zu einer Einheit gelangen. Auf einige wenige Gesetze hatte NEWTON alle Bewegungen der Himmelskörper zurückgeführt, und als man im 18. Jahrhundert die Atomistik schuf mittels einer großzügigen Übertragung der Himmelsmechanik auf unsere Körperwelt, da wirkten die überrasschenden Erfolge dieser Atomistik wiederum beflügelnd zurück auf das Einheitsstreben der neuzeitlichen Philosophie. Daß sich die Wirklichkeit dem Einheitsstreben des Intellekts fügt, nimmt der Rationalismus ohne weitere Untersuchung an. Es gibt nur einen Typus der Wissenschaft und nur eine Methode für die Erkenntnis. In dieser Annahme berühren sich der ontologische Rationalismus eines SPINOZA und die neuesten Formen des Szientismus, etwa eines HAECKEL oder eines VERWORN.
Als Beispiel dafür, wie tief der rationalistische Glaube an den Monismus noch heute nachwirkt, gebe ich eine Argumentation VERWORNs hier wieder, die er in seiner "Mechanik des Geisteslebens" verwendet.
Der Glaube an die Einheit der Methode bedingt eine ganz bestimmte Metaphysik. Wie diese Metaphysik ausfällt, hängt davon ab, ob man von den höheren Tatsachen des Bewußtseins, wie LEIBNIZ und HEGEL oder von den anorganischen Naturphänomenen, wie der Naturalismus, ausgeht. Überall werden im Interesse eines einheitlichen Wissenschaftsideals Diskontinuitäten geleugnet, werden die großen Gegensätze unserer Existenz verwischt. In diesem Sinne kann man auf den rationalistischen Denker das Wort NIETZSCHEs anwenden: "Er ist ein Denker, d. h. er nimmt die Dinge einfacher als sie sind." Ein Typus des Geschehens soll für alle Wirklichkeit gelten. Man scheut vor keiner Verzerrung der Wirklichkeit zurück, wenn es gilt, einem Prinzip seine Unbedingtheit und Uneingeschränktheit zu bewahren. Der psycho-physische Parallelismus als metaphysische Theorie gibt hierfür ein gutes Beispiel. PAULSEN gesteht ein, daß dieser psycho-physische Parallelismus zu einem ganz entstellten Lebensbild führt. Aber höher als das Leben gilt die Rettung des Prinzips von der Erhaltung der Energie. - Die Automatentheorie des seelischen Lebens verdankte ihre Entstehung dem rücksichtslos durchgeführten Prinzip der Kontinuität. So schildert sie JAMES in seinen "Principles of Psychology":
Eine Folge hiervon ist der Determinismus. Dieser ist ja die Bedingung wissenschaftlicher Begreifbarkeit. Wenn sich in der Wissenschaft nach dem Glauben eines ontologischen und geschichtsphilosophischen Rationalismus die Wirklichkeit spiegelt, so darf auch in unserer Welt kein Moment der Unbestimmtheit sein. In der Geschichte ist nicht nur alles so gekommen, es hat auch so kommen müssen. Das kann sich mit einer Art von religiösem Fatalismus umkleiden.
1) Vgl. WILLIAM JAMES, Principles of Psychology, Kap. 26, Bd. II 2) Vgl. HÖFFDING, Religionsphilosophie, Leipzig 1901, Seite 219. 3) Vgl. den Schlußabschnitt von JEVONS, The Principles of Science: "Our own hopes and wishes and determinations are the most undoubted phenomena within the sphere of consciousness: If men do act, feel and live as if they were not merely the brief products of a casual conjunction of atoms but the instruments of a far reaching purpose, are we to record all other phenomena and pass over these?" [Unsere eigenen Hoffnungen, Wünsche und Bestimmungen sind die zweifellosesten Phänomene im Bereich des Bewußtseins: Wenn Menschen so handeln, fühlen und leben, als wären sie nicht nur die kurzen Produkte einer zufälligen Verbindung von Atomen, sondern die Instrumente eines weitreichenden Zwecks, sollen wir diese Phänomene nur registrieren und ansonsten über sie hinweggehen? - wp] 4) NIETZSCHE, Menschliches, Allzumenschliches, 5. Hauptstück, Nr. 251. 5) PIERRE DUHEM, Ziel und Struktur der physikalischen Forschung, Leipzig 1908, Seite 135. 6) DESCARTES konnte die Worte schreiben: "Ich lasse in der Physik keine Prinzipien zu, die nicht auch in der Mathematik zulässig sind, um alles, was ich ableite, durch Beweise stützen zu können. Diese Prinzipien genügen, um alle Naturphänomene mit ihrer Hilfe erklären zu können." Und am Schluß seiner "principia philosophica" betitelt er einen seiner letzten Paragraphen: "Es gibt keine Erscheinung in der Natur, die nicht in dem, was in dieser Abhandlung erklärt wurde, enthalten wäre." 7) Vgl. SPINOZA, Ethik II. 7. "Ordo et connexio idearum idem est ac ordo connexio rerum." [Die Reihenfolge und Verbindung von Ideen ist dieselbe wie die Reihenfolge der Verbindung von Dingen. - wp]. Das ist die Grundthese alles Rationalismus. 8) Unter Begriff [wbbeg] ist nicht eine bloße Vorstellung von uns zu verstehen, sondern die innere Natur, die man meint, wenn man sagt, daß aus dem Begriff des Triangels dies oder jenes folgt". ... "Im Begriff hat man die vernünftige Notwendigkeit; daher hat man begriffen, nur das, dessen wahre Notwendigkeit man erkennt." - J. E. ERDMANN, Grundriß der Logik und Metaphysik, Seite 104. 9) HEGEL, Philosophie der Geschichte, Seite 563 (Reclam) |