ra-2ra-2L. Büchnervon WieserHumeI. KornfeldF. Strunz    
 
ANATHON AALL
Macht und Pflicht

"Die Pflicht ist eine auf dem Boden des Machtgefühls entstandene Idee. Wo der Pflichtbegriff ausgebildet ist, wo er als Ideal ersonnen oder gar als Gesetz zur Geltung gelangt, ist dies im Zusammenhang mit jeweilig vorhandenen Machtzuständen zu begreifen. Die Pflicht ist ein Kultursprößling der Macht."

"Es ist bisweilen nicht leicht, die beiden Momente Ursache und Wirkung in eine einzige Tatsache zu verschmelzen. Wo hört die Quelle auf, weil der Strom anhebt, wo endet der Fluß, weil die Mündung beginnt? - Aber Quelle, Fluß und Mündung, was sind sie schließlich anderes als eine kontinuierlich zusammengehörige Masse fließenden Wassers? Nur eine einzige einheitliche Tatsächlichkeit liegt im Grund vor. Die Teilung ist ein methodischer Kunstgriff unseres diskursiven Denkens."

"Die Bußtaxe erscheint oft auf das Peinlichste abgemessen und geregelt; sie bestimmt sich nicht nur nach der Art des Verbrechens oder der Schädigung, sondern auch nach der an Wert ungleichen Personen, die beleidigt, bzw. getötet wurden. Wir finden eine feste Taxe nach Stand, Geschlecht, Alter. Ungünstig stehen die Frauen und Kinder, um nicht von den Sklaven zu sprechen. Bei den Azteken konnten bei Hungersnöten mißgestaltete Personen nach Belieben getötet werden. Die Gemeinschaft versagte den wirtschaftlich Invaliden ihren Schutz."

"Die Öffentlichkeit, die in einer reichen Volksvermehrung ein wertvolles Machtkapital erkennt, greift manchmal zu disziplinarischen Maßregeln und politischen Statuten, um das Interesse der Gemeinschaft zu fördern. Im altarischen Recht hatte in diesem Punkt der Gedanke, daß das Rechtsgut an die Machtbetätigung anknüpft, eine derartige energische Betonung, daß, wer keine Kinder zeugte, eine geringere Rechtsfähigkeit besaß; nur der Vater von Söhnen galt als klassischer Erzeuger."


Vorwort

Zwei Hauptbegriffe menschlicher Erfahrung bilden die logische Grundlage des vorliegenden Werkes: Macht und Pflicht. Der Begriff "Macht" ist der weitere von den beiden. Er ist in Wahrheit der umfassendste Ausdruck unserer Welterkenntnis. Dies darzulegen bildet ein wesentliches Stück dieser Untersuchung. Dabei ist das Hauptziel des vorliegenden Werkes nicht sowohl durch diesen Begriff bezeichnet; vielmehr liegt es in der theoretischen Wahrheit, welche der zweite Begriff "Pflicht" in seiner Beziehung zu dem der Macht ausdrückt. Indem diese beiden Begriffe verknüpft werden, stellt sich ein Erklärungsprinzip heraus, das Leben nach seiner in Tatsachen und Theorien ausgeprägten Art zu begreifen.

Daß die Macht, das Maß der Fähigkeiten des Moralsubjekts, bei der individualisierenden Zuerkennung der Pflichtaufgaben eine regulative Bedeutung hat, war schon lange eingesehen, obwohl ich in der Spezifikation der Pflichtnormen diese psychologische Einsicht nicht so gewürdigt gefunden habe, wie meines Erachtens zu erwarten wäre. Man muß aber über diese Erkenntnis noch einen Schritt weiter hinausgehen; dieser Überzeugung ist die hier vorgetragene Theorie entsprungen. Das Element der Macht hat beim traditonellen Aufbau der Moraltheorie nur als akzessorischer Umstand bei der Systematisierung der Grundbegriffe Beachtung gefunden. Niemand ist - so wird gewöhnlich das Machtmoment abgefertigt - zu mehr verpflichtet als zu dem, was seine Kräfte gestatten. Damit ist aber, wie ich meine, die Rolle, die der Macht in der Moralökonomie zukommt, nur ungenügend angegeben. Vergleicht man die gewöhnliche moraltheoretische Würdigung des Machtbegriffs mit der hier vorgetragenen Anschauung, so ergibt sich eine Differenz, welche derjenigen eines logischen Unterschieds zwischen einem Insofern und einem Weil, einer Bedingung und einer Kausalität, gleichkommt. Ich meine, es läßt sich nachweisen, daß Folgendes die wahre Sachlage ist. Die Macht ist nicht lediglich ein modifizierender Umstand der Pflicht, sondern die Machtgruppierung ist vielfach direkt der materielle Anlaß zur Pflichtbildung, das produktive Prinzip für die unendliche Vervielfältigung der Pflichtnormen in der menschlichen Gesellschaft.

Die pflichtmäßige Handlung ist der Inhalt der positiven Moral. Die Moral stellt sich als philosophischer Gegenstand dar, teils als ein in sich geschlossene begriffliches Ganzes, teils als etwas psychologisch Bedingtes. Den Forscher interessiert die Synthese dieser beiden begrifflich getrennten Disziplinen. Wie das ethisch Gebilligte sich praktisch verwirklicht, dies nachzuweisen betrachtet der Denker als höchste Errungenschaft seiner Moralstudien; und zwar kann er sich nicht damit begnügen, die Koinzidenzien mechanisch zu verzeichnen, - die Moral ist keine statistische Kunst, sondern sie sucht Einheit, Zusammenhang, ursächliche Verknüpfung. Das logische Ideal der Sittenlehre ist das Gesetz. Es müßte gesagt werden können: So muß es geschehen; so wird in dem und dem Fall mit Notwendigkeit gehandelt. Das "du sollst" müßte regelmäßig bejaht werden.

Wir wissen, wie es um die Notwendigkeit hier bestellt ist, wie in der Wirklichkeit eben hier die ethische Welt einen wesentlichen Divergenzpunkt mit der physikalischen hat. In der Natur gibt es eine notwendige, eindeutig bestimmbare Reihenfolge der Wirkungen - in der ethischen Welt sind wir bestrebt, die verschiedenen Motive ausfindig zu machen, durch die die Psyche bald so, bald so bewegt werden kann; in der Natur gibt es Gesetze -, in der Ethik gibt es typische Handlungsweisen.

Haben wir in den letzten Worten die Gesetzmäßigkeit des ethischen Lebens erschöpft? Nicht ganz. Das Leben bietet dem Forscher zwei Erscheinungen, welche die relative Regelmäßigkeit des praktischen Lebens zum Ausdruck bringen. Diese zwei Erscheinungen sind  Sitte  und  Recht

Weder die Sitten nocht das Recht haben ansich die Notwendigkeit der Naturgesetze. Denn über die Sitten kann man sich hinwegsetzen, und das Recht kann man verletzen; aber ein breiter Strom menschlichen Lebens ist in den beiden genannten Begriffen gewissermaßen kanalisiert worden. Eine Analyse ihrer Macht zeigt uns auch, daß dieselbe wohlbegründet ist. Sehen wir uns zunächst den ersten Begriff an. Die Sitten, die man um sich herum findet, haben auf das Moralleben des betrachteten Individuums eine anregende Wirkung. Sie wirken nämlich durch die Bestätigung, die sie der moralischen Gesinnung geben, vielfach konsolidierend auf die ethische Stimmung. Hiermit hat es folgende Bewandtnis. Ein augenfälliges Charakteristikum der Pflicht ist die mit ihr verbundene Mühe, die Arbeit, die oft instinktive Unlust erweckt. "Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt." Anregend wirkt dann die Erfahrung, daß das, worauf es ankommt, schon in irgendeiner Form ausgeführt war. Die ästhetische Veranlagung des Menschen zur Nachahmung oder, wenn man will, seine Suggestibilität hat auch Bedeutung für das Moralleben. Die Sitten verteidigen solcherweise dem handelnden Subjekt gegenüber ihren Inhalt nicht ohne Erfolg.

Von den Sitten drückt eine bestimmte Gruppe für spezielle, besonders wichtige Fälle das pflichtmäßige Verhalten energisch aus. Das sind die Rechtssitten. Wo hinter den Rechtssitten eine politische Gewalt steht, die mit Zwang auf die Erfüllung derselben drängt, haben wir die Gesetze, das Recht im engeren Sinn des Wortes. Ist schon die uniformierende Macht der Sitte hoch anzuschlagen, so tritt uns im Recht in noch entschiedenerer Weise die relativ einheitliche Gewalt der ethischen Empfindung entgegen.

Ich kann hier nicht mit der Bemerkung zurückhalten, daß in diesem Punkt für die Erforschung der Moralwissenschaft noch vieles zu tun übrig ist. Für die Erörterung von moralphilosophischen Themen oder gar in der Charakteristik der ethischen Normen müßte der rechtsgeschichtliche Stoff besser verwertet werden, und zwar nicht allein die Ideen, die dem Kulturkreis des jeweiligen Theoretikers entstammen, sondern von überall her auf der von Menschen bewohnten Erde wäre Material herbeizuholen.

Nicht daß sich die Moral theoretisch aus den Rechtssitten der Völkerwelt ableiten würde. Denn erstens haben nicht alle Normen sittlichen Wert, zweitens findet es sich - obwohl nicht eigentlich oft -, daß die Rechtssitten des einen Volkes dem Geist wie dem Buchstaben derjenigen anderer Völker widersprechen. Aber bei all dem sind sie ebenso viele Zeugnisse vom menschlichen Kollektivurteil darüber, wie praktische Fragen des Lebens grundsätzlich zu behandeln sind. Die zu Normen kristallisierten Lebensideale weisen wiederum auf relativ konstante Verhältnisse der menschlichen Natur, auf wesentliche Bedingungen seines Lebens zurück. Sie haben darum nicht nur den Wert, über die verschiedenen Bahnen des menschlichen Gemütslebens oft ein helles Licht zu werden, sondern sie sind manchmal geeignet, direkt auf das theoretische Besinnen eines Denkers einzuwirken.

Eine größere Würdigung der soziologischen und ethnologischen Data würde mit Notwendigkeit die Moralwissenschaft dem ersehnten Ziel empirischer Exaktheit näherbringen; es würde sich jedenfalls dadurch die Überzeugung befestigen, daß ein gewisser, objektiv bestimmter Stoff auch der Moralwissenschaft wesentlich ist, die folglich nicht mit Recht individualistischen Konstruktionen preisgegeben wird, wie neuerdings bei Theorien vom Sonderrecht der Übermacht geschehen ist. Die Korrektur solcher Moralphantasien liefert eben die Wirklichkeit selbst, die, wie mich dünkt, eher eine Mehrverpflichtung der Fähigeren lehrt. Es drängt sich nämlich schon aus einer flüchtigen Betrachtung des oben angedeuteten Materials dem Beobachter die Erkenntnis auf: das Leben wird durch bestimmte Kräfte reguliert, Kräfte, die das Individuum nicht aus eigenen Trieben herbeischafft, sondern die da sind infolge einer Tatsache, welche die menschliche Existenz kennzeichnet, soweit bei derselben von moralischen Werten die Rede ist. Das ist die Tatsache, daß der Mensch unter Menschen lebt und nur durch sie zum Menschen geworden ist. Die Moralwissenschaft und deren Zweig, die Pflichtlehre, ist aus diesem Tatbestand zu begreifen.



Begriffserörterung

Das umfassende Urteil über das Sein, über die lebende und erlebte Welt zu suchen, die erschöpfende Formel für die Wirklichkeit in Wahrheit, d. h. dem innersten Sinn nach, aufzustellen, wurde von jeher als Aufgabe der Philosophie empfunden. Aber dem Mannigfaltigen entspricht keine summarische Einheitlichkeit der Erklärung. Dieser Tatsache gemäßt ist die moderne Aufteilung der Wissenschaften erfolgt; gleichzeitig hat sich die Philosophie, ernüchtert durch fehlgeschlagene Versuche, auf eine Methode besonnen, die derjenigen anderer Forschungsgebiete näher kommt. Ihr Augenmerk hat sie, dem hierdurch vorgeschriebenen Prinzip gemäß, zunächst auf das unmittelbar Gegebene gerichtet. Das Welträtsel ist in der Forschung dem Einzelproblem gewichen. Der Philosophie, gleichwie dem Philosophen, sind vor allem die inneren Erlebnisse des Menschen gegeben. So hat die moderne philosophische Konstruktion eingesetzt als eine Rekonstruktion der psychischen  Erfahrungen Eine Analyse der Wirklichkeit ergibt bei dieser philosophischen Methode folgendes Bild: Die äußere Welt einerseits, d. h. die Welt der Natur und die Welt der Geschichte, unsere eigene innere Welt andererseits, die Welt des Subjekts, sind nur als Inhalt menschlicher Wahrnehmungen und Vorstellungen der Beschreibung fähig: mit anderen Worten: die Welt ist die Summe der Welterfahrungen, der tatsächlichen und, wie man liberal hinzufügen kann, der nach der Vorlage der tatsächlichen statuierten möglichen Welterfahrungen.

Kein Begriff drückt bei dieser Sachlage in erschöpfender Weise die Wirklichkeit aus als derjenige, der hier obenan steht. Ihr Inhalt bekommt gewissermaßen ein historisches Gepräge. Der seelisch registrierte Wirklichkeitsstoff liegt in  Ereignissen  vor. Die psychische Form dieser Ereignisse ist die Empfindung und Vorstellung, ihre ontologische Voraussetzung ist  Kraft Das uns zugängliche Wesen der Dinge war ja nach obiger Ausführung die ihnen in mannigfaltiger Weise zustehende  Macht auf unser Fassungsvermögen einzuwirken, dasselbe anzuregen, in Bewegung zu setzen.

Somit führt uns ein Versuch, die Welt nach ihrer Erscheinungsart zu charakterisieren, auf diesen Begriff "Kraft" oder "Macht" zurück. Aber die Philosophie kennt eine weitere Aufgabe: sie interessiert nicht nur die  Welt,  die erkannt werden soll, und die  Erkenntnis die den entsprechenden Prozeß ausführt, sondern auch die Art der menschlichen  Lebensführung,  die  Werturteile die darüber existieren, die praktischen Normen, die auf diesen Werturteilen beruhen und die in den Rechtsinstitutionen ihre festeste Gestalt gewinnen. Hier auf dem Gebiet der ethischen Forschung ragt als ein Hauptbegriff die moralpsychologische Idee: die Pflicht, hervor.

Zwischen den zwei Fundamentalbegriffen der beiden Hauptgebiete philosophischer Untersuchung, den Begriffen  Macht  und  Pflicht,  besteht ein realer inniger Zusammenhang. Dies nachzuweisen ist das Hauptmotiv der hier vorgenommenen Studien. Der Konnex der Begriffe birgt eine tiefe Wahrheit, eine Wahrheit, aus deren Verständnis der Machtbegriff in aufgeklärter und die Pflichtvorstellung in erstarkter Gestalt erscheinen muß. Es wird sich herausstellen, daß die Pflicht eine auf dem Boden des Machtgefühls entstandene Idee ist, daß, wo der Pflichtbegriff ausgebildet ist, wo er als Ideal ersonnen oder gar als Gesetz zur Geltung gelangt, dies zu begreifen ist im Zusammenhang mit jeweilig vorhandenen Machtzuständen. Die Pflicht ist ein Kultursprößling der Macht.

Auf die richtige Auffassung des Machtbegriffs kommt darum viel an.

Um denselben in möglichst erschöpfender Weise zu verstehen und zugleich die zentrale Stellung darzulegen, die ihm in der Deutung des Weltbildes zukommt, wird es nötig sein, das ganze Feld der einschlägigen Erscheinungen zu durchmustern. Dadurch wird für diejenige Machtvorstellung, auf die es uns letzten Endes ankommt, der sichere Hintergrund erzielt, und es wird der Überlegung eine echt philosophische Frage vorbereitet, nämlich diejenige, ob nicht am Ende das ethische Machtgebilde der Pflichterfüllung irgendeinen ontologischen Zusammenhang hat mit den übrigen Formen der Weltkräfte (1).

An der Schwelle der Untersuchungen begegnet eine Schwierigkeit: schon in dem eben Ausgeführten ist die begriffliche Einheitlichkeit nicht eingehalten worden. Wir sprachen abwechselnd von Macht und Kraft. Es gibt noch mehr Termini, die hier berücksichtigt werden wollen. Macht, Stärke und Gewalt mögen unter Umständen miteinander vertauscht werden, ohne daß dadurch eine erklärende Auseinandersetzung erforderlich wäre, und dasselbe würde gewissermaßen mit dem Begriff "Kraft" der Fall sein. Aber diesen Ausdrücken zur Seite stellen sich weitere Begriffe, besonders "Energie" und "Arbeit". Eine Abgrenzung der Begriffe hat sich vollzogen aus Anlaß der prinzipiell gesonderten Spezialforschungen, die je ein reinlich geschiedenes Objekt in Anspruch nehmen. Für uns, die wir das Gemeinsame der Erscheinungen ins Auge gefaßt haben, wird dieses Interesse der begrifflichen Diskussion hinfällig. Wir erblicken in den ungleichen Begriffen dasselbe Thema, das auf verschiedenen Gebieten der Erfahrung durch den Wechsel der Ausdrücke nuanciert wird.

Ich verwahre mich daher dagegen, einen für das philosophische Verständnis irgendwie bedeutsamen sachlichen Stützpunkt in den Unterscheidungen zu suchen, die die folgende Übersicht des Begriffsmechanismus erkennen läßt.

Die meisten der Begriffssymbole entstammen logisch der Tätigkeit der Menschen, bzw. der organischen Lebewesen.

Die  Macht  als Begriffswort hat zu ihrem Komplementärbegriff die  Handlung sie faßt diese vornehmlich unter den Gesichtspunkt der  Unternehmung  und deutet auf den Vorrat solcher allgemeinen Mittel hin, die zur Lösung einer Aufgabe solcher allgemeinen Mittel hin, die zur Lösung einer Aufgabe erforderlich sind. Wir sagen z. B., daß dem Häuptling die Macht zusteht, Bündnisse zu schließen; wir sprechen von Kriegsmacht, Macht der Gewohnheit etc.

Beim Begriff  Kraft,  dem als Korrelatbegriff die  Tat  entspricht, geht die Vorstellung wohl zunächst von unserer Erfahrung der Muskeltätigkeit aus. An der letzteren tritt zweierlei merkbar hervor: Druck und willkürliche Bewegung. Es ist eine feine Beobachtung MACHs (2), daß in die gewöhnliche Vorstellung einer Kraftmanifestation diese beiden Momente mit eingehen. Kraft bleibt demgemäß der natürliche Ausdruck da, wo es sich um die aktuelle Möglichkeit der Vollführung, um das tatsächliche Maß der zum Ziel treibenden Größen handelt. Man konstatiert im Leben eine  Macht  der Liebe, aber eine philosophische Aufgabe will man durch die Denk kraft  gelöst haben. In besonders interessanter Gestalt tritt unser Begriff dem Forscher in den sogenannten  Naturkräften  entgegen. Wir leiten sie von ihren  Äußerungen  ab oder schließen aus dem  Widerstand den sie fremder Einwirkung entgegenstellen, auf ihr Vorhandensein zurück. Dieser Widerstand (die  Trägheit)  mag bewältigt werden.  Naturkraft steht gegen Naturkraft.  Die eine siegt. Wo dies geschieht, tritt Kraft in Erscheinung. Sie führt eine  Wandlung  herbei. Dies ist die typische Äußerung der natürlichen Kraft: eine  Bewegung  wird wahrgenommen oder jedenfalls innerlich erwartet, bzw. vorgestellt. Der unter dem Einfluß der Kraft wechselnde Befund des Objekts wird als  Zustand  gekennzeichnet. Den aktuellen Vorgang der Kraftbetätigung bezeichnet man auch technisch als  Arbeit.  Das Wort, wie es dem alltäglichen Menschen geläufig ist, fügt sich nicht ganz ohne Zwang der modernen Anwendung in der mechanischen Terminologie. Dem Wort haftet ein gewisser beschreibender Charakter an, manchmal bezieht es sich sogar auf das qualifizierte Produkt der Tätigkeit. (vgl. die Wendung: Dies ist eine schöne Arbeit.) Der Gedanke ist bei diesem Begriff durchaus anthropomorph [typisch menschlich - wp]. Arbeiten tun eigentlich nur die Menschen (3). Jedoch hat der wissenschaftliche Brauch die Terminologie beeinflußt. Man nennt eine gewisse Gruppe der Bienen  Arbeitsbienen;  es wird gegenwärtig vielfach von mechanischer Arbeit gesprochen. Der Ausdruck hat sich somit unter die auf unserem Gebiet gangbaren Symbole eingeführt. Dem Begriff "Arbeit" sehr nahe steht derjenige der  Leistung.  Ein mit dem ersteren eng verknüpfter Begriff ist ferner der der  Anstrengung.  Der zu einer Arbeit nötige Kraftaufwand wird durch diesen Ausdruck in seiner Beziehung zum Gefühlsleben der Beteiligten vergegenwärtigt. Die Anstrengung ist peinvoll, verursacht  Mühe.  Wo die Mühe erheblich ist, wird sie nur mittels  Energie  überwunden. So stellt sich die ältere, den Psychologen am nächsten liegende Anwendung des Energiebegriffs dar; er ist aber schon früh ein sehr brauchbares Symbol geworden. Er deutet zwecks theoretischer Vergegenwärtigung der Leistung direkt auf den Mechanismus der betreffenden Geschehnisse hin und abstrahiert sowohl gänzlich von der Stoffart des aktiven Subjekts als von der Qualität des treibenden Agens. In der neueren Zeit ist der Umfang des Begriffs bedeutend erweitert; er ist seit Lord KELVIN so recht die generelle Bezeichnung für alle dynamischen Erscheinungen geworden. Jetzt spricht man vielfach in der Physik von Energie statt von lebendiger Kraft, das Potential ist potentielle Energie etc. Dem Kraftmaß äquivaliert der Gradunterschied der Energie; letztere wird begrifflich durch die Größe ihrer  Intensität  bezeichnet. (4)

Das Gemeinsame dieser Ausdrücke besteht darin, daß für die Erscheinungen ein erklärendes Prinzip all ihrer Zustände und ihrer jeweiligen Äußerungsweise gesucht wird. Die Objekte werden einerseits in ihrer räumlichen (5) Bestimmtheit vergegenwärtigt, andererseits so charakterisiert, wie sie sich besonders dem Gesichts- und Tastsinn der Menschen darbieten. Mittels des ersteren findet der Beobachter die  Bewegung  vor; der zweite Sinn, mit dem ersten verbunden, bedingt, was wir  Form  und  Konsistenz  nennen. Sämtlichen Stadien der Bewegung, sämtlichen Zuständen der Beharrung, jeder Art der Umgestaltung und Änderung der Zusammensetzung liegt, wie wir erkennen, eine Kraft zugrunde.

Diese Wahrheit ist der empirische Sinn der Naturerscheinungen. Ob sie ihr absolutes Wesen ausdrückt, wissen wir nicht, aber sie bezeichnet deren relativen Erscheinungsgehalt in einer erkennbaren Welt. Die Natur in ihren Zuständen und Wandlungen ist als ein System der Kräfte zu erforschen.


Die Macht- und Pflichtthese
[im Licht der Soziologie und
der ethnologischen Jurisprudenz]


Einleitung

Die  Kraft  sowie die damit äquivalierenden Begriffe hat sich uns als der treffendste Ausdruck für die Welt mit ihren Systemen von Erscheinungen, ihren Geschehnissen und Beziehungen ergeben. In der toten Natur wie auf dem Gebiet des organischen Lebens: überall dasselbe wirksame Prinzip der Energie. Schließlich müssen wir denselben Begriff als zentrales Prinzip auch auf dem Gebiet der Sittlichkeit anerkennen; die Moraltätigkeit läßt sich treffend als Kraftmanifestation auffassen, und in ihrer dem Subjekt zugewandten Form drückt sie eben ein Verhältnis zwischen einer potentiellen und einer aktuellen Energie aus, oder mit anderen Worten, die Pflicht ist eine Regel der Machtdisposition. Die These von der Korrelation zwischen Macht und Pflicht wurde im ersten Teil nach deduktiver Methode ermittelt. Die Notwendigkeit des Lehrsatzes war eine logische; dieser ergab sich uns aus der gedankenmäßigen Verknüpfung der einschlägigen Begriffe und der gesetzmäßigen Verhältnisse. Er ist aber etwas mehr als ein syllogistisches Gebilde freier Spekulation. Schon die allgemeinen Sätze im ersten theoretischen Teil wurden auf Grundlage empirisch gesicherter Daten aufgestellt; sie enthielten jedoch meist Deduktionen aus Prinzipien, die als erfahrungsmäßig gegeben vorausgesetzt wurden. Das läßt immer Platz für Zweifel offen. Ich stehe nicht an zuzugeben, daß es um die These nicht wohl bestellt wäre, wenn sie der Bestätigung praktischer Offenbarungen entbehren würde (6). Im allgemeinen steht fest, daß ein für das Leben geltendes theoretisches Gesetz irgendwie aus den Lebensverhältnissen erkennbar sein muß. Denn die Moral als Wissenschaft ist ja keine Entdeckung von heute oder gar ein Prognostikon für morgen; sie ist eine im wissenschaftlichen oder pädagogischen Interesse vorgenommene Reproduktion der Grundsätze, die für die Ausgestaltung des praktischen Lebens der Menschen in einem wesentlichen Sinn typisch sind.

Wenden wir das bereits gewonnene Urteil auf den vorliegenden Fall an, so haben wir zu fragen, ob das behauptete Grundverhältnis zwischen  Macht  und  Pflicht  in den praktischen Lebenserscheinungen der Menschen festen Fuß gefaßt hat. Es ist einzuräumen, daß, was vorliegt, zum Beweis in einem mathematischen Sinn des Wortes nicht ausreicht; die Daten, die wir heranziehen, sind meist spröde, und erst unsere Deutung läßt uns ihren Geist feststellen. Aber die Richtigkeit der Deutung ist uns durch Analogie eigener Affektzustände und Denkmethoden gesichert, und somit können wir sagen, daß die Bestätigung, die unserer These von dieser Seite zugeht, überzeugend wirkt.

Die Beispiele, die herangezogen werden sollen, stammen aus einer doppelten Quelle. Einmal beachten wir die Einrichtungen des gesellschaftlichen Lebens und die Formen der wirtschaftlichen und politischen Organisation; dann aber nehmen wir uns ein bestimmtes Institut vor, das vor allen anderen eine normative Autorität hat. Letzteres ist das Recht, und die Quelle, die wir zu benutzen haben, ist die ethnologische Jurisprudenz. Die ersten Instanzen sind die sogenannten soziologischen Daten.


Die Macht als Fundament
sozialer Verhältnisse

Eine ganze Zahl menschlicher Gebräuche und Einrichtungen bringen, näher betrachtet, den Gedanken zum Ausdruck, daß das menschliche Leben und die an dasselbe geknüpften Verhältnisse eine gewisse Macht darstellen; daran knüpft sich die weitere Anschauung, daß sie eine solche darstellen müssen, um irgendwie zu gelten. Erkennen wir ferner im Leben eine spezifische Krafterscheinung, so zeugen dementsprechend viele Erscheinungen dafür, daß einem allgemeinen Urteil gemäß eine gewisse Korrelativität der Begriffe  Lebenskraft  und  Lebensrecht  besteht.

Auch die Institutionen besitzen, einer weitverbreiteten volkstümlichen Urteilsweise gemäß, eine unentbehrliche Sanktion in der Macht, die sie handhaben können. Wenn wir die Tatsache verfolgen, werden wir finden, daß diese Macht wohl definiert werden muß; sie muß eine moralische Unterlage haben; demnach wird in der Grausamkeit der Rechtspflege nur eine Schwäche erkannt. Völlig machtlos aber erscheinen die Institutionen, wenn die Verpflichteten darüber in Zweifel geraten, ob dieselben überhaupt, selbst in einem ungerechten Sinn, eine Zwangsgewalt ausüben können. Bei mehreren auf niedriger Stufe stehenden Völkern greift beim Tod des Häuptlings eine vollständige Rechtlosigkeit Platz (7). Es muß eben das naive Pflichtgefühl einen Stützpunkt darin haben, daß das Subjekt hinter den Pflichtgeboten eine Machtinkarnation als Bürgen derselben erblickt.

In den herkömmlichen ethischen Urteilen, die als Supplement [Ergänzung - wp] zum gesetzlich fixierten Recht das sittliche Leben überwachen, sind Symptome derselben Grundanschauung vorhanden. Die persönliche Stellung, die sich in der Achtung der Mitmenschen behaupten soll, muß irgendwie durch Machtbesitz qualifiziert sein. Ein Lehrer, der seine Autorität nicht aufrechtzuerhalten vermag, ein Greis, der die Würde des Alters nicht bewahrt, überhaupt ein jeder, der Schwäche zeigt, da wo sein Leben äußerlich eine charakteristische Seite hat, setzt sich der Mißachtung anderer aus; von vornherein wird erwartet, daß der Stand und die allgemeine Lage einer Person sich energisch bewähren. Der betrogene Ehemann hat auch für das moderne Gefühl einen Anflug von Lächerlichkeit. Eine indische Rechtssitte bedroht ihn mit Ehrlosigkeit (Ausstoßung aus der Kaste) (8). Ähnlich in Athen nach einem Gesetz SOLONs (9). Es herrscht eben das Gefühl, daß ein jeder, der das Gut der Achtung genießen will, gewissermaßen in seiner Person einen Lebensgewalt darstellen muß.

Dazu stimmt die soziale Grundregel, daß alle Lebensangelegenheiten Beachtung finden, nicht weil sie, rein abstrakt genommen, unter ein Moralurteil fallen, sondern kraft einer gewissen Bedeutung für das Leben, das sie beeinflussen. Ein Unrecht muß bis zu einem gewissen Grad effektiv sein, wenn man von ihm eigentlich Notiz nehmen soll;  minima non curat praetor [Um Kleinigkeiten kümmert sich der Richter nicht. - wp]. Nach dem deutschen "Bürgerlichen Gesetzbuch" muß ein Fund (10) eine gewisse Wertgröße haben, um einen notwendigen Anlaß zur vorschriftsmäßigen Anzeige zu geben. Vom abessinischen Volk der Bogos wird berichtet (11), daß dort dasselbe Prinzip in Kriminalangelegenheiten vorherrscht. Unter den alten Germanen galt ziemlich allgemein die Regel (12), daß der Wert des gestohlenen Gutes für die Strafbarkeit des Diebstahls entscheidend war. Die Grönländer scheinen keine Bedenken zu haben, sich etwas anzueignen, das zwar anderer Eigentum ist, dessen Verlust aber den Eigentümern nicht wesentlich fühlbar wird (13). Es muß, damit eine erstere moralische Reaktion erfolgt, das  Leben  wirklich interessiert sein. Das Leben ist aber, wie der sprachliche Gebrauch des Wortes es ausdrückt, zugleich die Realisierung der Bedingungen, auf denen die Existenz beruth. Das Leben in diesem abgeleiteten Sinn ist somit, wie wir sehen, von Pflichtrücksichten umgeben; wir müssen dann beim Begriff  Leben  in seiner eigentlichen Bedeutung, bei Leben im rein biologischen Sinn, erst recht gewärtigen, daß in den Sitten ein ausgeprägter Wert behauptet wird. Aus den vielen Instanzen, die uns die völkerrechtliche Mischung des Lebens als eines Wertkapitals vor Augen führt, sollen im Folgende einige vorgeführt werden. Bei sehr vielen Völkern findet sich die gesetzliche Bestimmung, daß Unfruchtbarkeit ein Ehescheidungsgrund ist. So bei den Germanen (14). Auch das sonst so strenge Familienrecht der solonischen Gesetzgebung erkannt in der Unfruchtbarkeit der Frau einen gültigen Grund, sie zu verstoßen. (15) Das Leben soll sich in Leben umsetzen. Wo die Bedingung ausbleibt, ist unter Umständen eine legitime Erwartung getäuscht (16). Der Boden, der die Frucht verspricht, genießt, einer entsprechenden Denkweise zufolge, einen besonderen Schutz. Es soll die Kraftquelle der Lebenserneuerung bewahrt werden. Ein rechtsgeschichtlicher Fingerzeig in dieser Richtung ist die Tatsache, daß hin und wieder die Frau, zumal die gebärfähige Frau, höher taxiert wird als der Mann, für ihre Tötung ein höheres Wergeld gefordert wird. So z. B. bei einigen deutschen Stämmen (17). Besonders ist dies in den fränkischen Gesetzen ein hervorragender Zug (18). Aber auch bei den Naturvölkern Nordamerikas findet sich dieselbe Rechtsidee. (19)


Rechtlicher Selbstschutz des Lebens

Die Verhältnisse, wie sie die Natur gewollt hat, finden sich menschlich ausgedrückt in manchen praktischen Handlungsnormen, die unter den Völkern das Recht bedeuten. Von Haus aus genießt das Leben im Urteil der Menschen einen unverlierbaren Eigenwert, der die Selbstverteidigung als eine legitime, ja oft als eine pflichtmäßig vorgeschriebene Angelegenheit des Subjekts erscheinen läßt. Von unvordenklicher Zeit her galt den Völkern als praktische Lebensregel das  vim vi repellere [Gewalt darf mit Gewalt abgewehrt werden. - wp] Besonders an den Römern kann man studieren, wie die Selbstverteidigung ein grundlegendes Rechtselement ist. Hier war die Autonomie des Individuums die souveräne Idee. (20) Ein jeder, dem der Machttitel einer rechtlichen Persönlichkeit zukam, mußte sich selbst sein Recht verschaffen können. Das Recht bot ihm zunächst die Wege und regelte die Mittel, die die regelrechte Verwirklichung dieses Prinzips ermöglichten. Der Staat, der hinter so zahlreichen Angelegenheiten des Privatrechts stand, gab der Selbsthilfe seine moralische Stütze; aber was praktisch im römischen Gemeinwesen den Ausschlag gab, war die Tatkraft des Rechtssubjekts (21). Es hat allerwärts unter den Völkern einen langen Kampf gekostet, bis der Staat die Regelung der Rechtsfragen in seine Hand bekam und dem Individuum jedenfalls in qualifizierten Fällen die Rechtsverfolgung entrang; manchmal sind wir Zeugen, wie noch unter sonst geordneten Verhältnissen die beiden Prinzipen der individuellen und der staatlichen Timorie [Rache und Strafe - wp] nebeneinander stehen. So fest wurzelt im moralischen Bewußtsein des Individuums der Instinkt, der ein Attentat auf die Macht des Subjekts durch eine exemplarische Kraftbezeugung beantwortet. Der Inder regelt die Sache, wo ihr rechtlicher Charakter klar liegt, auf die Weise, daß er selbst sein Recht nimmt (22); ja, wo das Gemeinwesen ein unvollkommener Urteilsvollstrecker sein würde, ist Selbstbestrafung durch die Religion vorgeschrieben (23). Etwas Ähnliches gilt im islamischen Recht (24).

Das Selbsterhaltungsrecht der Individuen ist auch dem modernen Bewußtsein keine fremde Vorstellung. Es wird namentlich durch zwei Instanzen aus dem Zivilrecht bestätigt. Die eine Instanz ist durch den soganennten  Notstand  bezeichnet. Wo nur die Übertretung einer sonst feststehenden Rechtsnorm das Leben retten kann, ist diese Übertretung keine Pflichtwidrigkeit. Das Leben prävaliert über die Legalität. Im dringenden Notfall ist das Individuum nach moderner Rechtsanschauung schuldfrei, wenn es sich des fremden Gutes bemächtigt, vorausgesetzt, daß keine Unredlichkeit mit hineinspielt. (25)

Einen zweiten typischen Rechtsfall, der die obenerwähnte Lebensregel bestätigt, stellt die  Notwehr  dar. Ein Attentat auf das Gut, das die Natur einem in seinem Leben geschenkt hat, ist eine Pflichtverletzung, die die Gewalt des Angegriffenen direkt herausfordert. Wegen der Rechtmäßigkeit der Notwehr herrscht im modernen Gefühl kein Schwanken (26).

Aber auch umgekehrt bewährt sich die oben behauptete Art von Bedingtheit der gesetzlichen Verpflichtung. Der normale Verlauf von Pflichtleistungen kann plötzlich durchbrochen werden durch Ereignisse, die außerhalb des Einflußkreises des Beteiligten liegen. Dann geht das Subjekt schuldfrei aus. Wo die Natur einen Menschen um die Macht bringt, spricht ihn die Moral der in Frage stehenden Verpflichtungen frei. Die Strafgesetze müssen diesem Umstand Rechnung tragen (27). Die sogenannte  Fors major [größte Kraft - wp] ist ein in der Rechtsgeschichte viel ventiliertes Problem. Es gibt Fälle, wo ein verderbliches Ereignis für den Betroffenen unvermeidlich und unwiderstehlich war, wo dasselbe in eruptiver oder unvoraussehbarer Weise in den natürlichen Lauf des Lebens eingreift, dem gegenüber das Individuum ohnmächtig dasteht, und wobei dasselbe darum ersatzfrei zu erklären ist. (Man denke an Krieg, an Naturkalamitäten usw.) (28)


Gesetzliche Schutzmittel zur Erhaltung
des menschlichen Lebens

Die Natur kennt kein Tribunal, vor dem sie für die Störungen der Lebensbahn der Lebewesen Rede stehen sollte. Derselbe Windstoß zerbricht den Mast und schleudert den Mann ins Grab der Wellen. Die Natur steht dem einen ebenso indifferent gegenüber wie dem andern; nicht so aber unser Gefühl, das im lebenden Menschen eine inkommensurable Wertgröße erkennt und denselben durch die Bildung von Rechtssatzungen schützend umhegt. Wir finden auch in primitiven Gesellschaften Vorschriften, die zu vermeiden gebieten, was für das Leben bedrohlich ist (29). Bei den Juden wurde Fahrlässigkeit in diesem Punkt eventuell mit dem Tod bestraft (30). Im mosaisch-talmudischen Gesetz war es vorgeschrieben, ein Geländer um das Dach zu machen, um der Gefahr vorzubeugen, daß jemand herunter fällt; eine Umzäunung um Brunnen und Gruben sollte aus demselben Grund regelmäßig aufgestellt werden (31). Im germanischen Recht war es als Nachbarpflicht vorgeschrieben, daß jedermann seine eigenen Grundstücke umzäunt, um damit zugleich die angrenzenden Grundstücke zu schützen. (32) Im serbischen Recht war die Vorsichtsmaßregel eingeschärft, nicht auf eigenem Grundstück zu jagen, wenn in der Nähe ein Haus steht, damit dem Nachbarn dadurch kein Schaden erwächst. (33) Die Rechtsforderung findet nicht nur auf das Leben Anwendung, sondern bezieht sich auch auf die Mittel, die zur Erhaltung des Lebens dienen. Niemand soll in seinem berechtigten Machterwerb gestört werden. Nach heutiger Rechtsanschauung hat der Schuldner auch für  lucrum cessans [entgangener Gewinn - wp] aufzukommen.

Das Leben, das die anderen nicht straflos beeinträchtigen, darf auch nicht schuldlos vom Subjekt selbst vernichtet werden. Das Gemeinwesen, in dem das Individuum Platz gefunden hat, hat einen Anspruch  de re [auf die Sache - wp] darauf, daß es ihm verbleibt. Dem entspricht vielfach die rechtliche Beurteilung des Selbstmords. Er wird an manchen Orten auch darum verurteilt, weil die Gemeinschaft, der Staat, "der König" dadurch willkürlich um einen Bürger, einen Untertanen, gebracht wird. Der Selbstmörder ist ein  felo de se [Verbrecher an sich selbst - wp]. Im Altertum finden wir bei den  Massilioten  (34) die Sitte, daß jeder, der sich zu entleiben beabsichtigte, gesetzlich dazu angehalten war, seine Sache dem Rat der Sechshundert zu unterbreiten, der sodann entschied, ob ein genügender Grund zu einem solchen Schritt vorliegt (35). In England wird (versuchter) Selbstmord bestraft (36) und ebenso in Amerika.

Eine tiefergehende Reflexion bezeichnet die Rechtspraxis, die es strafbar findet, die moralische Ursache zum Selbstmord eines anderen Menschen zu werden. So außer bei den Chinesen auch bei einigen Indianer- (37) und afrikanischen Stämmen (38). In Völkerkreisen, wo brahmanisches Recht waltet, hat sich aus dieser Grundauffassung ein selbständiges Rechtsmittel entwickelt, das sogenannte  Dharmasitzen.  In Dekkan in Südindien hatte der Gläubiger in der vorenglischen Zeit einen sehr wirksamen Ausweg in der Drohung, sich zu erhängen, wenn nicht gezahlt würde. (39) Der Schuldner wurd dann für den Tod eines Menschen haftbar. So auch ursprünglich bei den Senghalesen auf Ceylon (40). Die Brahmanen, die dieses Institut ersonnen haben, entwickelten auf diese Weise aus der Pflicht, seinen Nächsten am Leben zu erhalten, ein Zwangsmittel gegen ein Benehmen, das gegen Moral und Herkommen verstößt (41). Das Urteil SPINOZAs, wonach bei dem Willen, das Leben zu erhalten, nichts anderes entscheidet als die autonome Rücksicht auf das tatsächliche Gut des Lebens selbst (42), erleidet in diesem Punkt anscheinend eine Ausnahme.


Düstere Züge in der Geschichte der
dynamistischen Lebenswertung.

Wie die ethnologische Jurisprudenz zeigte, nimmt das Recht vielfach das Leben in seinen Schutz als eine Kraft, die sich behaupten soll, und zwar, wie es scheint, teils weil die Natur selbst zu dieser Auffassung des Gegenstandes anleitet, teils weil die rechtsetzende Gemeinschaft einen Nutzen aus dieser Kraft zieht. Wo aber umgekehrt die Kraft versagt, wo das Leben zu schwach erscheint, um in ihm einen solchen Machtfaktor, ein produktives Wertobjekt zu erkennen, dort sehen wir oft bei den Naturvölkern das Fundament der Lebenshaltung ins Schwanken geraten. Hier ist die Sitte der Kindertötung zu erwähnen.

Es ist eine über den Erdball weit verbreitete Sitte, solche Kinder, die den Eltern überschüssig erscheinen, oder die aus sonstigen Gründen keine willkommene Aufnahme finden, auszusetzen, wobei es vornehmlich über die Töchter hergeht; so besonders in China, wo der unmenschliche Gebrauch, Kinder auszusetzen, noch im Schwange ist. Die Sitte findet sich geschichtlich im klassischen Hellas, wo die meisten Staaten die Aussetzung ausübten (43). Sie hat in alter Zeit unbeschränkte Geltung in Rom gehabt (44) und war auch unter den Germanen zuhause. Der Vater kann hier das Kind aufnehmen oder aussetzen (45). In Norwegen finden sich, selbst nach der offiziellen Bekehrung zum Christentum, Symptome, die auf die früheren Grundsätze hinweisen. Man wollte in dem Kleinen eine menschliches Wesen unverkürzt erkennen, sollte man verpflichtet sein, es am Leben zu erhalten (46). Mißgestaltete Kinder werden noch von manchen Eingeborenen Afrikas und auch sonst an vielen Orten bei der Geburt getötet. Das Kind, zumal das schwach geborene, hat in den Augen der Naturvölker gewissermaßen noch nicht den wirklichen Vollbesitz des Lebens, der erst naturgemäß ein Anrecht auf dessen Entfaltung gibt. Auch bei Tieren liegt der Fall bisweilen ähnlich; wir sind bei ihnen nicht selten Zeuge davon, wie selbst die Mutter ein schwächliches Junges vernachlässigt oder gar verstößt. Von einer Krokodilart weiß man zu berichten, daß das Weibchen manchmal diejenigen seiner Jungen auffrißt, die nicht schwimmen können. (47) Es bekundet sich meines Erachtens in einem düsteren Instinkt der Lebewesen nicht nur Grausamkeit, sondern auch eine rohe Empfindung des Gesetzes vom unabwendbaren Schicksal des Machtlosen im Kampf ums Dasein. Die Wespen, die keine Wintervorräte sammeln, töten von ihren Jungen diejenigen, die zu spät im Herbst zur Welt kommen, und die vor Kälte und Entbehrung sterben würden (48). Jedenfalls hat man die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Kindertötung mit sonstiger Liebe zu denjenigen Kindern gepaart werden kann, die am Leben erhalten werden (49). Bei den Eingeborenen Australiens hat man eine günstige Gelegenheit, primitive Lebensauffassungen zu studieren. Eine starke Liebe und Milde den Kindern gegenüber wird ihnen nachgerühmt (50). Nichtsdestoweniger herrscht die Sitte der Kindertötung. Als Ursache muß ihre Erklärung gelten, der Aufgabe, so viele Kinder zu erziehen, nicht genügen zu können; darum ließen sie manchmal Neugeborene an der Stelle zurück, wo sie zur Welt gekommen waren (51). Dies ist ein symptomatischer Erklärungsfall. Es ist die subjektive Überzeugung der Machtunfähigkeit, was ihnen die Pflicht als hinfällig erscheinen läßt. Das erwähnte Motiv spielt eine Rolle auch in modernen Kulturgesellschaften, wo manchmal Eltern es ganz oder teilweise an der nötigen Fürsorge fehlen lassen, weil sie die Last deprimiert; weil das Handeln nicht durch ein Gedeihen unterstützt, das Sollen nicht gleichmäßig von einem Können begleitet wird.

Ähnlich der Lage der Kinder ist in Kreisen niedriger Kultur in vielen Beziehungen diejenige der erwachsenen Invaliden, der Kranken und Alten. An zahlreichen Orten finden wir das Bestreben der Sozietät, sich ihrer als unproduktiver Individuen zu entledigen, wie die Bienen die Drohnen töten, um sich nutzlose Mäuler vom Hals zu schaffen. Der leistungsfähigen Mitglieder der Menschengesellschaft harrt oft ein grausames Schicksal (52). Im alt-eranischen Reich, bei den Armeniern wie bei den Baktrern wurden die Krüppel und die von Alter und Krankheit Entkräfteten mehrfach ohne jede Unterstützung ihrem Schicksal überlassen, wenn sie nicht direkt getötet wurden (53). In Afrika ist die Sitte, alte und kranke Leute umzubringen, an vielen Orten anzutreffen (54). Bei den Hottentotten werden diejenigen, die wegen Altersschwäche arbeitsunfähig sind, von der Gemeinschaft verbannt und in verlassener Einsamkeit ihrem Schicksal überlassen (55). Viele Stämme der brasilianischen Indianer pflegen ihre eigenen Verwandten zu töten, wenn diese durch Alter oder Schwäche lästig werden (56). Bei den Grönländern wird den Alten nur so lange Ehrung erzeigt, als sie sich noch nützlich machen (57). Von den Eskimos in Unalaschka wird berichtet, daß sie ihre altersschwachen Leute lebendig begraben (58). Manchmal findet der Gebrauch unter der Zustimmung der beteiligten zu Tode Geweihten statt. So verhielt es sich nach AELIANs und STRABOs Bericht mit der Sitte der Bewohner auf der Insel Keos, eine Sitte, die von mehreren klassischen Autoren mit allerlei poetischem Räsonnement ausstaffiert wird: daß diejenigen, die das Alter von 60 Jahren überschritten hatten und die für das Gemeinwesen weniger leistungsfähig erschienen (59), altem Herkommen zufolge freiwillig aus dem Leben schieden und für die zurückbleibenden Jüngeren günstigere ökonomische Verhältnisse schafften (60). Unter den Indianern Brasiliens ist die Tötung der Alten ein affektvoller Akt. Wenn das Leben keine Freude und keinen Genuß mehr verspricht, wenn Krankheit und Alter einen arg mitnehmen, erhält der Alternde den Gnadenstoß als einen Liebesdienst von seinen Kindern (61). Bei den Chinesen soll es manchmal ganz leicht sein, bei einem verhängten Todesurteil einen Stellvertreter in einem Menschen zu finden, der seinem Leben keinen Wert zuschreibt. Hier ist auch ein Sarg ein passendes Geschenk an einen alten Mann (62). Es können sich mit der Sitte auch religiöse Vorstellungen verbinden, energetische Träume von einem Jenseits (63). Das Motiv, das in den meisten Fällen den Ausschlag gibt, ist wirtschaftlicher Natur und entstammt dem Kalkül der ökonomischen Kräfte. Die höhere Kultur der modernen Gesellschaft sucht in diesem Punkt einer anderen Praxis zum Sieg zu verhelfen. Sie lehrt in der Pflege der Alten und Schwachen eine menschliche Liebespflicht, aber noch ist man mit der Idee einer freiwilligen Aufnahme solcher Individuen weit vom Ziel entfernt. Die Bereitwilligkeit, sich deren helfend anzunehmen, die bei der Betätigung an der produktiven Arbeit im Leben zurückbleiben, ist noch sehr begrenzt. (64)


Der mütterliche Schutzinstinkt

Wenn das menschliche Wesen in seinem Gefühlsleben keinen Trieb besäße, der gewissermaßen für ein soziologisches Gegengewicht zu der soeben erwähnten Praxis sorgte, dann wäre es schlecht um die Gattung bestellt. Denn sämtliche Menschen durchlaufen ja im Kindheitsalter ein Stadium der Unbeholfenheit, während tausendfache Anforderungen an Opferbereitschaft und Fürsorge an die zur menschlichen Vollkraft Gereiften gestellt werden. Aber das Kontobuch der Natur hat sichere Posten; was sie auf der Debetseite der materiellen Kraft aufführt, das begleicht sie durch die Eintragung einer entsprechenden Größe auf die Kreditseite der Gefühle. Wir finden darum neben der schonungslosen Mißachtung der lästig gewordenen Schwachen die selbstverleugnende Pflege derselben. Der Kindertötung steht die Kinderliebe zur Seite, und in den Sitten der Völker finden wir nicht nur eine Verachtung der Elenden, sondern auch eine teilnahmsvolle Abhilfe der Not der Bedürftigen. - Eine Existenz ohne Macht ist noch kein rechtes menschliches Leben. Aber wer Kraft hat, teilt umgekehrt oft aus seinem Besitz an denjenigen aus, der ohne solche ist.

Hier begegnet vor allem das Muttergefühl in seinen lebensgestaltenden Äußerungen. Wie dieses Gefühl sich manchmal des Mutterindividuums völlig bemächtigt, schließt es etwas psychisch Rätselhaftes in sich. Fast muß es scheinen, als durchbreche die Natur in diesem Punkt selbst ihre sonst konzentrisch auf das Individuum gerichteten Krafttendenzen. Denn wahrlich, Zwecke, die über das Individuum hinausgehen, treten auf diesem Gebiet mit erstaunlicher Energie hervor. Selbst die Tiere führen die auffallendsten Handlungen aus zur Sicherung der Lebenserhaltung und Fütterung ihrer Jungen, auch wenn sie dieselben nie zu Gesicht bekommen (65). - Es handelt sich beim Muttergefühl um einen Trieb von sehr erheblicher Gewalt. In den verschiedenen Ordnungen der Tierreiche hindurch begegnet dasselbe mächtige Phänomen von Müttern, die bereitwillig ihr eigenes Leben in die Schanze schlagen, um das ihrer Jungen zu retten (66). Die Vererbung spielt zwar bei der Ausbildung des Instinktes eine große Rolle, aber sie bezeichnet keinen konstanten Faktor, und oft nimmt sichtlich das individuelle Gefühlsleben des Muttertieres bei der Beschäftigung mit den Jungen eine selbständige Entwicklung an. Besonders bei den höheren Wirbeltieren ist nicht der mechanische Instinkt die allein wirksame Triebfeder. Es ist anzunehmen, daß der auf instinktiver Grundlage beruhende Trieb bei seiner Betätigung neue Kraft aus einem emotionalen Hilfsinstinkt schöpft, der das befähigte Tierindividuum zur Tätigkeit für den Machtlosen veranlaßt. Jedenfalls gibt es im Tierreich schlagende Beweise für die Korrespondenz der hilflosen Verfassung einerseits mit der hilfsbereiten Anhänglichkeit andererseits. Es sind in der Natur die auffälligsten Beispiele dafür, daß die mütterliche Pflege, so intensiv sie auch sein mag, kaum die relativ kurze Zeit überdauert, wo das junge Tier ohne Hilfe zugrunde gehen würde, und die völligste Gleichgültigkeit tritt anstellt des so intensiv ausgeprägten Gefühls.

Hier liegt offenbar eine spontane Kultur des Machtbewußtseins vor, in den einzelnen Anwendungsfällen noch dazu erstarkt durch die Bedürftigkeit des Objekts, die eine Kontrastwirkung hervorruft. Es gibt ganz deutliche Beweise, daß dies manchmal der Zusammenhang ist. Bei Menschen wie bei Tieren wächst und vertieft sich die Anhänglichkeit zur Brut durch Säugung; ähnlich ist die Fähigkeit zum Brüten als solche eine Machtquelle, die sich oft auffallend in einer entsprechenden Tätigkeitslust bezeugt. Auch mancherlei Äußerungen des Schutzinstinktes zählen hierher (67). So wird man sich zu erklären haben, wie gewissermaßen im Tierreich von einer Adoption die Rede sein kann. Der mütterliche Instinkt findet gelegentlich einen Gegenstand in den Jungen anderer Tiere. Dies kann sogar vorkommen in Fällen, wo die Pflegemutter nicht unbekannt sein kann mit dem fremdartigen Charakter ihrer "adoptiven" Brut (68).

Im inneren Grund hat das mütterliche Gefühl und - wenigstens bei den Menschen - auch das väterliche einen Anhalt in vitalen Umständen, die die organischen Beziehungen der Individuen beim Generationswechsel ausdrücken. Das Kraftgefühl, das auf diese Weise zum Vorteil des jüngeren Gliedes der Generationskette ausgelöst wird, findet auch in umgekehrter Richtung hin einen natürlichen Ausdruck. Und in Wirklichkeit ist die kindliche Liebe zu den Eltern, die Unterstützung der Alten durch die Jungen (69) eine soziologisch ebenso tatsächliche Erscheinung, wie die Mißachtung und Vernachlässigung derselben, die oben berichtet wurde. Dieser Punkt wird uns später im Zusammenhang mit anderen Daten der soziologischen Institute und Idealnormen beschäftigen.


Das Solidaritätsgefühl unter den Menschen

Dem Mutter- bzw. Elterngefühl stellt sich als weiterer sozialethischer Faktor ein verwandtes Gefühlsmotiv zur Seite, nämlich das Solidaritätsgefühl, das sich auf Artgenossen bezieht und das gleichfalls dem starren Eigenkultus des Einzelindividuum Eintrag tut, wie es grundsätzlich seine Mißachtung der Machtlosen herabstimmt.

Schon im Tierreich ist ein instinktives Einordnen auf solidarisch bestimmte Zwecke wahrnehmbar, und man hat viele Beispiele von gegenseitiger Hilfe unter den Tieren (70). Manchmal findet man, daß die Alten, zumal die Eltern selbst, die Jungen darin unterrichten, was ihnen für das praktische Leben zunutze kommt (71). Auch bei den Tieren findet sich ein Verständnis davon, daß Einigkeit  Macht  gibt. Ihre Interessen konsolidieren sich, und die Einzelnen, Schwache und Starke, ziehen den Nutzen davon. Viele Tiere stellen Wachen aus, um vor Gefahr zu warnen (72). Bei einigen Tieren finden wir eine gewisse Aufsparung von Vorräten, und ein gemeinsames Betragen läßt in gewissen Fällen eine Art Vorsehen durchblicken (73). Zur Erreichung ihrer Zwecke stellen sie sich in eine gewisse Über- und Unterordnung. So z. B. viele Vögel. Vor allem aber geben die Bienen und Ameisen eine beachtenswerte Belehrung, wie die Natur auf dem Weg der Gemeinsamkeit die Verwirklichung des Lebenszwecks der Art erzielt und hierbei die Individuen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten beschäftigt. Die Bienen sind vereinigt für alle Lebensbedürfnisse. Gemeinsam sorgen sie für Obdach, Nahrung und Erziehung der Jungen (74). Ebenso verschiedene Ameisenarten. Sämtliche Verrichtungen in einem Ameisenhaufen, wie das Tragen der Eier, die Fütterung der Jungen, die Sorge um die Nahrung, werden gemeinschaftlich ausgeführt. Wie in einem Ameisenstaat die Aufgaben verteilt erscheinen, muß unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Die Ameisen halten gewissermaßen Haustiere. Es gibt Arten, die eine merkwürdig abgepaßte Arbeitsteilung aufweisen. Unter den Geschlechtslosen sehen wir einige als Arbeiter tätig, andere sind Soldaten. Der Körper weist entsprechend die bedeutsamsten Unterschiede auf. Die Krieger sind größer als die anderen und legen eine besondere Energie an den Tag (75). So festen Halt hat der Solidaritätsinstinkt der gemeinsam lebenden Tiere an den Individuen, daß in gegebenen Fällen der Selbsterhaltungstriebe gegen denselben zurückbleibt (76).

Was eine Erforschung der Tierwelt an Erscheinungen darbietet, bleiben nur schwache Ansätze im Vergleich zu demjenigen, was die Soziologie der Menschen aufweist. Die Beispiele aus der Naturgeschichte sind nur Fingerzeige dafür, daß unser Moralurteil, indem es ein notwendiges Verhältnis zwischen  Macht  und  Pflicht  setzt, nicht ohne Analogie in der einfachen unüberlegten Anordnung der Agentien in der Natur ist, wo Fähigkeit und Rolle, Kraft und Tat ein auffallendes Ineinandergreifen aufweisen kann. Was die dortigen Erscheinungen, verglichen mit den korrespondierenden Phänomenen des menschlichen Lebens, an Wert herunterstimmt, ist die mangelnde Differenzierung (77) der Handelnden; nicht individuell, sondern gruppenweise, gleichsam in Kasten eingeteilt, führen sie ihre Aufgabe aus. Entsprechend ist der zu gemeinsamer Tätigkeit anleitende Instinkt ein psychisches Rudiment [Überbleibsel - wp], verglichen mit den feinen Gefühlsabstufungen, die in einem Menschenleben die Einsetzung der Kräfte für nichtegoistische Zwecke begleiten.

In das Leben des modernen Kulturmenschen greifen die den Solidaritätsinstinkt betreffenden Rücksichten tief ein. Moral und Kulturinstitute stellen wesentliche Anforderungen an den Einzelnen, seinen Willen und seine Wünsche unter Rücksichtnahme auf die Gesamtheit derjenigen abzustimmen, in deren Mitte er lebt. Sowie die Kultur anhebt, schimmert eine derartige Forderung hervor. PLATO wollte eine Erfüllung des Gesetzes und besonders die Beachtung des gemeinschaftlichen Interesses vom Gefühl eines jeden Bürgers überwacht wissen (78). In der klassischen Ethik kam überhaupt das Solidaritätsgefühl mächtig zu Wort (79). Der Bürger ist nach ARISTOTELES nicht sich selbst angehörig, oder wie es PLATO ausdrückt: es ist nicht dem individuellen Bürger überlassen, seine Tage so zu verleben, wie ihm beliebt. (80)

Vollends zu einer hohen Anerkennung seitens idealistischer Menschen kam diese Idee bei den Stoikern, die durch ihre populär gehaltene Lehrwirksamkeit auch die politische Stimmung ihrer Zeit beeinflußten. Nach ihnen mußte jeder Bürger des Weltstaates unter der Ägide des allen Menschen gemeinsamen Logos das Wohl anderer ebenso eifrig betreiben, wie er seine persönlichen Eigeninteressen förderte (81).

Die Pflichtaufgaben, die für das Einzelindividuum den aktuellen Inhalt des Gemeinsinns bedeuten, gehen nun je nach dem natürlichen Zustand der Pflichtsubjekte erheblich auseinander.

Die Pflicht als Angelegenheit des Subjekts wird schon in ihrer materiellen Beschaffenheit beeinflußt vom natürlichen Status des Individuums. Es sind Momente vorhanden, die für die soziale Gestaltung der Lebensaufgaben unter Lebensbedingungen der Menschen entscheidende Bedeutung haben. Über diesen Punkt gleich im Folgenden.


Anthropologische Naturbestimmtheiten und
ihre soziologischen Äquivalente

Solcher Kriterien, die ich unter der Bezeichnung: anthropologische Naturbestimmtheit im Auge habe, gibt es wesentlich zwei: das eine liegt in der geschlechtlichen Differenz, das andere im Altersverhältnis.

Wenn wir von den Lebensgestaltungen der Menschen sprechen, schwebt uns wohl gewöhnlich als Menschentypus der Mann vor. Aber das geschieht nur  a parte fortiori [mit dem Recht des Stärkeren - wp]. Ein eigenes Element des soziologischen Mechanismus bietet die Stellung der Frauen. Folgendes mag aus dem ethnologischen Stoff zur Beleuchtung der Frage von der Machtstellung der Frau hervorgehoben werden.

Zwei Sätze scheinen in der Beurteilung der Frauen bei den Völkern die Grundfassung auszudrücken:
    1. Die Frau hat eine geringere Macht und dementsprechend einen niedrigeren Wert als die Männer;

    2. das dem Weib eigentümliche Machtgut wird als pflichtmäßiger Tribut an die Gattung vom Gemeinwesen bzw. der Haus- oder Familiengemeinschaft in Beschlag genommen.
Die soziale Minderwertigkeit der Frau drückt sich in ihrer durchgängigen Rechtsstellung aus. Im alten Rom war sie lebenslänglich unter Vormundschaft; es trat bestimmend für sie ein der Vater, der Ehemann, der mündige Bruder oder gar der Sohn. Im altgriechischen Recht nahm das Weib eine ähnliche Stellung ein. Es wurde rechtlich von seinem  kyrios  vertreten. Der  kyrios  war der Vater oder Ehemann. Die Witwe kam wieder unter die Obhut ihrer Agnaten, oder sie trat in den Schutz der eigenen Söhne (82). Diese soziale Behandlung der Frau ist altarischen Ursprungs (83); das brahmanische Gesetz schärft dieselbe mit theoretischer Konsequenz ein (84). Wie die Frauen ohne die soziale Macht sind, die sich z. B. in der legitimen Übernahme der Totenopfer für die Dahingeschiedenen manifestiert, so wird ihnen nach altarischem Recht auch jeder Anteil an der Erbschaft verweigert (85). - Die soziale Zurücksetzung der Frauen geht ortsweise bis zur völligen Erniedrigung. So sind die Frauen bei den Bogos völlig rechtsunfähig. Seine Auffassung von der Frauenfrage drückt dieses Volks so aus: Sie ist eine Hyäne, sie kann weder erben, noch bürgen, noch zeugen. Sie hat weder Recht noch Pflicht (86). Was rechtlos ist, kommt in die Gewalt desjenigen, der davon Besitz ergreift. Auf ihr ruhte und ruht noch vielfach bei den Naturvölkern die Last der Arbeit. Die primitive Arbeitsteilung ist die (87), daß der Mann der Jagd, dem Krieg und der Tierzucht obliegt, während die Frau als seine Dienerin, ja als Sklavin die Früchte einsammeln, gröbere wie leichtere Arbeit auf dem Acker, dazu die häuslichen Verrichtungen besorgen muß. (88) Mit dem siegreichen Emporarbeiten zivilisierter Zustände gelangt auch in diesem Punkt ein Prinzip zum Durchbruch, das besser dem Grundsatz entspricht, daß die Pflichten den Fähigkeiten korrelat sein sollen. Die Arbeit verteilt sich dann unter die beiden Geschlechter etwa so, daß der Mann die Rodung, die schwere Ackerarbeit und das Herausschaffen von Beute übernimmt, die Frau für die Bereitung der Speisen und der Kleidung, für den Haushalt, die Wirtschaft und die Kindererziehung sorgt. Die Lehre, die hierin liegt, scheint die zu sein, daß bei niedriger Lebensstufe eine Tendenz besteht, von der Macht einseitig das Recht [rechmac] abzuleiten, während schon bei mäßiger Kulturentwicklung die Macht, obwohl in den Einzelfällen in je verschiedenem Maß, vom wachsenden Gefühl der Verpflichtung begleitet wird. Zu erinnern ist hierbei, daß die Kultur zu einem nicht geringen Teil in einer wachsenden Selbstbesinnung auf die eigenen sozialen Kräfte mit darauffolgenden Organisationstendenzen besteht.

In Bezug auf das hier untersuchte soziologische Datum ist noch einiges hinzuzufügen. Nach der so verbreiteten Grundanschauung von der Minderwertigkeit des weiblichen Wesens bemaß sich der Anschlag des Verlustes der erlitten wurde, wenn das Weib aus dem Leben schied. Beinahe von überallher in der primitiven Völkerwelt hören wir, daß die Frau von ihrem Herrn mißhandelt und getötet werden konnte. (89) Für eine erschlagene Frau galt in älterer Zeit die Anschauung, daß sie einem Mann desselben Standes nicht gleichwertig ist. (90) Ihr Wert wurde vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gebärfähigkeit bemessen und war abhängig von ihrem Beitrag zu dem vom Hausherrn einer Familiengemeinschaft an sie gestellten Anforderungen (91). Hiermit stimmt eine eigenartige Sitte der Kabylen (92) überein, derzufolge das Weib eine günstigere Rechtsstellung erhält, ja erst dann Rechtssubjekt wird, wenn ihr Alter sie zu keiner produktiven Quelle mehr für die vom Mann beherrschte Familiengemeinschaft macht. Auf diese Weise sehen wir, wie aus der machtlosen Naturverfassung sich ihr sozialer Wert rechtlich bemaß (93), und wie die ihr von Natur geschenkten Lebensgaben oft rücksichtslos von der Gemeinschaft für deren Zwecke ausgenutzt wurden.

Als zweites Hauptmoment der anthropologischen Naturbestimmtheit stellt sich das Altersverhältnis dar. Die Macht, das praktische Handlungsleben und dementsprechend die Pflicht haben erst nach der Erreichung einer gewissen Altersstufe ihren vollen Umfang. In einem Lebensstadium, wo die körperliche Stärke, der Charakter, vor allem der Verstand noch nicht entwickelt sind, wird allgemein das Menschenwesen sozusagen niedriger taxiert und der von der Pflicht auferlegte Maßstab etwas modifiziert. Im modernen Leben tritt das Recht in seinen verschiedenen Zweigen, das öffentliche, das Zivil- und das Strafrecht, der mehr oder weniger vollgereiften Rechtspersönlichkeit in sorgfältig abgewogener Weise gegenüber. Es wird in der Gesetzgebung acht darauf gegeben, ob das vom Gesetz vorausgesetzte Verständnis auch wirklich in den Einzelfällen vorhanden ist oder vorhanden sein kann. Gegen den Einsichtigen und Einflußreichen verlangt das moderne Rechtsbewußtsein ein geschärftes Strafverfahren. Vor allem aber will man ein gewisses Alter haben, um die Pflichtforderungen in ihrer rigoristischen Strenge aufrecht zu erhalten. In Deutschland geht das Kind unter 12 Jahren straffrei aus. Unkenntnis des Gesetzes entschuldigt den noch nicht 18jährigen. Der jugendliche Täter wird als weniger zurechnungsfähig glimpflicher bestraft (94). - In ähnlicher Richtung bewegt sich das Urteil auch bei Naturvölkern der jetzigen Welt, so wie im Altertum und bei unseren von der Kulturmacht berührten Vorväter. Ein allgeläufiger Gedankengang hat in der machtlosen Unmündigkeit einen niedrigeren Grad der Straffälligkeit erkannt. So z. B. die Germanen (95), und heutzutag die Kabylen (96). Das Mündigkeitsalter ist ja verschieden in den verschiedenen Ländern (97). Oft ist die Bestimmung eines formellen Aktes erforderlich, um die Mündigkeitserklärung zu vollziehen. So besonders im islamischen Recht. (98) Dies markiert treffend die soziologische Bedeutung des Übergangs zur vollen Rechts- und Pflichtfähigkeit. Die Römer haben mit richtigem juristischen Takt in der Tutel [Vormundschaft - wp] eine Macht des Gereifteren über einen Freien oder Unentwickelten (vis ac potestas in capite libero [Macht und Kontrolle über einen freien Menschen - wp]) erkannt. Sie war hier ein genau geregeltes sozial bedeutsames Institut, dessen wesentliche Idee war, in geschäftlichen wie in anderen praktischen Angelegenheiten sich der relativ Unbefähigten schützend anzunehmen (99).

Die vormundschaftliche Befugnis ist geeignet, im Wettbewerb sozialer Kräfte bedeutsam mitzuwirken. Oft finden wir darum in der Geschichte dieses Regiment zweiter Hand in der Gesellschaft auch auf Verhältnisse bezogen, die der Idee nach nicht hierher gehören (100): eine neue Bestätigung der sozialen Wahrheit, daß die Machtlosen nicht nur eine Erleichterung ihrer Pflichten, sondern auch eine Einschränkung ihrer Rechte erfahren.


Die soziale Wertung der Individuen

Die Lebensmacht und entsprechenderweise die soziale Bedeutung der verschiedenen Individuen stuft sich, wie das Vorangehende zeigte, bedeutsam ab. Ein eigenartiges volkstümliches Institut hat dies drastisch in der Geschichte zum Ausdruck gebracht. Das ist die Tarifierung der Personen, wie sich dieselbe in mehreren Gesetzessammlungen findet. Sie bildet sich im Zusammenhang mit dem Übergang von der Blutrache zur Komposition, d. h. der Entrichtung einer Geldbuße: das Wergelt an die Verwandten des Getöteten oder an die Behörden, den König oder die Gemeinde. Dasselbe System kam auch bei Verletzungen von Personen an Leib und Gliederung zur Geltung; in den Preissatzungen, die das Bußgeld in jedem Fall darstellen, haben wir ein rechtlich fixiertes Urteil über den sozialen Wert eines Menschen und seiner Fähigkeiten.

Die Bußtaxe erscheint oft auf das Peinlichste abgemessen und geregelt; sie bestimmt sich nicht nur nach der Art des Verbrechens oder der Schädigung (101), sondern auch nach der an Wert ungleichen Personen, die beleidigt, bzw. getötet wurden. Wir finden eine feste Taxe nach Stand, Geschlecht, Alter. So enthält das chinesische Gesetz eine vollständige Taxenlisten über die verschiedenen möglichen Körperverletzungen (102). Ähnlich das altjapanische Recht (103), wie das Islamrecht (104). Im attischen Recht vernehmen wir zwar nichts darüber, und in der geschichtlichen Zeit ist es auch aus dem römischen Recht entschwunden; aber im alten Gesetz der kretischen Stadt Gortyn ist das Wergeldsystem entwickelt (105). Bei den alten Indern war es zuhause (106) und findet sich dann bei den Kelten wie bei den Germanen wieder (107). Die Afrikaner haben gleichfalls eine Tarifierung des Blutpreises aufgestellt (108). Ungünstig stehen die Frauen und Kinder (109), um nicht von den Sklaven zu sprechen. Bei den Azteken konnten bei Hungersnöten mißgestaltete Personen nach Belieben getötet werden (110). Die Gemeinschaft versagte den wirtschaftlich Invaliden ihren Schutz.

In der modernen Gesellschaft könnte man noch eine Spur dieser Wertungspraxis in der noch vielfach bestehenden altgermanischen Bestimmung finden, wonach schon der Versuch des Mordes am Souverän mit Todesstrafe belegt ist (111). - Auch in Bezug auf die Körperverletzung ist eine Analogie aus dem modernen Strafgesetz da. Es bildet sich in der Strafabmessung eine natürliche Skala nach der Bedeutung des verletzten Gliedes oder der Gefährlichkeit der Wunde (112). Es kann auch der moderne Mensch nicht umhin, stillschweigend eine Wertsetzung der verschiedenen Personen nach einem sozialen und wirtschaftlichen Maßstab auszuführen. Der Zusammenbruch eines verdienstvollen, einflußreichen Mannes wird von uns auch aus diesem Grund als besonders bedauernswert empfunden, während wir bei einem gemeinen Menschen nicht umhin können, eine niedrigere Wertsetzung seiner soziologischen Existenz zu vollziehen, wenn wir sehen, wie destruktive Kräfte an ihm arbeiten. (113)

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit von diesem speziellen Punkt einer herkömmlichen oder individuell ausgeführten Taxierung der Einzelnen zu einer allgemeinen Bestimmung der sozialen Werturteile, so finden wir in in der Völkerwelt eine große Einmütigkeit. Den vollen Typus menschlicher Kraft findet man im erwachsenen Mann, und zwar wird zunächst als Darsteller der persönlichen Macht lediglich derjenige betrachtet, der innerhalb eines relative bekannten Kreises seine Fähigkeiten an den Tag legt, d. h. der Mensch ist der Blutsverwandte, der Staatsgenosse, der Mitbürger und Teilhaber am gemeinsamen Stammesbesitz. Äußerlich tritt er in dieser Eigenschaft hervor, ausgestattet mit zwei besonderen Insignien. Er ist erstens zeugnisfähig. Nur das (freie) Landeskind hat, einer verbreiteten alten Rechtsanschauung gemäß, vor dem Gericht als Zeuge Gehör (114), und nur er übt im Land praktische Rechte aus. Wie der Staat verwaltet werden soll, wie Straf- und Zivilrecht ausgeübt, die Beamten gewählt und ihre Kompetenz bestimmt werden soll, das sind Rechtsfragen, die überall allmählich mehr oder weniger vollständig in den Einflußkreis urteilsfähiger Bürger hineingezogen worden sind, und die Bürger waren allerwärts die Männer, die vollentwickelten Träger menschlicher Energie (115).

Nur vereinzelt finden wir in den primitiven Gesellschaften die Frauen zu ähnlichen Rechten gelangen, so daß sie z. B. an den gemeinsamen Ratschlägen teilnehmen, bei den Volksversammlungen mitreden (116). Dem Fremden gegenüber war man nicht nur abweisend, sondern man begegnete ihm bei niedriger Kulturstufe mit Mißtrauen und suchte sein Verderben. In dieser Richtung ging bekanntlich das politische Gefühl der alten Kulturvölker, und selbst den modernen Nationalstaaten ist die Erscheinung nicht ganz fremd, um nicht von den auf niedriger Stufe gebliebenen Naturvölkern unserer Tage zu sprechen (117). Eine vielverbreitete Rechtsanschauung erkennt nur auf vollen persönlichen Wert des Individuums bzw. auf effektive Rechtsfähigkeit desselben, wo dasselbe als Staatsangehöriger oder Schutzgenosse in dem für einen Bürger wesentlichen Machtgebiet festen Fuß gefaßt hat. Die Erklärung hat letzter Hand derjenigen psychologischen Tatsache Rechnung zu tragen, daß nur dort das zur billigen Wertschätzung nötige persönliche Verhältnis zwischen Objekt und Subjekt zu irgendeiner Macht gelangt, wo gewisse innere Beziehungen von Mensch zu Mensch realisiert werden. Die Grönländer sind einander gegenüber ehrlich, aber von den Holländern etwas zu stehlen hatten sie, wie EGEDE konstatieren konnte (118), kein Bedenken, weil - wie sie argumentierten - "die Holländer ja nicht unsere Sprache reden". Ähnlich gilt die Verletzung ausländischen Eigentums unter den Bogos keineswegs als Verbrechen (119). Wer ohne Grundbesitz oder Bürgerrecht in einem Land war, war einer allgemein verbreiteten Betrachtung zufolge auch ohne rechtliche Garantien. Denn welche Argumente hatte er für seine Macht? Im mittelalterlichen Europa war es lange Sitte, daß der Landesherr entweder ganz den Nachlaß des im Land gestorbenen Fremden einzog oder jedenfalls eine bedeutende Abgabe davon erhob (jus albanagii) (120).


Die Reproduktion des menschlichen Lebens
durch den Generationswechsel

Seine Aufgabe als produktives Element des sozialen Getriebes erfüllt der Mensch nicht lediglich als ein Individuum, das sich an der Erledigung der augenblicklichen sozialen Bedürfnisse beteiligt. Er ist auch ein integrierendes Glied einer lebendigen Kette von Menschen, durch deren Zahlengröße die Macht der Gemeinschaft bedingt ist; an einen Bürger, der seiner Machtstellung vollständig genügen soll, knüpft das Gemeinwesen die Hoffnung, daß er eine Nachkommenschaft hinterläßt. Auch unter einem individuellen Gesichtspunkt betrachtet, haben wir es in diesem Punkt mit einem Machtideal zu tun. Denn jedem Leben, dem eine natürliche Kraft innewohnt, eignet die Tendenz, sich selbst zu behaupten, wie das Licht, das einmal angezündet wird, sich selber erhält, solange es nur Brennstoff vorfindet. Das Kinderhaben ist darum für das individuelle Gefühl ein erwünschtes Fortleben im Geschlecht, wie es für die Gemeinschaft eine Existenzbedingung ist, daß sie sich durch viele Geburten immer neue Kraftzufuhr verschafft (121). Aus den Werturteilen, die hieran anknüpfen, erklären sich verschiedene Sitten und Bestimmungen bei Völkern auf primitiver Lebensstufe.

Im altarischen Recht ist die Erhaltung des Herdfeuers und das Fortbestehen des Hauses durch den Generationswechsel hinduch die Hauptsorge des Hausvaters und der Hausmutter (122). Die Idee der Forterhaltung des Lebens durch den Generationswechsel hat unter den Völkern oft eine mystisch metaphysische (123) oder religiöse Form. Nach dem Tod des Erzeugers können nach indischer Anschauung allein die auf Gottes Erde am Leben gebliebenen Söhne, auf die das Leben des Vaters substantiell übergeht, die so wesentliche Obliegenheit der Opferung an die Götter vollziehen und dadurch den Zustand der aus der Welt Geschiedenen beeinflussen. Man erkennt hierin leicht eine religiös gefärbte Version derselben Idee von den am irdischen Dasein haftenden wesentlichen Betätigungen, in denen sich die Kraft und der Sinn des menschlichen Lebens verwirklichen (124). Es sind in Indien eben die Erben, die, zugleich mit der Macht und den Aufgaben der übrigen Erbschaft in erster Linie die Funktion übernehmen, Totenopfer für den Erblasser auszuführen (125). So wirkt im primitiven Ideenleben bald das religiöse Selbstinteresse des Zeugungsunfähigen, bald eine religiös-soziale Maxime allgemeinerer Art auf dasselbe Ziel des Kindersegens hin. Im Zend-Avesta wird, unter Anführung von religiösen und politischen Argumenten, die Kinderzeugung den Menschen mahnend empfohlen (126).

Das eheliche Zusammenleben der Geschlechter, das die Nachkommenschaft bedingt, gibt, unter dem hier entwickelten Gesichtspunkt betrachtet, Anlaß zu interessanten Rechtsansichten und Gebräuchen. Daß Kinderlosigkeit ein sehr allgemein anerkannter Scheidungsgrund ist, wurde oben schon vermerkt. Aber was mehr ist, die Öffentlichkeit, die in einer reichen Volksvermehrung ein wertvolles Machtkapital erkennt, greift manchmal zu disziplinarischen Maßregeln und politischen Statuten, um das Interesse der Gemeinschaft zu fördern (127). Im altarischen Recht hatte in diesem Punkt der Gedanke, daß das Rechtsgut an die Machtbetätigung anknüpft, eine derartige energische Betonung, daß, wer keine Kinder zeugte, eine geringere Rechtsfähigkeit besaß; nur der Vater von Söhnen galt als klassischer Erzeuger. (128) In germanischen Ländern war es allgemeiner Brauch, daß der Staat bei eintretendem Todesfall das Vermögen lediger Leute an sich zog (129). In der Zendreligion ist das hier erwähnte allgemeine Interesse an der Erhaltung des Lebens, wie schon bemerkt wurde, ein stark hervortretender Zug. Im Avesta findet sich eine große Reihe von Vorschriften bezüglich der Fortpflanzung des Geschlechts; um für das Leben Kraft und Keim zu bewahren, sind die minutiösesten Bestimmungen aufgestellt. (130) In der Vernichtung der Zeugungsfähigkeit, der Abtreibung der Leibesfrucht und dgl. hat der Staat von jeher eine Bedrohung seines Bestehens erkannt; bisweilen greift das Staatswesen zu positiven Gegenmitteln. Die französischen Könige übten noch im 17. Jahrhundert Druck auf die Untertanen im Interesse der Bevölkerungsvermehrung in der Kolonie in Kanada (131). LUDWIG XIV. verordnete in Kanada eine Strafe gegen den Vater, der seine Kinder nicht verheiratet hatte, wenn sie das Alter von 20 oder 16 Jahren erreicht hatten (132). In Rom wurde zur Kaiserzeit das Übel der Kinderlosigkeit vom Staat stark empfunden. Die  lex Julia et Papia Poppaea  des AUGUSTUS suchte der Gefahr durch eine energische Gesetzesverordnung zu steuern. Das Gesetz entzog den Ehe- und Kinderlosen letztwillige Zuwendungen und erschwerte ihre soziale Stellung auch noch durch sonstige Bestimmungen, wodurch sie gegen die Verheirateten und Kinderreichen zurückgesetzt wurden (133). Letzteres findet sich auch sonst als eine unter den Völkern relativ verbreitete Rechtssitte.

Es verrät auf Schritt und Tritt ein Instinkt zum dem Zweck, daß die Machtherrlichkeit des menschlichen Lebens auch weiter fruchtbar gemacht werden soll; auf dem Weg der Pflicht soll die Möglichkeit der Fruchtbarkeit zur Wirklichkeit gefördert werden. An vielen Orten wird polizeilich dagegen reagiert, daß das jüngste Glied mit einer Überspringung des älteren heiratet; das ältere hat ein sittliches Anrecht, nicht beiseite geschoben zu werden (134). Die Frauen, die gebärfähig sind, sind einem naiven Volksurteil zufolge auch zu Recht dem natürlichen Zweck disponibel zu machen. Ein Volksrecht  de facto  wird durch die Raubehe bezeichnet, die, nach zahllosen Zeugnissen zu urteilen, allgemein in der Geschichte der Menschheit der Kaufehe und der noch späteren Neigungsehe vorausgegangen ist (135). In Indien ist es eine Obliegenheit des Hausvaters, dafür zu sorgen, daß die Töchter, so wie sie mannbar werden, verheiratet werden (136). Diese Pflicht erscheint gelegentlich bis in das Barocke gesteigert. Der Vater wird verantwortlich gemacht für die Frucht, die mit den Menses [Periode - wp] einer unverheirateten Tochter abgeht (137). Das ganze Phänomen hat sein Analogon in der später zu besprechenden vielverbreiteten Rechtsidee, die vom Eigentümer eines Grundstücks die Nutzung desselben gewissermaßen zwangsweise fordert.


Zusammenfassung und Rückblick

Das kausale Verhältnis zwischen den Begriffen  Macht  und  Pflicht,  das sich, beleuchtet durch physikalische Tatsachen und biologische Analogien, aus allgemeinen ethischen Erwägungen mit logischer Notwendigkeit ergab, muß im Licht soziologischer Erscheinungen und charakteristischer Instanzen aus der ethnologischen Jurisprudenz betrachtet werden. Dabei kommt, wie von vornherein zu erwarten war, auch manches in Betracht, was nicht nur direkt die Korrelation der Doppelbegriffe, sondern auch die Ausprägung und das soziologische Wesen des einen der beiden Begriffe ausdrückt. Dieser Begriff ist der Machtbegriff als die Basis des Theorems. Von einer Seite besehen, liefert aber jedenfalls die Untersuchung über die soziale Machtökonomie einen direkten Ertrag für unsere Frage. Wir werden uns erinnern, daß das Problem  Macht und Pflicht  einer doppelten Auffassung fähig ist. Das Wesentliche, was unsere Theorie programmäßig ausdrückt, besteht darin, in der erworbenen, von Natur und Recht übertragenen Macht eine sozialethische Quelle, ein vitales Unterpfand der Pflicht zu sehen. Daneben steht, obwohl im Bewußtsein zurückgedrängt, die andere Auffassung des Problems, die in einem gewissen Sinn die Begriffe umkehrt und betont, wie es Pflicht sei, die Macht zu fördern und zu stärken. In Wahrheit ist diese Theorie in der ersterwähnten schon enthalten; denn was ist der Inhalt der von einem Machtsubjekt ausgeübten Pflicht, wenn nicht wiederum Macht zu erzeugen? Auf das Vorliegende angewendet, ergibt dies folgendes: Aus dem Leben der Völker drängt sich bedeutsam für unsere Begriffsuntersuchung etwas hervor, was die Machtökonomie der Völker bezeichnet. Oftmals handelt es sich dabei um einen Inhalt, der richtig durch Macht und Recht zu bezeichnen wäre. Es ist dann zu beachten, daß das Recht, als auf Anerkennung anderer beruhend, eine obligatorische Seite hat, ein Pflichtmoment ausdrückt, daß mit anderen Worten das "Macht und Recht" für eine rechtsphilosophische Auffassung in dem "Macht und Pflicht" theoretisch enthalten ist.

Als erster Gegenstand ist die Macht als grundwesentlicher sozialer Faktor in ihrem volkstümlichen Aspekt zu vergegenwärtigen. Das populäre Urteil wie der Rechtsinstinkt gehen darauf aus, nur solches anzuerkennen, was sich irgendwie energisch betätigt; mit der Persönlichkeit, die sich machtlos gebärdet, ist das rechtsschützende Volksurteil bald fertig; mit einer Sache ohne eine gewisse Erheblichkeit beschäftigt sich das Recht nicht, wie klar auch immer ihre rechtliche Beschaffenheit, formell betrachtet, wäre. An erster Stelle unter den Rechtsgütern steht das Leben selbst, die Bedingung aller menschlichen Macht. Die primitivsten Rechtssatzungen sind im Interesse der Erhaltung des Lebens und zur Sicherung der Lebensbedingungen gebildet. Eigentümliche Rechtsbestimmungen bezüglich des Weibes als Mittel der Fortpflanzung des Geschlechts drücken bei den Völkern den Gedanken vom Machtwert des Lebens nachdrücklich aus. Einer allgemeinen Anerkennung erfreut sich der Rechtsinstinkt, der jeder Bedrohung des Lebens mit Gewalt begegnet. Diese rücksichtslose Selbstbehauptung ist auch dem modernen Rechtsgefühl bekannt, was der gesetzliche Begriff des Notstandes und die Anerkennung des Notwehrrechts beweist. Eine eigenartige Bestätigung des Gedankens, daß umgekehrt zur Statuierung einer Verpflichtung die Fähigkeit ein notwendiges Korrelat bildet, findet sich in der auch vom modernen Recht anerkannten Rechtsregel der  fors major.  Im übrigen ist gerade in diesem Punkt, also zum Schutz des Lebens und der natürlichen Lebensbedingungen, das Recht als ein konstruktiver Faktor unter den Völkern auf das furchtbarste verwertet und mit einem ansehnlichen Aufgebot der Einbildungskraft entwickelt worden. Die Idee des souveränen Rechts des Lebens, das ja nicht nur dem Individuum, sondern dem Gemeinwesen nützlich ist, manifestiert sich auch in der vielverbreiteten Rechtssitte, den Selbstmörder mit Schmähungen und Strafe zu verfolgen; auch weitere rechtsgeschichtliche Phänomene, die an die Frage der Selbstentleibung anknüpfen, bestätigen die Idee, daß das Gemeinwesen das Leben des Einzelnen rechtlich für sich beansprucht. Hierher gehören Strafdrohungen gegen den moralischen Urheber der von einem anderen vollzogenen Selbstentleibung und das sogenannte Dharmarecht.

Wie im ursprünglichen Gefühl der Naturvölker das Leben unter dem Gesichtspunkt einer energetischen Erscheinung fällt, findet in einigen ihrer Sitten einen finsteren Ausdruck. Die Kinder werden oft nach der Geburt ausgesetzt und die Alten und Invaliden ohne Stütze ihrem Schicksal überlassen oder gar getötet. Eine Tendenz, das Vollrecht des Lebens anzuerkennen, besteht nur dort, wo das Vorhandensein einer gewissen Energie die Existenz charakterisiert. Anscheinend das moralgeschichtlich stärkste Gegenteil liegt im mütterlichen Instinkt vor; man würde sich aber irren, wenn man der zuvorerwähnten Vernichtungspraxis ein direkt grausames Gefühl unterschieben würde; andererseits ist die instinktive Mutterliebe nicht ganz ohne energistische Bedingtheit; sehr oft zeigt sich in ihr ganz deutlich der emotionale Trieb modifiziert durch den Willen der Art, der eine Auswahl trifft, und der auf diese Weise mittels einer wenig durchsichtigen biologischen Funktion den Umsatz potentieller Energie in aktuelle Macht besorgt. - Der instinktiven Neigung der Mutter bzw. der Eltern, an der Entfaltung der Lebenskraft behilflich zu sein, steht ein anderes soziologisches Datum psychologischer Natur zur Seite, nämlich das Solidaritätsgefühl unter den Menschen. Schon im Tierreich wirken sichtlich analoge Kräfte; im menschlichen Zusammenleben erhalten die Individuen vom genannten Gefühl einige ihrer allerersten Lektionen; bereits in den ältesten staatlichen Verbänden und bei den ersten Sozialtheoretikern und Organisatoren kommt das Solidaritätsgefühl energisch und vielfältig zu Wort. Eine wesentliche Scheidung der zu einem Gemeinwesen gehörenden Individuen, ihrer energetischen Beschaffenheit gemäß, wird durch die Natur selbst bedingt. Es kommen als anthropologische Naturbestimmtheiten, wie ich sie nenne, vornehmlich zwei Tatsachen in Betracht: die geschlechtliche Differenz und das Kindesalter. Die Frauen sind sozial überall als minderwertig geachtet worden, ihre natürlichen Gaben wurden für die Zwecke der Familie unbedingt usurpiert, und in Bezug auf die Kinder ist von jeher das unreife Alter mit einer entsprechenden Unfähigkeit ein Kriterium für die Rechte, die man ihnen zugesteht, ein Regulator für die Pflichten, die man von ihnen verlangt. Wie natürlich dem naiven Menschen eine dynamistische Wertung der Individuen ist, zeigt sich besonders schlagend an dem ziemlich allgemein entwickelten Rechtsgebrauch, im Interesse einer Bußdisziplin den Wert der Personen, sowie ihrer verschiedenen körperlichen Fähigkeiten tarifmäßig zu bestimmen. Der Unfreie, die Frau und das Kind stehen hier am niedrigsten; als der volle Typus menschlicher Kraft steht der erwachsene Mann da, und zwar als derjenige, dessen Fähigkeiten und Lebensgewohnheiten in einem gewissen Kreis des öffentlichen Lebens hervortreten als Blutsverwandter, Staatsgenossen, Teilnehmer am gemeinsamen Stammesbesitz. Seine zu Recht bestehende Macht bezeugt sich darin, daß er, und er allein, zeugungsfähig ist und politische Rechte hat. - Für die Kontinuität dieser menschlichen Machterscheinung sorgt die durch Fortpflanzung vermittelte Selbstergänzung der Bürger. Es fallen manche Instanzen aus den volkstümlichen Rechtssitten und Lebensgebräuchen auf, die da bezeugen, wie der Wille des Individuums und des Gemeinwesens, durch den Wechsel der Generationen das Leben zu erhalten, sich auf nachdrückliche, oft dabei sonderbare Weise äußern kann. Das ist das Schlußstück eines Kapitels, das die Lebenskraft und die Lebenserhaltung in ihrer gegenseitigen Beziehung zum Gegenstand hatte.
LITERATUR Anathon Aall, Macht und Pflicht, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Die Kraft, die die Weltkörper in geregelter gegenseitiger Bezogenheit hält, die Kraft, die Licht von einer Weltecke zur anderen ausschüttet, die Kraft, durch die das Leben der organischen Wesen gegen Auflösung kämpft, die Kraft durch die der Intellekt verborgene Zusammenhänge der Natur entziffert, die Kraft schließlich, durch die menschliche Charaktere sich selbst und die Gattung einer stetigen Vervollkommnung entgegenbringen: ist es gestattet, dies alles als die Offenbarung eines einheitlichen die Wirklichkeit konstituierenden Weltprinzips anzusehen? - - - Meines Erachtens ist die Philosophie eines metaphysischen Urteils in diesem Sinne zuerst einmal nicht fähig. Aber ein späteres Zeitalter mag Mittel haben, um die in der Frage gestellte Aufgabe zu bewältigen. Ich erwarte von der Zukunft eine bejahende Antwort.
    2) ERNST MACH, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1897, Seite 80
    3) Ganz wie man ein Mensch sein muß, um zu faulenzen. Wendet man den Begriff auf Tiere an, so ist immer etwas gemeint, das, wenn nicht vom betreffenden Tier ausgeführt, durch Menschen hätte besorgt werden müssen, und allgemach dem Menschen zugute kommt. Der Ochse arbeitet, wenn er pflügt, aber nicht eigentlich das Eichhörnchen, das für sich den Wintervorrat sammelt, geschweige denn der Fluß, der in Wasserfällen und Wirbelgängen der See entgegeneilt, oder gar die Windmühle, die Tag und Nacht "arbeitet".
    4) Es wäre, um die Liste etwas zu vervollständigen, hier noch der Begriff  Ursache  zu erwähnen. Einer geläufigen Logik gemäß kann unter Umständen eine Kraft, die von einem gewissen Zentrum ausgeht, bei einem Gegenstand außerhalb des erstgenannten Objektkreises einen bestimmten neuen Zustand hervorrufen. Die Kraftquelle ist die Ursache, der neue Zustand des zweiten Objekts bezeichnet die Wirkung. Man spricht von kleinen Ursachen, die von großen Wirkungen begleitet werden können. Die erwähnte Ansicht beruht auf einer Täuschung. Der einzige Sinn einer Disjunktion [Unterscheidung - wp] der beiden Begriffe  Ursache  und  Wirkung  besteht darin, für den Beobachter das Zeitdifferential auszudrücken, das den Übergang von einer Form der betreffenden Erscheinung in eine andere bezeichnet. Wie es sich mit den sogenannten Auflösungen bei gewissen chemisch-elektrischen Prozessen verhält, siehe WILHELM OSTWALD, "Vorlesungen über Naturphilosophie", Leipzig 1902, Seite 299f. Der reale Inhalt bei sogenannten Ursachvorgängen ist eine örtliche Änderung oder phänomenale Wandlung der nämlichen Energie. Ich habe dies schon früher anderswo ausgeführt (Vort sjaelelige og vort ethiske liv Christiania, 1900, Seite 92f). Nur eine einzige einheitliche Tatsächlichkeit liegt im Grund vor. Die Teilung ist ein methodischer Kunstgriff unseres diskursiven Denkens. Bisweilen ist es nicht leicht, die beiden Momente  Ursache  und  Wirkung  in eine einzige Tatsache zu verschmelzen. Wo hört die Quelle auf, weil der Strom anhebt, wo endet der Fluß, weil die Mündung beginnt? - Aber Quelle, Fluß und Mündung, was sind sie schließlich anderes als eine kontinuierlich zusammengehörige Masse fließenden Wassers? Gegeben ist eine gewisse Anzahl gleichmäßig einwirkender Fälle, ferner gegeben ein mehr oder weniger kritisch gereinigter Eindruck von gleichmäßigen Vorstufen oder Vorläufern dieser Fälle, und es setzt sich der Glaube fest, daß zwischen zwei Vorstellungselementen, die wir nunmehr "Ursache" und "Wirkung" nennen, eine notwendige Beziehung besteht. Der Glaube an diese Notwendigkeit mag bestehen, aber nicht der an ihr mystisches Wesen. Bei einer kritischen Analyse löst sich der duale Begriff  Ursache  und  Wirkung  in eine einheitliche logisch qualifizierte  Kraftmanifestation  auf.
    5) Ich sehe im  Raum  den Neutralisierungspunkt der physikalischen Kräfte, d. h. er ist ansich gegenstandslos, weil ohne Eigenenergie; er  bedeutet  für uns, die wir die sogenannte äußere Wirklichkeit erleben und bestimmen, die Tatsache, die diese Wirklichkeit möglich macht; verschieden vom idealen Raum, dessen Konstruktion eine philosophische Notwendigkeit ist, ist die subjektive Raumvorstellung, die aus gewissen intellektuell geordneten Sinneserfahrungen abstrahiert ist, und deren psychologische Analyse eigene Probleme aufstellt.
    6) Freilich zu apodiktisch muß man in diesem Punkt nicht räsonnieren. Die Belege für die Richtigkeit einer theoretischen Aufstellung könnten fehlen, nicht weil derlei bestätigende Instanzen nicht vorhanden wären, sondern ebenso gut, weil sie in ungenügender Weise aus dem menschlichen Leben hervorgezogen würden. Es wird dies so bei mehr als einer Wahrheit gewesen sein.
    7) Ich komme später auf den Punkt zurück. Wenn bei STOBAEUS (Florilegium, 1535, Kap. 44, 41) auch von den alten Persern bezeugt wird, daß bei ihnen jeweils nach dem Tod des Königs fünf Tage lang die vollständigste Gesetzlosigkeit eintrat und dann noch die Erklärung hinzugefügt wird, "damit sie einsehen können, welchen Wert König und Gesetz haben", so ist die Interpretation eine willkürliche Erfindung des Berichterstatters. Die Rechtssitten der Völker führen nicht auf moraltheoretische  Experimente  zurück.
    8) J. KOHLER, Gewohnheitsrechte der indischen Nordwestprovinzen, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 11, Seite 193.
    9) Ein Mann, der seine ehebrecherische Frau noch behielt, verlor sein Bürgerrecht. (Siehe WEBER, Weltgeschichte, Bd. 2, Seite 253)
    10) BGB § 965.
    11) WERNER MUNZINGER, Über die Sitten und das Recht der Bogos, Winterthur 1859, Seite 24. "Laster, die den Rechten des Nachbarn nicht zu nahe treten, sind keineswegs Verbrechen. Der Familienstaat kümmert sich nicht darum."
    12) WILDA, Das Strafrecht der Germanen, Halle 1848, Seite 875
    13) vgl. außer älteren Berichterstattern neuerdings Fr. NANSEN, Eskimoliv, Christiania 1891, Seite 140.
    14) JACOB GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer, Göttingen 1881, Seite 443f. Wie die rechtsbildende Phantasie sich lebhaft mit dem Gegenstand beschäftigte, beweisen die barocken Aushilfsmittel, die man ortsweise im Fall männlicher Impotenz ersann; siehe daselbst Seite 455.
    15) WEBER, Weltgeschichte, Bd. 2, Seite 253. Auch PLATO will (Gesetze VI, 23, 784) in Fällen, wo die Ehe kinderlos bleibt, eine Scheidung "in beiderseitigem Interesse".
    16) Im Islam bietet eine schwere Krankheit einen Ehehinderungsgrund. (KOHLER, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 12, Seite 10).
    17) GRIMM, a. a. O., Seite 405
    18) WILDA, a. a. O., Seite 573
    19) KOHLER, a. a. O., Seite 406
    20) von JHERING, Geist des römischen Rechts, Bd. I, vierte Auflage, Seite 82
    21) von JHERING, a. a. O., Seite 174f und 222, sowie die Ausführung des Gedankens Seite 107f.
    22) B. W. LEIST, Altarisches jus gentium, Jena 1892, Seite 464.
    23) LEIST, ebd. Seite 325f
    24) J. KOHLER, Rechtsvergleichende Studien, Berlin 1889, Seite 146.
    25) Vgl. auch die humane Rechtsregel des Ahanta-Stammes (an der Goldküste in Afrika). Siehe ALBERT POST, Afrikanische Jurisprudenz, Bd. II, Oldenburg 1887, Seite 165.
    26) Vgl. die temperamentvolle Ausführung des Gedankens, daß Notwehr nicht nur Recht, sondern geradezu Pflicht ist, bei von JHERING, Der Zweck im Recht, Leipzig 1893, Bd. I, Seite 259.
    27) vgl. im Deutschen Recht: Das Strafgesetztbuch des Reiches (OPPENHOFFs Ausgabe, 1896) § 52.
    28) vgl. A. EXNER in  Grünhuts  Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht, Bd. 10, Seite 497f.
    29) Bei den höheren Tieren nimmt man manchmal ein augenscheinliches Bestreben wahr, sich nicht unmotiviert gegenseitig Schaden anzutun. Wem ist nicht die Großmut aufgefallen, mit der die Pferde, auch wenn sie von den Hunden geärgert werden, es sorgfältig vermeiden, diese zu treten?
    30) SAALSCHÜTZ, Das mosaische Recht, Berlin 1853, Seite 545.
    31) ALBERT POST, Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft, Oldenburg 1880, Bd. II, Seite 220.
    32) WILDA, a. a. O., Seite 141
    33) W. A. MACIEIOWSKI, Slavische Rechtsgeschichte, Stuttgart 1835, Seite 282.
    34) VALERIUS MAXIMUS II, 6, 7.
    35) In Athen wurde die selbstmörderische Tat mit einem Abhauen der rechten Hand oder mit dem Verlust der gebräuchlichen Totenehren bestraft. Siehe THALHEIM, Lehrbuch der griechischen Rechtsaltertümer, Bd. II, Leipzig 1895, Seite 51. Bekannt ist die harte und beschimpfende Behandlung des Selbstmörders im christlichen Mittelalter.
    36) Vgl. in "The Journal of the society of comparative Legislation", New Series Nr. 2, 1899. E. MANSON, Suicide as a crime, Seite 316f.
    37) KOHLER, Zeitschrift a. a. O., Seite 409
    38) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 11, Seite 456f.
    39) Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 8, Seite 126.
    40) KOHLER, Rechtsvergleichende Studien, Seite 238.
    41) In der Provinz Audh im nordwestlichen Indien fand man diese eigentümliche Rechtssitte in Übung. Die Brahmanen griffen zu diesem Mittel auch im Interesse Dritter; sie drohten z. B. den Hungertod zu sterben, wenn der Bräutigam seine Braut verstoßen wollte usw. (siehe KOHLER, Zeitschrift a. a. O., Bd. 11, Seite 179f.
    42) SPINOZA, Ethik IV, 25.
    43) HERMANN, Lehrbuch der griechischen Antiquitäten, Bd. 4; BLÜMER, Griechische Privataltertümer, Freiburg i. B. 1882, Seite 76f; vgl. W. ROSCHER, Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart 1900, Seite 775f.
    44) O. KARLOWA, Römische Rechtsgeschichte, Leipzig 1892, Bd. II, Seite 81.
    45) GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer, Seite 455.
    46) Norges gamle Love Gulath, 1, 21. Vgl. BORGATH, 1, 1
    47) HOUZEAU, Ètudes II, Seite 98
    48) HOUZEAU, a. a. O. II, Seite 37
    49) Ch. LETOURNEAU, La Sociologie d'aprés l'ethnographie, Paris 1892, Seite 144f.
    50) HOWITT in dem Werl von L. FISON und A. W. HOWITT, Kamilaroi and Kurnai, Melbourne 1880, Seite 189. ("Ich kann mich nicht erinnern, Eltern jemals ein Kind geschlagen oder grausam behandelt zu haben.")
    51) Die Erklärung der Kurnai an HOWITT (a. a. O., Seite 190): Sie haben niemals irgendwelche Eltern ihre Kinder töten gesehen, aber eben, daß sie Neugeborene Säuglinge zurückgelassen haben.
    52) LETOURNEAU, a. a. O., Seite 148f.
    53) Die Belege bei Fr. SPIEGEL, Eranische Altertumskunde, Leipzig 1871, Bd. 3, Seite 682.
    54) POST, Afrikanische Jurisprudenz, Bd. I, Seite 298f
    55) J. LUBBOCK, Die vorgeschichtliche Zeit, Bd. II, Jena 1874, Seite 137.
    56) MARTIUS, Beiträge zur Ethnographie und Sprachkunde Brasiliens, Bd. I, Leipzig 1867, Seite 126f
    57) FRITJOF NANSEN, Eskimoliv. Seite 151
    58) LUBBOCK, a. a. O., Seite 214
    59) AELIAN, Variae hist. 3, 37.
    60) Das Urteil, das sich bei STRABO findet X, 5, 486, hat die Wahrscheinlichkeit vieler Analogien unter anderen Völkern für sich. Anders urteilt F. WELCKER, Kleine Schriften, Bd. II, Bonn 1845, Seite 502f
    61) Von den Munducrus berichtet. Siehe MARTIUS I, Seite 393.
    62) LUBBOCK II, Seite 260.
    63) So bei den Fidschi-Insulanern, wo der Gedanke ist, daß der jenseitige Zustand demjenigen entsprechen wird, in dem der Mensch aus der Welt scheidet. Die alten Eltern zu töten, gilt hier fast als ein Liebesdienst. (LUBBOCK II, Seite 160). Vgl. WAITZ-GERLAND, Anthropologie der Naturvölker, Teil 6, Leipzig 1872, Seite 639f.
    64) Vgl. GUSTAV SCHMOLLER, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Leipzig 1900, Seite 161.
    65) J. ROMANES, Die geistige Entwicklung im Tierreich, Seite 207. Siehe den von HOUZEAU II, Seite 483 erwähnten Fall eines Insekts (lyparis chrysorrhoea), das aus Fürsorge um seine Brut sich selbst tödlich verletzt, ohne zu wissen warum, und ohne den Augenblick erlebt zu haben, wo es seiner Jungen ansichtig werden kann.
    66) HOUZEAU II, Seite 97f.
    67) Die Wachsamkeit des Hundes über einen ihm anvertrauten Gegenstand war wohl zunächst präformiert in einer von der Art entwickelten biologischen Schutztendenz.
    68) vgl. den von ROMANES, a. a. O., Seite 236f erwähnten Fall, wo eine Katze, zumal eine gute Rattenfängerin, Rattenjunge pflegte.
    69) Auch bei den Tieren findet sich ein analoges Verhalten. (LETOURNEAU, Seite 147f)
    70) HOUZEAU II, Seite 479
    71) ROMANES, Seite 246
    72) HOUZEAU II, Seite 313f
    73) daselbst I, Seite 262f
    74) daselbst II, Seite 497f
    75) daselbst II, Seite 468
    76) ROMANES, Seite 263.
    77) HERBERT SPENCER, Die Prinzipien der Soziologie, Bd. I, Seite 7
    78) PLATO, Leges XI, 917 C. Wo einer gegen das Gesetz gewinnsüchtig seine Waren anpreist, verlangt PLATO von jedem anwesenden Bürger, der nicht unter 30 Jahre alt ist, er solle den Betreffenden da und dort körperlich züchtigen, widrigenfalls er sich als Verräter gegen das Gemeinwesen zeigen würde.
    79) LEOPOLD SCHMIDT, Die Ethik der alten Griechen, Bd. II, Berlin 1882, Seite 275f.
    80) R. PÖHLMANN, Geschichte des antiken Kommunismus, Bd. I, München 1893, Seite 13 und 518. Vgl. die Apostrophe PLATOs in  Leges  XI, 923 A: "Freunde, ihr seid nicht selbst euer eigen, nocht ist dies eure eigene Habe, sondern alles gehört eurer ganzen Sippe, sowohl derjenigen, die vor euch war, als derjenigen, die nach euch kommen wird, ja, was noch mehr ist, die ganze Sippe samt dem Vermögen gehört dem Gemeinwesen.
    81) vgl. mein Werk "Der Logos", Bd. I, Leipzig 1896, Seite 154f.
    82) THALHEIM, a. a. O., Bd. II, Seite 8f; vgl. über die Stellung der verheirateten Frau WEBER, II, Seite 253.
    83) LEIST, a. a. O., Seite 497
    84) G. BÜHLER, (Hg): The laws of Manu, 148 A. A woman must never be indepent [Eine Frau kann niemals unabhängig sein. - wp]
    85) LEIST, a. a. O., Seite 506
    86) Wenn eine Frau des Mordes angeklagt ist, kann sie darum nicht vor Gericht gezogen werden (MUNZINGER, Seite 60)
    87) SCHMOLLER, a. a. O., Seite 248.
    88) In einigen Punkten gestaltet sich die soziologische Grundregel primitiver Lebensanschauung folgendermaßen: Die Macht der Mächtigen erweist sich in der erfolgreichen Beanspruchung besonderer Rechte und in der Fähigkeit, die Macht der weniger Mächtigen zwangsweise zu verpflichten.
    89) Wieviel besagt der Rechtsspruch, den ein relativ so fortgeschrittener Stamm wie die Langobarden formulierten:  Non licet uxorem interficere ad suum libitum sed rationabiliter!  [Es ist nicht erlaubt, seine Frau zu seinem eigenen Vergnügen zu töten, aber es kann vernünftig sein! - wp] Zitiert nach VIOLLET, Précis de l'histoire du droit francais, Paris 1886, Seite 419.
    90) So im altarischen Recht und dementsprechend zumeist in den germanischen rechten (LEIST, a. a. O., Seite 306).
    91) Zweifelsohne ist in der menschlichen Sittengeschichte auch die Keuschheit und Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts durch eine Reflexwirkung der männlichen Ansprüche auf das weibliche Gefühlsleben wesentlich entwickelt worden; wir hätten somit hier einen ideengeschichtlichen Fall von sittlicher Integrierung der an gewisse Subjekte zunächst egoistisch gestellten Pflichtforderungen.
    92) HANOTEAU et LETOURNEAUX, La Kabylie et les coutumes Kabyles, Paris 1872, Bd. II, Seite 142.
    93) Hiergegen konnte man meinen, auf ein uraltes Institut hinweisen zu dürfen, nämlich das Matriarchat, das später unten besprochen werden soll. Wo die Familie sich nach mütterlicher Abstammung bestimmt, und die Mutter die Kinder, gewissermaßen mit Ausschluß des Erzeugers, unter ihre Obhut bekommt, scheint das obige Urteil nicht stimmen zu können. Aber auch unter dem Matriarchat wird wohl mutmaßlich das Verhältnis der beiden Geschlechter sich so gestaltet haben, daß die Frau praktisch die Obmacht des Stärkeren gefühlt haben wird, nur war der Herrscher nicht sowohl der Ehemann als der Mutterbruder, der Bruder und dgl. Sicher hat man sich das Mutterrecht noch keineswegs aus Frauenkult vorzustellen. Übrigens greift dieser Punkt nicht sehr tief in unsere Frage ein. In den Völkerkreisen, aus denen wir den Stoff zur Beleuchtung unseres Problems herbeiholen, hat sich durchweg das Vaterrecht schon seit langem zur Herrschaft durchgekämpft. Vollends sind die Verwandtschaftsverhältnisse der heutigen Kulturstaaten aus der patriarchalischen Familie hervorgegangen.
    94) Strafgesetzbuch §§ 55f
    95) GRIMM, a. a. O., Seite 659; WILDA, a. a. O., Seite 641f.
    96) HANOTEAU et LETOURNEAUX, La Kabylie, Bd. II, Seite 146
    97) Vgl. VIOLLET, Seite 430.
    98) KOHLER, Rechtsvergleichende Studien, Seite 18
    99) Digesta XXVI, 1, 1
    100) So wenn z. B. der König sich beliebig über die Hand mancher seiner Untertanen zu verfügen gestattete. (Vgl. VIOLLET, Seite 348)
    101) Vgl. die von POST, Bausteine I, Seite 333 aufgestellte Liste verschiedener Arten von Körperverletzungen: Lähmungen und Verstümmelungen der einzelnen Glieder, der Arme, Beine, Hände, Füße, der einzelnen Finger und Zehen und ihrer Glieder, der Augen, Nase, Ohren, Lippen, Zunge, Zähne und deren Arten usw.
    102) Ta-Tsing-Leu-Lei (Kaiserliches Strafgesetzbuch Chinas), ed. G. STAUNTON, London 1810, Seite 324f, § 303.
    103) KOHLER, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 10, Seite 383f.
    104) KOHLER, ebd. Bd. 12, Seite 90
    105) BERNHÖFT, Das Gesetz der Gortyn, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 6, Seite 282.
    106) LEIST, a. a. O., Seite 297f.
    107) GRIMM, a. a. O., Seite 651. Lebendig dargestellt in den angelsächsischen Gesetzen: Ancient laws and institutes of England, ed. THORPE 1840, Seite 41, 44f, 92f, 203, wie in den alten Gesetzen Norwegens.
    108) POST, Afrikanische Jurisprudenz, Seite 69
    109) Daß ausnahmsweise auf das Leben der Frauen eine höhere Taxe steht und aus welchem Grund, wurde früher schon erwähnt.
    110) KOHLER, Zeitschrift etc., Bd. 11, Seite 46
    111) Deutsches Reichsstrafgesetzbuch § 80. Versuch des Mordes am Kaiser oder Landesherrn wird mit dem Tod bestraft. Bei den Bogos hat das Oberhaupt, der  Sim,  bei wenig sonstiger Auszeichnung, den Vorzug, daß sein Blut den doppelten Wert eines Vollbürgers hat (MUNZINGER, Seite 29)
    112) Vgl. Deutsches Reichsstrafgesetzbuch § 224.
    113) Solcher Faktoren, die einen Menschen in einen Zustand sozialer Verkümmerung bringen, gibt es mehrere, bald von moralischer, bald von wirtschaftlicher Beschaffenheit; es sind vornehmlich zu nennen: der Alkoholismus, die Abneigung gegen ländliche Arbeit, der städtische Schlendrian, die Kreditnot, die Arbeitsnot, Krankheiten und dgl.
    114) So, um nur zwei Beispiele aus sehr ungleichen Völkerkreise anzuführen: bei den Germanen (GRIMM, Seite 861) und bei den Bogos (MUNZINGER, Seite 32)
    115) Diese Idee findet sich drastisch ausgedrückt in den Gesetzen  Manus  (BÜHLERs Ausgabe VII, Seite 149f). "Bei Volksversammlungen ließ der König Schwachsinnige, Taube, Blinde, Stumme, sehr alte Männer und Frauen, Sklaven, die Kranken und die mit verkrüppelten Gliedmaßen entfernen. Solche verabscheuungswürdigen Personen waren wie Tiere und ganz besonders Frauen dazu geeignet, die Beratungen zu verfälschen.
    116) POST, Bausteine II, Seite 134f.
    117) Man vergleiche das Urteil MUNZINGERs über die Bogos (a. a. O., Seite 75). Sie betrachten jeden Fremden von Natur aus als einen Feind.
    118) P. EGEDE, Nachrichten von Grönland, Kopenhagen 1790, Seite 164, 168. Auch von den Indianern wird Ähnliches berichtet. Die Weißen belügt und bestiehlt der Indianer ungeniert, er fängt nur an, sich solcher Vergehen auch gegen sie zu schämen und sie zu unterlassen, wenn er einem  überlegenen Scharfblick  begegnet. (WAITZ, Anthropologie der Naturvölker, Leipzig 1872, Teil 3, Seite 130.
    119) MUNZINGER, a. a. O., Seite 75
    120) BAR, Lehrbuch des internationalen Privat- und Strafrechts, Stuttgart 1892, Seite 10.
    121) Wie diese Frage eine ernste Landesfrage werden kann, kann man heutzutage an den Franzosen konstatieren.
    122) LEIST, a. a. O., Seite 63
    123) Der hinduistischen Lehre zufolge gelangt der Hausvater mittels Konzeption durch seine Frau wieder in den Zustand eines Embryos und wird von ihr wiedergeboren. (Gesetze Manus IX, 8)
    124) Ähnlich bei den Australnegern. FISON and HOWITT, Kamilaroi und Kurnai, Seite 138. Die Toten sind durch Opfergaben von ihren Nachkommen abhängig.
    125) KOHLER, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 8, Seite 130f.
    126) MAX MÜLLER, Die heiligen Bücher des Ostens, Bd. IV, The Zend-Avesta, Teil 1: The Vendidad IV, Seite 47.
    127) Das berühmteste Beispiel bietet hier PLATO in seinem im Musterstaat aufgestellten Vorschlägen (Republik V, Seite 457f). Er beabsichtigt nichts weniger als ein direkt staatliches Regulativ der Sache und zwar so, daß der Staat durch Mittel jeder Art (auch durch Gewalt und Kniffe) durch die Unterdrückung aller individuellen elterlichen Neigungen sich eines für das Staatswesen tauglichen, blühenden Nachwuchses zu sichern sucht. In seinem Gesetzesstaat hat PLATO diesen Gedanken notgedrungen fallen lassen; dafür empfiehlt er VI, 17, 774 (vgl. IV, 11, 721) eine laufende Geldbuße für denjenigen Bürger über 35 Jahre, der noch unverheiratet bleibt.
    128) LEIST, a. a. o., Seite 103
    129) GRIMM, a. a. O., Seite 484
    130) CHANTEPIE de la SAUSSAYE, Lehrbuch der Religionsgeschichte, Freiburg i. B. 1897, Bd. 2, Seite 193. Bei den Peruanern unter den Inkas war jedes Mädchen im Alter von 18-20 und jeder Mann über 24 gesetzlich zum Heiraten verpflichtet. (WAITZ, Anthropologie IV, Seite 406)
    131) VIOLLET, a. a. O., Seite 351
    132) vgl. von JHERING, Der Zweck im Recht, Bd. I, Seite 456
    133) C. SALKOWSKI, Institutionen, Leipzig 1898, Seite 29 und 150.
    134) Wenn in Indien die zweite Tochter heiraten soll, kann die ältere nicht unverheiratet bleiben. Diese geht darum eventuell eine Scheinehe ein: sie heiratet einen Baum. (KOHLER, Zeitschrift etc., Bd. 9, Seite 331; vgl. LEIST, a. a. O., Seite 206 und die bekannte Erzählung in der  Genesis  29, 23f.
    135) KOHLER, Zeitschrift etc. Bd. 5, Seite 334f.
    136) KOHLER, Zeitschrift etc. Bd. 8, Seite 115.
    137) KOHLER, Zeitschrift etc. Bd. 10, Seite 99