Anders LundstedtJulius von Kirchmann | ||||
Das Problem der Jurisprudenz
Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Welches sind nun die Wirklichkeiten, welche Gegenstand der Jurisprudenz sind? Wenn ich sagte, es sind die Gesetze, so würde man mit Recht entgegnen, daß der Gegenstand damit zu eng gefaßt ist, da doch die Gesetze nur die Form des Rechts sind; sagte ich es ist das Recht oder die Rechte oder die Rechtsindeen, so wäre ersteres eine Tautologie, letzteres eine nichtssagende, mystische Redensart. Sicher ist, daß der Gegenstand der Jurisprudenz soziale Erscheinungen sind, und zwar jene sozialen Erscheinungen, welche den Gesetzen, ihrer Entstehung und Umbildung zugrunde liegen. Gegenstand des Rechts sind die sozialen Erscheinungen, in welchen soziale Machtgruppen die streitigen Verhältnisse anderer sozialer Machtgruppen entscheidend regeln. Diese Darstellung der Erscheinung des Rechts ist gewonnen vom Leben, wie es sich heute vor uns abspielt. Sie entspringt dem Prinzip der Wesensgleichheit der sozialen Erscheinungen. Die Abstraktion, die Ökonomie des Denkens muß allerdings versuchen, die Darstellung zu vereinfachen, sowie die Physik die Erscheinung des freien Falls schematisch darstellt in einer Weise, wie sie in der wirklichen Natur nicht vorkommt. Also kann man die Erscheinung des Rechts schematisch darstellen, indem man sagt, die Erscheinung des Rechts ist jene soziale Erscheinung, daß eine herrschende soziale Machtgruppe die Machtverhältnisse zweier streitender sozialer Machtgruppen regelt. Doch man glaube nicht, daß man damit etwa der Wirklichkeit näher gekommen ist, oder damit gar die Entstehung des Rechts in historischer oder prähistorischer Zeit gezeigt oder erdacht hat. Das wären metaphysische Spekulationen. Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt, die Einfachheit an die Spitze der Entwicklung zu stellen. Nicht im organischen und nicht im sozialen Leben. Eine viel ärgere falsche Abstraktion wäre es aber, wenn wir die Erscheinung des Rechts von der Erscheinung und den Verhältnissen des einzelnen Individuums ableiten wollten, was die Jurisprudenz bisher getan hat. Denn dies wäre nicht eine wissenschaftliche Vereinfachung wie die obige, sondern geradezu eine Verfälschung des Wesens der Erscheinung. Wo immer wir hinschauen dreht es sich im Rechtsleben wie im sozialen Leben überhaupt nie um den Einzelnen, sondern immer nur um die soziale Gruppe, um die Machtgruppe und wo der einzelne Mensch in Frage kommt, geschieht dies mit dem Individuum nur als Angehörigen, als Repräsentanten der sozialen Gruppe. Daß die Jurisprudenz diese von der Soziologie festgestellte Tatsache bisher beharrlich vernachlässigt hat, ist einer der wichtigsten Gründe, daß die Jurisprudenz bei ihren Irrfahrten niemals Anker fassen konnte, daß sie mit ihren Darstellungen stets ins Bodenlose fällt. Die Jurisprudenz mochte sich im Bereich des Praktischen, der Politik, der Moral noch so sicher und klug bewegen, im Augenblick, wo sie ihre Grundlagen feststellen wollte, verlor sie allen Halt. Also nicht Ideen, nicht Vorstellungen, nicht Gefühle von Recht und Unrecht sind die Gegenstände der Jurisprudenz, die einer wissenschaftlichen Darstellung gar nicht fähig wären, sondern höchst reale Erscheinungen, Wirklichkeiten des sozialen Lebens, welche vom Gefühl für Recht und Unrecht, von Gerechtigkeit und anderen moralischen Erscheinungen korrespondieren in der Moral und im Glauben, welche eine Welt für sich sind, mit den sozialen Erscheinungen des Rechts. Welches sind die Quellen und Ursprünge des Rechts? Schlägt man die Lehrbücher der Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie auf, so trifft man auf unglaubliche Plattheiten und Redensarten. Die Idee des Rechts, das allgemeine Rechtsbewußtsein und ähnliche Gespenster sollen die Väter einer so durchaus körperlichen harten Sache, wie es das Recht ist, sein. Nichts von alledem! Die Dinge waren immer so wie sie heute sind. Der Staat, das heißt die Herrschenden machen Frieden zwischen den beherrschten Gruppen, wenn diese untereinander im Streit sind. Denn die Herrschenden brauchen diesen Frieden unter ihren Untertanen. Also das Urteil ist die primitive Form des Rechts, eine Ordnung der Machtssphären der Beherrschten. Jedes neue Gesetz, das heute gegeben wird, ist ein Urteil über streitige Verhältnisse sozialer und wirtschaftlicher Gruppen. Die Ordnung der Verhältnisse zwischen Herrschenden und Beherrschten selbst ist dann eine sekundäre Nachbildung der ursprünglichen Art der Gesetzgebung. Im Interesse der Befestigung gefährdeter Herrschaft kodifizieren die Herrscheden ihre Machtbefugnisse, oft unter Konzessionen an die Beherrschten, geben Gesetze, Verfassungs- oder Privatrechtsgesetze, und bilden so die Form nach, in welcher sie sonst die Verhältnisse der verschiedenen beherrschten Gruppen untereinander geordnet haben. Rechtsschöpfung ist also die Entscheidung von Streitigkeiten sozialer Gruppen, wie das Urteil die Entscheidung eines Streits einzelner Individuen ist. Das Urteil geht immer der Rechtssetzung, der Satzung voraus. Wenn sich die Streitigkeiten häufen, wenn an den Grenzen der Machtsphären die Individuen der benachbarten Gruppen häufig und regelmäßig handgemein werden, greifen die herrschenden Hüter, die Obrigkeiten, das Gouvernement ein und berichtigen ein für allemal die Grenzen. Dann ist Ruhe für einige Zeit, bis sich die Machtverhältnisse nach Jahrzehnten, Jahrhunderten wieder verschieben und eine neue Grenzberichtigung notwendig wird. So ist es heute und so war es zu allen Zeiten. Man ging immer von der Voraussetzung aus, daß in jedem Gesetz eine sogenannte legislative Idee zum Ausdruck kommt, aus der heraus das Gesetz zu erklären und zweifelhafte Fälle zu entscheiden seien. Dies trifft jedoch das Wesen des Gesetzes nicht. Jedes Gesetz ist die Verteilung von Machtbefugnissen, eine Abgrenzung von Machtssphären. Es sind also immer zwei Ideen, zwei Grundsätze, welche in einem Gesetz enthalten sind. Das Gesetz macht Friede zwischen diesen beiden Grundsätzen, Friede zwischen zwei sozialen Gruppen, von welchen jede "ihr Recht" zugeteilt erhält, ihr Maß an Recht, welches notwendig ist, damit nicht eine Gruppe Empörung treibt und die Herrschaft gefährdet. Das Gesetz ist also, wie schon gesagt, ein Generalurteil zwischen zwei sozialen Gruppen. Man glaube aber ja nicht, daß dieses Urteil beide Teile befriedigt. In den Enquêten, Protokollen und in den Motivberichten der Gesetze kann man es lesen, wie jene Partei, deren Machtbesitz zugunsten einer anderen Gruppe eingeschränkt wird, sich gegen die Einbuße von Macht wehrt, wie pathetisch sie ihr angebliches Recht verteidigt und wie ungerecht, wie verderblich für den Staat, für die Menschheit das neue Gesetz nach ihrer Meinung ist. Erst wenn die Herrschenden, der Staat, das neue Gesetz endlich gegeben haben, beugt sich die besiegte Gruppe, wenn sie zum Widerstand nicht stark genug ist, und jetzt erst scheint und ist das, was im Gesetz gegeben ist, Recht. Aber kaum ist das Gesetz gegeben, beginnt sofort der neue Kampf, der sich jetzt auf dem Boden der Justiz abspielt. Soziale Machtsphären lassen sich nicht so glatt abgrenzen, wie man die Grenzen geographischer Gebiete berichtigen kann. Und jeder Streitfall, jeder Prozeß hat darin seinen Ursprung, daß eben die besondere Konfiguration des Lebens in der Formel des Gesetzes nicht bedacht war. Und hier setzt der große Irrtum der Jurisprudenz ein, der soziale Machtfragen durch logische Dinstinktinen lösen will. Die Advokatur ist in diesem Punkt die lebendige Verkörperung dieses Irrtums. Es liegt im Wesen des Rechtsstreites, daß sowohl vür den Standpunkt der einen wie für den der anderen Partei sich gleich schöne und gute Gründe aus dem Gesetz anführen lassen. Und der Advokat bei COURTELINE, der nach gehaltenem Plädoyer die Ernennung zum Staatsanwalt empfängt und sofort mit demselben Glanz die Anklage verteidigt, ist nur der karikierte Ausdruck dieser Wahrheit. Der Wahrheit, daß ein Rechtsstreit im Grunde nicht aus dem Gesetz zu lösen ist, daß die Grundlagen für das Urteil in den Machtverhältnissen des Lebens gelegen sind, daß das Urteil eine zweckmäßige Verteilung der nach den Gesetzen zweifelhaften Macht zwecks Erhaltung des sozialen Friedens ist. Daß die Urteilsfindung niemals gemäß dem Gesetz stattfindet, daß sie natürlich nicht gegen das Gesetz sein darf, aber immer neben dem Gesetz vor sich geht. Infolgedessen ist die Aufgabe der Judikatur ebenso wie die des Gesetzes, Recht erst zu schaffen. Und deswegen muß der Richter die Vertrautheit mit dem Leben in hohem Maß besitzen, wenn er seiner Aufgabe genügen will. Eben wie ich dies schreibe, ist ein Streit ausgebrochen zwischen dem Fiskus und den Kartellen. Der Finanzminister oder einer seiner Beamten hat die gesunde Idee gehabt, die Kartellbüros zu besteuern und so einen Anteil des großen Kartellgewinns für den Staat zu erlangen. Sofort natürlich fand das Kartell bereitwillige Federn, welche das Unrechtmäßige, Ungesetzliche dieses Vorgangs mit trefflichen Gründen aus dem Gesetz dartun. Mit nicht minder trefflichen Gründen ohne Zweifel wird der Vertreter des Finanzministerium später vor dem Verwaltungsgerichtshof aus eben denselben Gesetzen die Zulässigkeit der Besteuerung dartun. Wie bei jedem Streitfall bietet das Gesetz in der Tat Gründe dafür und dagegen. Was gibt den Ausschlag? Das Leben, die soziale Macht. Ein "Recht" in dieser Frage wird es erst geben, wenn ein Urteil oder mehrere Urteile in der Frage gefällt sein werden. Wenn die öffentliche Meinung und vielleicht auch die Beteiligten sich dabei beruhigt und ihre Verhältnisse danach eingerichtet haben. Beruhigen sich die Parteien damit nicht, können die Urteile das "Recht" nicht erzeugen, die Vorstellung einer halbwegs befriedigenden Verteilung der Macht nicht hervorrufen, so wird erst ein neues Gesetz Recht und Gerechtigkeit in diesem Punkt bringen. Der Unterschied zwischen Moral und Recht, der so viel Nachdenken und Meinungen verursacht hat, ist nach all dem Gesagten ein durchaus wesentlicher. Die beiden liegen auf durchaus verschiedenen Gebieten. Moral ist die Abschätzung der sozialen Tatsache. Recht ist eine soziale Tatsache selbt, Recht und Moral verhalten sich zueinander etwa wie eine Sache und ihr Preis. Sie sind sonach nicht etwa benachbarte Erscheinungen, deren Grenzen schwer festzustellen, die gar ineinander übergehen, worin die eine die andere zur Folge hätte. So nämlich haben es die bisherigen Darstellungen gefaßt, während in Wahrheit Recht und Moral ganz heterogene [ungleichartige - wp] Dinge sind. Erscheinungen des Rechtslebens, mithin Gegenstand der Jurisprudenz als strenger Wissenschaft, sind nur Tatsachen, die durch soziale Macht geschaffen werden, mag dies in Formen des Gesetzes, des Gewohnheitsrechts oder der Rechtsprechung geschehen. Jenes Recht, das sein soll, die Gerechtigkeit, die ungerechten Urteile, das ungerechte Gesetz, sind Gegenstände der Moral im weiteren Sinne und der Politik. Eine ähnliche Verwechslung über den Gegenstand einer Wissenschaft ist, wie mir scheint, in einer anderen sozialen Wissenschaft unterlaufen, nämlich in der Nationalökonomie. Auch hier wird an die Spitze der Untersuchung immer eine Frage der Moral oder der Ästhetik gestellt. Die Frage nach dem Wesen und Ursprung des Wertes soll die Grundlage der Nationalökonomie sein. Es stünde schlimm um die Ökonomie als Wissenschaft, wenn das richtig wäre. Der Wert ist Sache der Schätzung. Daß und warum Dinge geschätzt werden, ist eine Frage der Ethik im weitesten Sinne. Die Tatsache, daß und in welchem Maß Dinge von den sozialen Machtgruppen geschätzt werden, ist für die Nationalökonomie gegeben. Über die Ursache dieser Erscheinung, die neben der Ethik eine Frage der Psychologie, der Physiologie ist, hat die Ökonomie nachzudenken keinen Anlaß, wenn sie auf ihrem Gebiet bleiben will. Ihr Gegenstand sind jene sozialen Erscheinungen, wonach soziale Gruppen die Macht über diese geschätzten Dinge, die Werte, erlangen, wie diese Macht umgebildet wird, sich verändert. Wie Unrecht die Ökonomie mit der vermeintlichen Grundlage ihrer Wissenschaft hat, zeigt sich daraus, daß erst seitenlang scharfsinnige Untersuchungen über den Güterwert gepflogen, dann aber durchaus keine wissenschaftlichen Folgerungen daraus gezogen werden. Wohl aber moralische. Und das ist wieder jene schon berührte Vermengung wissenschaftlicher und moralischer Elemente in jungen Wissenschaften. Die angeblichen Erklärungen des Kapitzalzinses, welche zwei Jahrhunderte der politischen Ökonomie ausfüllen, sind nichts anderes als Rechtfertigungen einer sozialen Erscheinung.' Gibt es etwas lächerlicheres für eine Wissenschaft, als wenn sie eine soziale Tatsache zu rechtfertigen sucht? Und die Theorie von MARX widerlegt nicht nur diese Lächerlichkeit, sondern begeht, wissenschaftlich gesprochen, eine neue, indem sie den Kapitalzins anklagt. Was würde man sagen, wenn die Physiker sich in zwei Parteien gliederten, in die eine, welche den freien Fall rechtfertigt, und die andere, die ihn verurteilt? Womit natürlich gegen die ethische und politische Bedeutung der erwähnten Bestrebungen in der politischen Ökonomie nichts gesagt ist. Auch tragen solche politische Kämpfe zur wissenschaftlichen Klärung außerordentlich bei, ja sie führen sie herbei, wie ja die Wissenschaft überhaupt auch ein Kind des sozialen Kampfes ist. moralisch-politische Kategorie Wenn ich sage, daß das Recht eine Tatsache, eine soziale Erscheinung ist, und daß nur diese Erscheinung Gegenstand der Jurisprudenz als reiner Wissenschaft ist, so ist offenbar das, was man meint, wenn man von der Idee des Rechts spricht, vom Recht, das ein Gesetz verletzt, von der Gerechtigkeit die immer siegt, etwas anderes. Ganz gewiß, denn das Recht als soziale Tatsache ist verschieden vom Recht als moralisch-politischer Kategorie. Alle Irrtümer in der Wissenschaft, in der Erziehung und in der Politik rühren von einer mangelhaften Auseinanderhaltung der drei Welten her, welche das Leben ausmachen: die Welt des Erkennbaren, des Schätz- und Wünschbaren und des Ausführbaren. Das Erkennbare ist das Gebiet der Wissenschaft, das Schätz- und Wünschbare gehört der Moral und der Ästhetik, das Ausführbare der Politik an. Alle diese Begriffe im weiteren Sinn genommen. So sehr diese drei Gebiete durch unterirdische Bahnen zusammenhängen, so sehr hat doch jedes seine eigene Bedeutung. Keines ist von den anderen abhängig. Man kann ohne Erkenntnis ein trefflicher Politiker sein, man kann umgekehrt mit der klarsten Erkenntnis eine schwache unmittelbare Empfindung für das Richtige haben und ein stümperhafter Politiker sein. Ja, es ist ein alte und dennoch erprobte Wahrheit, daß gerade zuviel Erkenntnis die Empfindung verwirrt und die Kraft des Entschlusses und Handelns lähmt. Das Leben und die Kultur von Jahrtausenden wäre ein Irrtum, wenn es erst der klaren Erkenntnis bedürfte, um dem Leben die Weihe, die Richtung und Berechtigung zu geben. Der lächerliche Irrtum rationalistischer Zeitalter wie des sokratischen und des 18. Jahrhunderts, die für den Verstand den Primat in Anspruch nahmen, ist längst enthüllt. Nur als Gegenstand der Erkenntnis ist das Recht eine Erscheinung. Das Recht ist aber auch ein Gegenstand der Schätzung, der Empfindung, des Wunsches und des handelnden Willens, ganz und gar unabhängig von der wissenschaftlichen, bewußten Erkenntnis. Und wenn jemand einen Zustand, ein Gesetz, eine Neuregelung von Verhältnissen für recht, für gerecht erklärt, so ist dies eine Art der Schätzung, wobei letztere den nahezu wichtigsten, weil wertschaffenden TEil des Lebens ausmacht. Es ist aber kein Zweifel, daß die Schätzung etwas unmittelbares ist. Sie hängt, wie ich es bereits ausdrückte, mit der Erkenntnis unterirdisch zusammen, aber der Zusammenhang ist nicht der der notwendigen Folge. es folgt aus bestimmten Erkenntnissen ebensowenig eine bestimmte Schätzung, Moral, wie man logisch beweisen kann, daß eine Speise süß schmeckt oder daß Feuer brennt. Bei dem durchaus subjektiven Charakter der Schätzung ist also die große Frage, ob es ein objektives, allgemeingültiges Recht gibt und geben kann und welches die Kriterien eines solchen sind. Alle Schätzung einzelner Dinge geht bewußt oder unbewußt auf gewisse Grundwerte zurück, auf die letzten Güter. Jeder Disput über moralische Werte und also auch über Recht und Unrecht setzt solche Grundwerte voraus wie zum Beispiel das menschliche Leben, die staatliche und gesellschaftliche Ordnung, die individuelle Freiheit. Diese letzten, die Grundwerte sind keiner Ableitung mehr fähig und bedürfen ihrer auch nicht. Sie sind für die Moral das, was für die wissenschaftliche Erkenntnis die Axiome, die Grundwahrheiten sind. Insofern über solche Grundwerte eine wenigstens durchschnittliche Einigkeit besteht, kann von objektiv gültigem Recht in moralischem Sinne gesprochen werden. Nun herrscht aber in Wahrheit durchaus keine durchgehende Einigkeit über die Grundwerte. Wir wissen sehr wohl daß die herrschenden Grundwerte von vielen Seiten in Frage gestellt sind. Und wenn die Vertreter der verschiedenen Grundwerte die ihren anpreisen wie der Verkäufer seine Ware, so geschieht dies nur scheinbar mit logischen Gründen. Es ist immer nur die innere Kraft, welche ein Kriterium einer letzten inneren Wahrheit ist, sowie die Evidenz, die Selbstverständlichkeit das Kriterium der axiomatischen wissenschaftlichen Wahrheiten sind. Keine Logik der Welt kann feststellen, ob die Freiheit des Einzelnen oder die staatliche Ordnung das große Gut ansich ist. Und für einen bestimmten sozialen Zunstand wird das Kriterium des höheren Werts immer nur die überzeugende Kraft der betreffenden Schätzung sein. Man wäre leicht versucht zu sagen, daß jene moralische Wahrheit die stärkere ist, welche den Sieg davon trägt. Aber man sieht sogleich den problematischen Zirkel, der damit geschlossen wird. Welches ist die höhere Wahrheit? Die, welche siegt. Welche Wahrheit siegt? Die höhere; abgesehen davon, daß ein Beweis dafür, daß die bessere Wahrheit siegt, außer im Glauben nirgends gegeben ist. Diese Erkenntnis, daß jeder Versuch, die Grundlagen der menschlichen Bewertungen wissenschaftlich zu stützen, aussichtlos und verfehlt ist, ändert jedoch nichts an der ungeheuren Wichtikeit der moralischen Grundlagen. Das Wesen und die Bedeutung des Lebens, des individuellen wie des sozialen, beruth auf den moralischen und ästhetischen Grundwahrheiten, mögen sie bewußte Werturteile oder unbewußte Wertinstinkte sein. Die bewußte Lebensgestaltung, die Politik, geht von diesen Grundlagen bewußt und unbewußt aus. Und so ist auch das Recht als moralische und politische Kategorie von ungemeiner Bedeutung für die Wirklichkeit des Lebens. Die Jurisprudenz befaßt sich wesentlich mit der Frage des Rechts als moralischer und politischer Kategorie. Diese Disziplin will feststellen, was "recht" und wie dieses Recht zur allgemeinen Anerkennung zu bringen ist. Sie sucht ein System des Rechtsglaubens und der Rechtspolitik zu schaffen. Die Irrtümer der Jurisprudenz jedoch rühren alle daher, daß sie diese drei Gebiete, das des Rechts als sozialer Erscheinung, des Rechtsglaubens und der Rechtspolitik nicht auseinanderhält, daß sie moralische Überzeugungen und Wünsche mit sozialen Notwendigkeiten durcheinanderwürfelt und so weder hier och dort Klarheit schafft, die Verschiedenheit dieser Gebiete verkennend und außer acht lassend. Dieser Grundsatz spielt eine große Rolle in der modernen Justiz. Was verbirgt sich hinter dieser moralischen spanischen Wand? Soll das Recht wirklich den Schwächeren mehr schützen als den Stärkeren? Nach den Begriffen von Gesetz und Gerechtigkeit wohl nicht. Denn das Urteil soll dem Recht geben, der Recht hat und ein anderes Urteil wäre ein ungesetzliches und ein ungerechtes. Wie kommt also heute die Gerechtigkeit dazu, eine Ungerechtigkeit als löblich anzusehen, indem sie ihre Waage zugunsten des Schwächeren neigt, obwohl er weniger Recht hat? Es ist dies wieder einer der Maskenscherze des sozialen Kampfes, in welchem Macht Recht ist. Man gibt dem Schwächeren recht, weil er der Stärkere ist. Und zwar auf folgende Weise: Ich habe schon gesagt, daß Gesetz wie Urteil nichts ist als die jeweilige Ausbalanzierung der vorhandenen sozialen Kräfte. Der Staat, die Gesamtheit der sozialen Gruppen, der Gesellschaften, braucht Frieden, wenn er sich nicht auflösen soll. Dieser Friede ist insbesondere nötig für die Herrschenden, welche die unterworfenen, beherrschten Gesellschaften im Gleichgewicht halten müssen. Das sich nun die Machtverhältnisse der unterworfenen Gesellschaften im Laufe der Zeit verschieben, so widerspricht nach einiger Zeit das Recht den faktischen Machtverhältnissen. Soll nicht Empörung und Anarchie eintreten, so muß ein neues Gesetz den neuen Machtverhältnissen Ausdruck geben. In der Zwischenzeit wird den neuen Machtverhältnissen dadurch Rechnung getragen, daß in zweifelhaften Fällen den neuen Mächten durch das Urteil Genüge getan wird. Heute stehen die Dinge so, daß die Macht der Demokratie, der Proletarier, der Massen, stärker ist, als es im Gesetz ausgedrückt ist. Ihre Macht ist nicht groß genug, um die soziale Republik zu begründen. Aber die Arbeiterschutz- und Versicherungsgesetze, die Streiks und andere Erscheinungen zeigen die Richtung der Bewegung an. Und deshalb entdeckt plötzlich die Justiz, daß der Schwächere zu schützen ist. Aber in Wahrheit schützt sie ihn nicht, weil er der individuell Schwächere, sondern weil er der sozial Stärkere ist. Also auch dieser scheinbare Widerspruch gegen das Grundgesetz, daß Recht auf sozialer Macht, auf nichts als sozialer Macht beruht, kann befriedigen gelöst werden. Ich habe gesagt, daß die Erscheinungen des Rechts soziale Erscheinungen sind, welche den Gesetzen der sozialen Macht folgen. Daß die moralischen Ideen, welche als Widerschein dieser sozialen Bewegungen auftauchen, zur wissenschaftlichen Erklärung nicht benützt werden können, wenn sie auch auf dem Gebiet der Moral, des Glaubens ansich eine Realität anderer Art haben. Dem kann entgegengehalten werden, daß der Ursprung des Rechts wie von mir angegeben sein möge, daß aber, die Idee des Rechts einmal gegeben, diese Idee ein selbständiges Leben habe und daß es die Juristen im Verein mit dem lebenden Rechtsbewußtsein sind, welche dem Recht eine eigene Bewegung und Entwicklung geben. Und oft eine Entwicklung gegen die rohe Macht. Vor allem muß festgehalten werden, daß eine Untersuchung über die Entstehung des Rechts wie aller anderen sozialen Erscheinungen ein Unding ist. Wir haben ebensowenig Anhaltspunkte, ein Entstehen des Rechts oder anderer sozialer Erscheinungen anzunehmen, wie ein Entstehen des organischen Lebens. Wir haben gar keinen Grund, anzunehmen, daß das soziale Leben jemals im Wesen anders war, als heute. Wir können wissenschaftlich nur von einer Veränderung oder Umbildung reden. Die Dinge waren im Grunde immer so wie sie heute sind, wenn auch die Formen verschieden waren. War man früher bemüht, die Vergangenheit als Schlüssel der Erkenntnis der Gegenwart zu benutzen, so kann man wohl mit mehr Berechtigung das Gegenteil versuchen. Die Gegenwart erklärt sich vollständig selbst, wenn man sie nur unbefangen und frei von Dogmen ansieht. Und die Gegenwart erklärt die Vergangenheit mindestens ebenso gut, wie diese die Erstere. Die Annahme der Wesensgleichheit der sozialen Erscheinungen ist eine gute und beruhigende Grundlage für wissenschaftliche Erkenntnis. Uns sie ist auch für die vorliegende Frage sehr dienlich. So wie heute hat es immer Menschen und Gruppen gegeben, welche dachten und redeten, wo die andern handelten, welche den sozialen Machtverhältnissen Gedanken und Worte verliehen. Immer gab es Priester, Medizinmänner, Lehrer, Propheten, Juristen, welche jeweils eine sozialen Machtgruppe angehörend, die Macht vertraten. Immer haben auch diese Menschen selbst soziale Gruppen gebildet und selbst eine Macht erstrebt und oft errungen. Die Juristen von heute, ebenso wie die Priester von früher, haben also in der Tat das Recht modifizieren und mit gewissen Floskeln versehen können. Sie konnten sogar eine zeitlang, wenn die Machtinstinkte der sozialen Gruppen schwiegen, oder wenn die Juristen selbst eine so große soziale Macht hatten, das Recht in Bahnen lenken, welche den latenten Machtverhältnissen widersprachen. Aber alle diese Ereignisse vollziehen sich nur im Rahmen und nach den Gesetzen der Bewegung der sozialen Mächte. Die Juristen waren und sind entweder das Organ und Sprachrohr der sozialen Gruppen oder waren sozial stark genug, um selbst Recht zu machen, es zu verbessern oder zu verderben. Aber immer waren es Machtfragen die entscheidend waren und von einer Durchsetzung gewisser Rechtsideen kann wissenschaftlich keine Rede sein. Anders liegt die Sache, wie schon so oft betont, wenn sie von der Perspektive des Glaubens betrachtet wird. Wenn jemand behauptet, daß die Weltgeschichte die Entfaltung gewisser Rechtsideen ist, so ist das Sache des Gemüts und der Religion. Seine Behauptung wird Glauben finden und die Herzen erfreuen, je nach dem Maß der Kraft und Begeisterung, mit der dieser Glaube vertreten wird. Ja, er wird auch große soziale Wirkungen erzielen, wenn, und nur wenn er die soziale Macht erlangt. Aber zu wissenschaftlichen Erkenntnis taugen solche Herzenssachen nicht im geringsten. Folgerungen aus all dem Gesagten; vorerst für die Jurisprudenz. Das Recht ist die Ordnung sozialer Mächte durch eine sie beherrschende stärkere Macht. Dasselbe ist das Urteil im Einzelfall. Was könnte nun eine bessere notwendige Grundlage für Jurisprudenz und Justiz sein als die Erfassung und Anschauung dieser sozialen Mächte. Die Jurisprudenz war bisher nebulös und ohne Halt, weil sie immer vom Einzelnen anstatt vom sozialen Gegensatz ausging. Sie suchte den Problemen psychologisch anstatt real beizukommen. In jedem Rechtsfall, in jedem legislatorischen Problem ist immer das ganze pulsierende leidenschaftliche Leben enthalten und nicht ein nachdenkliches juristisches Rätsel. Nehmen wir etwas scheinbar trockenes unlebendiges als Beispiel. Im Handelsgesetz ist die Frage nach der Berechtigung der Zurverfügungstellung einer Ware geregelt. Über diese Bestimmungen des Gesetzes entbrennen Tag für Tag Prozesse. Diese ganze Frage ist unlösbar, haltlos wenn man nicht die sozialen Gruppen erfaßt, die hier im Kampf stehen. Es sind bald die Produzenten auf der einen, die Händler auf der anderen, bald die Produzenten und Händler auf der einen, die Konsumenten auf der anderen Seite. Wenn die bisherige Jurisprudenz die Frage abhandelte, ging sie immer von einer Idee aus, vom Verkehrsschutz und ähnlichem. In Wahrheit waren es immer Kämpfe von sozialen Gruppen, die sich da abspielen. Die Händler mit ihrer wissenschaftlichen Auffassung der Objekte als Ware, über welche sie mit Verträgen und Weisungen verfügten, hatten nur Interesse an strengen Fristen, an glatten Abwicklungen, an strengen Sanktionen für die Nichterfüllung, an leichten ideellen Schadensberechnungen. Der Produzent, der Fabrikant, abhängig von tausend Bedingungen und Schwierigkeiten der Produktion, verlangt eine Rücksichtnahme auf alle sich daraus ergebenden Eventualitäten, billiges Abwägen seines geringen eventuellen Nutzens gegenüber den großen Ansprüchen der Händler bei Nichterfüllung. Im alten deutschen und unserem Handelsgesetzbuch siegt, wie schon der Name sagt, der Handel. Die Industrie war damals nicht entfernt so mächtig wie heute. Heimarbeit und Kleingewerbe war damals noch überwiegend. Erst der Handel ließ die Produkte aus diesen kleinen Zuflüssen in sein großes Reservoir fließen, von wo sie sich in einem großen Strom in die Welt ergossen. Dies zeigt sich deutlich im Handelsgesetzbuch. Gleich nach dessen Schaffung beginnt, namentlich im Deutschen Reich, der Siegeslauf der Industrie: Sofort beginnt die Judikatur die im Handeslgesetz gezogenen Grenzen zwischen Händler- und Erzeugerwünschen, Handel und Erzeugung zu erschüttern und heute sind alle Bestimmungen des Handelsgesetzbuches über Nachfristen, Bemängelung, Empfangbarkeit der Ware usw. ganz problemtaisch, weil sie dem Machtverhältnis von Handel und Industrie nicht mehr entsprechen. Die Judikator weist immer mehr auf die Seite der sozial stärkeren Industrie. Bisher hat die Jurisprudenz immer gefrat, was ist die Idee des Gesetzes, was ist der Wille des Gesetzgebers, wenn sie eine juristische Frage entscheiden wollte. Diese Fragestellung ist falsch, denn sie erschöpft die Aufgabe der Jurisprudenz nicht, sie berührt nur die eine Seite, die Hälfte der Aufgabe. In jedem Gesetz sind immer zwei Ideen, die Ideen zweier sich bekämpfender sozialer Gruppen und der Gesetzgeber "will" nur zwischen beiden Frieden schaffen, die Grenze zwischen ihren Machtsphären ziehen. Und wenn eine Rechtsfrage, ein Rechtsstreit entsteht, so ist klar, daß in einem Punkt die Grenzlinie nicht klar gezogen ist. Und wenn die Jurisprudenz oder die Justiz die Grenze berichtigen will, so muß sie das gegenwärtige soziale Kräfteverhältnis erkennen und durchschauen. Sie muß wissen, welche Gruppe die stärkere, die bedeutsamere ist, welche mehr Zukunft, mehr lebendige Energie in sich hat. Somit ist die textkritische und logische Jurisprudenz und Justiz ansich ein Nichts, ein Irrtum, solange sie nicht durch die soziale Optik auch das Verständnis für die Wirklichkeit des sozialen Kampfes erlangt. als moralischer Kategorie Ich sagte, daß das Recht als soziale Erscheinung nichts sei als die Abgrenzung zweier sozialer Machtsphären durch eine dritte höhere soziale Macht. Diese Formel erschöpft sozial und historisch den ganzen Inhalt und die Entwicklung des Rechts. Ich sagte ferner, daß das Recht als moralische Kategorie diesen Tatbestand im Geist widerspiegelt. Was ist nun die Wurzel des Rechtsgefühls als moralischer Kategorie? Doch nichts anderes als der Respekt der einen Machtgruppe vor dem Machtbereich der anderen. Und zwar ist es das Wesen des Rechtsgefühls, daß dieser gegenseitige soziale Respekt dauernd in der Vorstellung und der Empfindung der einzelnen Machtgruppen vorhanden ist, nicht nur in Augenblicken, wo die soziale Macht aktuell hervortritt, sondern auch in Augenblicken der Ruhe und des Friedens. Es gehört aber weiter zum Wesen des Rechtsgefühls, daß dieser Respekt in der Empfindung von der Vorstellung der Macht der anderen sozialen Gruppe ganz absieht und hier ist eben jene Erscheinung, daß Macht und Recht einanander entgegen gehalten werden als Gegensätzliches und hier ist ein Problem zu lösen, da ich ja soziale Macht und Recht als Tatsachen als identisch gezeigt habe. Wie kommt es, lautet das Problem, daß Recht und soziale Macht als soziale Tatsache identisch und als geistige moralische Kategorien entgegengesetzt sind. Vermag man diesen Widerspruch befriedigend zu lösen, so hat man das Rechtsproblem nach einer der wichtigsten Richtungen aufgehellt. Es sei also hier der Versuch dazu gemacht. Die Wurzeln des gesamten Empfindungslebens sind die Lust- und die Unlustempfindung. Die Wurzeln der gesamten Erkenntnis des Vorstellungslebens sind die Vorstellungen der Lust- und Unlustgefühle und die Wurzeln des Willenslebens sind das freudige Verlangen nach der Lust und die Furcht vor den Unlustgefühlen. Namentlich die Furcht ist die Grundempfindung alles Lebenden. Die Erkenntnis von Ursache und Wirkung ist eine jederzeit sehr beschränkte. Von den Urzeiten bis heute, bei den tiefstehenden Lebewesen wie bei den höchsten Geistern kann die konkrete Erkenntnis von Ursache und Wirkung mit Rücksicht auf den relativ geringen Umfang von persönlicher Erfahrung und Tradition nur höchst begrenzt sein. Warum der befruchtende Regen kommt, warum die Mißernte war, warum die geliebten Angehörigen sterben, warum der Stamm in der Schlacht unterlag und der Feind siegte, die Verkettung all dieser schmerzlichen und freudigen Ereignisse zu durchschauen vermag sich kaum der stärkste menschliche Geist zuzumuten. Um wieviel weniger vermag dies das durchschnittliche geistige Bewußtsein. Deutlich im sozialen Bewußtsein ist stets nur die Furcht vor Unheil und jenem Unbekannten, der das Unheil sendet, vor den Geistern, vor den Göttern, vor Gott. Es handelt sich nun darum, Gott nicht zu reizen, damit er kein Unheil sendet. Das Wesen des Gottbewußtseins ist das Irrationale. Gott sendet Heil und Unheil nach seinem unerforschlichen Ratschluß. Das Wesen der Gottverehrung ist die Furcht vor dem Unheil, das er senden kann, man weiß nicht warum und weshalb. Gott ist die Undurchdringlichkeit der Zusammenhänge aller Erscheinungen. Der Respekt einer sozialen Gruppe vor einer anderen ist ein religiöser. Und alles Recht ist religiösen Ursprungs. Alle Rechtsformen sind Kultformen, alle Rechtsfunktionäre sind in den Ursprüngen Priester. Der primitive Mensch der Horde hält den beschworenen Bund, weil dessen Verletzung den Gott oder Geist, in dessen Schutz der Bundesbruder steht, zur Rache reizen könnte. Der moderne Mensch teilt jeder Gruppe, jedem Menschen einen Machtbereich, ein Recht zu, dessen Verletzung ihn entrüstet, wenn der Verletzte im einzelnen Fall auch zu schwach ist, Widerstand zu leisten. Diese Entrüstung ist die Furcht vor Gott, vor der moralischen Weltordnung. Es ist die sublimierte Furcht, sublimiert durch die Erkenntnis von Ursache und Wirkung; der Glaube, daß die Rechtsordnung, in irgendeinem Punkt verletzt, irgendwann und irgendwo und irgendwie durch Verwirrung und Unheil reagiert. Furcht, Furcht, Furcht steht am Eingang des Tempels der Gerechtigkeit, wie des Tempels aller anderen Götter. Und zwar - das ist das Entscheidende - vollständig verschieden von der Furcht der Ursächlichkeit, nicht jene Furcht, die weiß, daß das Pulverfaß explodiert, wenn ich es in Brand setze, sondern die religiöse Furcht vor dem Ursachlosen und Grundlosen, vor dem Unbekannten, vor den Geistern, vor Gott. Deswegen ist der Utilitarismus als Moraltheorie historisch und sozial vollständig falsch. Die Zweckmäßigkeit geht nach Gründen und Ursachen, die Moral sieht von Zweckmäßigkeit ganz und gar ab, sie beruth immer nur auf der Furcht vor Gott, oder vor dem, wozu sich Gott im Bewußtsein verflüchtigt hat, vor einem Prinzip, vor einer Idee. Deswegen sind auch die englischen utilitaristischen Moraltheorien alle so unbefriedigend, welche immer mit der vergessenen Zweckmäßigkeit, die der Moral und Sitte zugrunde liegen soll, operieren, während jedermann fühlt, daß im Begriff der Moral umgekehrt etwas Irrationales, der Zweckmäßigkeit entgegengesetztes ist. Morale quia absurdum [Ich bin moralisch, weil es absurd ist. - wp] kann von nahezu allen Gesetzen und Vorschrifen von Moral und Sitte gesagt werden. Das Zweckmäßige im Moralischen ist nicht vergessen worden, man hat es vielmehr nie gewußt. Durch die Äußerungen GNAEUS FLAVIUS', JOSEF UNGERs und FRANZ KLEINs, ist die Frage nach dem Wesen des richtigen Urteils in den Vordergrund gerückt worden. Ich habe im Vorangegangenen schon vorweggenommen, daß das Urteil eine Grenzberichtigung ist, bewirkt durch die herrschende Macht zwischen den Beherrschten. Nichts anderes ist auch, wie gleichfalls schon festgestellt, das Gesetz, welches auch nur den sozialen Machtraum zweier sozialer Gruppen abgrenzt. Der Rechtsstreit nun, der sich auf dem Boden der bestehenden Gesetze zwischen zwei Parteien abspielt, hat zur Voraussetzung, daß die Machtgebiete zweier sozialer Gruppen wieder streitig geworden sind. Die Parteien, die sich gegenüberstehen, mögen sie Verkäufer und Käufer, Grundherr und Pächter, Lohnherr und Arbeiter, Ehegatte und -gattin sein, sind immer Vertreter zweier sozialer Gruppen. Nur weil sie das sind, ist eine Anwendung des Gesetzes auf sie möglich. Der Rechtsstreit entsteht allemal dadurch, daß die durch das Gesetz festgesetzten Grenzen verwischt, unkenntlich gemacht worden sind oder besser, daß Machtraum da ist, der das letztemal unbesetzt geblieben ist und um den nun die beiden Gruppen neu konkurrieren. Die Annahme, daß im Gesetz oder in den Grundgedanken des Gesetzes etwas enthalten ist, das bei richtiger Überlegung den Rechtsstreit allseitig befriedigend entscheiden muß, ist ein Grundirrtum. Es gehört zum Wesen des wirklichen Rechtsstreits, daß die strittige Frage im Gesetz nicht entschieden ist und die Entscheidung neben dem Gesetz, nicht gegen das Gesetz, ist die Regel. Deshalb heißt es die Quadratur des Zirkels suchen, wenn man nach der Form des richtigen Urteils sucht, welches den Rechtsstreit stets nach dem Gesetz entscheidet. In jedem Rechtsstreit findet sich die unterlegene Partei verkürzt, weil sie einen vom Gesetz nicht zugewiesenen Machtraum in Anspruch nimmt, den nun das Urteil endgültig der anderen Partei zugewiesen hat. Welcher der Parteien der Richter das Urteil zusprechen wird, das ist, je nachdem von welcher Seite man die Sache ansieht, eine Frage der sozialen Macht oder der sozialen Gerechtigkeit, also nicht der Gesetzlichkeit. Die tiefe Bedeutung des Urteils liegt darin, daß es schöpferische Kraft hat. Es schafft dort und setzt dort fort, wo das Gesetz aufgehört und es bereitet so das kommende Gesetz vor. Es heißt das Urteil in seiner Bedeutung verkennen, wenn man ihm nur die Anwendung der Gesetze zuschreibt, während es in Wahrheit eine viel größere Aufgabe hat, welche der Aufgabe der Gesetze gleichkommt. Daher kommt es, daß in den Ländern der gerechtesten, der angelsächsischen Rasse, das Urteil auch formell ein Ansehen und eine Wichtigkeit besitzt, nicht geringer als das Gesetz. Angesichts der Tatsache, daß die Rechtsstreitigkeiten die Vorposten und Einzelgefechte der sozialen Machtgruppen sind, gewährt es einen außerordentlichen Reiz, die Entscheidungen der obersten Gerichte zu lesen. Man sieht hier, wie eine Gruppe gegen die andere ankämpft, man verfolgt die Etappen dieses Kampfes, wie in den verschiedenen Urteilen die Entscheidung schwankt, bis sich der Sieg diesem oder jenem Heer zuneigt. Es ist der soziale Kampf, aufgelöst in Einzelkämpfe. Man sieht aber auch, daß die gut organisierten Gruppen, welche es verstehen, in jedem Fall ihr Recht zu wahren, vordringen, während jene unterliegen, welche im Dunkeln dulden und leiden, weil sie vereinzelt zu schwach sind, um jedesmal das Glück der Schlacht zu versuchen, das heißt, die richterliche Entscheidung anzurufen. Ich brauche für den fachkundigen Leser nicht zu betonen, daß ich jene Fälle des Rechtsstreits außeracht gelassen habe, wo es sich lediglich um Irrtümer im Tatbestand, um Willkür und Mutwillen handelt, wo also wirklich die Anwendung des Gesetzes, die Logik, die Ableitung des besonderen Falles aus dem allgemeinen Gesetz hinreicht. Diese Fälle haben mit dem hier behandelten Problemen nichts zu tun. Anders steht es mit den Fällen, wo gegen das Gesetz entschieden werden soll, weil das allgemeine Empfinden das Gesetz für ungerecht hält. Auch diese Fälle sind vom behandelten Problem verschieden. Hier ist der Rechtsstreit im Gesetz entschieden, allein die Entscheidung mißfällt dem Richter und der Allgemeinheit. Ich zeige im folgenden, daß die Gesetzlichkeit, das heißt, die Verpflichtung zur ausnahmslosen Anwendung der Gesetze, schon eine ganz bestimmte Art der Gerechtigkeit ist. Es ist dies aber zugleich der einzige Grundsatz der Gerechtigkeit, welcher wirklich unwidersprochen existiert und die festeste Grundlage des modernen Lebens ist. Es hieße nun dieses einzige Fundament erschüttern, wenn man Entscheidungen gegen das Gesetz für zulässig erachten sollte. Der Widerstreit von Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit ist also im Prinzip durchaus möglich. Aber niemand, der den sozialen Frieden und die soziale Ordnung für ein Kulturgut ansieht, wird in diesem Widerstreit für den Sieg der Gerechtigkeit gegen die Gesetzlichkeit sein und ein Recht auf regelmäßige Entscheidungen contra legem [gegen das Gesetz - wp] zugeben. Der Advokat ist stets nur Vertreter einer sozialen Macht, die mit einer anderen um ihren Bereich kämpft. Alle Redensarten vom Beruf des Anwalts dem "Recht" zum Sieg zu verhelfen, können an dieser Tatsache nichts ändern. Jeder Stand, jede soziale Gruppe schafft sich ihre Anwälte, die sodann bewußt oder unbewußt ihre Argumente und ihre Wissenschaft den Interessen dieser Gruppe anbequemen. Es gibt Schuldneranwälte und Gläubigeranwälte, Anwälte der Unterdrückten und solche der Unterdrücker. Die Anwälte wählen sich ihre Position nicht selbst, ihre wirtschaftliche und soziale Entwicklung bringt sie in die Lage des einen oder des anderen. Einmal auf ihren Platz gestellt verfechten sie mit dem besten Gewissen der Welt die Sache ihrer Gruppe. Der Kartellanwalt hält das Kartell ohne Heuchelei für eine höchst vortreffliche, segensreiche Sache, was er mit den besten Gründen belegen kann. Der sozialdemokratische Anwalt wird das Kartell für eine ausgemachte Schurkerei ansehen, was er auch beweisen kann, sowohl juristisch wie nationalökonomisch. Wenn man also sagt, der Advokat ist oder soll ein Diener im Recht sein, so ist damit gar nichts gesagt. Dort wo ein Rechtsstreit entsteht, gibt es meist vorher kein Recht, wie ich gezeigt habe. Da soll erst ein Recht geschaffen werden für eine der kämpfenden Parteien und ihre soziale Grupe: durch das Urteil, durch eine Reihe von Urteilen, durch ein Gesetz. Die Anwälte haben die Aufgabe, die soziale Macht ihrer Gruppe erst zu rechtlicher Anerkennung zu bringen, in Fällen wo ihr diese Anerkennung noch fehlt. Es ist aber begreiflich, daß die Advokaten der herrschenden Klassen, die Gläubigeranwälte, sich Diener am Recht nennen. Die herrschenden Klassen sind im Besitz und die andern, welche ihr Recht wollen, machen diesen Besitz abbröckeln. Deswegen haben und empfehlen die Anwälte der besitzenden Klassen Reserve und dienen am Recht, weil dieses Verhalten den gegenwärtigen Zustand am wenigsten erschüttert. Der Schuldneranwalt muß sich natürlich mehr exponieren, wenn er seine Aufgabe erfüllen will, er muß immer gegen Besitz und Macht ankämpfen, ein Terrain erobern, das noch im gegnerischen Besitz ist und trägt weit mehr Verantwortung und Gefahren als sein glücklicherer Kollege, welcher in ruhiger Verteidigung des bestehenden dasteht. Der Gegensatz zwischen Gläubiger- und Schuldneranwalt ist tiefer als man glaubt. Es ist begreiflich, daß die Advokatenkammern durchaus von den Gläubigeranwälten besetzt sind, und daß die Anwälte der Schuldner und der Schuldigen sich immer in einer Art Gegensatz und Fechterstellung zu den Advokatenkammern befinden. Wie alle sozialen Betätigungen hat auch die Herrschaft einer sozialen Gruppe über andere zwei Qualitäten: Intensität und Dauer. Je intensiver eine Herrschaft, desto weniger dauerhaft ist sie, soll sie lange dauern, so darf sie nicht zu intensiv sein. Die intensive Herrschaft verbraucht rasch die physischen und materiellen Mittel, die dauernde Herrschaft ist darauf bedacht, die Mittel zu schonen. Dieses ökonomische Umgehen mit den Mitteln setzt Erfahrung und Erwägung voraus. Die Herrschaft von Naturvölkern ist immer intensiv. Vernichtung, Versklavung, starke und unmittelbare Ausbeutung sind ihre Merkmale. Die erfahrenen Völker suchen durch wirtschaftliches Verhalten die Herrschaft zu festigen, sei es auch auf Kosten ihrer Intensität. Die heute herrschenden Klassen sind durch die Schule der Jahrtausende gegangen und verzichten auf die Wollust des Cäsarismus um ihrer Herrschaft unbegrenzte Dauer zu geben. Das Richtertum, die Schlichtung von Streitigkeiten der Beherrschten ist ein Punkt des Systems: die Herrschaft dauernd zu machen. Willkür, das Wesen der intensiven Herrschaft, verbraucht, Gerechtigkeit erhält die Herrschaft. Der Richter ist ein Ausdruck dieses Prinzips. Er ist ein Organ der herrschenden Klassen, geschaffen um den sozialen Frieden zu erhalten und dadurch die Dauer der Herrschaft zu gewährleisten. Alle Ideen der Gerechtigkeit entspringen daher im Grunde aus den Herrschaftsverhältnissen. Es ist aber natürlich, daß die Beherrschten in dem Maße, als sie selbst soziale Macht erlangen, die Idee des Richtertums, der Gerechtigkeit verselbständigen, als Postulat einer absoluten Moral hinstellen und so als soziales Machtmittel für sich verwenden. Daher die Bedeutung, welche die Demokratie der Justiz, dem Richterstand beimißt. Dazu kommt noch, daß der Richterstand selbst eine soziale Gruppe bildet und seinerseits wieder Vorrechte und eine bevorzugte Stellung urgiert [verlangt - wp] und erlangt. Und so wird die Funktion des Richters im sozialen Mechanismus begreiflich. Der Richter ist ein Teil der herrschenden Klasse, die herrschende Klasse selbst. Die beherrschten Klassen zwingen den Richter, in dem Maße als sie selbst Macht erlangen, dieser Macht Rechnung zu tragen. Der Richter wird endlich selbst eine soziale Macht und kommuniziert mit der Macht der herrschenden und der beherrschten Klassen, steht zwischen ihnen als soziales und moralisches Element. Es ist dies ein allgemeines Schema sozialer Einrichtungen. Von den herrschenden Klassen geschaffen, von den beherrschten benützt, werden die sozialen Einrichtungen selbst Kristallisationspunkte einer neuen Klasse, welche Macht gewinnt. Und so erklären sich auch die Schwankungen, welchen das Richtertum ausgesetzt ist. Als Organ der Herrschenden, welches es stets bleibt, wird es in entscheidenden Augenblicken stets der Macht der Regierenden zu Hilfe kommen. Wo deren Interessen nicht in Betracht kommen, wird der Richter, wenn die sozialen Machtverhältnisse an einem Wendepunkt stehen, der aufstrebenden bisher unterdrückten Klasse zur Macht verhelfen und so den sozialen Frieden herbeizuführen versuchen. Und das ist die wunderbare Funktion des Richtertums. Der Richter gibt den latenten Machtverhältnissen Ausdruck, er schafft sie nicht, aber er leiht ihnen Worte und gibt dadurch Beruhigung und Frieden. Und deshalb ist die tiefste Erfordernis für den Richter eine eingehende Kenntnis der sozialen Machtverhältnisse, welche Erfordernis FRANZ KLEIN mit seiner Erfassung der Wirklichkeit als das Wichtigste herausgehoben hat. Es ist aber klar, daß diese eindringende Kenntnis der sozialen Verhältnisse nicht immer eine theoretische sein kann. Sie ist vielmehr beim wahren Richter eine intuitive, instinktive. Die richterliche Tätigkeit ist eine moralische, das heißt sie ist im wesentlichen eine Bewertung der sozialen Machtverhältnisse. Die Erkenntnis schafft nun die Voraussetzung für diese Bewertung. Die Fähigkeit zu bewerten ist von der Erkenntnis ganz verschieden. Zwischen Rechtskenntnis und rechtlicher Fähigkeit besteht eben jener Unterschied, den ich zwischen Wissenschaft und Moral gezeigt habe. Und so ist das Richten eine wahre Kunst, die dem schlichten, einfachen Geist meist mehr eigen ist, als dem komplizierten und belesenen Verstand. Daher kommt es, daß die Juden als Richter oft versagen, wo der weniger ambitiöse christliche Richter, der mit seinem Wesen mehr im Volk wurzelt, instinktiv das Richtige trifft, wenn auch seine nachträglichen Begründungen nicht die Schärfe des Rasiermessers und die Feinheit gespaltener Haare haben. Ich gelange zur Setzung des Schlußsteines meines Gebäudes. Ich habe darzustellen, welche Bedeutung die Gerechtigkeit als Prinzip, als regelnde Norm hat. Also nicht welche Rolle ihr historisch zukommt, nicht darzustellen, was die Gerechtigkeit als Marke für die Parteien und ihre Leidenschaft bedeutet, nicht was ihre psychologischen Wurzeln sind und welche Formen sie im Machtgetriebe angenommen hat. All das ist schon in den vorangegangenen Essays gegeben worden. Um das handelt es sich jetzt, was die Philosophie die Idee der Gerechtigkeit nennen würde. Die Idee der Gerechtigkeit besteht darin, daß jedes soziale Gebilde, jeder Mensch, das Tier sogar ein Maß an Recht besitzt, das Anspruch auf Bedachtnahme hat und daß die Gerechtigkeit dieses Maß festzustellen oder zuzuteilen oder zu gewährleisten habe. Wie groß aber dieses Maß sei, darüber kann die Idee der Gerechtigkeit gar nichts aussagen. Ob das Privateigentum gerecht oder ungerecht ist, ob die unbedingte Verpflichtung, Verträge zu erfüllen, eine gerechte ist, ob das Koalitionsrecht oder das Koalitionsverbot das rechte ist, darüber gibt uns die Idee der Gerechtigkeit gar keine Auskunft. Und es ist ein fundamentaler Irrtum, zu glauben, daß es irgendeine Formulierung der Idee der Gerechtigkeit gebe, welche auch nur eine formale Regel für die Beurteilung eines Rechtszustandes oder überhaupt einer Rechtserscheinung abgeben könnte. Und in diesen Irrtum sind ohne Ausnahme bisher alle verfallen, welche das Rechtsproblem untersucht haben. Gerechtigkeit setzt ein soziales Ganzes mit einem bestimmten Zweck voraus und in diesem Ganzen hat jeder Teil soviel Recht, als sich mit dem Zweck des Ganzen verträgt. Gerechtigkeit ist also kein Zweck, sondern ein Mittel. Kein Endwert, sondern ein Hilfswert. Kein unbedingtes Gut, sondern ein beziehentliches Gut. Man bewertet eine Erscheinung als gerecht nicht in Bezug auf sich selbst, sondern auf den Zweck des Ganzen, von dem sie ein Teil ist. Das Privateigentum ist gerecht oder ungerecht, je nach den Zwecken, die man der Gesellschaft zuschreibt. Natürlich kann darüber, ob das Privateigentum dem angenommenen Zweck entspricht, auch wieder Streit sein. Doch dies gehört in ein anderes Gebiet. Ist nun die Gerechtigkeit nach all dem Vorgesagten eine Idee von Bedeutung? Sie ist es und zwar von der höchsten aber nur dann, wenn eben über die Kulturwerte Übereinstimmung besteht. In jedem Staat, in jeder Gesellschaft, in jedem Kulturkreis besteht eine teils bewußte, teils unbewußte Übereinstimmung über gewisse Grundwerte. Die Freiheit, die Ordnung, der Schutz der erworbenen Rechte, der Schutz des Menschenlebens, der Schutz vor Ausbeutung, die göttliche Natur des Menschen, die göttlichen Aufgaben der Gesellschaft und viele andere Werte sind es, die in engeren und weiteren Kreisen Geltung haben. Die Richter und Gesetzgeber messen Urteile und neue Gesetze nach diesen Grundwerten ab. Eine ernste Gerechtigkeit ist nur möglich, wenn eine starke und ungeteilte, unreflektierte Empfindung, wenn ein Glaube an diese Grundwerte' besteht. Es kann auch sein, daß ein Kulturkreis in zwei große Lager gespalten ist, die beiden gegensätzliche Grundwerte annehmen. Aber die Gerechtigkeit ist ohne Grund, wenn die Kulturwerte selbst schwanken und in Frage stehen. Die Gerechtigkeit bestimmt sich demnach nach den Werten und ZWecken, für welche die Gerechtigkeit das Mittel ist. So wie sich immer das Mittel nach dem Zweck bestimmt. Wir wissen schon, daß die Werte sehr verschieden sind. Ein Vergleich der Werte setzt voraus, daß alle Werte vergleichbar, aneinander meßbar sind und daß es ein höchstes absolutes Gut, einen größten Wert, einen letzten Zweck gibt. So sehr in der Wirklichkeit und in der Geschichte Streit über und Kampf um diesen letzten Wert bestehen mag, so ist doch diese Annahme von einem höchsten Wert die Voraussetzung, ohne welche es auch diesen Streit und Kampf nicht gäbe. Also je nachdem man die Freiheit oder die Ordnung oder die Wohlfahrt aller Menschen oder den Fortschritt der Menschheit als höchstes Gut ansieht, wird man die Gerechtigkeit und die Rechte nach diesen oder den anderen Gütern abmessen und zuteilen. Natürlich darf man die Gerechtigkeit nicht mit der Gesetzlichkeit verwechseln. Gesetzlichkeit setzt schon einen bestimmten Rechtszustand voraus, sei es, daß er durch geschriebene oder ungeschriebene Gesetze hergestellt ist. Und angenommen, daß das Festhalten und die Beachtung der Gesetze ein Gut ist - und das ist zweifellos der Fall - dann ist die Gesetzlichkeit eine bestimmte, konkrete Form der Gerechtigkeit. Aber sie ist keineswegs mit der Gerechtigkeit identisch. Dies ergibt sich sofort, wenn man die bekannte Tatsache in Betracht zieht, daß Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit sogar in einem steten Widerspruch stehen, der seine Lösung in einer stetigen Änderung jener Gesetze findet, die der Gerechtigkeit nicht mehr entsprechen. Auch die Rechtsgleichheit ist nichts anderes als eine andere Formulierung der Gesetzlichkeit. Das alles sage ich, um zu zeigen, daß die Gerechtigkeit ein leerer Begriff ist ohne Beziehung auf jene Kulturgülter, für welche sie das Mittel ist. Und deshalb wird die Gerechtigkeit auch immer von allen Parteien für sich in Anspruch genommen, weil sie ihre Kulturgüter als die höchsten zum Bestimmungsgrund der Gerechtigkeit nehmen. Was ist nun jene Jurisprudenz, von der ich im ersten Kapitel sagte, sie sei keine Wissenschaft? Von der ich sagte, sie sei mit Elementen der Moral vermengt. Die Antwort liegt in der Frage. Die Jurisprudenz ist ein mixtum compositum von Wissenschaft und Moral. Und aus dieser Besonderheit der Jurisprudenz erklären sich alle Eigentümlichkeiten, welche diese Diszipline in ihrer Behandlung, ihrer Anwendung und ihrer Entwicklung aufhalten. Liest man eine Erörterung einer juristischen Kontroverse, so wird man finden, daß fünf, sechs und mehr Ansichten nebeneinander gestellt werden, die einen ungefähr ebenso plausibel wie die anderen. Die siebente Ansicht des Autors selbst kommt dann noch dazu. Aber ein Kriterium für die Richtigkeit der Ansichten fehlt vollkommen. Das Schlüssige und Zwingende, das geradezu Befreiende, das die Lösungen der Wissenschaften haben, geht juristischen Lösungen durchaus ab. Ein Zustand, der den wirklich in die Tiefe gehenden Juristen, den aufrichtigen Menschen wohl mit Unlust, ja mit Widerwillen erfüllt. Erfüllen muß, solange das Grundproblem der Jurisprudenz nicht seine Lösung gefunden hat. Und doch arbeitet die Jurisprudenz scheinbar mit demselben logischen Apparat, wie die strengen Wissenschaften. Auch bei ihr sind die Schlüsse vom feststehenden Allgemeinen zum Besonderen, die Festellungen vom Besonderen ins Allgemeine vorhanden. Ist es in der Tat so? Sehen wir zu! Die Chemie enthält den Erfahrungssatz, daß Säuren Lackmuspapier rot, Basen jedoch blau färben. Die allgemeine Richtigkeit dieser Erfahrung angenommen, wird die Feststellung, daß eine Substanz eine Säure sei, allgemein für richtig angenommen werden, wenn diese das Lackmuspapier rot färbt. Solche allgemeingültige, ganz unbestrittene Obersätze, wie vom Verhalten des Lackmuspapiers, gibt es in den Wissenschaften zahllose. Auch die Wahrnehmung, ob in einem bestimmten Falle das Lackmuspapier blau oder rot gefärbt wird, ist ganz unbestritten. Der erwähnte Obersatz selbst ist auch aus Wahrnehmungen genommen. Es ist hierbei interessant festzustellen, daß das Wort Theorie selbst Wahrnehmung bedeutet. Natürlich gibt es auch strittige Wahrnehmungen. Aber es gehört zum Wesen der wissenschaftlichen Wahrnehmung, daß sie die Tendenz zur Einheitlichkeit hat. Es ist immer die Annahme, daß stets nur eine Wahrnehmung richtig sein kann, während die andern falsch sein müssen. Es ist hierbei gar nicht auf die erkenntnistheoretische Grundlage der Wahrnehmung zurückzugehen. Es ist gleichgültig ob die Wahrnehmungen der verschiedenen Subjekte deshalb gleich sind, weil diese vom Objekt ausgehen oder weil die wahrnehmenden Subjekte organisch gleich sein, oder weil die Ökonomie des Geistes auf die Vereinheitlichung der Warhnehmungen hinführt. Für unser Problem ist lediglich die Tatsache der Gleichheit der Wahrnehmungen oder doch der Tendenz zu dieser Gleichheit maßgebend. Vollkommen verschieden von dieser logischen Operation ist die Art des juristischen Schließens. Wir haben gesehen, daß das Wesen des wissenschaftlichen Schlusses die Subsumtion einer Tatsache unter einen als gültig angenommenen Obersatz aufgrund einer Wahrnehmung ist, gleichgültig ob dies eine äußere oder innere Wahrnehmung sei. Ganz anders beim juristischen Schluß. Nehmen wir vorläufig an, daß es auch hier solche allgemeingültige Obersätze gebe. Aber die Subsumtion unter diese Obersätze geschieht im letzten Grund nicht durch die Wahrnehmung, sondern durch die Bewertung. Und es gehört zum Wesen der Bewerung, daß sie nicht wie die Wahrnehmung die Tendenz zur Einheitlichkeit, sondern zur Mannigfaltigkeit hat. Dieselbe Tatsache kann von verschiedenen als gut und böse, als recht und unrecht gewertet werden. Solange man annimmt, daß zum Beispiel die alte Streitfrage, ob der Besitz ein Recht oder eine rechtlich geschützte Tatsache ist, als eine wissenschaftliche angesehen wird, kann ihre Beantwortung immer nur Unbefriedigung zurücklassen, wenn man nicht gar alles Reden darüber für müßiges Geschwätz hält. Die Unbefriedigung hört sofort auf, wenn man weiß, daß die Antwort, daß der geistige Prozeß, durch welchen man zur Antwort gelangt, eine Bewertung ist. Gewiß wird man das Werturteil mit Argumenten stützen, welche die äußeren Verhältnisse mit Wahrnehmungsurteilen heranziehen. Aber immer ist bei der juristischen Aussage in strittigen Fragen das Wertmoment die letzte Instanz. Und das eben ist das Wesen der Jurisprudenz, daß sie Wahrnehmung und Bewertung verbindet, daß sie ihre Begriffe durch Wahrnehmung und Bewertung zugleich entwickelt. Und deshalb ist die scheinbare Unsicherheit der juristischen Urteile nicht ein Mangel der Jurisprudenz, sondern es gehört zu ihrem Wesen, daß ihre Urteile in letzter Instanz auf die Wertfunktion, die Überzeugung zurückgehen, welche nicht wie die Wahrnehmung nur eine Wurzel, sondern mehrfache Wurzeln hat. Die Obersätze, die Begriffe selbst wieder, unter welchen man die Tatsachen subsumiert, sind auch durch Bewertung gewonnen. Nehme man welchen juristischen Begriff auch immer - das Eigentum, den Vertrag, die Ehe usw. - immer wird man in der Definition, in der Abgrenzung dieser Begriffe nicht nur die Zusammenfassung äußerer Erscheinungen, sondern auch die Bewertung finden. Jede Definition wird den richtigen Vertrag, das richtige Eigentum, die richtige Ehe meinen. Und bei der Entwicklung dieser Begriffe wird jeder soviel an Recht herausholen, als er vorher schon hineingelegt hat. Der größte Schaden erwächst der Jurisprudenz aus der unklaren Vermischung der beiden hier gezeigten Elemente dieser Disziplin, aus der wissenschaftlichen Verbrämung dessen was Aussprechen einer Überzeugung ist. Man muß den Juristen auf die Finger klopfen. "Ist das ein Prolog oder eine Ringinschrift?" fragt HAMLET. Was ist in einer juristischen Erörterung eine Feststellung sozialer Tatsachen, also strenge Wissenschaft und was ist rechtliche Bewertung, muß immer gefragt werden, wenn dieser merkwürdigsten aller menschlichen Geistesbetätigungen, der Jurisprudenz, Klarheit und Erneuerung werden soll. Es gibt drei Bücher, welche das hier behandelte Problem an seinen Wurzeln und in seiner Fülle erfaßt haben. Diese drei Bücher sind die "Soziologie" von LUDWIG GUMPLOWICZ, "Wirtschaft und Recht" von RUDOLF STAMMLER und "Soziale Rettung durch wirkliches Recht etc." von EUGEN DÜHRING. Ein Versuch, allerdings ein ganz mißglückter, wurde schon von JHERING mit seinem Zweck im Recht gemacht. JHERING führt eine Konstruktion auf, in welcher die Zwecke das Rechtsgebäude bilden. Aber es herrscht in seinem Werk eine vollständige Unklarheit darüber, wer der Träger der Zwecke ist und auf welchem Weg sich die Zwecke realisieren. Von einer wissenschaftlich befriedigenden Leistung kann keine Rede sein und gerade dieses Werk des großen Juristen, das er als sein Lebenswerk ansah, hat am wenigsten die Wissenschaft befruchtet. GUMPLOWICZ war der erste, der das Tatsächliche des Rechts isoliert dargestellt, der die soziale Kausalität, losgelöst von aller Mystik, von moralischen Begleitumständen dargetan hat. Es ist bei der Außerordentlichkeit dieser Leistung fast selbstverständlich, daß er die andere Seite der Sache nicht entwickelt. Bis zu ihm war in Fragen der sozialen Ursachen des Rechts eine unheilbare Vermengung von Moral und Wissenschaft, so ein unwissenschaftlicher Dualismus im Schwange, daß es ihn bei Erfüllung der Aufgabe nur gestört hätte, wenn er auch die moralische Funktion des Rechts systematisch hätte entwickeln sollen. Daß er sich dieser Funktion ganz bewußt war, zeigen Partien des Buchs sehr deutlich. Die Aufgabe, die er übrig gelassen hat, wurde von STAMMLER vollständig gelöst. STAMMLER hat ein sehr dickes Buch geschrieben, welches eingestandenermaßen eine Nachfolge KANTs ist. Dort werden in einem für den Feinschmecker sehr fesselnden Weise, in einem kantischen Stil, mit einer ebensolchen Terminlogie Dinge mit unerhörter scholastischer Gründlichkeit entwickelt, die viel schlichter dargestellt werden können. Aber da ist eine große Partie, welche das Wesen und die Bedeutung des Zweckes in einer unglaublichen Vollkommenheit enthüllt. Ohne jede Metaphysik wird der Dualismus auseinandergelegt und gezeigt, wie neben dem Reich der Ursachen und Wirkungen der Notwendigkeit das Reich der Zwecke, der Freiheit besteht, ohne daß diese beiden Gebiete im mindesten ineinander übergreifen können. Allein er kommt zu dem Schluß, daß das soziale Leben seine Gesetzmäßigkeit und seine Erklärung nur durch die Zwecke erhalte, was offenbar falsch ist. Denn das soziale Leben muß auch einer kausalen Erklärung fähig sein. Nur, daß diese Erklärung wegen der Mannigfaltigkeit und außerordentlichen Verschlungenheit nicht durch einfache Gesetze gegeben werden kann, etwa durch ein Gesetz der Entwicklung oder durch sonst eine Spielerei eines Naturphilosophen. Aus seinem Irrtum heraus kommt er auch dazu, das Genie des LUDWIG GUMPLOWICZ mit der Bemerkung abzutun, daß dieser den "laienhaften Versuch" mache, das Recht auf die Macht als Prinzip zurückzuführen. Dieses Prinzip ist als kausales vollständig zutreffend, nur daß es in der Geschichte sehr mannigfaltig ist, was zur Macht wird und aus welchen Elementen die Macht entsteht. Denn niemand wird GUMPLOWICZ zumuten, daß er unter Macht nur Muskelstärke gemeint hat. Die sozialen Erscheinungen durch den Zweck "erklären" wollen ist ein vergebliches unwissenschaftliches Beginnen. Das Zweckprinzip kann diese Erscheinungen bewerten, kritisieren, die Erklärung jedoch bleibt immer Sache der Wissenschaft und ihres Kausalitätsprinzips. Auf dem Irrtum STAMMLERs, einen formalen Begriff der Gerechtigkeit gewinnen zu wollen, habe ich schon im Essay "Gerechtigkeit" hingewiesen. das von ihm gewonnene Prinzip des Rechts als "Gemeinschaft frei wollender Menschen" ist schon eine ganz konkrete Art des Rechts, ebenso konkret wie etwa der Gottesstaat des heiligen AUGUSTINUS oder die Gemeinschaft der Gleichen des BABEUF. Einen ganz anderen Ausgangspunkt nimmt DÜHRING in seinem letzten Buch. Seine Grundlage ist eine freie, friedliche Menschlichkeit, nac der er den Wert aller historischen und sozialen Erscheinungen bemißt. Das Kriterium für diese Wertgrundlage ist für ihn ganz richtig nur die Evidenz, die Selbstverständlichkeit. Er begeht nicht den Fehler, diesen seinen Ausgangspunkt irgendwo im Außerweltlichen stützen zu wollen, sondern überläßt es der Kraft seiner moralischen Idee, sich als allgemeingültig durchzusetzen. Von dieser Idee aus bekämpft er die darwinistische Idee des Kampfs ums Dasein, welche von der Naturwissenschaft aus ganz unberechtigerweise ins Moralische eingebrochen ist und setzt an deren Stelle die friedliche Konkurrenz zu den Naturmitteln. Und weiter bekämpft er alles Gewalttätige, Übertriebene, Feindselige in der Geschichte und in der Gesellschaft. Er setzt der Macht, die man immer als naturnotwendig auch in ihren frevelhaften Äußerungen hingenommen hat, das Recht entgegen, und zwar eben jenes Recht, das er von seinem Standpunkt einer freien friedlichen Menschheit gewonnen hat. Daß er dabei zu manchen ziemlich unmenschlichen Folgerungen gegen alles jüdische und was er so nennt, gelangt, ist eine Sache für sich, die für die wissenschaftliche Würdigung seiner Ideen nicht in Betracht kommt. |