ra-2tb-3D. KoigenK. Diehlvon MohlC. FrantzF. Nietzsche    
 
WILHELM von HUMBOLDT
Ideen zu einem Versuch, die Grenzen
der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen


"Die bürokratische Macht ist ein Feind des vollentwickelten Menschentums geblieben, weil sie das Leben engherzig ohne großen Zug beherrschen will und die Waffe des Idealismus, mit der  Humboldt einst zu kämpfen gedachte, muß frisch zu einem neuen Strauß geschliffen werden, denn mehr als je gilt es, den freien Menschen davor zu bewahren, daß er in einem allzu wohlbestellten Ackerland an seinen besten Eigenschaften verkümmert."

"Was die Einschränkungen betrifft, welche nicht sowohl den Staat als auch die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht haben, so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten. Die Alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen, die Neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbsfähigkeit. Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein."


Einleitung des Herausgebers

Zu einer Zeit, in der Deutschland politischer Geist neu erwachen sollte und die Männer im Reich allen Anlaß hätten, ihre staatsrechtlichen Verhältnisse selbstdenkend und selbsttätig zu ordnen, ist es eine dankbare Aufgabe, auf jene Denker zurückzugreifen, die vor uns zweifelnd an der Schwelle wichtiger Ereignisse standen und mit klarem Geist düstere Weltlagen beleuchteten.

WILHELM von HUMBOLDT ist weiteren Kreisen vorzüglich als Freund und Berater unserer Klassiker bekannt, seine Stellung als Staatsmann, die in der Mitvertretung Preußens auf dem Wiener Kongreß gipfelte, trat dem literarischen Charakter der Forschung entsprechend mehr in den Hintergrund, obwohl die politische Reise seiner Ansichten und der Fernblick seiner Weltanschauung besonders geeignet erscheinen, auch unter veränderten Verhältnissen als Beispiel zu dienen.

Im Jahre 1767 geboren, war HUMBOLDT ein Jüngling als ROUSSEAUs Ideen das Wesen der bisherigen Erziehung umwarfen. Sein Knabenalter stand unter dem Zeichen dieser Umwälzung in ganz besonderem Maße, da CAMPE, einer der Propheten ROUSSEAUs in Deutschland, sein Hofmeister war, und die Gedanken dieser neuen Philosophie begleiteten ihn grundlegend ins Leben. Als er begann, mit forschendem Verstand und der ungebrochenen Begeisterung einer wohlgeleiteten Jugend die staatsrechtlichen Verhältnisse seiner Zeit zu betrachten und wahrnahm, wie gewaltig sie von den Wogen der Französischen Revolution umbrandet wurden, schrieb er: "Wann wird der Mann aufstehen, der für die Gesetzgebung ist, was  Rousseau  für die Erziehung war?"

Zunächst sammelte er seine Gedanken in einem politischen Brief an einen Freund in Berlin, der dieses Schreiben im Januarheft der  Biesterschen Monatsschrift  des Jahres 1792 unter dem Titel "Ideen über die Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlaßt" veröffentlichte. Darin wendet sich HUMBOLDT scharf gegen die alleinseligmachende Kraft der Vernunft sowei gegen die "josephinische Richtung" der Staatskunst, die alles Heil in einer amtlichen Menschenbeglückung sah. Schon wird der Grundsatz aufgestellt und verfochten, daß es der ärgste und drückendste Despotismus ist, wenn eine Regierung "für das Glück und Wohl, das physische und moralische der Nation, sorgen muß".

Ein längerer Aufenthalt in Erfurt am Hof des Koadjutors [Pfarrgehilfe - wp] von Mainz, Freiherrn von DALBERG, bot Gelegenheit, über diese Gedanken mit dem hochbedeutenden Kirchenfürsten und im Anschluß daran mit SCHILLER in einen Ideenaustausch zu treten. In einem angeregten Gespräch stellte DALBERG, der ein Anhänger des josephinischen Staatsideals war, die Frage nach den Grenzen der Wirksamkeit des Staates. Dies veranlaßte HUMBOLDT, seine Gedanken über den Stoff zu ordnen, zu sichten und so weit zu vermehren, daß eine geschlossene Arbeit daraus entstand, die im Mai 1792 vollendet vorlag. Es war seine erste größere Schrift, und er nannte sie: "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen".

Der stark ausgebildeten individualistischen Neigung der damaligen Jugend, die darunter litt, daß der Nachfolger FRIEDRICHs des Großen dessen allgewaltige Staatspraxis im materiellen Bereich auf geistiges Gebiet ausdehnen wollte und jede freiheitliche Neigung unterbinden ließ, stellte HUMBOLDT sein politisches Glaubensbekenntnis auf, indem er jedes Bemühen, das physische oder gar das moralische Wohl durch staatliche Fürsorge zu fördern, als anmaßend zurückweist und nur die Folgen einer "unseligen Regiersucht" darin sucht. DALBERG wurde von dem jungen Politiker nicht überzeugt. Abschnitt für Abschnitt besprach er die Erörterungen und setzte ihnen die eigene Meinung entgegen, die er schließlich in seiner Gegenschrift zusammenfaßte und im Jahr 1793 anonym unter dem Titel: "Von den wahren Grenzen der Wirksamkeit des Staates" in Leipzig drucken ließ. Dieser etwas phrasenhafte Aufsatz ist eine Art Leichenrede des pädagogisch-väterlichen Regierungssystems, indem die Männer von HUMBOLDTs Generation bereits "einen kleingeistigen Schauder vor allem Neuen und Ungewöhnlichen" erblickten. Sie enthielt DALBERGs Regierungsprogramm, das nie zur Ausführung kam.

Über den Geist, der ihn bei der Abfassung seines Werkes beseelte, schrieb HUMBOLDT an FORSTER (1):
    "Ich habe der Sucht zu regieren entgegenzuarbeiten versucht und überall die Grenzen der Wirksamkeit enger geschlossen. Ja, ich bin so weit gegangen, sie allein auf die Beförderung der Sicherheit einzuschränken. Ich hatte die Frage, die ich beantworten sollte, völlig rein theoretisch in ihrem ganzen Umfang abgeschnitten. Ich glaubte also auch kein anderes Prinzip zum Grund meines ganzen Räsonnements [Argumentation - wp] legen zu dürfen als das, was allein auf den Menschen - auf den doch am Ende alles hinauskommt - Bezug nimmt, und zwar auf das am Menschen, was eigentlich seiner Natur nach den wahren Adel gewährt. Die höchste und proportionierlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen ist daher das Ziel gewesen, das ich überall vor Augen hatte, und der einzige Gesichtspunkt, aus dem ich die ganze Materie behandelt habe."
Dieser Standpunkt macht das Werk für unsere Zeit besonders wertvoll. Ein Dokument deutschen Geistes, steht es in der Geschichte des Idealismus und stärkt die Hoffnung, daß es doch einmal gelingen wird, das Joch jeder unnützen Vormundschaft abzuschütteln. SCHILLER nahm es besser auf als DALBERG, der als väterlich gesinnter Landesherr von freundlich-patriarchalischer Beglückung träumte. SCHILLER bat um das Manuskript und veröffentlichte einen Teil daraus im 5. Heft der neuen  Thalia (1792) unter dem Titel: "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staates auf seine Bürger erstrecken?" Die Bemerkung, daß die Arbeit fortgesetzt wird, läßt auf SCHILLERs Wunsch schließen, auch die weiteren Abschnitte zu bringen. Redaktionelle Gründe werden den Vorsatz gefaßt haben. In einem Brief an den Verleger GÖSCHEN (16. Dezember 1792) faßt der Dichter sein Urteil darüber zusammen:
    "Die Schrift enthält allerdings sehr fruchtbare politische Winke und ist auf ein gutes philosophisches Fundament gebaut. Sie ist mit Freiheit gedacht und geschrieben, aber da der Verfasser immer im allgemeinen bleibt, so ist von den Aristokraten nichts zu besorgen. Schriften dieses Inhalts und in diesem Geist geschrieben sind ein Bedürfnis für unsere Zeit."
Sie sind auch ein Bedürfnis für die Gegenwart, so daß es sich wohl lohnt, des näheren auf ihren Geist einzugehen. Daß sich der Verleger GÖSCHEN scheute, HUMBOLDTs Arbeit als Buch zu bringen, ist bezeichnend für den engen Geist, den man in Deutschland neuen politischen Gedanken gern entgegensetzte. Von solchen Schwierigkeiten allseits abgestoßen, verzichtete der empfindliche HUMBOLDT auf die Herausgabe des Werkes und ließ nur mehr den 5., 6. und 8. Abschnitt in der Berliner Monatsschrift (Oktober, November, Dezember 1792) abdrucken. Dann ruhte das Manuskript, bis es um die Mitte des 19. Jahrhunderts, lange nach dem Tod des Verfassers, der Spürsinn eines Gelehrten ans Licht brachte.

Als Denkschrift eines philosophischen Politikers an einen philosophischen Regenten gedacht, hatte das Werk für den Verfasser die Bedeutung verloren, als die staatlichen Verhältnisse sich veränderten und sowohl er wie auch DALBERG anderen Aufgaben zugeführt wurden. Was uns aber heute lebendig und wirksam an der Schrift berührt, ist der Geist innerer Freiheit, der sich machtvoll erhebt gegen die absolute Gewalt eines bürokratischen Staates. Wir haben, seit HUMBOLDT die Grenzen des politischen Einflußgebietes gegen das persönliche festzulegen gedachte, ein Jahrhundert der Kämpfe zurückgelegt, deren Ergebnis eine redselige Scheinfreiheit mit Verfassungen und Parlamenten war, unter deren Herrschaft sich der Begüterte ziemlich ungehindert tummeln durfte. Aber die bürokratische Macht war nicht gebrochen, sie ist im Gegenteil erstarkt, weil sie einheitlicher und ordentlicher wurde. Sie ist ein Feind des vollentwickelten Menschentums geblieben, weil sie das Leben engherzig ohne großen Zug beherrschen will und die Waffe des Idealismus, mit der HUMBOLDT einst zu kämpfen gedachte, muß frisch zu einem neuen Strauß geschliffen werden, denn mehr als je gilt es, den freien Menschen davor zu bewahren, daß er in einem allzu wohlbestellten Ackerland an seinen besten Eigenschaften verkümmert.

WILHELM von HUMBOLDT stellte sich zum Staat ähnlich, wie es die Stoa und die Schule EPIKURs getan hatte und sah ihn als notwendiges Übel an, dessen Tätigkeit wie jenes des Haushalts möglichst wenig störend in Erscheinung treten sollte. Dieses Ideal entsprach der Weltanschauung, die den Hauptwert des Lebens "auf die innere Bildung des Menschen" legt. Hier berührt sich HUMBOLDT mit der Grundlage der kantischen Kritik, dem Abwenden von der äußeren Erscheinung nach den Tiefen des menschlichen Wesens.

Beide sind bestrebt, den geistigen Gehalt des Lebens zu retten, KANT aus den Fesseln verkünstelter Spekulation, HUMBOLDT aus dem Gefängnis eines unnatürlichen Staatswesens. KANT gab dem Denken der Zeit die Richtung, weil die lebende Generation für seine Schlüsse reif war, HUMBOLDTs vorbereitende Schrift versank in die Stille eines Schloßarchivs, bis die Stürme des Jahres 1848 auch im Deutschen, das "Zoon policon" des ARISTOTELES geweckt hatten.

Aber noch war die Zeit hoher Achtung für die Freiheit und für die innere Würde des Menschen, wie sie SCHILLER im Traum der ästhetischen Erziehung vorgeschwebt war, nicht gekommen. RUDOLF HAYM besprach das Werk, als es im Jahre 1851 von EDUARD CAUER bei Trewendt in Breslau herausgegeben wurde und sagte:
    "Sicherlich sind es gesunde und richtige Prinzipien, das Prinzip der Freiheit gegenüber der Praxis des Absolutismus, den Gedanken der Selbstregierung gegenüber dem System bürokratischer und polizeilicher Bevormundung aufzustellen, Volkstätigkeit statt Fürsten- und Beamtentätigkeit, das Recht freier Assoziation statt der omnipotenten Einmischung und Alleintätigkeit des Staates zu verlangen. Aber das ist ebenso sicherlich eine überspannte und unrichtige Anwendung guter Prinzipien. Es war ein schlechter Staat und eine schlechte Praxis, wogegen diese Theorie anging."
Damals glaubte man an den Staat, wie HUMBOLDTs Zeit an den Menschen geglaubt hatte, mit Fanatismus, mit rührender Naivität, und man sah in der Schrift des Idealisten nicht viel mehr als das interessante Dokument einer interessanten Persönlichkeit. Der Gegenwartswert, der sich schon im Verlangen nach neuen, billigen Ausgaben ausspricht, besteht darin, daß wir den Glauben an den Staat verloren haben und zum Glauben an den Menschen zurückkehren möchten und gewillt sind, ihm Raum zu schaffen, auf daß er seine besten Fähigkeiten entfalte. In einer Besprechung der englischen Ausgabe (Westminster Review 1854) wird ausdrücklich auf die bleibende politische Bedeutung des Werkes hingewiesen und die von HUMBOLDT aufgeworfene Frage von den Grenzen des Staates als "Grundlage aller politischen Wissenschaft" bezeichnet. Damals bemühten sich die hervorragendsten Köpfe, unter den Gebildeten ein Verständnis für staatsbürgerliche Dinge zu erwecken. In ganz Europa schien so etwas wie ein politischer Sinn zu erwachen, und der Wunsch wurde überall laut, streng zwischen den Rechten des Allgemeinverbandes und den Rechten der Persönlichkeit zu unterscheiden. Der französische Staatsrechtslehrer LABOULAYE, der selbst über den gleichen Stoff ein Buch geschrieben hatte (L'État et ses limites, 1863), nannte HUMBOLDTs Werke eine der besten Schriften über die wahren Aufgaben des Staates und kommt zu dem Schluß, daß der deutsche philosophisch gestimmte Politiker die Freiheit auf eine moralische Grundmauer gestellt hat: "Er will, daß jeder Bürger darüber wacht und durch seine Kraft die Kraft des Staates vermehrt."

Die Bedeutung der wieder auferstandenen Schrift, die unter den politischen Köpfen des Auslands vielleicht bisher tiefer gewirkt hat als im eigenen Land, liegt weniger in der geschlossenen Entwicklung der darin niedergelegten Theorie als in den offenen Fragen, die in Bezug auf die Grenzen der Staatsgewalt heute weniger gelöst erscheinen denn je. Als der englische, weitbekannte Nationalökonom JOHN STUART MILL sein grundlegendes Buch "Über die Freiheit" (On Liberty, 1859) veröffentlichte, fand er keinen besseren Leitspruch als HUMBOLDTs Wort aus den  Ideen: 
    "Der höchste und letzte Zweck jedes Menschen ist die Ausbildung seiner Kräfte in ihrer persönlichen Eigentümlichkeit."
Im Verlauf seiner Arbeit kommt der Engländer gern auf das deutsche Werk zurück und erfaßt den tiefen Grund, warum die Zeit bisher noch nicht reif genug für HUMBOLDTs Forderungen gewesen ist, indem er sagt:
    "So wenig die Menge den Lehren  Humboldts  geneigt ist und so fremd ihr die hohe Wertschätzung der Persönlichkeit vorkommen mag, so kann doch darüber wohl nur eine Meinungsverschiedenheit dem Grad nach bestehen."
Es hat einmal so ausgesehen, als ob die Lehre MILLs die Grundlage einer praktischen Nationalökonomie abgeben könnte. Sowohl bei uns als auch in England ist die Sturmflut der Ereignisse darüber hinweg gebraust, und die allgemeine menschliche Denkfaulheit hat sich mit Freiheitssurrogaten begnügt, die der Persönlichkeit den Wert und dem politischen Geist jede Kraft raubten. Nur indem wir uns selbst wiederfinden, in dem Sinn, wie HUMBOLDT durch seine Schrift "den Menschen in uns retten" wollte, können wir die Stufe erreichen, auf der wir den Staat nicht einengen, sondern begrenzen und auf der uns der Staat zusammenhält, aber nicht schulmeistert.

Die Gegenwart ist das Ziel der Vergangenzeit, deshalb erscheint es gut, ab und zu rückwärts zu blicken und in uns aufzunehmen, was hervorragende Menschen als Ziel vor Augen gesehen haben. Aber die Gegenwart weist auch auf die Zukunft hinaus und verlangt deshalb, daß wir bessernde Hand anlegen und unser Haus ausbauen, soweit wir es vermögen. Dieses Haus ist der Staat. Er soll uns wie ein Haus selbst Schutz gewähren, aber er muß uns gestatten, die Sonne zu den Fenstern hereinzulassen und die Haustür offen lassen, damit wir hinein- und hinausgehen, wie es uns paßt. Das ungefähr wollte schon WILHELM von HUMBOLDT, als er sich mit dem wohlmeinenden, pädagogisch besorgten DALBERG darüber auseinandersetzte und ein Büchlein schrieb, das mit der Zeit bedeutend an Wert gewann.

blindfishAlexander von Gleichen-Rußwurm



I. Einleitung

Wenn man die merkwürdigsten Staatsverfassungen miteinander, und mit ihnen die Meinungen der bewährtesten Philosophen und Politiker vergleicht, so wundert man sich vielleicht nicht mit Unrecht, eine Frage so wenig vollständig behandelt und so wenig genau beantwortet zu finden, welche doch zuerst die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen scheint, die Frage nämlich: zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hinarbeiten und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll? Den verschiedenen Anteil, welcher der Nation, oder einzelnen ihrer Teile, an der Regierung gebührt, zu bestimmen, die mannigfaltigen Zweige der Staatsverwaltung gehörig zu verteilen und die nötigen Vorkehrungen zu treffen, daß nicht ein Teil die Rechte des andern an sich reißt; damit allein haben sich fast alle beschäftigt, welche selbst Staaten umgeformt oder Vorschläge zu politischen Reformationen gemacht haben. Dennoch müßte man, so dünkt mich, bei jeder neuen Staatseinrichtung zwei Gegenstände vor Augen haben, von welchen beiden keiner ohne großen Nachteil übersehen werden dürfte: einmal die Bestimmung des herrschenden und dienenden Teils der Nation, und alles dessen, was zur wirklichen Einrichtung der Regierung gehört, dann die Bestimmung der Gegenstände, auf welche die einmal eingerichtete Regierung ihre Tätigkeit zugleich ausbreiten und einschränken muß. Dieses letztere, welches eigentlich in das Privatleben der Bürger eingreift und das Maß ihrer freien, ungehemmten Wirksamkeit bestimmt, ist in der Tat das wahre, letzte Ziel, das erstere nur ein notwendiges Mittel, dies zu erreichen. Wenn jedoch der Mensch das erstere dennoch mit mehr angestrengter Aufmerksamkeit verfolgt, so bewährt er dadurch den gewöhnlichen Gang seiner Tätigkeit. Nach einem Ziel streben, und dieses Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kraft erringen, darauf beruth das Glück des rüstigen, kraftvollen Menschen. Der Besitz, welcher die angestrengte Kraft der Ruhe übergibt, reizt nur in der täuschenden Phantasie. Zwar existiert in der Lage des Menschen, wo die Kraft immer zur Tätigkeit gespannt ist und die Natur um ihn her immer zur Tätigkeit reizt, Ruhe, und Besitz in diesem Verstand nur in der Idee. Allein dem einseitigen Menschen ist Ruhe auch das Aufhören einer Äußerung, und dem Ungebildeten gibt ein Gegenstand nur zu wenigen Äußerungen Stoff. Was man daher vom Überdruß am Besitz, besonders auf dem Gebiet der feineren Empfindungen, sagt, gilt ganz und gar nicht vom Ideal des Menschen, welches die Phantasie zu bilden vermag, im vollsten Sinne vom ganz Ungebildeten, und in immer geringerem Grad, je näher eine immer höhere Bildung zu jenem Ideal führt. Wie folglich, nach dem obigen, den Eroberer der Sieg höher freut als das errungene Land, wie den Reformator die gefahrvolle Unruhe der Reformation höher als der ruhige Genuß ihrer Früchte, so ist dem Menschen überhaupt Herrschaft reizender als Freiheit, oder zumindest die Sorge für die Erhaltung der Freiheit reizender als der Genuß derselben. Freiheit ist gleichsam nur die Möglichkeit einer unbestimmt mannigfaltigen Tätigkeit; Herrschaft, Regierung überhaupt zwar eine einzelne, aber wirkliche Tätigkeit. Die Sehnsucht nach Freiheit entsteht daher nur zu oft erst aus dem Gefühl des Mangels derselben. Unleugbar bleibt es jedoch immer, daß die Untersuchung des Zwecks und der Schranken der Wirksamkeit des Staates eine große Wichtigkeit hat, und vielleicht eine größere als irgendeine andere politische. Daß sie allein gleichsam den letzten Zweck aller Politik betriff, ist schon oben bemerkt worden. Allein sie erlaubt auch eine leichtere und mehr ausgebreitete Anwendung. Eigentliche Staatsrevolutionen, andere Einrichtungen der Regierung sind nie ohne die Konkurrenz vieler, oft sehr zufälliger Umstände möglich, und führen immer mannigfaltig nachteilige Folgen mit sich. Hingegen die Grenzen der Wirksamkeit mehr ausdehnen oder einschränken kann jeder Regent - sei es in demokratischen, aristokratischen oder monarchischen Staaten - still und unbemerkt, und er erreicht vielmehr seinen Endzweck nur umso sicherer, je mehr er jede auffallende Neuheit vermeidet. Die besten menschlichen Operationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am genauesten nachahmen. Nun aber bringt der Keim, welchen die Erde still und unbemerkt empfängt, einen reicheren und holderen Segen als der gewiß notwendige, aber immer auch mit Verderben begleitete Ausbruch tobender Vulkane. Auch ist keine andere Art der Reform unserem Zeitalter so angemessen, wenn sich dasselbe wirklich mit Recht des Vorzugs an Kultur und Aufklärung rühmt. Denn die wichtige Untersuchung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates muß - wie sich leicht voraussehen läßt - auf eine höhere Freiheit der Kräfte und eine größere Mannigfaltigkeit der Situationen führen. Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung und das geringe Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch erhebt. Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener. Wenn sonst das gezückte Schwert der Nation die physische Macht des Beherrschers beschränkt, so besiegt hier Aufklärung und Kultur seine Ideen und seinen Willen, und die umgeformte Gestalt der Dinge scheint mehr sein Werk, als das Werk der Nation zu sein. Wenn es nun schon ein schöner, seelenverderbender Anblick ist, ein Volk zu sehen, das im vollen Gefühl seiner Menschen- und Bürgerrechte seine Fesseln zerbricht, so muß - weil, wa Neigung oder Achtung für das Gesetz bewirkt, schöner und erhebender ist, als was Not und Bedürfnis erpreßt - der Anblick eines Fürsten ungleich schöner und erhebender sein, welcher selbst die Fesseln löst und Freiheit gewährt, und dieses Geschäft nicht als Frucht seiner wohltätigen Güte, sondern als Erfüllung seiner ersten, unerläßlichen Pflicht betrachtet. Zumal da die Freiheit, nach welcher eine Nation durch die Veränderung ihrer Verfassung strebt, sich zu der Freiheit, welche der einmal eingerichtete Staat geben kann, ebenso verhält wie die Hoffnung zum Genuß, die Anlage zur Vollendung.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Staatsverfolgungen, so würde es sehr schwierig sein, in irgendeiner genau den Umfang zu zeigen, auf welchen sich ihre Wirksamkeit beschränkt, da man wohl in keiner hierin einem überdachten, auf einfachen Grundsätzen beruhenden Plan gefolgt ist. Vorzüglich hat man immer die Freiheit der Bürger aus einem zweifachen Gesichtspunkt eingeengt, einmal aus dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit, die Verfassung entweder einzurichten oder zu sichern; dann aus dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit, für den physischen oder moralischen Zustand der Nation Sorge zu tragen. Je mehr oder weniger die Verfassung, an und für sich mit Macht versehen, andere Stützen braucht, oder je mehr oder weniger die Gesetzgeber weit ausblickten, ist man bald mehr bei dem einen, bald bei dem andern Gesichtspunkt stehengeblieben. Oft haben auch beide Rücksichten vereint gewirkt. In den älteren Staaten sind fast alle Einrichtungen, welche auf das Privatleben der Bürger Bezug haben, im eigentlichsten Verstand politisch. Denn da die Verfassung in ihnen wenig eigentliche Gewalt besaß, so beruhte ihre Dauer vorzüglich auf dem Willen der Nation, und es mußte auf mannigfaltige Mittel gedacht werden, ihren Charakter mit diesem Willen übereinstimmend zu machen. Eben dies ist noch jetzt in kleinen republikanischen Staaten der Fall, und es ist daher völlig richtig, daß - aus diesem Gesichtspunkt allein die Sache betrachtet - die Freiheit des Privatlebens immer in eben dem Grad steigt, in welchem die öffentliche sinkt, dahingegen die Sicherheit immer mit dieser gleichen Schritt hält. Oft aber sorgten auch die älteren Gesetzgeber, und immer die alten Philosophen im eigentlichsten Verstand für den Menschen, und da am Menschen der moralische Wert ihnen das Höchste schien, so ist z. B. PLATOs  Republik,  nach ROUSSEAUs äußerst wahrer Bemerkung, mehr eine Erziehungs- als eine Staatsschrift. Vergleicht man hiermit die neuesten Staaten, so ist die Absicht, für den Bürger selbst und sein Wohl zu arbeiten, bei so vielen Gesetzen und Einrichtungen, die dem Privatleben eine oft sehr bestimmte Form geben, unverkennbar. Die größere innere Festigkeit unserer Verfassungen, ihre größere Unabhängigkeit von einer gewissen Stimmung des Charakters der Nation, dann der stärkere Einfluß bloß denkender Köpfe - die ihrer Natur nach weitere und größere Gesichtspunkte zu fassen imstande sind -, eine Menge von Erfindungen, welche die gewöhnlichen Gegenstände der Tätigkeit der Nation besser bearbeiten oder benutzen lehren, schließlich und vor allem gewisse Religionsbegriffe, welche den Regenten auch für das moralische und künftige Wohl der Bürger gleichsam verantwortlich machen, haben vereint dazu beigetragen, diese Veränderung hervorzubringen. Geht man aber der Geschichte einzelner Polizeigesetze und Einrichtungen nach, so findet man oft ihren Ursprung in einem bald wirklichen, bald angeblichen Bedürfnis des Staates, Abgaben von den Untertanen aufzubringen, und insofern kehrt die Ähnlichkeit mit den älteren Staaten zurück, indem insofern diese Einrichtungen gleichfalls auf die Erhaltung der Verfassung abzwecken. Was aber diejenigen Einschränkungen betrifft, welche nicht sowohl den Staat als auch die Individuen, die ihn ausmachen, zur Absicht haben, so ist und bleibt ein mächtiger Unterschied zwischen den älteren und neueren Staaten. Die Alten sorgten für die Kraft und Bildung des Menschen als Menschen, die Neueren für seinen Wohlstand, seine Habe und seine Erwerbsfähigkeit. Die Alten suchten Tugend, die Neueren Glückseligkeit. Daher waren die Einschränkungen der Freiheit in den älteren Staaten auf der einen Seite drückender und gefährlicher. Denn sie griffen geradezu an, was des Menschen eigentümliches Wesen ausmacht, sein inneres Dasein; und daher zeigen alle älteren Nationen eine Einseitigkeit, welche (den Mangel an feinerer Kultur und an allgemeinerer Kommunikation noch abgerechnet) großenteils durch die fast überall eingeführte gmeinschaftliche Erziehung und das absichtlich eingerichtete gemeinschaftliche Leben der Bürger überhaupt hervorgebracht und genährt wurde. Auf der anderen Seite erhielten und erhöhten aber auch alle diese Staatseinrichtungen bei den Alten die tätige Kraft des Menschen. Selbst der Gesichtspunkt, den man nie aus den Augen verlor, kraftvolle und genügsame Bürger zu bilden, gab dem Geist und dem Charakter einen höheren Schwung. Dagegen wird zwar bei uns der Mensch selbst unmittelbar weniger beschränkt, als vielmehr die Dinge um ihn herum eine einengende Form erhalten, und es scheint daher möglich, den Kampf gegen diese äußeren Fesseln mit innerer Kraft zu beginnen. Allein schon die Natur der Freiheitsbeschränkungen unserer Staaten, daß ihre Absicht bei weitem mehr auf das geht, was der Mensch besitzt, als auf das, was er ist, und daß selbst in diesem Fall sie nicht - wie die Alten - die physische, intellektuelle und moralische Kraft nur, wenngleich einseitig, üben, sondern vielmehr ihr bestimmende Ideen als Gesetze aufzwingen, unterdrückt die Energie, welche gleichsam die Quelle jeder tätigen Tugend und die notwendige Bedingung zu einer höheren und vielseitigeren Ausbildung ist. Wenn also bei den älteren Nationen eine größere Kraft für die Einseitigkeit schadlos hielt, so wird in den neueren der Nachteil der geringeren Kraft noch durch die Einseitigkeit erhöht. Überhaupt ist dieser Unterschied zwischen den Alten und Neueren überall unverkennbar. Wenn in den letzten Jahrhunderten die Schnelligkeit der gemachten Fortschritte, die Menge und Ausbreitung künstlicher Erfindungen, die Größe der gegründeten Werke am meisten unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, so fesselt uns im Altertum vor allem die Größe, welche immer mit dem Leben eines Menschen dahin ist, die Blüte der Phantasie, die Tiefe des Geistes, die Stärke des Willens, die Einheit des ganzen Wesens, welche allein dem Menschen wahren Wert gibt. Der Mensch, und zwar seine Kraft und seine Bildung war es, welche jede Tätigkeit rege machte; bei uns ist es nur zu oft ein ideelles Ganzes, bei dem man die Individuen beinahe zu vergessen scheint, oder wenigstens nicht ihr inneres Wesen, sondern ihre Ruhe, ihr Wohlstand, ihre Glückseligkeit, Die Alten suchten ihre Glückseligkeit in der Tugend, die Neueren sind nur zu lange diese aus jener zu entwickeln bemüht gewesen (2); und selbst der (3), welcher die Moralität in ihrer höchsten Reinheit sah und darstellte, glaubt, durch eine sehr künstliche Maschinerie seinem Ideal des Menschen die Glückseligkeit, wahrlich mehr wie eine fremde Belohnung, als wie ein eigen errungenes Gut, zuführen zu müssen. Ich verliere kein Wort über diese Verschiedenheit. Ich schließe mit einer Stelle aus ARISTOTELES  Ethik: 
    "Was einem jeden, seiner Natur nach, eigentümlich ist, ist ihm das Beste und Süßeste. Daher auch den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn nämlich darin am meisten der Mensch besteht, am meisten beseligt."
Schon mehr als einmal ist unter den Staatsrechtslehrern gestritten worden, ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichtigen müßte? Sorgfalt für die Freiheit des Privatlebens hat vorzüglich auf die erstere Behauptung geführt; die natürliche Idee jedoch, daß der Staat mehr als allein Sicherheit gewähren kann und ein Mißbrauch in der Beschränkung der Freiheit wohl möglich, aber nicht notwendig sei, der letzteren das Wort redete. Auch ist diese unleugbar sowohl in der Theorie als auch in der Ausführung die herrschende. Dies zeigen die meisten Systeme des Staatsrechts, die neueren philosophischen Gesetzbücher, und die Geschichte der Verordnungen der meisten Staaten. Ackerbau, Handwerk, Industrie aller Art, Handel, Künste und Wissenschaften selbst, alles erhält Leben und Lenkung vom Staat. Nach diesen Grundsätzen hat das Studium der Staatswissenschaften eine veränderte Gestalt erhalten, wie Kameral- und Polizeiwissenschaft z. B. beweisen, nach diesen sind völlig neue Zweige der Staatsverwaltung entstanden, Kameral-, Manufaktur- und Finanzkollegia. So allgemein jedoch auch dieses Prinzip sein mag, so verdient es, dünkt mich, doch noch allerdings eine nähere Prüfung, und diese Prüfung muß vom einzelnen Menschen und seinen höchsten Endzwecken ausgehen.


II. Betrachtung des einzelnen Menschen und der
höchsten Endzwecke des Daseins desselben.

Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßlichste Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes, und zwar eine Mannigfaltigkeit der Situationen. Auf der freieste und unabhängigste Mensch in einförmige Lagen versetzt, bildet sich unzureichend aus. Zwar ist nun einesteils diese Mannigfaltigkeit allemal eine Folge der Freiheit, und andernteils gibt es auch eine Art der Unterdrückung, die, statt den Menschen einzuschränken, den Dingen um ihn herum eine beliebige Gestalt gibt, so daß beide gewissermaßen ein und dasselbe sind. Der Klarheit der Ideen ist es jedoch dennoch angemessener, beide noch voneinander zu trennen. Jeder Mensch vermag auf einmal nur mit einer Kraft zu wirken, oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf einmal nur zu einer Tätigkeit gestimmt. Daher scheint der Mensch zur Einseitigkeit bestimmt, indem er seine Energie schwächt, sobald er sich auf mehrere Gegenstände verbreitet. Allein dieser Einseitigkeit entgeht er, wenn er die einzelnen, oft einzeln geübten Kräfte zu vereinen, den beinahe schon verloschenen wie den erst künftig hell aufflammenden Funken in jeder Periode seines Lebens zugleich mitwirken zu lassen, und statt der Gegenstände, auf die er wirkt, die Kräfte, womit er wirkt, durch Verbindung zu vervielfältigen strebt. Was hier gleichsam die Verknüpfung der Vergangenheit und der Zukunft mit der Gegenwart wirkt, das wirkt in der Gesellschaft die Verbindung mit andern. Denn auch durch alle Perioden des Lebens erreicht jeder Mensch dennoch nur eine der Vollkommenheiten, welche gleichsam den Charakter des ganzen Menschengeschlechts bilden. Durch Verbindungen also, die aus dem Innern der Wesen entspringen, muß einer den Reichtum des andern sich zu eigen machen. Eine solche charakterbildende Verbindung ist nach der Erfahrung aller, sogar der rohesten Nationen, z. B. die Verbindung der beiden Geschlechter. Allein wenn hier der Ausdruck, sowohl der Verschiedenheit, als der Sehnsucht nach der Vereinigung gewissermaßen stärker ist: so ist beides darum nicht weniger stark, nur schwerer bemerkbar, obgleich eben darum auch mächtiger wirkend, auch ohne alle Rücksicht auf jene Verschiedenheit und unter Personen desselben Geschlechts. Diese Ideen weiter verfolgt und genauer entwickelt, dürften vielleicht auf eine richtigere Erklärung des Phänomens der Bedingungen führen, welche bei den Alten, vorzüglich den Griechen, selbst die Gesetzgeber benutzten, und die man oft zu unedel mit dem Namen der gewöhnlichen Liebe, und immer unrichtig mit dem Namen der bloßen Freundschaft belegt hat. Der bildende Nutzen solcher Verbindungen beruth immer auf dem Grad, in welchem sich die Selbständigkeit der Verbundenen zugleich mit der Innigkeit der Verbindung erhält. Denn wenn ohne diese Innigkeit der eine den andern nicht genug aufzufassen vermag, so ist die Selbständigkeit notwendig, um das Aufgefaßte gleichsam in das eigene Wesen zu verwandeln. Beides aber erfordert die Kraft der Individuen und eine Verschiedenheit, die nicht zu groß ist, damit einer den andern aufzufassen vermöge, auch nicht zu klein ist, um einige Bewunderung dessen, was der andere besitzt, und den Wunsch rege zu machen, es auch in sich zu übertragen. Diese Kraft nun und diese mannigfaltige Verschiedenheit vereinen sich in der  Originalität,  und das also, worauf die ganze Größe des Menschen zuletzt beruth, wonach der einzelne Mensch ewig ringen muß, und was der, welcher auf Menschen wirken will, nie aus den Augen verlieren darf, ist die  Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung.  Wie diese Eigentümlichkeit durch die Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit des Handelnden gewirkt wird, so bringt sie beides wiederum hervor. Selbst die leblose Natur, welche nach ewig unveränderlichen Gesetzen einen immer gleichmäßigen Schritt hält, erscheint dem eigengebildeten Menschen eigentümlicher. Er trägt gleichsam sich selbst in sie hinüber, und so ist es im höchsten Verstand wahr, daß jeder immer in eben dem Grad Fülle und Schönheit außerhalb von sich wahrnimmt, in welchem er beide im eigenen Busen bewahrt. Wieviel ähnlicher aber noch muß die Wirkung der Ursache da sein, wo der Mensch nicht bloß empfindet und äußere Eindrücke auffaßt, sondern selbst tätig wird?

Versucht man es, diese Ideen, durch eine nähere Anwendung auf den einzelnen Menschen, noch genauer zu prüfen, so reduziert sich in diesem alles auf Form und Materie. Die reinste Form mit der leichtesten Hülle nennen wir Idee, die am wenigsten mit Gestalt begabte Materie, sinnliche Empfindung. Aus der Verbindung der Materie geht die Form hervor. Je größer die Fülle und Mannigfaltigkeit der Materie, je erhabener die Form. Ein Götterkind ist nur die Frucht unsterblicher Eltern. Die Form wird wiederum gleichsam Materie einer noch schöneren Form. So wird die Blüte zur Frucht, und aus dem Samenkorn der Frucht entspringt der neue, von neuem blütenreiche Stamm. Je mehr die Mannigfaltigkeit zugleich mit der Feinheit der Materie zunimmt, desto höher die Kraft. Denn desto inniger der Zusammenhang. Die Form scheint gleichsam in die Materie, in die Materie die Form verschmolzen; oder, um ohne Bild zu reden, je ideenreicher die Gefühle des Menschen und umso gefühlvoller seine Ideen sind, desto unerreichbarer seine Erhabenheit. Denn auf diesem ewigen Begatten der Form und der Materie, oder des Mannigfaltigen mit der Einheit beruth die Verschmelzung der beiden im Menschen vereinten Naturen, und auf dieser seine Größe. Aber die Stärke der Begattung hängt von der Stärke der Begattenden ab. Der höchste Moment des Menschen ist dieser Moment der Blüte (4). Die weniger reizende, einfache Gestalt der Frucht weist gleichsam selbst auf die Schönheit der Blüte hin, die sich durch sie entfalten soll. Auch eilt nur alles der Blüte zu. Was zuerst dem Samenkorn entsprießt, ist noch fern von ihrem Reiz. Der volle dicke Stengel, die breiten, auseinanderfallenden Blätter bedürfen noch einer mehr vollendeten Bildung. Stufenweise steigt diese, wie sich das Auge am Stamm erhebt; zartere Blätter sehnen sich gleichsam, sich zu vereinigen, und schließen sich enger und enger, bis der Kelch das Verlangen zu stillen scheint (5). Das Geschlecht der Pflanzen ist jedoch nicht vom Schicksal gesegnet. Die Blüte fällt ab, und die Frucht bringt wieder den gleich rohen, und gleich sich verfeinernden Stamm hervor. Wenn im Menschen die Blüte welkt, so macht sie nur jener schöneren Platz, und den Zauber der schönsten birgt unserem Auge erst die ewig unerforschbare Unendlichkeit. Was nun der Mensch von außen empfängt, ist nur ein Samenkorn. Seine energische Tätigkeit muß es, sei es auch das schönste, erst auch zum segenvollsten für ihn machen. Aber wohltätiger ist es ihm immer in dem Grad, in welchem es kraftvoll und eigen in sich ist. Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem sich jedes nur aus sich selbst, und um seiner selbst willen entwickelt. Physische und moralische Natur würden diese Menschen schon noch zueinander führen, und wie die Kämpfe des Krieges ehrenvoller sind, als die der Arena, wie die Kämpfe erbitterter Bürger einen höheren Ruhm gewähren, als die getriebener Mietsoldaten, so würde auch das Ringen der Kräfte dieser Menschen die höchste Energie zugleich beweisen und erzeugen.

Ist es nicht eben das, was uns an das Zeitalter Griechenlands und Roms und jedes Zeitalter allgemein an ein entfernteres, hingeschwundenes so namenlos fesselt? Ist es nicht vorzüglich, daß diese Menschen härtere Kämpfe mit dem Schicksal, härtere mit Menschen zu bestehen hatten? Daß die größere, ursprüngliche Kraft und Eigentümlichkeit einander begegnete, und neue, wunderbare Gestalten schuf. Jedes folgende Zeitalter - und in wieviel schnelleren Graden muß dieses Verhältnis von jetzt an steigen? - muß den vorigen an Mannigfaltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur - die ungeheuren Wälder sind abgeholzt, die Moräste getrocknet usw. - an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer größere Mitteilung und Vereinigung der menschlichen Werke, durch die beiden vorigen Gründe (6). Dies ist eine der hauptsächlichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen, Wunderbaren so viel seltener, das Staunen, Erschrecken beinahe zur Schande, und die Erfindungen neuer, noch unbekannter Hilfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende Entschlüsse bei weitem seltener notwendig macht. Denn teils ist das Andringen der äußeren Umstände gegen den Menschen, welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen ist, weniger große; teils ist es icht mehr gleich möglich, ihnen allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche die Natur jedem gibt, und die er nur zu benutzen braucht; teils macht schließlich das ausgearbeitetere Wissen das Erfinden weniger notwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft dazu ab. Dagegen ist es unleugbar, daß, wenn die physische Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und befriedigendere intellektuelle und moralische an ihre Stelle trat, und daß Gradationen und Verschiedenheiten von unserem mehr verfeinerten Geist wahrgenommen und unserem, wenngleich nicht ebenso stark gebildeten, doch reizbaren kultivierten Charakter ins praktische Leben übertragen werden, die auch vielleicht den Weisen des Altertums, oder doch zumindest nur ihnen nicht unbemerkt geblieben wären. Es ist im ganzen Menschengeschlecht, wie im einzelnen Menschen gegangen. Das Größbere ist abgefallen, das Feinere ist geblieben. Und so wäre es ohne allen Zweifel segensvoll, wenn das Menschengeschlecht ein Mensch wäre, oder die Kraft eines Zeitalters ebenso wie seine Bücher, oder Erfindungen auf das folgende überginge. Allein dies ist bei weitem nicht der Fall. Freilich besitzt nun auch unsere Verfeinerung eine Kraft, und die vielleicht jene gerade um den Grad ihrer Feinheit an Stärke übertrifft; aber es fragt sich, ob nicht die frühere Bildung durch das Gröbere immer vorangehen muß? Überall ist doch die Sinnlichkeit der erste Keim, wie der lebendigste Ausdruck alles Geistigen. Und wenn es auch nicht hier der Ort ist, selbst nur den Versuch dieser Erörterung zu wagen, so folgt doch gewiß so viel aus dem vorigen, daß man zumindest diejenige Eigentümlichkeit und Kraft, nebst allen Nahrungsmitteln derselben, welche wir noch besitzen, sorgfältigst bewachen müssen.

Bewiesen halte ich demnach durch das vorige,  daß die wahre Vernunft dem Menschen keinen anderen Zustand als einen solchen wünschen kann, in welchem nicht nur jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit entwickeln, sondern in welchem auch die physische Natur keine andere Gestalt von Menschenhänden empfängt, als ihn jeder einzelne, nach dem Maß seines Bedürfnisses und seiner Neigung, nur beschränkt durch die Grenzen seiner Kraft und seines Rechts, selbst und willkürlich gibt.  Von diesem Grundsatz darf, meines Erachtens, die Vernunft nie mehr nachgeben, als zu seiner eigenen Erhaltung selbst notwendig ist. Er mußte daher auch jeder Politik und besonders der Beantwortung der Frage, von der hier die Rede ist, immer zugrunde liegen.
LITERATUR - Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Berlin 1920
    Anmerkungen
    1) vom 1. Juni 1792
    2) Nie ist dieser Unterschied auffallender, als wenn alte Philosophen von neueren beurteilt werden.
    3) KANT über das höchste Gut in den "Anfangsgründen der Metaphysik der Sitten" und in der "Kritik der praktischen Vernunft".
    4)  Blüte, Reife.  Neues deutsches Museum, 1791, Junius 22,3.
    5) GOETHE, Über die Metamorphose der Pflanzen.
    6) Ebendies bemerkt ROUSSEAU einmal im  "Emile".