ra-3ra-2L. HartmannK. KautskyP. SzendeA. LiebertF. SanderH. Arendt    
 
LEOPOLD von WIESE
(1876-1969)
[mit NS-Vergangenheit]
Die Problematik einer
Soziologie der Revolution


"Die  Naivität mancher Mediziner  (z. B. Kräpelins), denen eine Revolution eine hysterische Massenpsychose ist, und die zu glauben scheinen, das Problem sei wissenschaftlich gelöst, wenn sie an manchen Führern revolutionärer Putsche eine geistige Minderwertigkeit oder Merkmale von Psychopathie festgestellt haben, wird als völlig unsoziologisch abgelehnt."

"Es haften jeder Machtgruppe (wie ich allgemeiner statt Staat sagen möchte) die ewigen Unvollkommenheiten an, daß sie eben doch nicht die Idee der Allgemeinheit und des Allgemeininteresses ganz verwirklichen kann. Immer bleiben Minoritäten, meist sogar starke Mehrheiten von Gruppenelementen unbefriedigt. Kommt ein für Änderungen günstiger Augenblick, so wandelt sich die ständige latente Tendenz zur Machtverschiebung in eine offene. Die Neigung, ein bestehendes Machtverhältnis umzustoßen, ist stets vorhanden; es bleibt nur die Frage, wann und wie sie zur Tat wird."

"Anfangs handelt es sich um einen Befreiungsakt: Beseitigung von Privilegien und damit der alten Gesellschaftsordnung; im zweiten Stadium vergesellschaften sich die liberalen Emanzipationsbestrebungen; im letzten erklärt eine oft winzige Minderheit: die Gesellschaft bin ich. Immer ist das Schlußergebnis die Diktatur einer Minderheit, die sich mit Gewaltmitteln an der Spitze behauptet."

In seiner bekannten, teilweise freilich ziemlich verworrenen Abhandlung über Revolution in der BUBERschen Sammlung "Die Gesellschaft" äußert sich am Anfang GUSTAV LANDAUER dahin, daß die Revolution einer wissenschaftlichen Behandlung verschlossen ist. Freilich gibt er gleich danach eine Bestimmung des Begriffs der Wissenschaft im Sinne strenger Exaktheit, die den Ausgangssatz seiner Untersuchung beträchtlich einschränkt. Ihm gegenüber gehe ich von der These aus, daß es keinen Vorgang des Gesellschaftslebens gibt, der nicht mit Gewinn auch wissenschaftlich untersucht werden kann. Damit soll nicht behauptet werden, daß er auf diesem Weg restlos zu klären ist. Heute werden wir uns damit begnügen müssen, wenn wir - diese Aufgabe ist schwierig genug - zu einer einwandfreien soziologisch gedachten Formulierung der Grundfragen und zur Erhellung des einen oder anderen Zusammenhangs der tatsächlichen Erscheinungen gelangen. Wir stehen erst am Anfang einer wissenschaftlichen Behandlung dieses Problemkomplexes.

Ich gestehe deshalb auch offen, daß ich, wenn man mir die Frage nach dem Thema unseres Soziologentages gestellt hätte, vom reinen Standpunkt der Wissenschaftslehre und Methodologie aus einen weniger komplexen Gegenstand vorgezogen hätte; denn eine systematische Soziologie steigt bis zur Untersuchung der höchst verwickelten Revolutionserscheinungen erst auf einem langen und gefahrenreichen Weg auf. Erst fast am Endpunkt ihrer gesamten Untersuchungen steht das Steinbild der Revolution. Es zu bearbeiten, ist freilich schließlich verhältnismäßig einfach, wenn man auf dem vorausgehenden Stufenweg über Beziehungs- und Gruppenlehre die Fülle der Vorfragen gewissenhaft geklärt hat.

Die soziologische Literatur ist bisher auffallend arm an eingehenden Untersuchungen dieser Art. In RATZENHOFERs dreibändigem, so Vieles enthaltendem Werk über "Wesen und Zweck der Politik" fehlt das  Wort  Revolution sogar völlig. In HOLTZENDORFFs "Politik" fehlt es gleichfalls, wie überhaupt die theoretische Politik bezeichnenderweise an diesem Gegenstand zumeist vorübergegangen ist. PARK und BURGESS bringen in ihrer großen Materialsammlung "Introduction to the Science of Sociology" den knappen Querschnitt über Revolution im Kapitel über "Collective Behavior". Sicherlich ist die Durchforschung des Kollektivverhaltens im Zusammenhang mit der Analyse der Massenbewegungen auch eine soziologische Aufgabe gegenüber dem Phänomen Revolution. Aber nicht die einzige. Das meiste, was der Gesellschaftsforscher an Literatur für seine Zwecke findet, ist sozialpsychologisch oder geschichtsphilosophisch. Beide Betrachtungsweisen decken sich aber nicht mit seiner Aufgabe; die sozialpsychologische fördert und unterstützt sie, die geschichtsphilosophie verwirrt sie nur.

Am meisten hat das Wesen der Revolution bisher die Historiker beschäftigt. Männer wie TOCQUEVILLE, TAINE, CARLYLE, SYBEL, RANKE und TREITSCHKE haben uns fesselnde Schilderungen gegeben. Aber gerade sie, - vor allem CARLYLE und TAINE, am wenigsten TOCQUEVILLE - lehren uns Soziologen, wie wir unter keinen Umständen den großen Stoff behandeln sollten. Der Gang ihrer Darstellungen rührt gerade aus dem großen wissenschaftlichen Gebrechen ihrer Optik: es ist ein energisches Für und Wider, eine Parteinahme, die oft bewunderungswürdig hellsichtig ist in der Wahl und Behandlung des reichen Materials, wenn es zur Anklage der feindlichen und zur Verteidigung der freundlichen Partei geeignet ist. Aber gerade die entschiedene Stellungnahme für die revolutionierende oder (häufiger) für die von der Revolution bedrohte Seite hindert diese Autoren an der eigentlichen Einsicht in den Zusammenhang.

Die rechtswissenschaftlichen Betrachtungen hängen sich wiederum meist viel zu sehr an den Begriff der Staatsverfassung. Bisweilen folgen die Historiker, wenn sie sich überhaupt beim  Begriff  der Revolution aufhalten, darin den Juristen. So, wenn neuerdings CARTELLIERI viel zu eng unter einer Revolution "eine gewaltsame und lang nachwirkende Veränderung der Staatsverfassung versteht, durch die die bis dahin von dem einen oder wenigen Regierenden besessene Macht an die vielen Regierten übergeht". Eine derart enge Begriffsbestimmung bietet allerdings den Vorteil, daß man die Revolution deutlicher von den Begriffen Reaktion, Gegenrevolution, Restauration und Staatsstreich sondern kann. Jedoch haben diese Historiker und Rechtsgelehrten dabei allzuseh die modernen europäischen Revolutionen im Auge (von der ersten englischen Revolution in der Mitte des 17. Jahrhunderts ab). Aber ROSCHER hat schon darauf hingewiesen, daß "auf der Höhe des Mittelalters die meisten Revolutionen (wie Reformen) aristokratischer Natur waren. Im Anfang der sogenannten neueren Zeit seien sie absolut-monarchischer, einige hundert Jahre später demokratischer Natur gewesen" (ROSCHER, "Politik", Seite 14). Suchen wir ein wahrhaft gesellschaftswissenschaftliches Verständnis der Revolution zu erlangen, so dürfen wir uns nicht zu sehr an unsere Kenntnis von der europäischen Revolutionsgeschichte der letzten Jahrhunderte klammern und bei Revolution nur an eine Erschütterung der Monarchie und die Entstehung der Republik denken. Auch die Hineinziehung von Ideen des Klassengegensatzes, also die Vorstellung, daß eine Revolution eine gewaltsame Empörung der Unterklasse gegen die Oberklasse ist, führt leicht irre. Selbst die Ausdehnung des Revolutionsbegriffs auf die konfessionellen Kämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts um Gewissensfreiheit reicht für eine erschöpfende Betrachtung noch nicht aus.

Wenn wir demgegenüber eine spezifisch  soziologische  Analyse des Wesens der Revolution anstreben,  sondern  wir unsere Aufgabenstellung also deutlich von der rechtswissenschaftlichen, geschichtlichen und geschichtsphilosophischen Betrachtunsweise ab. Wir beurteilen aber auch die Revolutionserscheinungen nicht  ethisch.  VIERKANDTs Satz "Jede Revolution ist ein Umsturz und eine Neubildung von  Werten"  lassen wir dahingestellt, weil vorher die uns nichts angehende Frage zu klären wäre, was man unter "Werten" zu verstehen hat. Ob jeder Revolution ein "sittlich berechtigter Wille", wie VIERKANDT meint, zugrundeliegt, das zu entscheiden überlassen wir denen, die sich zugleich gedrungen fühlen uns zu sagen, was sittlich berechtigt ist.

Die Vermengung von ethischer und soziologischer Betrachtungsweise wird aber noch fragwürdiger, wenn man, wie es VIERKANDT tut, den Begriff der Macht in den Bereich des "sittlich Berechtigten" hineinzieht und auf diesem Weg Macht von Gewalt scheidet. Von den schwer erfaßbaren Ideen des Werts, der Ordnung, des sittlich Berechtigten in der Soziologie auszugehen, bedeutet, den Gegenstand, der so dringend einer  realistischen  Klärung bedarf, gleich wieder in das Nebelrecih der Spekulation und des Glaubens hinüberzuschieben. Umso wichtiger ist für uns freilich der Begriff der Macht, losgelöst von ethischen Bewertungen, als bloßes  Faktum. 

Die Frage etwa: wer ist  schuld  an einer Revolution? ist damit als völlig unsoziologisch von vornherein abgelehnt. Nicht minder aber die  Naivität mancher Mediziner  (z. B. KRÄPELINs), denen eine Revolution eine hysterische Massenpsychose ist, und die zu glauben scheinen, das Problem sei wissenschaftlich gelöst, wenn sie an manchen Führern revolutionärer Putsche eine geistige Minderwertigkeit oder Merkmale von Psychopathie festgestellt haben. Wir unsererseits werden an den Beobachtungen der Psychiater nicht achtlos vorübergehen; aber ihre Ergebnisse sind für uns Beiträge zu einigen sozialpsychologischen Einzelerscheinungen der Revolution; nicht mehr und nicht weniger.

Wenn Sie mich nunmehr fragen, wie ich denn einer Theorie der Revolution nahekommen will, könnte ich kurz darauf antworten:  beziehungswissenschaftlich.  Vielleicht darf ich bei den Lesern unserer "Kölner Vierteljahreshefte", um die Darlegung umständlicher methodologischer Grundfragen zu vermeiden, annehmen, daß mit diesem einen Wort das Wesentliche angedeutet ist. Nur in ganz groben Strichen sei folgendes skizziert: die Beziehungslehre zerlegt sich mir  a)  in die Lehre von den Beziehungen erster Ordnung, d. h. von den Beziehungen zwischen Einzelmenschen und zwischen diesen und den sozialen Gebilden und  b)  in die Beziehungen zweiter Ordnung, d. h. in die Lehre von den sozialen  Gebilden  und den Beziehungen zwischen ihnen. Ganz kurz gesagt suche ich zu sondern Beziehungslehre im engeren Sinne des Wortes und die Lehre von den Gebilden. Als Gebilde kommen Betracht:  a)  Massen,  b)  Gruppen,  c)  abstrakte Kollektiva. Entwickelte Staaten gehören zu den abstrakten Kollektivkräften. Sie haben aber (besonders in ihren niederen Stadien) bis zu einem gewissen Grad noch den Charakter der konkreten Gruppe.

Auf unser Thema bezogen: Wir betrachten die Revolutionen, unter denen wir hier nur Staatsumwälzungen verstehen, einmal auf das Verhalten der Menschen in Revolutionen hin; dabei handelt es sich um einen Beitrag zur Erkenntnis des Verhältnisses von Gruppe und Mensch, und wir betrachten ferner die Veränderungen, die sich im Staats-, Völker- und Gemeindeleben als solchem vollziehen.

Unser Versuch gilt der Beschreibung, Messung, Analyse, dem Vergleich und der Systematisierung der sozialen Prozesse. Sie sondern sich für uns in  a)  verbindende,  b)  lösende und  c)  in bestimmter Hinsicht verbindende und in anderer Hinsicht lösende Prozesse. Es ergibt sich damit als heuristisches Einteilungsprinzip die Sonderung der Beziehungen des Zu- und Miteinanders von den Beziehungen des Aus- und Gegeneinanders. Der Gesamtprozeß der Beziehungshandlungen bewirkt zunehmende Gesellung auf der einen, zunehmende Vereinzelung auf der anderen Seite.

Es fiele uns hier also die Aufgabe zu festzustellen, in welchem Grad Revolutionen lösen und verbinden; mit anderen Worten: inwieweit sie auf einem Gegeneinander, inwieweit auf einem Miteinander beruhen. Diese einfache Zweiteilung umschließt wiederum letzte Zusammenfassungen von zahlreichen Beziehungen. Nennen wir die Beziehungen des Zueinanders die A-Beziehungen, die Beziehungen des Gegeneinanders die B-Beziehungen, so beginnen die A-Beziehungen mit den Kontakten und stufen sich gradweise ab in
    1. Annäherung,
    2. Anpassung,
    3. Angleichung,
    4. Vereinigung.
Die einfachste Einteilung der B-Beziehungen beruth auf dem  Grad  der Gegnerschaft. Es sondert sich
    1. Konkurrenz,
    2. Opposition,
    3. Konflikt.
Fassen wir die sozialen Prozesse in den  Gebilden  allein ins Auge, so wären zu scheiden entweder differenzierende und integrierende Prozesse oder unter anderen Gesichtspunkten zerstörende, umbildende und aufbauende Prozesse. In der engeren Gruppenlehre gehören zu den differenzierenden Prozessen vor allem Entstehung von Ungleichheiten, Beherrschung, Abstufung und Schichtenbildung, Auslese und Absonderung. Zu den integrierenden Prozessen:  1.  Gleichmachung,  2.  Über- und Unterordnung und  3.  Sozialisierung. Aus den zerstörenden Prozessen heben sich hervor:
    a) Begünstigung und Bestechung,
    b) Zunehmende Gleichgültigkeit,
    c) Formalismus und Verknöcherung,
    d) Kommerzialisierung
    e) Radikalisierung,
    f) Verkehrung,
    g) Verfall.
Es wäre also die sehr mannigfaltige Erscheinung der Revolution daraufhin zu untersuchen,  welche Rolle in ihr alle diese Prozesse spielen.  Man hätte ganz allgemein den Grad der Annäherung, Anpassung, der Angleichung und Vereinigung auf der einen Seite, den Grad der Konkurrenz, Opposition und der Konflikte auf deren dafzulegen; im besonderen das Maß von Beherrschung, Abstufung, Schichtenbildung, Auslese und Absonderung, von Institutionalisierung, Neubildung und Befreiung (um mit den beiden letztgenannten auch aufbauende Prozesse zu nennen) zu untersuchen.

Bei all dem handelt es sich keineswegs bloß um eine sozialpsychologische oder gar bloß individualpsychologische Betrachtungsweise; wir wollen nicht bloß die Motive der in den Revolutionen handelnden Menschen verstehen; unser Ziel ist vielmehr, die  Umgruppierung in den sozialen Gebilden  kennenzulernen, Tempo und Richtung dieser Bewegungsvorgänge zu erfassen. Denn um Bewegungsvorgänge handelt es sich bei der Theorie der Revolution. Wir betrachten nicht mit den Augen des Anatoms den Bau des sozialen Körpers (das ist eine andere Aufgabe der Beziehungslehre, die bei unserem Thema nicht in Frage kommt); unsere Optik ist die des Physiologen und Pathologen. Auch sind uns die sozialen Prozesse sowohl Seins- wie Funktionsbeziehungen. Die Frage, welche  Aufgabe  Revolutionen im Gesamtprozeß der Vergesellschaftung erfüllen, gehört mit in unseren Problemkomplex. Eine andere, von uns aufzuwerfende Frage betrifft die Ursachen dieser sozialen Bewegungsvorgänge. Sie lenkt uns u. a. auf die  Motive  der Menschen, auf die seelische, die subjektive Seite der Erscheinungen. Wir werden aber nicht mindern den  objektiven Naturprozeß  in den Kausalzusammenhängen zu untersuchen haben.

Damit könnte es scheinen, als ob wir am besten täten, die inhaltsreiche soziale Erscheinung  Revolution  als ein zusammengesetztes Gebilde aufzufassen und durch Zerlegung in einfache Elemente zu erklären. Das ist nur insofern richtig, als wir, wie gesagt, den Gesamtprozeß in Einzelprozesse zerlegen. Als historische Erscheinung besteht aber gerade umgekehrt die Revolution in einem Vorgang, bei dem das komplizierte Gebildeleben eines Staates, das in mehr oder weniger friedlicher Entwicklung entstanden ist, wieder vereinfacht wird. Der Urstand der Natur kehrt wieder. Demnach käme es darauf an, die der Revolution vorausgehende Kompliziertheit des Staatslebens aufzuweisen, den Grad der Integrierung und Differenzierung, die zerstörenden, umbildenden und aufbauenden Prozesse in diesem der Revolution vorausgehenden Zeitraum zu verfolgen und zu zeigen, daß bestimmte Unausgeglichenheiten im staatlichen Gebilde ein Fortbestehen in der alten Form gefährden oder gar unmöglich machen.

Freilich vermengt sich mit dieser Auflösung des alten Machtsystems die Bildung eines neuen. Gerade wieder diese Verbindung eines Zerfallprozesses mit einem Aufbauvorgang ist so wesentlich an der Revolution. Nur würde ich wieder VIERKANDT nicht folgen können, wenn er eine  Periode  der Zerstörung der alten Kräfte und eine  Periode  der Neubildung unterscheidet. Es handelt sich dabei in der Regel nicht um eine deutliche zeitliche Folge, sondern um gleichzeitige, meist nur begrifflich voneinander zu sondernde, in Wirklichkeit aber oft eng miteinander verknüpfte Erscheinungen. Dadurch, daß sich das Neue bildet, wird das Alte zerstört, aber auch dadurch, daß sich das Alte zersetzt, entsteht das Neue. Eine zeitliche Zweiteilung von Revolutionen ist ja dadurch erschwert, daß es verschiedene Typen von Revolutionen gibt und die Gesamterscheinung "Revolution" einen sehr weiten Umfang besitzt. Vielleicht kann man aber, wenn man eine Periodisierung vornehmen will, am ehesten TOCQUEVILLEs alte - von ihm nur auf die große französische Revolution bezogene, aber verallgemeinerungsfähige - Sonderung anerkennen: Die Revolution besitze zwei deutliche Phasen: Die erste, während deren die Revolutionäre alles abschaffen zu wollen scheinen, was aus der Vergangenheit stammt; die zweite, wo sie sich daran machen, einen Teil von dem wieder aufzunehmen, was sie hinter sich geworfen zu haben glaubten (1). Das ist eine gerade soziologisch fruchtbare Scheidung.

Doch wir wollen heute nach dieser Aufrollung der Aufgabenstellung zumindest skizzenhaft  einen Teil  der Lösung der Aufgabe suchen:

In der Begriffsbestimmung der Revolution würde es verfehlt sein, von irgendeiner Erfassung des  Inhalts  der mit der Revolution beabsichtigten Neuerung auszugehen. Schon ROSCHER betont, daß nur die  Form  der Durchführung entscheidend sein kann. Die alte Scheidung von  Reform  und  Revolution  ist durchaus brauchbar. Freilich erweckt diese Gegenüberstellung leicht eine allzu optimistische Vorstellung, als ob die gesellschaftliche Entwicklung immer ein voranschreitender Vervollkommnungsprozeß sei, bei dem nur die Wahl zwischen der allmählich, aber positiv voranschreitenden Reform und der plötzlichen Revolution bleibe. Vielleicht ist es deshalb richtiger, statt "Reform"  Evolution  zu sagen, wobei man allerdings unter diesem Wort nicht gleichfalls einen unbedingt harmonischen Entfaltungsprozeß verstehen darf. Ich definiere die Revolution im Staatsleben als eine  plötzliche und in schnellem Zeitmaß vor sich gehende Machtverschiebung.  Soziologisch fallen die juridisch vom Revolutionsbegriff zu sondernden Begriffe des  Staatsstreichs,  der  Gegenrevolution  usw. mit darunter; denn diese Vorgänge sind, als soziale Prozesse aufgefaßt, gleicher Natur wie jene. Die Revolutionen sind im sozialen Leben Parallelerscheinungen zu den Mutationen der Biologie und den der PLANCKschen Quantentheorie zugrundliegenden Erscheinungen der physikalischen Welt. Wir wissen heute, daß der alte aristotelische Satz "natura non facit saltus" [Die Natur macht keine Sprünge. - wp] nicht zutrifft, daß sich vielmehr zum Teil die Entwicklung stoß- und ruckweise vollzieht. Die revolutionären oder Mutationsvorgäne lassen sich dabei nicht so leicht auf der Basis des Kausalitätsgesetzes aufbauen wie die Evolutionserscheinungen. Das deutliche Auseinander der Wirkungen aus bestimmten Ursachen ist bei ihnen sehr viel schwerer quantitativ feststellbar. Ja, der Kausalzusammenhang erscheint uns auf den ersten Blick vielfach zerrissen. Mögen wir ihn in einzelnen Teilen verhältnismäßig leicht wahrnehmen, so bleibt doch dem Betrachter, wenn er die Zusammenhänge nicht künstlich vereinfacht, vieles dunkel. In jeder Revolution leuchtet etwas Unbekanntes, Unvorhergesehenes, Irrationales mit auf. Der geheimnisvolle, vom menschlichen Verstand nicht voll erfaßbare Urgrund aller Dinge wird bisweilen dem vor Schreck starren Auge sichtbar, bis die Wolken unseres Alltagshimmels wieder über ihn hinziehen und  Hinz und Kunz  wieder erleichtert aufatmen können.

Es fragt sich, worauf diese plötzlichen und schnellen Machtverschiebungen im Staat zurückzuführen sind: Der Idee einer vollkommen organisierten Gruppe würde es entsprechen, daß sie ihren Sinn, die Interessen der Allgemeinheit zu wahren, voll erfüllen kann. Die Machtverteilung in ihr zwischen den Gruppenelementen, also das System der Über- und Unterordnung müßte so ausbalanziert sein, daß jedes Gruppenglied die unbedingte Notwendigkeit und relative Vorzüglichkeit gerade dieser Ornung anerkennt. Tatsächlich ist das nie der Fall. Es haften jeder Machtgruppe (wie ich allgeminer statt  Staat  sagen möchte) die ewigen Unvollkommenheiten an, daß sie eben doch nicht die Idee der Allgemeinheit und des Allgemeininteresses ganz verwirklichen kann. Immer bleiben Minoritäten, meist sogar starke Mehrheiten von Gruppenelementen unbefriedigt. Die Ordnung in der Gruppe ist zumeist Subordination. Das scheinbare Gleichgewicht ist dadurch herbeigeführt, daß die eine Waagschale künstlich am Sinken oder Fallen gehemmt wird. Die Ruhe bleibt zumeist nur mit mehr oder weniger deutlich wahrnehmbarer Gewalt aufrechterhalten. Kommt ein für Änderungen günstiger Augenblick, so wandelt sich die ständige  latente  Tendenz zur Machtverschiebung in eine  offene.  Die Neigung, ein bestehendes Machtverhältnis umzustoßen, ist stets vorhanden; es bleibt nur die Frage, wann und wie sie zur Tat wird.

Jede Machtgruppe verändert bald schneller, bald langsamer ihre Physiognomie. Bald in einem stillen Abbröckelungsprozeß, bald in stürmischer Umbildung verschiebt sich in ihr die Gewaltverteilung. Die zerstörenden Prozesse, von denen wir vorhin sprachen, machen sich geltend: Besteht ein bestimmtes Gruppenverhältnis über eine oder zwei Generationen hinaus, so droht es zu veralten. Was ursprünglich zweckmäßig und angepaßt erschien, macht jetzt den Eindruck des Verknöcherten. Die Selbstsucht der Machthaber drängt sich hervor. Nepotismus [Vetternwirtschaft - wp] und Protektion treten an die Stelle der Sachlichkeit, Korruption schleicht sich ein. Oder aber wenn die Staatsverwaltung frei von diesen Übeln des persönlichen und Familieneigennutzes gehalten werden kann, so zeigt sich allmählich der entgegengesetzte Mißstand: die zunehmende Gleichgültigkeit. Gerade wenn es nichts für die eigene Tasche zu erhaschen gibt, schwindet das Interesse am Staatsleben. Ein gefährlicher Formalismus reißt in den Amtsgeschäften ein, nicht minder schlimm ist die Kommerzialisierung des öffentlichen Lebens: die Angelegenheiten des sozialen Verkehrs werden unter den Gesichtspunkt des wirtschaftlichen Profits gerückt. Die ursprünglichen Zwecke der Gesellschaft werden pervertiert; die Gruppe beginnt zu entarten.

Je mehr sich im Laufe der Zeit deutliche Privilegien von Minderheiten herausstellen, desto mehr neigt die Majorität einer Umgestaltung des Organismus der Machtgruppe zu, während die Bevorrechteten eine Zeitlang noch so viel wie möglich von ihren Privilegien aufrechterhalten möchten. Auf dem eigentlichen Gebiet der Politik zeigt sich diese Tendenz im Streit um die Verfassung. Noch intensiver reiben sich die wirtschaftlichen Gegensätze von Reich und Arm. Es bleibt schließlich nur, da die allgemeine Überzeugung fast aller Gruppenelemente einer Veränderung geneigt wird, die Frage: Reform oder Revolution?

Im Bild gesprochen: Jede Machtgruppe gleicht einer erstarrenden Masse. Nur im Zustand der Halbstarre ist sie wirtschaftlich lebens- und fortpflanzungsfähig. In der Ruhezeit droht sie darüber hinaus zu erstarren; in unruhigen Zeitläuften sich zu sehr zu verflüchtigen und auseinanderzufließen.

Hinein spielt der ewige Streit zwischen Ideologie und Wirklichkeit. Am einfachsten stellt sich dieser Gegensatz dar, wenn man die von LANDAUER verwendete Terminologie gebraucht und Topie und Utopie unterscheidet. Mit Topie würde ich dabei bezeichnen: alle  bestehenden,  in der Vergangenheit als autoritär und zweckmäßig anerkannten Einrichtungen und Ordnungen im Staat und Gesellschaft, kurz: das Bestehende und sozial Geltende; mit Utopie das Nichtbestehende, bloß  Erstrebte,  als vollkommener Gedachte und Erträumte, das von jedem Kompromiß bisher verschonte System einer Ideologie. Es handelt sich um den ewigen Widerstreit zwischen dem Bestehen und damit Mangelhaften einerseits und der Ideologie andererseits. Ebenso wie es zu allen Zeiten eine geformte Topie des sozialen Lebens geben muß, so ist die Utopie gleichfalls unsterblich. Sie lebt auch in normalen Zeiten - gewissermaßen unterirdisch - weiter, teils im wachen Bewußtsein der Ideologen, teils im Unterbewußtsein der Realisten. Je stärker der Geist der Topie die jeweilige Welt beherrscht, desto unsichtbarer und scheinbar ungefährlicher ist die Utopie. Aber sie findet ihre Stunde. Es kommt der Augenblick, in dem die Ideologie zu triumphieren scheint. Die alte Topie bricht zusammen; jetzt scheint sie der Utopie zu weichen. LANDAUER nennt sehr treffend die Revolution "die Zeitspanne, während deren die alte Topie nicht mehr, die neue noch nicht feststeht". In dem Augenblick, wo die Utopie aus dem Reich des Traums ins Licht der Realisation tritt, enthüllt sich aber ihre Schwäche; sie kann nicht leben. Es zeigt sich alsbald, daß ihr bestimmte lebensnotwendige Bestandteile fehlen, die gerade in der Topie die eigentlichen Grundstützen bilden. Die Erfordernisse des Alltags, der Daseinserhaltung machen sich heute wie gestern geltend. Man muß wirtschaften, nüchtern, sparsam und erdennah wirtschaften; man muß sich nach außen verteidigen. Aus der Utopie wird alsbald unter Schmerzen und Zuckungen eine neue Topie; sie entnimmt ihre brauchbarsten Kräfte der alten, scheinbar beseitigten, aber eben auch nur vorübergehend unterirdisch gewordenen Topie und versucht einen Recht von utopistischer Ideologie mit diesen Realien zu vereinen. "Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang" (LANDAUER). Jetzt beginnt der unendliche Kreislauf aufs neue. Im Widerstand gegen das Bestehende fügt sich aus Traum und Reformwille eine neue Utopie und zersetzt allmählich wiederum die Grundmauern des realen Baus.

Damit ist auch die allgemeine Formel für den tragischen Verlauf jeder Revolution und eine generelle Antwort auf viele Fragen gegeben. Zunächst reagieren auf den vorhin skizzierten Erstarrungsprozeß der ersten Topie die oppositionellen Elemente, soweit sie sich nicht mit bloßen Reformen zufriedengeben können oder wollen, in der Zeit ihrer Machtlosigkeit mit Utopien. Dem Entartungsprozeß der alten Gruppe geht die Ideologie der Neuerer parallel. Sie ist überschwänglich, voller Verheißung, wirklicher oder eingebildeter Menschenliebe, baut das Gedankensystem auf dem Begriff der Freiheit auf und nährt den Glauben, daß dem Menschenglück einzig die dumpfe und brutale Gewalt der alten morschen Topie entgegensteht. Sie ist ihrer ganzen Natur nach ungeschichtlich, rationalistisch; ihre Verachtung gilt der Tradition.

Freilich nicht nur die Weltverbesserer führen Revolutionen herbei. Ihr Anteil an dieser Vorarbeit ist aber groß. Eine starke Hoffnung erfüllt sie, den Menschen von Grund auf durch eine neue Gesellschaftsordnung umgestalten zu können. Wie SAINT-JUST so verkünden die vorwiegend durch den sozialen Gegensatz der Klassen erregten Neuerer, es werde in Zukunft weder Arme noch Reiche geben. Immer finden diese Harmonie-Apostel eine gläubige Anhängerschar. Die Massen greifen - darin hat SPENGLER durchausrecht - nur das Schlagwort, nicht das Gedankengebäude mit seinem Wenn und Aber auf. Bald zeigt es sich, aß, wie TAINE einmal sagt "nichts gefährlicher sein kann als eine allgemeine Idee in einem leeren Gehirn". Die scheintote Utopie wird zu einem menschenfressenden Gespenst. Der Triumph der Ideologie ist stets ein blutiger Sieg. Die größten Grausamkeiten der Geschichte werden immer im Dienst einer allmächtigen Abstraktion - bei  Revolution  zumeist im Dienst der  Freiheit - begangen. Stünde hinter dem gewalttätigen Menschen nicht eine ihn beherrschende Idee, glaubte er nicht, so handeln zu müssen, um einer guten Sache zum Sieg zu verhelfen, er würde, nur auf sich selbst gestellt, bald erschrecken und irre werden; aber die Utopie gibt Mut, Härte, Mitleidslosigkeit. Die Massen, die hinter den von der Ideologie beherrschten Führern stehen, wollen freilich nicht den Sieg der Idee, sondern Lastenabschüttlung und Genuß. Wie wenig sie im Grunde von der Idee beherrscht werden, ergibt sich aus der immer wieder in allen Jahrtausenden gemachten Beobachtung, daß sie morgen unter anderen Umständen gerade dem zujubeln, den sie gestern unter Wutgeheul verstoßen haben. CARTELLIERI (Seite 206) sagt darüber sehr richtig:  "Jede  (dieser) Erscheinung(en) der Staatsgewalt wird, wenn ihre Stunde gekommen ist, vom Volk mit dem gleichen Jubel begrüßt; woraus sich ergibt, daß sie alle dem Volk ansich vollkommen gleichgültig sind und von ihm nur daran gemessen werden, wieweit sie seine Wünsche erfüllen."

Diejenigen, die sich über die Weltfremdheit der revolutionären Ideologen und über die Unzuverlässigkeit der Massen entrüsten, sollten freilich nicht vergessen, welche Summe an Leid, an heruntergewürgtem Groll, an Knechtung und Verachtung der Schwächeren vorausgegangen zu sein pflegt. Man kann an den Exaltiertheiten der Führer und am kopflosen Elan der Massen zugleich auch auf die Morschheit der früheren Gesellschaftsordnung schließen. Und noch eines wird klar: Es wird gleich noch anzudeuten sein, wieviele unerwartete Wandlungen in den Menschen oben und unten in revolutionären Zeiten vorgehen. TAINE sagt darüber sehr hübsch: "Es ist traurig, daß jemand, der in einem Schafstall eingeschlafen ist, beim Erwachen seine Schafe in Wölfe umgewandelt findet." In der Tat kann man nicht genug erstaunen über die oft der Umgebung schwer begreifliche Veränderung der Seelenverfassung. In ruhigen Zeiten werden die meisten (mit Ausnahme der wenigen sich selbst steuernden Naturen) auch in ihren Gefühlen und Wollungen aufs stärkste von ihrer sozialen Umwelt bestimmt. Was ihre Kameraden, Berufsgenossen, ihre Familienangehörigen, ihre Vorgesetzten, Untergebenen denken und wähnen, das ist auch ihre Meinung. Etwaige in der Seele auftauchende Abweichungen von der Umweltsnorm werden ins Unterbewußtsein hinabgescheucht. Aber nun kommt der Tag, wo der Mensch des Haltes durch seinen Gesellschaftskreis beraubt wird. Das Ich, auch das unterirdische Ich steigt hüllenlos empor. Und dieses Ich ist nicht immer so schön und edel wie man sich wohl den Menschen gern vorstellt, gerade bei denen nicht, die gar nicht leben können ohne den Rückhalt an der Gruppe.

Aber es ist durchaus falsch, sich den Beginn einer Revolution lediglich als Entfesselung der Bestie im Menschen vorzustellen. Es ist ein Emanzipationsvorgang für alle zur Aktivität willigen Kräfte. Edles und Unedles wird frei. Nur verschlingt die ungeheure Tragik der Revolution häufig das Edle.

Wie kommt das? Weil sich alsbald, gerade wenn man den besten Kern der Ideologie sichern und realisieren will, die Notwendigkeit der Gewaltanwendung ergibt. Es gibt eine grausame Frage und eine grausamere Antwort: kann es wirksame Revolutionen ohne Schafott, ohne Guillotine geben?: Wohl nur dann, wenn die zu stürzende Machtpartei schon ganz kraftlos und widerstandsunfähig ist und deshalb schnell zu verschwinden verdient, wenn sie sich also politisch selbst ausscheidet.

Man mag es begrüßen oder beklagen, der Umstand, daß die Novemberrevolution von 1918 in Deutschland nicht im entferntesten zu dem Ergebnis gelangt ist, das die Revolutionäre anstrebten, lag in der Hauptsache daran, daß die Führer sehr schnell zu einem Kompromiß mit dem alten Regime bereit waren. Eine wirkliche Revolution steht vor der furchtbaren Entscheidung, zur Tyrannis zu werden oder sich selbst aufzugeben. Sie steigt herauf im Zeichen der allgemeinen Befreiung und wandelt sich bald zur allgemeinen Bindung; denn sie kann den von ihr angestrebten Zustand der Freiheit nur sichern durch Unfreiheit, was freilich alsbald die Freiheit überhaupt für die nächst absehbare Zeit unmöglich macht.

Den Satz ROBESPIERREs: "Die Regierung der Revolution ist der Despotismus der Freiheit gegen die Tyrannei", könnten auch alle anderen revolutionären Führer gesprochen haben; nur nicht die bolschewistischen, die sich damit abgefunden haben, die Freiheit als ein bourgeoises, liberales Vorurteil anzusehen. Tatsächlich aber vollzieht sich in jeder erfolgreichen Revolution eine in drei Stadien voranschreitende Stellung zur Freiheit und Gesellschaft: Anfangs handelt es sich um einen Befreiungsakt: Beseitigung von Privilegien und damit der alten Gesellschaftsordnung; im zweiten Stadium vergesellschaften sich die liberalen Emanzipationsbestrebungen; im letzten erklärt eine oft winzige Minderheit: die Gesellschaft bin ich. Immer ist das Schlußergebnis die Diktatur einer Minderheit, die sich mit Gewaltmitteln an der Spitze behauptet.

Nach den ersten, oft unerwarteten, durch die Skepsis der Gegner an ihrer eigenen Sache beschleunigten Erfolgen stehen die Führer vor der schweren Aufgabe, das Errungene zu behaupten. Sie dürfen die Massen nicht enttäuschen. In überschwänglichem Vertrauen räumen diese ihnen Rechte und Verantwortungen ein, deren Größe sie nie vorher geahnt haben. Ein Augenblick der Schwäche, und der Demagoge ist verloren. Kompromisse sind ausgeschlossen. Ein furchtbar beschleunigtes Tempo der Verwaltung wird den Führern von den Umständen aufgezwungen: gegenüber den sozialen Gegnern schnellste Justiz, ungenügende Beweiserhebung und, damit verbunden, die Neigung zum Todesurteil. Gesetze, Verordnungen, Verfassungen müssen in kürzester Frist geschaffen werden. Die Gefühle der Unsicherheit in der eigenen Brust und bei der Gefolgschaft müssen durch Enthusiasmus, durch Radikalismus unterdrückt werden. Der Terror als Regierungsmittel bietet sich dar. Furchterregung soll erreicht werden. Bald wütet man auch gegen die bloß Gleichgültigen; wer nicht mitläuft, ist verdächtig, und wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es entsteht ein furchtbarer Widerspruch zwischen den liberalen Worten und den Gewalttten; aber die alten Schlagworte werden nicht so leicht aufgegeben. TAINE meint: "Er (der Führer) verkündet die Grundsätze, die er so verletzen will, lauter als je. Wenn die unwissende Menge sieht, daß man ihr immer dieselbe Flasche reicht, wird sie glauben, daß man ihr auch dieselbe Flüssigkeit gibt; sie wird daher die Tyrannei unter der falschen Aufschrift  Freiheit  hinunterwürgen". Bald ist die große Volksmasse insgesamt unterdrückt und schweigt.

TAINE schildert uns in einem sehr eindrucksvollen Kapitel die Charaktere der drei so verschiedenen Führer der jakobinischen Partei in der großen Französischen Revolution: den Psychopathen MARAT, den Tat- und Gewaltmenschen DANTON, den Ideologen ROBESPIERRE. Mehr oder weniger lassen sich die drei Typen bei allen Revolutionen unter den Führern unterscheiden: nämlich der durch das Dogma verblendete Sektierer, der durch sein Handwerk verhärtete Totschläger, der ehrgeizige  homo novus.  Bisweilen sind es wie ROBESPIERRE Leute, die in ruhigen Zeiten auch brave und fleißige Berufsmenschen sein würden; zumeist begabte Männer, denen das Fortkommen in der vorrevolutionären Zeit durch Tradition und Vorurteil, aber auch durch ihre eigene Unrast erschwert oder unmöglich gemacht worden ist. Immer reichen sich in revolutionären Zeiten die Doktrinäre und die theorielosen Genies, die  Marats  und  Dantons  die Hand. Von DANTON sagt TAINE: "Er eignete sich nicht für die regelmäßige Disziplin einer alten feststehenden Gesellschaft. Er bedurfte der geräuschvollen Roheit einer sich auflösenden oder einer in der Neubildung begriffenen Gesellschaft." VIERKANDT betont mit Recht die den normalen Zeiten gegenüber andere Führerauslese in der Revolution. Doch sollte man nicht völlig TAINEs allzu verurteilender, summarischer Kritik der revolutionären Führer folgen. Nur ein vorurteilsloser Vergleich aller Führer, auch der edleren Naturen unter ihnen, mit den oft so verzopften, verhärteten und stumpfsinnigen Regierungsmännern einer im Stadium der Veraltung begriffenen Staatsordnung kann hier zu einem gerechteren Urteil führen. Jugend, tugendlose Jugend und Greisentum stehen sich gegenüber. Die alten Bürokraten haben weniger Fehler, aber auch weniger Vorzüge. Und die 48er präsentieren sich der Kritik günstiger als die Jakobiner. Aber auch die MIRABEAU, LAFAYETTE, CONDORCET, CHARLOTTE CORDAY darf man über den drei Schreckensmännern und ihrem Anhang nicht vergessen. Für manche Revolutionäre ist das plötzliche Emporkommen und der Einfluß der sie bewundernden aufstachelnden Massen das Verhängnis geworden.

Mir scheint VIERKANDT ganz recht zu haben, wenn er den Mangel an Zweckmäßigkeits- und Wirklichkeitssinn in den Revolutionen nicht durch die Herrschaft der Masse (ich würde sagen: nicht bloß durch die Herrschaft der Masse) erklären will. Soweit dieser Mangel sich nicht durch die objektive ungeheure Schwierigkeit der Lage erklärt, durch den Übergang der Utopie zur Topie, ist das Irrationale vielmehr aus der Psyche und der Situation der  Führer  herzuleiten, schließlich auch aus der immer wieder bemerkenswerten, schnell voranschreitenden Selbstaufgabe des alten Regimes. Der Zweifel der alten Herrenschicht am Recht ihrer Stellung; ihre Unsicherheit darüber, was zu behaupten, was zum Untergang reif ist; ihre Unfähigkeit, sich in die neue Lage zu finden - vermehrt das Chaos. "Keine der Besatzungen der Zentralzitadelle", berichtet TAINE aus der französischen Revolution, "weder die königlich Gesinnten, noch die Anhänger der Verfassung, noch die Girondisten - hat es verstanden, sich zu verteidigen, die Exekutivgewalt wieder herzustellen, den Degen zu ziehen und sich seiner in den Straßen zu bedienen." - War es im November 1918 bei uns anders?

Auch hierin zeigt sich die Verwachsenheit bestimmter Klassen und Berufe wie der einzelnen Menschen mit der ihnen gewohnten Gesellschaftsordnung.

Im Ganzen scheint mir LANDAUER in wenigen Worten ein richtiges Bild des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Lage in solchen Zeiten zu geben, wenn er sagt: "Heroismus und Bestialität, Einsamkeit des Großen und armselige Verlassenheit des Massenatoms." Sicherlich spielen im Verhalten der Menschen in solchen Zeiten die von VIERKANDT genannten Kennzeichen eine große Rolle: Phantasitk, Irrationalität, Herrschaft niederer Triebe und Ressentiment. Aber wahrlich nicht nur: hier und da genialer Tief- und Weitblick, reifstes Wissen um den Menschen, ein Aufleuchten der Menschenliebe und Erhabenheit über Neid und Groll. Man muß beides zu sehen vermögen. Ist eine Tradition zerbrochen, tritt der Mensch hüllenloser hervor. Schlummerndes erwacht. Nun beginnt mit der Revolution nicht nur TAINEs Kultus des abscheulichen Krokodils. Das Chaos bringt Ursprüngliches herauf: Niedriges, aber auch vorher und nachher unbekanntes Großes.

In seiner "Psychologie der Revolution" stellt Le BON - wohl in etwas einseitiger Zuspitzung - die äußeren Ereignisse lediglich als Folgen unsichtbarer seelischer Veränderungen hin. Mir scheint es nicht ganz richtig zu sein, die Revolution nur psychologisch erklären zu wollen. Vielmehr erklärt sie sich aus der Veränderung in den Beziehungen zwischen der sozialen Struktur und dem Seelenleben der Menschen. Die Topie, die äußere Form der Gesellschaft, ändert sich; subjektiv wahrnehmbar im Schwinden von Prestige und Traditioni. Jetzt findet das Innenleben der Menschen nicht mehr die rechte Stütze in der Gesellschaftsordnung. Es tastet sich weiter und sucht einen neuen Rahmen für sich. Er bildet sich aus Topie und Utopie.

Von den Ursachen und vom Verlauf der Revolution schweift der Blick zu ihren Wirkungen und zu ihrer Beurteilung. Zum Schluß hierüber nur eine kurze Andeutung: Um den Grad der Wirkungen festzustellen, wird man sie zu messen versuchen müssen. Man vereinheitlicht sie, indem man sie als Energiemengen auffaßt und es unternimmt, die verbrauchten und die gewonnenen Kräfte gegenüberzustellen. Wir sind dabei heute fast nur auf Schätzungen oder auf Symptome angewiesen. Ihr Ergebnis scheint mir aber bei den Revolutionen in der Hauptsache dasselbe zu sein wie bei Kriegen: die Opfer sind größer als die Gewinne; diese sind zu teuer erkauft.

Eine rein soziologische Beurteilung kann sich als Maßstab nur des Gesichtspunktes bedienen, der für alle beziehungswissenschaftlichen Untersuchungen bestimmend ist: des sozialen Zu- und Auseinanders. Es wäre letztlich also zu fragen, ob Revolutionen die Menschen einander näher bringen oder die gesellschaftlichen Bande lockern:  beide  Bewegungen werden sich feststellen lassen in verschiedenen Richtungen.

Aber diese Fragestellung ist auch nicht exakt und klar genug. Man kann Revolutionen nicht beurteilen wie soziale Gebilde. Sie sind ja nicht Teile der Struktur, sondern Entwicklungserscheinungen. Man kann also nur fragen, wobei freilich der Rahmen der werturteilsfreien Exaktheit gesprengt wird:  muß  denn der Weg der Menschen zur Vergesellschaftung und gleichzeitigen Differenzierung über solche gefährlichen, opferfordernden Strudel und Riffe führen? Das ist in gewissem Sinne eine Frage der Metaphysik, die aus dem Kreis der Soziologie herausführt. Man kann sie auch ethisch wenden: sollten wir nicht alles tun, um das gesellschaftliche Flußbett zu ebnen?

Aber auch das Bild von den Strudeln und Riffen im Wasser reicht nicht aus und kann irreführen.

Es kann eine revolutionslose Entwicklung von Staat und Gesellschaft geben, die schlimmer ist als eine über Revolutionen voranschreitende Bewegung. Das Gesellschaftssystem kann überstarr sein. Dann triumphiert vielleicht der Gegner aller Revolutionen aus Prinzip: Diese Staatsumwälzungen sind jetzt und in Zukunft unmöglich; die Widerstandskraft jeglicher Opposition ist gebrochen, die Utopie, die Ideologie ist zu einer lächerlichen Farce geworden. - Wäre das wünschenswert? Ich meine: dann lieber Revolution! Die Aufgabe scheint mir vielmehr darin zu bestehen: dem  Erstarrungs prozeß immer wieder rechtzeitig zu begegnen und die Ansammlung von  seelischen  Widerständen zu vermindern. Es kann sich nicht darum handeln: das Ventil der Revolution ein für alle Mal zu verkitten, sondern darum: die Gesellschaft so zu organisieren, daß der Anreiz und der Wille zu Revolutionen schwindet, weil kein Grund und keine Ursache für sie da sind.
LITERATUR Leopold von Wiese, Die Problematik einer Soziologie der Revolution, Verhandlungen des Dritten Deutschen Soziologentages, Tübingen 1923
    Anmerkungen
    1) Vgl. TOCQUEVILLE, L'Ancien Régime et la Révolution, zweite Auflage, Paris 1856, Seite 10f.