cr-2G. MehlisP. KampitsW. WindelbandL. PohorillesG. Landauer    
 
BERTRAND RUSSELL
Mystik und Logik

Das mystische Gefühl offenbart uns eine Möglichkeit der menschlichen Natur - die Möglichkeit eines edleren, glücklicheren und freieren Lebens als jedes, das auf andere Weise erreicht werden kann.

Die Metaphysik oder der Versuch, die Welt als Ganzes mit Hilfe des Denkens zu begreifen, entwickelt sich von Anfang an durch Zusammenklang und Gegensätzlichkeit zweier sehr verschiedener menschlicher Impulse, eines, der den Menschen zur Mystik, und eines anderen, der ihn zu den exakten Wissenschaften drängt. Einige Männer erlangten Größe allein durch den einen, wieder andere allein durch den zweiten: bei HUME z.B. herrscht der wissenschaftliche Impuls ganz uneingeschränkt, während sich bei BLAKE eine stark wissenschaftsfeindliche Haltung mit tiefer mystischer Einsicht verbindet. Die größten Philosophen fühlten jedoch das Bedürfnis sowohl nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis als auch nach Mystik: gerade der Versuch, beides zu harmonischem Zusammenklingen zu bringen, schenkt ihrem Lebenswerk die Größe, und dies ist auch der Grund, warum es immer wieder Geister geben wird, denen die Philosophie, trotz ihrer schwerwiegenden Unsicherheit, als etwas Größeres erscheinen wird als reine Wissenschaft oder Religion allein.

Die mystische Philosophie wird zu allen Zeiten und in allen Teilen der Welt durch bestimmte Glaubensnormen charakterisiert. Da ist zunächst der Glaube an eine Einsicht, die im Gegensatz zum vernunftmäßigen, analytischen Wissen steht: der Glaube an eine plötzliche, durchdringende, zwingende Weisheit, die dem langsamen und trügerischen Studium der äußeren Erscheinungen durch eine Wissenschaft entgegengestellt wird, die sich ganz auf die Sinne verläßt. Wer fähig ist, sich einer inneren, alles erfassenden Leidenschaft hinzugeben, muß mitunter das seltsame Gefühl erlebt haben, daß die gewöhnlichen Dinge ihre Realität einbüßen, daß er den Kontakt mit den Dingen des täglichen Lebens verliert und die Solidität der Außenwelt schwindet; die Seele scheint in äußerster Verlassenheit und aus ihren eigenen Tiefen den verrückten Tanz phantastischer Phantome hervorzubringen, die eine unabhängige Wirklichkeit und ihr eigenes Leben zu besitzen scheinen. Dies ist die negative Seite der Einstellung des Mystikers: das Zweifeln am allgemeinen Wissen, welches den Weg für die Aufnahme einer scheinbar höheren Weisheit vorbereitet. Viele Menschen, denen diese negative Erfahrung etwas Vertrautes ist, gehen darüber nicht hinaus, für den Mystiker hingegen ist sie nur das Tor in eine reichere Welt.

Die mystische Einsicht beginnt mit dem Gefühl eines enthüllten Geheimnisses, einer verborgenen Weisheit, die nun plötzlich, über jeden Zweifel erhaben, Gewißheit erlangt. Das Gefühl der Gewißheit und der Offenbarung ist früher da als ein bestimmter Glaube. Die bestimmten Glaubensvorstellungen, zu denen der Mystiker gelangt, sind das Ergebnis der Überlegung über die ungeformte und nicht in Worte faßbare Erfahrung im Augenblick der Erleuchtung. Oft werden nachträglich Glaubensvorstellungen, die keine tatsächliche Verbindung mit dem Augenblick haben, in den Kern hineingezogen; so finden wir, neben den Überzeugungen, die allen Mystikern gemeinsam sind, bei vielen von ihnen Ansichten, die mehr lokalen und temporären Charakter tragen und die zweifellos mit dem verschmolzen wurden, was kraft seiner subjektiven Gewißheit seinem Wesen nach mystisch ist. Wir können solche unwesentlichen Zusätze außer acht lassen und uns auf jene Glaubensvorstellungen beschränken, die allen Mystikern gemeinsam sind.

Das erste und unmittelbarste Ergebnis jenes Augenblicks der Erleuchtung ist der Glaube an die Möglichkeit der Erkenntnis, die, gleich ob wir sie Offenbarung, Erleuchtung oder Intuition nennen wollen, im Gegensatz steht zu Sinneswahrnehmung, Vernunft und Analyse, die man bloß als blinde Führer in den Sumpf der Illusionen ansieht. In enger Verbindung mit diesem Glauben steht der Begriff einer Realität hinter der Welt der Erscheinungen und von ihr wesentlich unterschieden. Diese Realität wird mit einer Bewunderung betrachtet, die oft an Anbetung grenzt; man fühlt sie immer und überall ganz nahe, nur schwach verhüllt durch das, was uns die Sinne vorgaukeln, stets gewillt, sieh dem aufnahmebereiten Geist in all ihrer leuchtenden Pracht durch die augenscheinliche Torheit und Verworfenheit des Menschen hindurch zu zeigen. Der Dichter, der Künstler, der Liebende, sie suchen jenen Glanz: die lockende und quälende Schönheit, der sie nachjagen, ist der schwache Abglanz ihrer Sonne. Der Mystiker aber lebt im vollen Lichte der Vision: was andere nur dumpf suchen, das kennt er, und gegenüber seinem Wissen ist alles andere Wissen nur Unwissenheit.

Das zweite Merkmal der Mystik ist der Glaube an die Einheit und die Weigerung, irgendwo Gegensatz oder Teilung zuzugeben. Wir fanden, daß HERAKLIT sagte, "Gut und Böse sind eins", und an anderer Stelle sagt er, "der Weg aufwärts und der Weg abwärts sind ein und dasselbe". Der gleichen Einstellung begegnen wir in der simultanen Behauptung kontradiktorischer Sätze: "Wir steigen und wir steigen nicht in dieselben Flüße; wir sind und wir sind auch nicht." Die Behauptung des PARMENIDES, daß die Realität eine einzige und unteilbare sei, stammt aus dem gleichen Streben nach Einheit. Bei PLATON ist dieser Impuls weniger ausgeprägt, da er durch seine Ideenlehre in Schach gehalten wird; doch taucht er, soweit es seine Logik gestattet, in seiner Lehre von der Überlegenheit des Guten wieder auf.

Ein drittes Kennzeichen fast jeder mystischen Metaphysik ist das Leugnen der Realität der Zeit. Dies ist ein Ergebnis der geleugneten Teilung; wenn alles eines ist, dann muß die Unterscheidung in Vergangenheit und Zukunft illusorisch sein. Diese Lehre wurde uns bei PARMENIDES deutlich; und bei Modernen ist sie grundlegend in den Systemen des SPINOZAs und HEGELs.

Die letzte Lehre der Mystik, die wir zu betrachten haben, ist der Glaube, daß alles Böse nur Schein sei, eine Illusion, hervorgerufen durch die Teilungen und Gegensätze des analytischen Intellekts. Die Mystik behauptet nicht, daß Dinge, wie etwa Grausamkeit, gut seien, sondern sie leugnet, daß sie real seien: sie gehören in jene minderwertigere Welt der Phantome, aus der wir durch die Erleuchtung der Vision erlöst werden sollen. Manchmal - z.B. bei HEGEL und weniger bei SPINOZA - wird nicht nur das Böse, sondern auch das Gute illusorisch betrachtet, obwohl nichtsdestoweniger die gefühlsmäßige Einstellung dem gegenüber, was man für die Realität hält, eine derartige ist, wie man sie naturgemäß mit dem Glauben verbinden würde, daß die Realität gut sei. Was in jedem Falle vom Ethischen her für die Mystik charakteristisch ist, das ist das Fehlen von Entrüstung und Protest, die freudige Zustimmung und der fehlende Glaube an die letzte Wahrheit einer Scheidung in zwei feindliche Lager, das des Guten und das des Bösen. Diese Einstellung ist eine direkte Folge der Natur der mystischen Erfahrung: mit de, Gefühl der Einheit verbindet sich ein Gefühl unendlichen Friedens. Man könnte tatsächlich meinen, daß das Gefühl des Friedens, so wie dies bei Gefühlen im Traum der Fall ist, das ganze System assoziierter Glaubensvorstellungen erzeuge, welche die Gesamtheit der mystischen Lehre ausmachen. Doch ist dies eine schwierige Frage, und es besteht wenig Hoffnung, daß sich die Menschheit darüber einigen werde.

Somit ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit dem mystischen Erleben vier Fragen, nämlich:
  • Gibt es zwei Arten der Erkenntnis, die man Vernunft oder Intuition nennen könnte? Und wenn dies der Fall ist, ist eine davon der anderen vorzuziehen?
  • Ist jede Pluralität und Teilung illusorisch?
  • Ist die Zeit etwas lrreales?
  • Welche Art von Realität besitzen Gut und Böse?
Obwohl es mir scheint, daß die vollentwickelte Mystik bei der Beantwortung aller vier Fragen unrecht hat, so glaube ich doch, daß man, bei entsprechender Zurückhaltung, aus der mystischen Art des Fühlens ein Element der Weisheit lernen kann, das auf keine andere Art und Weise erreichbar zu sein scheint. Wenn dies tatsächlich stimmt, dann ist Mystik als Einstellung dem Leben gegenüber zu empfehlen, nicht aber als Glaubensbekenntnis in bezug auf die Welt. Ich behaupte, daß der metaphysische Glaube aus einer irrigen Auslegung der Gemütsbewegung entspringt, obwohl diese Gemütsbewegung dadurch, daß sie allen anderen Gedanken und Gefühlen Farbe und Inhalt verleiht, das Beste im Menschen weckt. Sogar die vorsichtige und geduldige Forschungsarbeit der Naturwissenschaften kann gerade durch diese Atmosphäre der Ehrfurcht, in der die Mystik lebt und sich bewegt, befruchtet und gefördert werden.

Der Glaube an eine Realität, die ganz verschieden von dem ist, was den Sinnen erscheint, erhebt sich mit unwiderstehlicher Gewalt in bestimmten Gemütslagen, welche die Quelle der meisten mystischen Lehren und auch der meisten metaphysischen Systeme sind. Sobald eine solche Gemütslage dominant ist, fühlt man nicht das Bedürfnis nach Logik, und dementsprechend ist den gründlicheren mystischen Lehren Logik fremd, sie appellieren direkt an die unmittelbare Äußerung ihre Einsicht. Doch ist eine solche vollausgebildete Mystik im Abendlande eine Seltenheit. Wenn die Intensität der gefühlsmäßigen Überzeugung nachläßt, wird ein Mensch, der an vernunftmäßiges Denken gewohnt ist, nach logischen Gründen suchen, die für den Glauben sprechen, den er in sich findet. Aber da dieser Glaube ja bereits vorhanden ist, wird er jeden Grund willkommen heißen, der sich ihm aufdrängt.

Die Paradoxa, die scheinbar durch seine Logik bewiesen werden, sind tatsächlich die Paradoxa der Mystik und zugleich das Ziel, von dem er das Gefühl hat, daß es seine Logik erreichen muß, wenn sie mit seiner Einsicht in Einklang stehen soll. Die daraus resultierende Logik hat die meisten Philosophen dazu unfähig gemacht, Rechenschaft über die Welt der exakten Wissenschaften und des täglichen Lebens abzulegen. Hätten sie das Bedürfnis gefühlt, eine solche Rechenschaft abzulegen, hätten sie wahrscheinlich ihre Trugschlüsse als solche erkannt, doch war es den meisten von ihnen weniger darum zu tun, die Welt der Wissenschaft und des täglichen Lebens zu begreifen, als vielmehr darum, diese im Interesse einer "realen" Weit jenseits der Sinnenwelt von ihrer eigenen Irrealität zu überzeugen.

Der Glaube, daß das, was schlechthin real ist, unwandelbar sein müsse, ist sehr allgemein verbreitet: aus ihm entspringt die metaphysische Vorstellung der Substanz, und er findet auch heute noch eine ganz ungerechtfertigte Befriedigung in solchen wissenschaftlichen Lehren, wie jener von der Erhaltung der Energie und Masse.

Es ist schwer, bei einer solchen Anschauung Wahrheit und Irrtum zu entwirren. Die Argumente für die Behauptung, daß die Zeit irreal und die Welt der Sinne eine Illusion sei, müssen als trügerisch betrachtet werden. Trotzdem, und dies ist leichter zu fühlen als auszudrücken, ist in einem gewissen Sinne die Zeit unwichtig und nur ein oberflächliches Merkmal der Realität. Vergangenheit und Zukunft müssen ebenso wie die Gegenwart als Realitäten anerkannt werden, und eine gewisse Emanzipation von der Sklaverei der Zeit ist für das philosophische Denken wesentlich. Die Zeit ist mehr praktisch als theoretisch von Bedeutung, mehr in bezug auf unsere Wünsche als in bezug auf die Wahrheit. Ich glaube, man erlangt ein zutreffenderes Bild von der Welt, wenn man sich vorstellt, daß die Dinge von einer ewigen Welt außerhalb in den Strom der Zeit eintreten, als wenn man in der Zeit einen Tyrannen sieht, der alles Seiende verschlingt. Auch trotz der Tatsache, daß die Zeit eine Realität ist, ihre Unwichtigkeit für Denken und Fühlen einzusehen, ist das Tor zur Weisheit.

Daß dem so ist, ersehen wir sofort, wenn wir uns fragen, warum unsere gefühlsmäßige Einstellung zur Vergangenheit so verschieden von der zur Zukunft ist.

Der Grund dafür ist ein rein praktischer. Unsere Wünsche können wohl auf die Zukunft, nicht aber auf die Vergangenheit Einfluß gewinnen; die Zukunft ist bis zu einem gewissen Grad unserer Macht unterworfen, während die Vergangenheit unabänderlich feststeht. Aber jede Zukunft wird eines Tages Vergangenheit sein: wenn wir jetzt die Vergangenheit richtig sehen, muß sie, als sie noch Zukunft war, genau das gewesen sein, was wir jetzt in ihr sehen, und was jetzt Zukunft ist, muß genau das sein, als was wir es sehen werden, wenn es Vergangenheit geworden ist. Der gefühlte Qualitätsunterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft kann daher kein Wesensunterschied sein, der Unterschied liegt nur in der Beziehung auf uns. für eine unparteiische Betrachtungsweise hört er auf zu bestehen. Und auf dem Gebiet des Intellekts bedeutet unparteiische Betrachtungsweise die gleiche Tugend des Desinteressiertseins, die in der Sphäre des Handelns als Gerechtigkeit und Selbstlosigkeit erscheint. Wer den Wunsch hat, die Welt richtig zu sehen und sich in seinem Denken über die Tyrannei der praktischen Wünsche zu erheben, muß lernen, die unterschiedliche Einstellung zu Vergangenheit und Zukunft zu überwinden und den ganzen Strom der Zeit in einer allumfassenden Schau zu überblicken.

Die Mystik behauptet, daß alles Böse eine Illusion sei, und mitunter vertritt sie die gleiche Ansicht in bezug auf das Gute. Beide Ansichten finden sich schon bei HERAKLIT: "Gut und Böse sind eins", sagt er, und an anderer Stelle: "Für die Gottheit sind alle Dinge schön, gut und richtig, nur die Menschen halten das eine für falsch, und anderes für richtig." Eine ähnliche zwiefältige Stellungnahme finden wir bei SPINOZA, aber er gebraucht den Ausdruck "Vollkommenheit", wenn er vom Guten spricht, das nicht bloß menschlich ist. "Mit Realität und Vollkommenheit meine ich dasselbe", sagt er, doch finden wir an anderer Stelle die folgende Definition: "Unter gut werde ich das meinen, von dem wir sicher wissen, daß es uns nützlich ist." Darum gehört Vollkommenheit ihrem Wesen nach zur Realität, während Güte in Beziehung zu uns und unseren Bedürfnissen steht und bei einer unparteiischen Betrachtung verschwindet. Eine solche Unterscheidung halte ich für notwendig, um die ethische Einstellung der Mystik zu begreifen: für sie gibt es eine niedrigere weltliche Art von Gut und Böse, welche die Erscheinungswelt in, widerstreitende Bereiche zu trennen scheint: es gibt aber auch eine höhere, mystische Art des Guten, die der Realität angehört und zu keiner entsprechenden Art des Bösen im Gegensatz steht.

Es ist schwer, eine logisch vertretbare Darstellung dieser Haltung zu geben, ohne gleichzeitig zuzugeben, daß Böse und Gut subjektiv seien, daß das Gute nur etwas ist, dem gegenüber wireine bestimmte gefühlsmäßige Einstellung hegen, und das Böse, bloß das ist, dem gegenüber wir eine andere Art der gefühlsmäßigen Einstellung besitzen. In unserem tätigen Leben, das uns vor die Entscheidung der Wahl stellt, wo wir eine von zwei möglichen Handlungsweisen der anderen vorzuziehen haben, ist es notwendig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, zumindest aber zwischen besser und schlechter. Doch gehört diese Unterscheidung wie alles, was zum Handeln in Beziehung steht, dem an, was die Mystik als die Welt der Jllusionen betrachtet, schon allein aus dem Grunde, weil es in wesenhafter Beziehung zur Zeit steht. Die kontemplative Seite unseres Lebens, die kein Handeln verlangt, gestattet, unparteiisch zu sein und so den ethischen Dualismus zu überwinden, den das Handeln erfordert. Solange, wir bloß unparteiisch bleiben, dürfen wir uns mit der Aussage bescheiden, daß Gut und Böse des Handelns nur Jllusionen sind. Wenn wir jedoch, wie wir es im Zustand der mystischen Erleuchtung tun müssen, finden, daß die ganze Welt liebenswert und verehrungswürdig sei, wenn wir sehen
"Die Erd' und woran jeder Blick sich weidet.... In himmlisch Licht gekleidet," (WORDSWORTH)
werden wir sagen, daß es ein höheres Gutes gibt als das des Handelns, und daß dieses höhere Gute der ganzen Weit angehört, da ihm Realität zukommt. Auf diese Weise finden die zwiefältige Einstellung und das anscheinende Schwanken der Mystik ihre Erklärung und Rechtfertigung.

Die Möglichkeit dieser allumfassenden Liebe und der Freude an allem, was lebt, ist von allergrößter Wichtigkeit für Lebensführung und Glückseligkeit und verleiht dem mystischen Gefühl einen unschätzbaren Wert, ganz abgesehen von allen Glaubensvorstellungen, die darauf aufbauen können. Wenn wir uns jedoch nicht zu falschen Überzeugungen verleiten lassen wollen, ist es notwendig, uns ganz genau klarzumachen, was das mystische Gefühl offenbart. Es offenbart uns eine Möglichkeit der menschlichen Natur - die Möglichkeit eines edleren, glücklicheren und freieren Lebens als jedes, das auf andere Weise erreicht werden kann. Doch offenbart es uns nichts über das Nichtmenschliche oder über das Wesen des Universums im allgemeinen. Gut und Böse und sogar auch jenes höhere Gute, das die Mystik überall entdeckt, sie sind nur der Abglanz, der durch unser eigenes Gefühl auf die Dinge geworfen wird, und nicht ein Teil der Substanz der Dinge, so wie sie selbst tatsächlich sind. Und deshalb wird eine unparteiische Betrachtung, befreit von aller auf das eigene Ich bezogenen Voreingenommenheit die Dinge nicht nach Gut- oder Bösesein beurteilen, obwohl sie sehr leicht eine Verbindung mit jenem Gefühl allumfassender Liebe eingehen kann, das den Mystiker behaupten läßt, die ganze Welt sei gut.
LITERATUR - Bertrand Russell, Mystik und Logik, Wien/Stuttgart 1952