tb-1ra-2E. AdickesC. GüttlerW. HerrmannM. ReischleB. Wities    
 
PAUL NATORP
Über das Verhältnis des theoretischen
und praktischen Erkennens zur Begründung
einer nichtempirischen Realität


"Das Bewußtsein behauptet seine Einheit nur in der Einheit des Objekts und das Objekt nur in der Einheit des Bewußtseins, dem es Objekt ist. Sofern wird der Realitätscharakter unserer Erkenntnis richtig bestimmt durch diejenigen Bedingungen, von denen die Einheit des Bewußtseins in der Vorstellung seiner Objekte in unserer Erkenntnis abhängt. Diese Bedingungen sind, nach kantischer Lehre und nach der tatsächlichen Beschaffenheit aller wissenschaftlichen Naturerkenntnis, der unendliche gleichförmige Raum und die unendliche gleichförmige Zeit."

"Ist Erkenntnis die Behauptung der Bewußtseinseinheit in einem mannigfaltig Gegebenen, so ist ja die Bemerkung richtig, daß diese Selbstbehauptung nur durch eine Tätigkeit, durch ein Streben, d. h. nur unter der Wirksamkeit des Interesses denkbar ist; und ich glaube, daß dies durch Kants Lehre von der transzendentalen Apperzeption zwar verdunkelt, aber keineswegs ausgeschlossen wird."

"Völlig steht fest, daß ;Bewußtsein, wie Bergmann sagt, seiner Natur nach Interesse ist. Ich glaube auch, daß Kant gegen diesen Satz nicht viel einzuwenden hätte. Er sagt, daß wir uns von der Natur nicht gleichsam am Leitband gängeln lassen, sondern sie nötigen sollen, auf unsere Fragen zu antworten; daß wir ihr gegenüber nicht betteln, sondern gebieten, und das nach unserem Entwurf selbst hervorbringen müssen, was wir von den Dingen einsehen wollen."

"Wahrheit ist ein Anspruch, den wir an die Dinge, nicht den die Dinge an uns erheben, ihre Erkenntnis ist die Betätigung unseres Selbstbewußtseins, ist die Selbstbehauptung nicht des ethischen, aber des theoretischen Subjekts (die ja übrigens eins sind) gegenüber der Welt. Finden wir also den Gott in uns, so müssen wir ihn auch wohl in der Wahrheit der Erkenntnis und nicht bloß in der sittlichen Wahrheit finden, und so hat die platonische (wenn ich nicht irre, auch christliche) Anschauung gewiß ihren guten Sinn, welche die Gottheit nicht bloß als absolute Macht über die Welt und als absoluten Willen des Guten, sondern auch als absolute Erkenntnis denkt."

Indem wir unterlassen, vom Gehalt und der Bedeutung des Buches von WILHELM HERRMANN, "Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit" ausführlicher Rechenschaft zu geben, wollen wir hier nur  eine  Frage zum Gegenstand unserer Besprechung machen, die dem philosophischen Leser des Buches besonders nahe liegt. HERRMANN sieht die Gewißheit des  überweltlichen  Lebens, das ihm die Religion eröffnet, dadurch gefährdet, daß man sie auf eine Metaphysik stützt, die, indem sie sich als gleichartige Fortsetzung der wissenschaftlichen  Naturerklärung  darstellt, die Objekte des religiösen Glaubens auf den Boden der Natur herabzuziehen droht. Um diese Gefahr recht gründlich zu beseitigen, will er die Religion auf die Erkenntnis aus dem praktischen Selbstbewußtsein allein gründen und von aller theoretetischen Erkenntnis als schlechterdings heterogen abgesondert wissen. Indem er jeden Versucht, die Gewißheit der religiösen Überzeugung dadurch zu stützen, daß man sie mit theoretischen Einsichten in eine ursprüngliche und unmittelbare Verbindung setzt, als für den eigentümlichen Charakter der religiösen Gewißheit verderblich zurückweist, setzt er voraus, nicht nur daß theoretische Erkenntnis für sich selbst nicht zu einer Grundlage religiöser Überzeugung dienen kann, was auch uns feststeht, sondern daß sie sogar überhaupt kein Moment in sich findet, das auf eine Religion hinführt oder nur eine denkbare Verbindung mit ihr ermöglicht. Daraus ergibt sich dann, da ihm die absolute Wahrheit der Religion unerschüttert feststeht, eine Wertschätzung der theoretischen Erkenntnis, welche dieselbe weit unter den Rang stellt, den auch die frömmsten Forscher, und gerade sie, ihr zugewiesen haben, und welche dem gewiß nicht unfrommen Verlangen, dem Göttlichen auch im bloß theoretischen Erkennen sich verwandt und eigen zu wissen, allen Boden entzieht. Verwundern muß diese Wertschätzung bei einem Mann, der mit den Ergebnissen theoretischer Forschung sich so ernst auseinandergesetzt und in den Vernunftstandpunkt der kantischen Philosophie sich mit seinem ganzen Denken so hineingelebt hat wie unser Verfasser. Es scheint hierin eine Inkongruenz zu liegen, die vielleicht manchem, der der Ansicht des Verfassers sonst nahesteht, die Annahme einiger seiner wichtigsten Folgerungen erschweren, sicher aber bei allen Fernerstehenden ein Mißtrauen gegen dieselben erwecken wird, welches einer gerechten Würdigung seiner verdienstlichen Leistung ernsthaft im Weg sein könnte. Es soll nun hier versucht werden, aus einem Gesichtspunkt, der von dem des Verfassers gar nicht weit abliegt, jene Inkongruenz zu beseitigen, und die "Einheit des geistigen Lebens", die uns allerdings ein "hohes sittliches Gut" ist, voller zur Geltung zu bringen, als es auf dem vom Verfasser eingenommenen Standpunkt möglich ist. Wir werden dabei die Grundvoraussetzungen der kantischen Erkenntnistheorie, von denen der Verfasser ausgeht, im wesentlichen festzuhalten und von Differenzen auf diesem Gebiet, soweit sie die hier aufgeworfene Frage nicht berühren, möglichst zu abstrahieren suchen.

Das HERRMANNsche Werturteil über die Erkenntnis gründet sich auf die von ihm eingeführte Abstraktion des "reinen Erkennens". Es sind darunter nicht etwa die reinen = apriorischen Elemente der Erfahrung verstanden, sondern "das in Mathematik und Naturwissenschaft entfaltete" Erkennen, als die  Erfahrung  selbst, nur mit Ausscheidung all dessen, was darin etwa nicht auf objektiv begründbarer Einsicht beruth, sondern nur subjektive, auf den Zweck unseres Erkennens gegründete Voraussetzung ist (1). Die Wahrheit oder Realität dieser Art Erkenntnisse beruth darauf, daß die Objekte derselben Objekte unserer Erkenntnis nur sind aufgrund eben der Einheit des Bewußtseins, von deren Standpunkt allein wir über die Realität als Objekte urteilen können. Die notwendige Geltung einer so begründeten Einsicht beruth darauf, daß Objekt und Bewußtsein nur in einer unauflöslichen Korrelation zueinander bestehen, das Bewußtsein seine Einheit nur behauptet in der Einheit des Objekts und das Objekt nur in der Einheit des Bewußtseins, dem es Objekt ist. Die auf diese notwendige Korrelation gegründete Erkenntnis hat allein Anspruch auf gegenständliche Wahrheit. Sofern man also nur diese im Auge hat, wird der Realitätscharakter unserer Erkenntnis richtig bestimmt durch diejenigen Bedingungen, von denen die Einheit des Bewußtseins in der Vorstellung seiner Objekte in unserer Erkenntnis abhängt. Diese Bedingungen sind, nach kantischer Lehre und nach der tatsächlichen Beschaffenheit aller wissenschaftlichen Naturerkenntnis, der unendliche gleichförmige Raum und die unendliche gleichförmige Zeit; die fundamentalen Formen aber, in welchen sich in beiden die Einheit des Bewußtseins behauptet, Substanz und Kausalität. In jenen Bedingungen aber liegt es, daß die unter denselben erreichbare Einheit in der Objektsvorstellung nie eine abschließend vollendete sein kann, sondern stets nur eine bedingte, relative. Dies eben bedeutet die Unbegrenztheit des Raums und der Zeit, daß die in beiden vorstellbare Einheit des Objekts nie eine absolute sein kann, sondern nur eine solche, über die im gegebenen Fall immer noch hinausgegangen werden kann und muß. Daraus folgt weiter, daß auch unsere Vorstellung von der Substanz im Raum und der auf Raum und Zeit bezogenen kausalen Gesetzlichkeit ebensowenig je abschließend sein kann; daß daher die Natureinheit, soweit sie sich auch immer unserer Erkenntnis erschließen mag, stets unvollendet bleibt; daß Natur, als Objekt unserer Erkenntnis genommen, überhaupt nicht als ein festbegrenztes Gebiet vorgestellt werden kann, in dessen Eroberung wir schrittweise vordringen, sondern gleichsam fließende Grenzen hat, die der grenzenlose Fortschritt der Erfahrung nie ausmessen wird; daß, wie es der Fortgang der Naturforschung in der Tat zeigt, jede neue Entdeckung zwar eine Lücke unseres bisherigen Wissens schließt, zugleich aber stets wieder neue und umfassendere Probleme hervortreibt, und so fort ins Unendliche. Diese Unbegrenztheit gehört so sehr zum Wesen unseres Erkennens, daß es vom Standpunkt des objektiven Erkennens gar nicht einmal zulässig wäre, hierin eine Schranke unserer Erkenntnis zu sehen. Nicht in der Unmöglichkeit einer abschließenden Vorstellung der letzten Elemente der Materie liegt eine solche Schranke, auch nicht im Fehlen jeder "denkbaren Verbindung" (DUBOIS-REYMOND, Grenzen des Naturerkennens, vierte Auflage, Seite 29) zwischen den Bewußtseinszuständen und denjenigen Bewegungen der Materie, von welchen wir sie kausal abhängig zu denken haben. Es ist hier gar keine denkbare Verbindung zu suchen als eben die kausale Verknüpfung, deren Notwendigkeit freilich auf nichts beruth, was in den Objekten aufgezeigt werden könnte, sondern einzig auf der Einheit des Bewußtseins, durch welche sie miteinander in Verknüpfung stehen. Und ebenso kann die Frage nach einem obersten Erklärungsgrund, nach einem "schlechthin Inneren" der Erscheinungswelt im Fortgang unseres empirischen Erkennens gar nicht auftauchen, und jeder Versuch, zu diesem ersehnten Ruhepunkt unserer Vorstellung vorzudringen, wird daher mit Recht von der Naturwissenschaft abgewiesen, als nicht nur nicht zu ihrer Aufgabe gehörig, sondern ihren Grundvoraussetzungen geradezu widerstreitend. Das reine Erkennen ist  vollendet in sich,  wenn es seinen eigenen Produkten gegenüber die  Unbegrenztheit  seiner Aufgabe im Auge behält; eine Erklärung, die mit dem Anspruch eines definitiven Abschlusses unserer Erkenntnis aufträte, würde die Tätigkeit des reinen Erkennens wohl zu Ende bringen, aber nicht vollenden.

Völlig Recht hat HERRMANN, daß vom Standpunkt des so verstandenen "reinen Erkennens" auf eine absolute Schranke, auf ein "Jenseits", in welchem sich die Natur begrenzen würde, schlechterdings nicht zu gelangen ist. Dieser Standpunkt deckt sich genau mit dem Standpunkt jenes  "reinen Empirismus",  dessen Idee KANT (in dem für die ganze hier behandelte Frage höchst bemerkenswerten Abschnitt der "Kritik der reinen Vernunft" "Von dem Interesse der Vernunft" beim Widerstreit der Antinomien) in so klaren Zügen entwirft und mit solcher Wärme verteidigt, daß der "reinste" Empirist dagegen nicht viel wird einwenden können. Und wenn KANT ebendort hervorhebt, daß auf diesem Standpunkt uns "intellektuelle  Voraussetzungen  und  Glaube  zum Zweck unserer  praktischen  Angelegenheit nicht genommen werden", die man nur eben nicht "unter dem Titel und dem Pomp von Wissenschaft und Vernunfteinsicht auftreten lassen kann, weil das  eigentlich spekulative Wissen  überall einen anderen  Gegenstand,  als den der Erfahrung treffen kann"; und wenn dann in der schärfsten Weise hervorgehoben wird, daß nur das praktische Interesse und gar kein rein spekulatives über diesen Standpunkt der reinen Erfahrung hinaustreibt; so scheint ja die Folgerung, auf die unser Verfasser eigentlich hinauswill, sich ganz unvermeidlich aufdrängen, daß jeder Gedanke, der  über die Natur hinausgeht, - der Gedanke eines Ewigen gegenüber allem Zeitlichen, eines Überweltlichen jenseits dieser ganzen Welt unseres empirischen Erkennens, des wahrhaften, in sich ruhenden Seins gegenüber dem fließenden Werden, oder wie auch immer man den in der Philosophie und in der Menschheit uralten Gegensatz ausprägen will, - daß dieser Gedanke auf bloß theoretischem Boden gar nicht entspringen kann noch überhaupt eine Stütze finet, sondern im  praktischen  Interesse allein seine Wurzel hat, und nur etwa durch eine verkehrte Übertragung auch auf die theoretische Beurteilung der Dinge Einfluß gewinnt.

Die Folgerung würde völlig zwingend sein, wenn das, was HERRMANN "reines Erkennen" nennt, wirklich, wie er annimmt, die einzige spekulative Erkenntnis, und die gegenständliche Realität, welche demselben entspricht, die einzige Realität wäre, von der unsere spekulative Erkenntnis überhaupt wüßte. Daß sie nach der Lehre des transzendentalen Idealismus, die der Verfasser seiner Anschauung zugrunde legt, nicht die einzige ist, läßt sich sogar aus seiner eigenen Darstellung ableiten. Im Naturerkennen, lesen wir Seite 24, kommt unser Versuch,  die Vorstellung des Gegenstandes zu vollziehen,  niemals zum Abschluß. Dieser "Gegenstand", dessen Vorstellung in allem Naturerkennen unvollziehbar bleibt, kann offenbar nicht der Gegenstand unseres empirischen (des Herrmannschen "reinen") Erkennens sein: dennoch ist sein Begriff offenbar rein theoretisch, da Gegenständlichkeit ansich gewiß nichts ist, was auf irgendein praktisches Interesse unmittelbar Bezug hätte. Noch deutlicher tritt dieser Begriff von Realität, der rein theoretisch und dennoch aller empirischen Realität schlechthin entgegengesetzt ist, an einer zweiten Stelle hervor. Das reine Erkennen, sagt HERRMANN Seite 31, als der Prozeß genommen, in welchem sich die  wirkliche  Einheit des Bewußtseins behauptet, ohne Reflexion auf die  Möglichkeit  des Bewußtseins und seiner Gegenstände überhaupt, erkennt keinen anderen Begriff von Realität an als denjenigen, welcher durch den Zusammenhang von Wahrnehmungen in einer Erfahrung bestimmt ist, d. h. den der empirischen. Hierin liegt unmittelbar der Hinweis auf einer Erkenntnisart, die es mit der "Möglichkeit" des Bewußtseins und seiner Gegenstände zu tun haben, und für welche es auch eine andere Realität als die empirische geben könnte. Eine solche Erkenntnis gibt es nach KANT, und deshalb gibt es auch die ihr entsprechende andersgeartete Realität. Jene Erkenntnisart und dieser Realität nennt KANT, im Unterschied von der empirischen, die  transzendentale:  es ist die, welche die Kritik gegenüber dem Dogmatismus und Empirismus der Vorgänger aufstellt, und in welcher sie die Möglichkeit gefunden glaubt, nicht nur den Widerspruch der Prinzipien auf theoretischem Boden zu überwinden, sondern zugleich diejenige Einheit des theoretischen und praktischen Erkennens zu gewinnen, welche dem Bedürfnis unserer Vernunft allein Genüge tut. Es ist diejenige Erkenntnis, aufgrund welcher KANT die Gegenstände der Natur als bloße Erscheinungen erklärt, und durch die sich ihm erst die Möglichkeit eröffnet, für die "praktische" Vernunft jenen Standpunkt über der Welt und der Natur einzunehmen, von dem aus HERRMANN zu einer festen Begründung seiner religiösen Lehre zu gelangen hofft.

Ob man diese Erkenntnis zum "reinen" (oder nach KANTs Ausdruck zum "eigentlich spekulativen") Erkennen rechnen will, ist am Ende eine Sache des Ausdrucks. Fest steht uns, daß die Verfolgung der theoretischen  Welterklärung  nicht auf diese Erkenntnis führen kann, (2) daß sie vielmehr nur entspringt, wenn die ins Unbestimmte fortgehende Erweiterung der Erfahrung  durchkreuzt  wird durch ein Urteil  über die Natur des vorstellenden Bewußtseins überhaupt.  Im Fortgang der Erfahrung können wir ja doch auf einen Gegenstand, der schlechthin aller Erfahrung gegenüberliegt, unmöglich stoßen, dies wäre der nackte Widersinn; sondern nur in einer Erkenntnis, die sich in irgendeinem Sinn über die Erfahrung erhebt, indem sie, wie auch HERRMANN ganz richtig erkennt, sie als  Ganzes  nach dem Fundament ihrer  Möglichkeit  beurteilt. KANT nennt diese Beurteilung im Gegensatz zur empirischen die transzendentale, vermutlich eben deswegen, weil sie ihren Standpunkt notwendig außerhalb und über den Objekten der Erfahrung einnimmt, und so die Erfahrung zwar nicht dogmatisch, wie alle "echten Idealisten" von den Eleaten bis zu Bischof BERKELEY, sondern kritisch, im Sinne eines anders gearteten, eben des von KANT "transzendental" benannten Idealismus  überschreitet. 

Diese von der spekulativen Weltbetrachtung verschiedene Erkenntnis gehört aber darum nicht, wie HERRMANN uns glauben machen will, zur praktischen Weltbetrachtung: sie betrachtet überhaupt nicht die Welt, sondern bestimmt nur den Gesichtspunkt, aus welchem wir so oder so die Welt zu betrachten haben. Dabei steht sie zwar unter der Leitung eines höchsten Interesses der Vernunft, des echt und eigentlich philosophischen Interesses der  Einheit  in unserer Doppelstellung gegen die Welt und gegen uns selbst; und auch das ist gewiß, daß dieses Interesse im letzten Grund ein praktisches sein muß, weil es ein ursprünglich theoretisches Interesse überhaupt nicht gibt. Allein das macht diese  Erkenntnis  noch nicht selbst zu einer praktischen; denn sie ist keine Voraussetzung, die wir machen, weil unser Interesse es so erfordert, sondern eine Einsicht, deren notwendige Geltung aufgezeigt werden kann unabhängig von jedem Interesse, welches wir an derselben nehmen mögen. Sonst würde es nicht Wahrheit, sondern eine  Hypothese  sein, daß die ganze Natur "selbst bis zur tiefsten Erforschung ihrer Gegenstände", "selbst in der  Newtonschen  Vorstellung des Weltbaues" (Kr. d. r. V., Ausgabe  Kehrbach,  Seite 237) bloße Erscheinung ist, der begrifflich notwendig ein Ansichsein entspricht; sonst dürfte es nicht heißen, die Natur  muß  als bloße Erscheinung angesehen werden, sondern wir möchten sie so ansehen, weil es unserem Bedürfnis gemäß ist, und jedem, der dieses Bedürfnis in sich nicht verspürt, bleibt es unbenommen, seine Ansicht gegenüber der unsrigen als theoretisch gleich wahr zu behaupten, oder vielmehr als die allein wahre, da er ja alle spekulativen Gründe auf seiner Seite hätte und praktische Gründe keine spekulative Geltung beanspruchen können und dürfen. Entweder also, die welt ist nicht Erscheinung, soll aber dennoch aus praktischen Motiven so behandelt werden, als wäre sie es, - und dann beruth unsere ganze praktische Stellung gegenüber der Welt nicht etwa bloß auf einer Unterordnung, sondern auf der völligen Verleugnung des theoretischen Interesses; oder sie ist Erscheinung, und dann ist der Gedanke einer Realität, die nicht bloß Erscheinung ist, allerdings auch auf theoretischem Boden zu begründen; nicht als eine Erkenntnis, die der empirischen gleichartig wäre, auch nicht als Erkenntnis eines Gegenstandes abgesondert von der Erfahrung, sondern genau so wie es KANT will: als ein Standpunkt den wir der ganzen Erscheinungswelt gegenüber einnehmen und mit spekulativ begründbarer Notwendigkeit einnehmen müssen, sobald wir das Ganze der Erfahrung und deren Möglichkeit zum Gegenstand einer "transzendentalen" Überlegung machen.

Wir werden nun versuchen, diese spekulative Notwendigkeit aufzuzeigen. Da HERRMANN bei der spekulativen Erkenntnis immer nur die Naturerkenntnis im Auge hat, so wollen auch wir hier nicht von transzendentalen Erwägungen unseren Ausgang nehmen, sondern von einer Reflexion, die die wissenschaftliche Naturerklärung direkt und fundamental berührt. Seitdem KOPERNIKUS die Forschung vom Bann der aristotelischen Weltanschauung befreit und ihr die Bahnen angewiesen hat, die in die Unendlichkeit führen, ist der Gedanke des  ewigen Naturgesetzes  ihr unverlierbares Eigentum geworden. Nun wird jeder denkende Naturforscher anerkennen müssen, daß er diesen Gedanken nicht aus der Erfahrung gewinnen konnte, die uns nichts Ewiges und Unendliches enthüllt, sondern immer nur Endliches; und doch wird er zugeben, daß es nicht in seinem Belieben steht, diesen Gedanken anzunehmen oder nicht, daß er vielmehr das Fundament seiner ganzen Forschung bildet, und daß ein theoretisch klares Bewußtsein über das Ganze seiner Aufgabe anders als durch diesen Gedanken nicht zu erreichen ist. Worauf also beruth dieser Gedanke? Schwerlich auf jenem Bedürfnis des natürlichen Dogmatismus, welches in einem  Abschluß  unserer Weltkonzeption  Ruhe und Befriedigung  sucht; denn jener Gedanke, so wie er dem Forscher vor Augen steht, widerspricht gerade diesem Bedürfnis eines Abschlusses, indem er das Ziel unserer Forschung in eine ewige Ferne zurückweist. Wodurch also bleibt uns der Gedanke ein in sich  notwendiger,  wenn wir uns noch so deutlich zum Bewußtsein bringen, daß ihm in unserer wirklichen Erkenntnis nichts entspricht noch jemals entsprechen kann; daß also durch ihn wirklich gar nichts  erkannt  wird, außer eben dies, daß wir nichts von den Dingen erkennen, was auf die absolute Wahrheit, deren Begriff uns so klar vor Augen steht, Anspruch machen könnte? Weshalb retten wir diesen Gedanken, nachdem uns gezeigt ist, daß er in der Natur,  so wie wir sie erkennen,  keine Stätte findet, in eine unserer Erkenntnis verborgene Natur der Dinge, wie sie  ansich sind?  Und weshalb behält dieser Gedanke, nachdem wir ihn anscheinend aus der ganzen Welt unserer Erkenntnis hinaus in ein unerreichbares Jenseits verwiesen haben, dennoch diese Geltung für uns als Maß und Grenze unseres tatsächlichen Erkennens, als "regulative Idee", die das Ziel angibt, dem unsere Erkenntnis sich gleichsam asymptotisch annähert? Besitzt der Gedanke wirklich diese normative Gültigkeit für alle Naturerkenntnis, so kann er sie nicht besitzen aufgrund einer praktischen Idee; denn praktische Gründe haben auf spekulativem Gebiet genauso wenig Geltung wie spekulative auf praktischem.

Nach der Lehre SPINOZAs beruth die Gewißheit des Ewigen für uns darauf, daß  wir selbst ewig sind.  Und man braucht nur diesen Gedanken seines dogmatischen Scheins zu entkleiden, um sich der Wahrheit desselben völlig zu versichern.

Nach KANT ist das Ding-ansich als Grenze der Erfahrung, - das "transzendentale Objekt  = x von dem wir "gar nichts wissen noch überhaupt wissen können", welches "gar kein Gegenstand der Erkenntnis ansich, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen unter dem  Begriff  eines Gegenstandes überhaupt" ist, - das  "Korrelatum  der Einheit der Apperzeption" (Kr. d. r. V., Seite 232) (3), und sein völlig notwendiger und gegründeter Begriff beruth allein darauf, daß die  Apperzeption  und mit ihr das  Denken  des Gegenstandes überhaupt vor der bestimmten Art seiner  Anschauung  "vorhergeht"; d. h. als  Bedingung  der letzteren von ihr  unabhängig  ist.

HERRMANN selber kennt diese rein theoretische Begründung einer nichtempirischen Realität, wiewohl er sie nicht kennen will. Er widerlegt den Materialismus (Seite 44) durch die richtige Bemerkung, daß derselbe, indem er das Bewußtsein aus der Materie erklären will, damit fälschlich die beständige Voraussetzung bei allem Erkennen, die  Einheit des Bewußtseins, auf welche alle objektive Realität,  auch die der Materie,  reduziert werden muß,  selbst der Erklärung unterwirft. Muß nicht aber das, was alle objektive Realität begründen, die Voraussetzung aller erkennbaren Realität der Objekte sein soll, selbst, und zwar aus theoretischer, nicht praktischer Notwendigkeit,  real  gesetzt werden? Natürlich nicht nach dem Begriff von Realität, nach welchem die Objekte selbst real sind, sondern mit einer  ursprünglicheren,  fundamentaleren, alle Realität der Objekt überragenden weil  begründenden  Realität; welches dann genau das ist, was, im bloßen theoretischen Sinn, unter der Ewigkeit der Seele überhaupt gemeint sein kann. Wenn, nach kantischer Anschauung, die Bewußtseinseinheit aller Realität der Objekte vorausgeht, sofern sie sie begründet, so ist sie real, und zwar überempirisch, transzendental real. Gegenstand einer objektiven Erkenntnis kann ja diese Realität freilich nicht sein, genau aus dem von HERRMANN angegebenen Grund, weil das, was Voraussetzung aller Erkenntnis der Objekte ist, offenbar nicht selbst als Objekt erkannt werden kann: dennoch ist sie gewiß und unbestreitbar, mindestens so gewiß und unbestreitbar wie der Grundsatz der kantischen Erkenntnistheorie, daß alle Vorstellung von Objekten in der Einheit der Apperzeption gegründet ist und sie zur Voraussetzung hat; welchem Satz sein Fundament zu entziehen HERRMANN zumindest nicht unternehmen wird.

Unablösliches Korrelat also zu der so gefaßten "Ewigkeit" des transzendentalen Subjekts mußt die Ewigkeit sein, die wir im Objekt suchen, und eben dieses "Korrelatum der Einheit der Apperzeption" muß es sein, aus dessen Standpunkt wir die Dinge der Natur als bloße Erscheinungen zu  erkennen  (keineswegs bloß aus praktischem Interesse als solche anzusehen) haben, denen, als Erscheinungen, notwendig eine "absolute und transzendentale" Realität als ihr "wahres Korrelatum" gegenüberstehen muß (Kr. d. r. V. Seite 62 und 57), durch das sie in ihrer Realität bestimmt und begrenzt sind. Es ist leicht zu sehen, daß eben dies die kantische Konzeption des Dings-ansich als Grenzbegriff ist, welcher wiederum keine Erkenntnis hinter und außerhalb der Erfahrung bedeuten oder uns zur Aufgabe machen soll, sondern nur den Standpunkt angibt, den wir gegenüber der Welt in unserer Erkenntnis derselben einzunehmen haben; und daß dieser Gedanke nicht, wie jene "bloße Grille" eines schlechthin Inneren der Dinge oder wie jener letzte Erklärungsgrund, den sich unser Bedürfnis ersehnt, von der Erkenntniskritik als ein transzendentaler Schein erkannt und beseitigt, sondern als die transzendentale Wahrheit von ihr unerschütterlich festgestellt wird, und aufgrund dieser Kritik als begriffliches Fundament und letztes Maß für alle Realität usneres objektiven Erkennens eine unanfechtbare Geltung behauptet. Zweifelhaft kann uns der Gedanken nur dann werden, wenn wir ihn in eine andere Verbindung mit der Erfahrung setzen wollen, als diese, die ihm KANT anweist; wenn wir hinter den Objekten oder in einer verborgenen Tiefe derselben suchen, was gar nicht im Objekt, sondern nur im Denken desselben zu suchen ist. So gefaßt aber schließt er gar nichts Unbegreifliches ein; er ist nicht unbegreiflicher als etwa die Konzeption des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, oder der absolut geraden Linie; nicht unbegreiflicher, als die Grundlagen allen Begreifens ihrer Natur nach sein müssen.

Anzuerkennen ist übrigens, daß das Ding ansich für KANT noch eine andere Bedeutung hat als dies, und daß es, in jener anderen Bedeutung, nicht theoretisch, sondern allein praktisch begründet werden kann. Diese Bedeutung hat KANT an den von HERRMANN Seite 64 zitierten Stellen im Sinn. Allein dieser Begriff des Dings-ansich kann eben deshalb auf theoretischem Boden keinerlei Geltung beanspruchen, und kann also nicht derjenige Begriff sein, welcher die Realität der Erfahrung dahin bestimmt, daß sie nur die Realität der Erscheinungen ist. Sollte HERRMANN noch zweifeln, daß in KANTs Sinn die Lehre von der Idealität der Erscheinungen nicht auf einer bloß in praktischer Absicht notwendigen Voraussetzung, sondern nur auf zwingender Einsicht beruhen kann, so werden ihn Stellen wie  Kr. d. r. V.  Seite 7 und  Prolegomena  § 5 über den wissenschaftlichen Charakter, den diese Lehre beansprucht, aufklären. Ich wüßte auch gar nicht, wie es denkbar wäre, den Gedanken der Ewigkeit auf praktischem Gebiet zur Geltung zu bringen, wenn er auf theoretischem Gebiet gar keine Geltung beanspruchen darf (4). Im Erkennen uns bloß auf den Standpunkt der Welt stellen und im Fühlen und Wollen allein auf den der Ewigkeit, das hieße nicht bloß uns mit der Welt, sondern uns mit uns selbst entzweien; während für uns, nachdem wir erst in uns selbst, und in völliger Einigkeit in unserem Denken und Fühlen und Wollen, den "ruhenden Pol" gefunden haben, die "Flucht der Erscheinungen" nichts Beängstigendes mehr hat, sondern, indem wir sie auf dieselbe Ewigkeit beziehen, der wir als sittliche Personen uns angehörig wissen, selbst eine gewisse religiöse Bedeutung für uns gewinnen kann.

HERRMANN soll deshalb nun nicht befürchten, daß bei unserer Ansicht die Religion in die staunende Anbetung des Universums, der lebendige Gott, der ihm "die Macht des  Guten  über die Welt" bedeutet, in einen toten "Deus sive Natura" [Gott ohne Natur - wp], in die finstere Allmacht des unabänderlichen Naturgesetzes verwandelt würde, oder die Entgegensetzung der fühlenden und wollenden Person gegen die ganze Welt irgendetwas von ihrer Kraft verlieren müßte. Auch uns hat die Ewigkeit, deren sich das fühlende und wollende Subjekt im Bewußtsein des sittlichen Gesetzes gewiß wird, eine ganz andere und unvergleichlich höhere Bedeutung als die bloß theoretische Ewigkeit des Naturgesetzes; und wir wissen auch sehr wohl, daß der sittliche und religiöse Sinn, den man etwa in die letztere hineinlegen kann, recht verstanden nur der Reflex jenes anders begründeten Wertes der Ewigkeit ist, dessen Grundlage nur im praktischen Selbstbewußtsein der sittlichen Person gesucht werden kann. Sicherlich kann keine, auch nicht die höchste theoretische Einsicht irgendeine sittliche Würde beanspruchen, wenn sie nicht von dorther abgeleitet ist. Nur behaupten wir, wenn der Gedanke der Ewigkeit, der auf praktischem Gebiet eine so unvergleichliche Kraft und Bedeutung entfaltet, doch auch auf theoretischem Boden begründet ist, so wird eben dadurch auch die theoretische Erkenntnis, in der wir uns zu diesem Gedanken erheben, für uns einen ganz anderen Wert, eben aus dem sittlichen Gesichtspunkt, gewinnen, als den HERRMANN ihr zugesteht. Davon hat auch von jeher alle ernste Forschung ein Bewußtsein gehabt; deswegen galt ihr ihre Aufgabe nicht bloß als etwas Nützliches und Notwendiges, sondern als etwas Heiliges und Göttliches. Nach HERRMANN könnte dies nur etwa darauf beruhen, daß wir irrtümlich in der Erkenntnis einen Trieb zu befriedigen suchen, der seine Befriedigung in Wahrheit nur im Sittlichen finden kann. Aber nein, die Wahrheit ist uns heilig, gerade sofern wir nichts in ihr suchen als die Wahrheit: und gerade das Suchen der Wahrheit rein ihrer selbst wegen bedeutet uns eine Erhebung über die Welt der Vergänglichkeit und nicht die Hingabe an dieselbe. Gerade aus dem kantischen Gesichtspunkt wird ja dies so ganz verständlich: denn Wahrheit ist ein Anspruch, den wir an die Dinge, nicht den die Dinge an uns erheben, ihre Erkenntnis ist die Betätigung unseres Selbstbewußtseins, ist die Selbstbehauptung nicht des ethischen, aber des theoretischen Subjekts (die ja übrigens eins sind) gegenüber der Welt. Finden wir also den Gott in uns, so müssen wir ihn auch wohl in der Wahrheit der Erkenntnis und nicht bloß in der sittlichen Wahrheit finden, und so hat die platonische (wenn ich nicht irre, auch christliche) Anschauung gewiß ihren guten Sinn, welche die Gottheit nicht bloß als absolute Macht über die Welt und als absoluten Willen des Guten, sondern auch als absolute Erkenntnis denkt.

Der entscheidende Wert der von uns hervorgehobenen Übereinstimmung zwischen der praktischen und theoretischen Bedeutung des Ewigen liegt aber für uns nicht im Gebrauch, den etwa die Theologie davon machen könnte, sondern in der Klarheit, die von hier aus über den eigentümlichen Geltungswert des Gedankens auf beiden Gebieten gewonnen wird, und deren Besitz uns, wir gestehen es, die ganze Theologie wert ist. Daß das Ewige ganz und gar nichts ist, was in einer Welt von Dingen oder Geistern zu suchen wäre, sondern allein gefunden wird in einem theoretischen wie auch praktischen Bewußtsein, das wir über uns und über die Dinge haben; daß so die Welt nicht mehr in eine Zweiheit des Diesseits und Jenseits zerrissen und das Ewige vom Zeitlichen zwar verschieden aber nicht getrennt ist, sofern die Ewigkeit uns nichts bedeutet noch bedeutens soll als den Gesichtspunkt, aus dem wir das Zeitliche betrachten, und sofern andererseits alles Zeitliche mit Notwendigkeit der Betrachtung aus dem Gesichtspunkt des Ewigen unterstellt werden muß, - dies eben ist es, was die aufgezeigte Übereinstimmung zwischen der theoretischen und ethischen Geltung dieses "Gesichtspunktes" in das hellste Licht stellt, während ein einseitiges Ausgehen vom einen oder anderen Gebiet dieses Verhältnis leicht verdunkelt. Es gibt freilich Leute genug, die vor dieser großen Einheit, die einst SPINOZA gelehrt und über deren erkenntnistheoretischen Grund uns KANT aufgeklärt hat, erschrecken, und meinen, die Ewigkeit zerrint in Nichts, wenn man sie, nach unserer Forderung, nicht extensiv sondern intensiv versteht; nicht als eine lange und immer längere Zeit, sondern allem Zeitlichen heterogen; und wieder nicht in undenklicher Ferne jenseits der Welt, sondern mitten in ihr und doch nicht mit ihr vergänglich. HERRMANN gehört, soweit ich ihn verstehe, nicht zu diesen Furchtsamen. Er denkt den Gedanken aus, daß wir ewig  sind,  indem wir das unbedingte sittliche Gesetz mit unserem Bewußtsein erfassen und in unseren Willen aufnehmen, und daß es eine andere Art, sich seiner Ewigkeit gewiß zu werden, nicht gibt noch zu geben braucht. Eine andere Realität des Ewigen verlangen hieße ja nichts Anderes als verlangen, daß das Ewige nicht ewig wäre; denn es bliebe keine andere Realität übrig als die des  Faktums,  über die wir mit dem Gedanken der Ewigkeit doch eben hinauswollten. Habe ich hier HERRMANN richtig gefaßt, so würden wir uns auf sittlichem Gebiet wohl vereinigen können; und es bliebe nur noch die Frage, die, nach dem Interesse des Verfassers geurteilt, freilich die schwerwiegendste sein würde: ob der im letzten Kapitel seines Buches gewagte Versuch, die wichtigsten Lehren der christlichen Religion aus dem von ihm aufgestellten Kriterium der Bewährung an einem Bedürfnis der sittlichen Person zu rechtfertigen, gelungen ist oder nicht. Uns indessen gilt hier nach Lage der Sache die bloße Anerkennung, daß die religiöse Überzeugung dem Maß und der Norm des sittlichen Bewußtseins schlechterdings zu unterwerfen ist, und nur, sofern sie sich aus ihm rechtfertigen läßt, die Geltung behaupten darf, die sie beansprucht, von theologischer Seite als ein Zugeständnis von weit höherem Wert als jede Einräumung, die etwa der biblischen Kritik gemacht würde. Vielleicht hätte HERRMANN am besten getan, zunächst nur diesen entscheidenden Satz zu unzweifelhafter Geltung zu bringen, statt nun sogleich auf diesem Boden eine neue Dogmatik zu entwerfen, mit der er es, fürchte ich, Keinem recht gemacht und keinem der sich gegenüberstehenden Ansprüche voll genügt hat. Die Theologen, dessen kann er gewiß sein, werden ihn verdammen trotz aller Zugeständnisse, die er, sei es aus einer zu weit gehenden Pietät oder aus ebenso verkehrter Rücksicht auf die Bedürfnisse theologischer Leser, an die in der Theologie allgemein herrschende Denk- und Empfindungsweise macht. Und uns Ungläubige wird er durch so gewaltsame Rettungsversuche wie den dem "historischen"  Christus  gewidmeten nicht versöhnen. Freudiger würden wir ihm zustimmen, wenn er uns gestatten wollte, das Evangelium auf unsere Weise zu lesen, nicht mit den Augen einer philologisch-historischen oder physischen oder metaphysischen Kritik, aber auch nicht mit den Ansprüchen einer theologischen Dogmatik, sondern allein mit dem Sinn, daß wir uns das Übermenschliche auf solche Weise menschlich nahe bringen lassen wollen; nicht um es zu uns herabzuziehen, sondern uns zu ihm zu erheben. So ist uns der menschgewordene Gott wohlverständlich, während er in der grellen Beleuchtung einer historischen Behauptung und eines dogmatischen Lehrbegriffs ganz unerträglich ist.

Jedenfalls bewährt das HERRMANNsche Buch das Wort von F. A. LANGE (Geschichte des Materialismus, Bd. II, Seite 486), daß der wirkliche Sinn und die zündende Kraft der christlichen Lehren lebendiger vielleicht einen Geist erfassen kann, der ihnen einen neuen Boden entgegenbringt, auf dem sie keimen können, als einen solchen, der ganz und gar in die alten Ideenassoziationen eingefahren ist. HERRMANN hat sich durch eine Aneignung der kantischen Anschauungen einen solchen neuen Boden geschaffen: möge nur die Theologie diese so schwer errungene Einigkeit mit einer wahrhaft freien und befreienden Philosophie recht festhalten, so werden wir schon weiter kommen.
LITERATUR - Paul Natorp, Über das Verhältnis des theoretischen und praktischen Erkennens zur Begründung einer nichtempirischen Realität, "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Neue Folge, Bd. 89, Halle/Saale 1881
    Anmerkungen
    1) JULIUS BERGMANN (in den "Philosophischen Monatsheften", 1880, Seite 225f) bestreitet die Berechtigung dieser Abstraktion, weil eine Erkenntnis, die gar nichts vom Charakter des Fühlens und Wollens mehr an sicht trägt, undenkbar ist. Allein es handelt sich nicht darum, ob es eine  Tätigkeit  des Erkennens ohne alle Wirksamkeit des Interesses gibt, nicht um die  "psychologische Hypothese",  daß vom Bewußtsein noch irgendetwas übrigbleibt", wenn man von allem Fühlen und Wollen abstrahiert: nicht die Tätigkeit, sondern der  Inhalt  der Erkenntnis ist es, wonach gefragt wird, nicht die Triebfeder, welche unsere erkennenden Funktionen in Bewegung setzt und die Richtung ihrer Tätigkeit bestimmt, sondern das, was diese Funktionen  bewirken,  wenn sie, wodurch und in welcher Richtung auch immer, in Tätigkeit gesetzt sind. Ist Erkenntnis die Behauptung der Bewußtseinseinheit in einem mannigfaltig Gegebenen, so ist ja die Bemerkung richtig, daß diese Selbstbehauptung nur durch eine "Tätigkeit", durch ein "Streben", d. h. nur unter der Wirksamkeit des Interesses denkbar ist; und ich glaube, daß dies durch KANTs Lehre von der transzendentalen Apperzeption zwar verdunkelt, aber keineswegs ausgeschlossen wird: allein die Formen, in denen allein sich diese Einheit in der wirklichen Vorstellung eines Objekts behaupten kann, und die Bedingungen, an die die "Tätigkeit" unseres Erkennens gebunden ist, sind nicht vom Interesse bestimmt, und so ist die Scheidung dessen, was im Produkt unserer erkennenden Tätigkeit vom Mechanismus des Vorstellens, und dessen, was von der Wirksamkeit unseres Interesses abhängig ist, gewiß berechtigt und notwendig. Es hängt nicht von unserem Gern- und Ungernhaben ab, daß die Winkel eines Dreiecks zusammen 180° betragen, oder daß alle Naturerscheinungen in durchgängiger kausaler Verknüpfung stehen müssen, wenn Natureinheit möglich sein soll; wiewohl es zweifellos das Interesse an der so allein möglichen Einheit in der Vorstellung des Objekts ist, welches den mathematischen Konzeptionen und dem Gesetz der Ursächlichkeit die  Geltung  für uns erteilt, welche der Terminus "Wahrheit" ausdrückt, die Geltung als Norm oder Gesetz, nach welcher all unsere Vorstellung des Objekts sich zu richten hat. Und so muß allerdings die Gestalt, in der sich allein die Einheit des Bewußtseins in einer wirklichen Erkenntnis, nach der Bedingtheit unseres Vorstellens, darstellen kann, von allem Interesse  in abstracto  isoliert werden, wie KANT eben wollte; auch dann, wenn uns völlig feststeht, daß  Bewußtsein,  wie BERGMANN sagt,  seiner Natur nach Interesse  ist. Ich glaube auch, daß KANT gegen diesen Satz nicht viel einzuwenden hätte. Er sagt, daß wir uns von der Natur nicht "gleichsam am Leitband gängeln lassen", sondern sie nötigen sollen, auf unsere  Fragen  zu antworten; daß wir ihr gegenüber nicht betteln, sondern  gebieten,  und das nach unserem Entwurf selbst  hervorbringen  müssen, was wir von den Dingen  einsehen  wollen: und dennoch unterscheidet er die  objektive  Notwendigkeit aus  Einsicht  von der  subjektiven,  psychologischen eines auf Gewohnheit und Interesse gegründeten  Glaubens BERGMANN will freilich selbst die mathematischen "Einsichten" in einen bloßen "Glauben" umdeuten, deswegen, weil sie nicht nach dem Satz des Widerspruchs möglich sind. Allein sie sind nach dem Satz des Widerspruchs möglich, sobald wir  unsere Raumanschauung  zugrunde legen, ohne die alle mathematischen Behauptungen ein bloßes Spiel mit Begriffen sind, das auf die Geltung für die  Objekte unserer Erkenntnis  von vornherein keinen Anspruch macht; denn die können nur in unserem Raum existieren, weil sie sonst keine Objekte für uns sein würden.
    2) In diesem Sinn sagt HERRMANN Seite 52 richtig: Das Ding-ansich gehört nicht zur reinen Erfahrung für sich,  auch nicht als Grenze,  denn sie ist unbegrenzt.
    3) Gegenüber dieser ausdrücklichen Erklärung KANTs muß es verwundern, wie HERRMANN, ohne den tiefen Unterschied seiner Anschauung von der kantischen zu bemerken, den Satz niederschreiben konnte: "Das Ding-ansich ist  nicht  das Korrelat des  vorstellenden  Bewußtseins." (Seite 49)
    4) In einem merkwürdigen Gegensatz zu seinen früheren Entwicklungen kommt HERRMANN Seite 190 selbst zu dem Ergebnis, daß wir uns in die übersinnliche Welt nicht hinein schauen  oder hinein empfinden,  sondern nur hinein denken  können. Es wäre doch wunderbar, wenn dieser  Gedanke  auf theoretischem Gebiet gar keine Grundlagen hätte, sondern allein in unserem Fühlen und Wollen.