ra-2p-4ra-2ra-2H. DietzelE. HornefferJ. VolkeltSchmalenbach    
 
HEINRICH DIETZEL
Individualismus

"Auch wer sich zur Idee des Primats des sozialen Ganzen, also zum Sozialprinzip bekennt, kann aus diesem ethischen Dogma die praktische Folgerung des  laissez-faire  ziehen. Denn - so argumentiert er - die Konkurrenz, der Kampf um das wirtschaftliche Dasein, bewirkt ja das  survival of the fittest:  nur die wirtschaftlich höherwertigen Individuen können sich halten, die wirtschaftlich minderwertigen werden ausgemerzt; eine  soziale Auslese  vollzieht sich und mit ihr eine Vervollkommnung der Gattung."

"Aus der  Macht doktrin wird die Notwendigkeit eines Zustandes, in dem das von allem Zwang losgebundene Subjekt seine Individualität schrankenlos, ohne Rücksicht auf das Wohl und Weh der übrigen Individuen, entfalten kann. Der Raubtiermoral dieser adeligen Wölfe ist es ein Dogma, daß es ihnen - im modernen Jargon gesprochen: den  Übermenschen  - freistehen muß, die bürgerlichen Schafe nach Belieben zu scheren oder zu zerfleischen."

"Nachdem die Reformation die Kirche des Abendlandes in zwei Konfessionen, die sich beide der Habe des echten Ringes rühmten, gespalten hatte, grub sich die seit den Tagen  Friedrichs II.  heranrauschende rationalistische Strömung ein weit breiteres Bett als bisher. Vielmehr Köpfe wir früher mühen sich jetzt um das Problem, Moral und Religion aus der Vernunft zu finden und zu begründen. Mit gewaltiger Energie rüttelt das Individuum an den theologischen Dogmen, deren Joch seit mehr als einem Jahrtausend auf ihm gelastet hat."

Adam Smith  denkt ziemlich skeptisch über das parlamentarische Regime, kennzeichnet es, wenn auch nicht mit deutlichen Worten, als die Herrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen."


1. Begriffsbestimmungen: Individual-, Sozialprinzip; individualistische und organische Systeme; Methode der Klassifikation der Systeme.

Das ethische, d. h. das über das Problem des sozialen Seinsollens grübelnde, nach Prinzipien der für die vollkommenste Ordnung des sozialen Seins suchende Denken ruht nicht eher, bis es sich nicht zu einem letzten, nicht mehr ableitbaren Satz durchgerungen hat. Wie unser Geist für die Naturphänomene nach einer obersten Ursache bezüglich einem Endziel forscht - der  causa causans [verursachender Grund - wp] bezüglich der  causa finalis [Zweckursache - wp], aus deren Erkenntnis erst ein organisches und harmonisches Bild des Gewordenseins, Seins, Seinswerdens der Natur zu gewinnen ist -, so forscht er auch für die sozialen Phänomene, welche durch menschliches Wollen und Handelns gestaltet und gewandelt werden, nach einer Grundnorm, welche alles Wollen beherrschen, welche allem Handeln als Richtschnur dienen muß.

Welches ist nun dieses höchste ethische Gebot? Wie lautet der letzte Satz bezüglich des sozial Seinsollenden oder des sozial Gerechten? Die Antwort klingt in ein  entweder-oder  aus. Es bieten sich zwei einander kontradiktorische Sätze dar.

Erstens das  Sozial prinzip, d. h. der Satz, daß die Gattung oder die menschliche Gesellschaft oder das soziale Ganze (die abstrakte Einheit aller Individuen) oberster Zweck ist, die Individuen dienende Organe im Leben des Sozialkörpers, wie die Gliedmaßen im Leben des physischen Körpers.

Zweitens das  Individual prinzip, d. h. der Satz, daß das Individuum oberster Zweck ist, daß alle höheren und niederen sozialen Gebilde - Familie, Stand, Genossenschaft, Staat, Staatengesamtheit - nur Mittel sind für die Zwecke der einzelnen, die sie in sich fassen.

Entweder auf dieses oder jenes Prinzip baut sich jedes System, jede Doktrin vom sozialen Seinsollen auf - zumindest jedes nicht aus einer Offenbarung, sondern aus der Vernunft gezogene.

Demgemäß scheidet sich die Gesamtheit der Systeme in zwei große Gruppen. Erstens die Gruppe der durch das Individualprinzip beherrschten, der  individualistischen  Systeme (Individualismus). Zweitens die Gruppe, welcher die anti-individualistische, vom Sozialprinzip durchdrungene Grundanschauung gemeinsam ist - die man mangels eines besseren unter dem Gesamttitel der  organischen  Systeme rubrizieren mag, da, wie oben gesagt, hier die Entwicklung des sozialen Organismus das souveräne Leitmotiv bildet.

Der Komplex der anti-individualistischen Systeme würde einfacher und, da direkt abgeleitet vom Sozialprinzip, zweckmäßiger mit "Sozialismus" zu bezeichnen sein.

PIERRE LEROUX, der, wie er von sich sagt, "das Wort schmiedete als Gegenstück zu dem eben in Kurs kommenden Individualismus", wollte darunter die Doktrin verstanden wissen, gemäß welcher "l'individu serait sacrifié a cette entité qu'on nomme la société" [das Individuum der Einheit der Gesellschaft geopfert wird. - wp].

Auch heute noch halten manche hervorragende Schriftsteller an dieser Begriffsbestimmung fest.

"Sozialismus, d. h. Anti-Individualismus, welcher die Naturrechtspostulate" - gemeint ist: die Postulate des individualistischen Naturrechts (siehe weiter unten) - "verwirft. ... Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit sind Postulate des ... Individualismus, nicht der Sozialistik, in welche nur die Sozialdemokratie und der Nihilismus sie hineintragen." (SCHÄFFLE, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 1883, Seite 498).

"Sozialismus ist jede Theorie der sozialen Organisation, welche die legitimen Freiheiten des Individuums dem Willen, bzw. den Interessen der Gemeinschaft, des sozialen Ganzen, opfert. Sozialismus ist die unangemessene Überhöhung der Rechte und Ansprüche der Gesellschaft an das Individuum, so wie der Individualismus die unangemessene Überhöhung der Rechte und Ansprüche der Individuen gegenüber der Gesellschaft ist." (ROBERT FLINT, Socialism, 1895)

Im ethischen Sinn genommen, ist zu bestimmen, inwieweit der "Sozialismus eine moralische Einheit oder Ordnung beinhaltet, die die Unterwerfung des Einzelnen erfordert ... und dementsprechend der Individualismus inwieweit er die Unabhängigkeit des Einzelnen enthält und seinen Widerstand gegen  angeblich ultimative Normen  von Autorität erfordert." (SAMUEL ALEXANDER, Moral order and progress, 1892)

Da aber die Aussicht, diesen Usus allgemein zu machen und damit zu einer klaren Terminologie für das Grundschema der Klassifikation der ethischen Systeme zu kommen, überaus gering ist, so wird wenigstens dahin zu streben sein, mit der bisher üblichen Gleichsetzung von "Sozialismus" und "Kommunismus" - die eine terminologische Verschwendung bedeutet - zu brechen und nur die eine Gruppe der kollektivistischen, d. h. Privateigentum und freie Konkurrenz negierenden Systeme, welche aus dem Sozialprinzip hergeleitet, dem Anti-Individualismus entsprungen ist (z. B. die Systeme PLATOs, CAMPANELLAs, FICHTEs, RODBERTUS'), als  "Sozialismus",  die andere Gruppe, welche im Individualprinzip wurzelt, die Verwirklichung des "bonheur commun" [Gemeinwohl - wp] aller Individuen zu ihrer zentralen Idee hat, als  "Kommunismus"  zu bezeichnen (vgl. HEINRICH DIETZEL, Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, in  Frankensteins  "Zeitschrift für Literatur und Geschichte der Staatswissenschaften", Bd. 1, Seite 8 und 11). -

Wie man sich auch zur Titelfrage stellt - die Notwendigkeit, zwecks  Klassifikation  der Systeme die oben angewandte "dogmatische" Methode zu gebrauchen, d. h. die Systeme zu gruppieren nach dem  ethischen  Dogma, in dessen Bann sie stehen, kann nicht bestritten werden. Man taufe die Systeme, mit welchen Namen man will; aber die Prinzipien, die ethischen Grundnormen, müssen Gevatter stehen. Sonst werden diese Kinder des Denkens immer in der bedenklichen Unklarheit über ihre Familienbeziehungen, an welcher sie heute leiden, herumlaufen, wird die Konfusion fortbestehen, die heute bei uns herrscht, und welche daher rührt, daß man sich (was KARL DIEHL z. B. verteidigt) der "realistischen" Methode bedient - d. h. ausschließlich nach den  "praktischen  Zielen", den Weltverbesserungsprogrammen, die Gruppierung vollzieht.

Zunächst muß die Frage gestellt werden: aus welchem von jenen beiden polaren Prinzipien ein System abgeleitet ist? Aus der diametralen Verschiedenheit der ethischen Grundnormen ergibt sich die  Ober einteilung der Systeme in individualistische und anti-individualistische. Erst zweck einer  Unter einteilung ist, innerhalb dieser wie jener Gruppe, die Differenz der "praktischen Ziele" zu berücksichtigen - als das sekundäre, nicht als das primäre Moment.

Wenn mir jemand sagt: im System dieses Autors wird jenes Sozialprogramm vertreten, im System jenes Autors ein anderes, ohne mich verstehen zu lassen,  weshalb  sich hier diese, dort jene "praktischen Ziele" zusammenfinden, mit anderen Worten: auf welche nicht mehr ableitbare  ethischen  Prinzipien sich diese Forderungen stützen, beruhigt mich die "Unruhe des Warumfragens" (SIGWART) nicht. Um das Wesen eines Systems zu begreifen, muß ich die allgemeinste, die Grundnorm kennen, welche alle Einzelheiten aus sich hervortreibt.

Wer die Systeme - in letzter Linie - klassifizieren will nach den praktischen Zielen, nimmt zum "fundamentum divisionis" die Wirkungen statt der Ursachen und speist mich damit mit einer völlig unzulänglichen Auskunft ab, sucht mich mit dem "post hoc" [danach - wp] zu befriedigen, während ich nach dem "propter hoc" [warum - wp] verlange.

Die Klassifikation muß sich auf das oberste kausale Agens gründen - auf das ethische Axiom oder Dogma, das sich in jedem der praktischen Ziele als seinen Konsequenzen widerspiegelt.

Nur mittels dieser Methode kann die Darstellung der Systeme erfolgen, ihre Geschichte geschrieben werden. Geht man von den Programmen aus, so erhält man nichts als einen verwirrenden, ermüdenden Katalog sozialer Rezepte (Vgl. meine Polemik gegen KARL DIEHL in den "Beiträgen", Seite 11-26, aus der die letzten Sätze zum Teil wörtlich entlehnt sind.) -

Der Gegensatz von Individual- und Sozialprinzip und der aus ihm folgende Gegensatz der Systeme ist vielfach auch anders ausgedrückt worden. Besonders häufig erscheint er unter der Formel des Prozesses oder der Prioritätskontroverse zwischen  Individuum  und  Staat. 

Der "letzte geschichtliche Gegensatz" ist aber nicht der zwischen Individuum und Staat, sondern der "zwischen  Individuum  und  Gesellschaft"  (RODBERTUS), zwischen dem Individuum, das sein kurzes Leben lebt und dem aus immer wechselnden Individuen zusammengesetzten sozialen Ganzen, das in der Reihe der Generationen sein unsterbliches Dasein verbringt - zwischen dem konkreten Menschen, dem realen  Einzelwesen,  das seinem Glück nachtrachtet, und dem  makranthropos,  dem "Menschen als Idee" (AHRENS), der  Gattung,  die in der ewigen Folge der Einzelwesen ihrer Vervollkommnung zustrebt, deren unendlicher Strom in diesen flüchtigen Wellen zu dem Ziel hindrängt, das ihm bestimmt ist.

Das Individual- und das Staatsprinzip einander gegenüberstellen, "Mensch versus Staat" (SPENCER) prozessieren lassen, ist nicht nur deshalb ein Fehler, weil dabei der Gegensatz, um den es sich in Wahrheit handelt, verhüllt bleibt, sondern auch deshalb, weil bei der Adoption dieser Formel der Gegensatz nur auftauchen würde, um sofort wieder zu verschwinden: im Streit zwischen Individual- und  Staats prinzip wäre der Anspruch des letzteren ohne weiteres "a limine" [von vornherein - wp] abzuweisen, erschiene ersteres als das allein berechtigte.

Um das Prinzip zu erhärten, daß das Wohl des Staates - oder irgendeines anderen aus Individuen bestehenden Kollektivums - dem Wohl des Individuums vorgeht, im Konfliktfall dieses jenem weichen muß, bedarf es der Prämisse, daß diesem Kollektivum eine  Pflicht  im Interesse der  Gattung  gesetzt ist - gesetzt durch eine supranaturale [übernatürliche - wp], über Individuum wie Staat schwebende Potenz.

Ohne eine solche Sanktion läßt sich ein  Recht  des Staates, die Individuen als dienende Organe der - irgendwie gefaßten - Staatsidee zu behandeln, nimmermehr konstruieren. Warum sollen diejenigen Individuen, welche die Staatsidee verwerfen bzw. sie anders interpretieren als die jeweiligen Machthaber, sich dem Zwang fügen? Warum die realen Individuen ihre realen Interessen einer Abstraktion opfern - die Lebenden ihr Recht auf das ihnen erreichbare Maximum an Glück hingeben oder sich zumindest verkürzen lassen, auf daß in Zukunft die Staatsidee sich in höherem Maße verwirklicht als bisher? Warum soll die Generation von 1900 der von 1930 weichen?

Nur wenn angenommen wird, daß der Staat eine "göttliche Mission" zu erfüllen hat, daß der "Weltgeist" in der Geschichte die "Erziehung des Menschengeschlechts", der Gattung, vollbringt, nur als  Gattungs- oder Sozial-, nicht als Staatsprinzip, kann das anti-individualistische Prinzip seine Begründung finden. Man nenne die über der Gattung waltende supranaturale Potenz, begreife ihr Wesen und ihr Tun, wie immer man will - vorausgesetzt muß sie werden, sonst schwebt das anti-individualistische Prinzip in der Luft; es bedarf des Segens "von oben", ist ohne metaphysische Legitimation unhaltbar.

Wie die Naturwissenschaft, so steht auch die Ethik vor der Alternative: Gott ist - Gott ist nicht; eine supranaturale Potenz waltet über der menschheitlichen Entwicklung - sie waltet nicht. Wird sie geleugnet oder als unbeweisbar außer Rechnung gestellt und müssen demzufolge die sozialen Normen ihren Inhalt allein aus der Vernunft der  Subjekte  und ihre verpflichtende Kraft allein aus deren Willen schöpfen, so kann an ihre Spitze als oberstes Gebot nur das  Individual prinzip gestellt werden. Das Seinsollende, das dem praktischen Verhalten der Einzelnen und Kollektiva als Richtschnur Gesetzte, deckt sich dann mit dem den Interessen der jeweilig Lebenden Entsprechenden, dem von ihnen Begehrten.

Wird sie dagegen bejaht und müssen demzufolge die sozialen Normen von dieser supranaturalen Potenz hergeleitet werden, so sinkt das Individualprinzip zu einem sekundären Postulat herab und wird das  Sozial prinzip zum primären, wird die Entwicklung des sozialen Ganzen im Sinne gewisser, auf jene Potenz bezogener  objektiver  Ideen - gewisser "ultimativer Normen" - das oberste, die einzelnen wie die Kollektiva sich schlechthin unterwerfende Gebot. Hier deckt sich das Seinsollende keineswegs mit dem von den jeweilig Lebenden Begehrten - ein schroffer Widerspruch kann zwischen den Geboten des "Weltgeistes" und den Strebungen des "Zeitgeistes" bestehen, zwischen den, wie STIRNER sagt, idealen "Sparren" und den realen Interessen.

2. Axiomatischer Charakter der beiden sozialethischen Grundnormen. Der Streit zwischen Individual- und Sozialprinzip währt, seitdem es ein Denken über das soziale Seinsollen gibt. Überall und immer hat die ethische Grundanschauung, welche das Individuum in den Dienst der Familie oder des Standes, der Genossenschaft oder des Staates, in die Demut gegenüber Religion, Gesetz, Sittlichkeit und Sitte, gegenüber objektiven Ideen und sie vertretenden Mächten zwingen will - immer und überall hat diese Grundanschauung gerungen mit der ihr feindlichen, welche das Individuum befreien will von allem Zwang und es zum sozialen Souverän krönen, dessen Anspruch auf Vollgenuß des Daseins nur soweit jenen Ideen und Mächten sich beugt, als es seiner Subjektivität genehm ist, dessen Vernunft alles sozial Seiende vor seinen Richterstuhl zieht.

Und dieser Streit wird auch in alle Zukunft fortdauern. Denn die rationalistische Kritik ist ohnmächtig gegenüber diesen Prinzipien: als gleichwertige  Axiome,  welche nur ein Fürwahrhalten, keinen Beweis zulassen, stehen sie sich in ewiger Feindschaft gegenüber.

Das Individualprinzip leuchtet zwar dem "gesunden Menschenverstand" sofort ein. Es ist aber ganz ebenso axiomatischer Natur wie das Sozialprinzip. Denn ebensowenig ist beweisbar, daß eine supranaturale Potenz das Leben der Menschheit  nicht  beherrscht - woraus die Berechtigung des Individualprinzips zu deduzieren wäre - als, daß eine solche Potenz da ist - woraus die Berechtigung des Sozialprinzips zu deduzieren wäre.

Beide einander polar entgegengesetzte Prinzipien sind gleichwertige Axiome. Es besteht zwischen ihnen eine logische Antinomie - die Vernunft zwingt uns,  entweder  in jenem  oder  in diesem den letzten Schluß sozialer Weisheit zu suchen; aber sie sagt uns zugleich, daß die Wahl nur gestellt, nicht vollzogen werden kann, d. h. nicht aufgrund eines der "reinen Vernunft" entstammenden Aktes.

Wir sind Anti-Individualisten oder Individualisten, wie wir Theisten oder Atheisten sind nicht deshalb, weil wir das Dasein Gottes beweisen könnten oder beweisen könnten, daß er  nicht  ist, sondern weil wir entweder glauben oder  nicht  glauben - weil unsere "praktische Vernunft" so oder so entscheidet.

Solange umd die Gottesidee gestritten wird, solange wird das Sozialprinzip, welches, wie RODBERTUS einmal von seiner auf diesem Prinzip beruhenden Gesellschaftsdoktrin sagt, "bis zu Gott hinaufreicht", mit dem Individualprinzip kämpfen, welches auf Erden haftet.

Die Methode der Deduktion a priori versagt. Daß sich die "absolute Wahrheit" dieses oder jenes Prinzips auch nicht durch die Methode der Induktion a posteriori am Verlauf der Geschichte ergeben kann, habe ich in meiner Kritik des Versuches RODBERTUS', das Sozialprinzip durch diese Methode zu beweisen, gezeigt. Der Versuch, zugunsten des Individualprinzips unternommen, muß gleicherweise scheitern. Die Geschichte, zumindest die der abendländischen Kulturwelt, zeigt uns, daß Perioden, in denen das Sozialprinzip die Geister beherrscht, mit Perioden wechseln, in denen das Individualprinzip regiert, Perioden der "association" - "siecles organisateurs" - mit denen des "individualisme" (St. SIMON), "organische" Perioden mit Perioden des "Freihandels" (RODBERTUS). Dem im Bann des Sozialprinzips befangenen Denker erscheinen jene als die Zeiten der Legitimität, diese als revolutionäre Interimistika, nach deren Überwindung die Gesellschaft immer wieder in das konkrete Geleise des Sozialprinzips einlenkt - umgekehrt dem Individualisten die Perioden, in welchen sich das Subjekt zu größerer Freiheit als bisher emporringt, als die Sonnentage der Menschheit, die Perioden dagegen, in welchen es unter dem Druck der objektiven Ideen steht, als dunkle Schatten, welche aber immer wieder dem Morgenrot einer besseren Zeit weichen.

Je nachdem man der Geschichte den Spiegel dieses oder jenes Prinzip vorhält, wirft sie dieses oder jenes Bild zurück.

Die Frage: ti to dikaion [was ist das Gerechte? - wp], gemäß welcher ethischen Grundnorm soll die soziale Ordnung gestaltet werden, wird daher stets die zweifache Antwort erhalten, die ihr bisher auch zuteil geworden ist. Zu einem zweifelsfreien Urteil darüber, ob das individualistische oder das anti-individualistische Dogma das alleinseligmachende ist, vermag menschliches Denken nicht zu gelangen.

3. Die zwei Hauptrichtungen des Individualismus: Rechtsdoktrin und Machtdoktrin. Wenden wir uns nunmehr ausschließlich der auf dem Individualprinzip fußenden Grundanschauung zu. Nach außen - unter dem Gesichtswinkel des Gegensatzes zu den "organischen" Systemen gesehen - erscheint der Individualismus als eine ideelle Einheit. Wird er aber für sich betrachtet, so wandelt sich das Bild: man erkennt, daß in ihm verschiedene, dem ethischen Obersatz wie den praktischen Zielen nach verschiedene Richtungen nebeneinander bzw. gegeneinander laufen.

Zu unterscheiden ist vor allem die Richtung, welche man als die  Rechts doktrin bezeichnen kann, von der  Macht doktrin. Erstere, die weitaus mächtigere Richtung, geht von der Prämisse aus, daß alle Individuen, als Kinder der  einen  Gattung, als Geschwister von  einem  Fleisch und Blut, von Natur aus unter sich gleichberechtigt sind - daß jedes Individuum den  gleichen Anspruch auf einen Vollgenuß des Lebens  hat und jedes Individuum diesen Anspruch in jedem anderen achten muß.

Letztere verneint das Prinzip des  einen  Menschentums und dessen Folgerungen. Statt der Gleichheit der Individuen als Gattungswesen stellt sie die Ungleichheit der Individuen als Einzelwesen an die Spitze und spricht dem Individuum das  Recht zu, seine Genußsphäre so weitauszuspannen, wie seine Macht es ihm gestattet - so als ob diese Macht das Ergebnis seiner überlegenen Individualität oder des Zusammenschlusses mit anderen, freiwillig oder zwangsweise ihm verbundenen Individuen ist.

Während die Rechtsdoktrin, indem sie die Gattungsidee zugrunde legt, den Kampf ums Dasein, welcher in der Naturwelt herrscht, für die Menschenwelt grundsätzlich verneint, so wird von der Machtdoktrin nicht nur zugelassen, sondern gefordert, daß hier wie dort die Stärkeren sich die Schwächeren unterwerfen.

Aufs schroffste weichen, trotz der Gemeinsamkeit der Grundanschauung, daß die sozialen Gebilde nur da sind um der Individuen willen, die obersten Richtpunkte dieser beiden, logisch gleich notwendigen Hauptarten des Individualismus von einander ab.

Zwecks Verwirklichung des Rechts- wie des Machtprinzips können nun aber wieder ganz verschiedene praktische Ziele gesteckt, ganz verschiedene Programme entworfen werden. Die Meinung darüber, welche soziale Organisationsform erforderlich ist, um jenem oder diesem Prinzip möglichst voll zu entsprechen, hat, oft innerhalb kurzer Zeit, außerordentlich gewechselt; auch zu gleicher Zeit haben die Vertreter des gleichen Prinzips dieser Organisationsfrage halber sich auf das Heftigste befehdet.

Nicht minder kann es sein, daß die gleiche Organisationsform von den Vertretern der Rechts- wie der Machtdoktrin postuliert wird - weil jene ganz andere Wirkungen von ihr erwarten wie diese.

So z. B. das sogenannte "Konkurrenzsystem", d. h. die Form der Organisation des sozialwirtschaftlichen Lebens, welche jetzt in den Kulturländern besteht. Wer dessen Wirkungen so beurteilt wie die Liberalen des 18. Jahrhunderts, kann ihm vom Standpunkt der  Rechts doktrin das Wort reden; wer dagegen die Überzeugung hegt, daß bei einem freien Wettbewerb die Stärkeren sich die Schwächeren unterwerfen werden, wird dieses Konkurrenzsystem vom Gesichtspunkt der  Macht doktrin aus verteidigen.

Es mag hier - um an einem Beispiel zu zeigen, zu welchen Irrtümern es führt, wenn man nach den "praktischen Zielen", statt nach den ethischen Normen klassifizieren will - noch bemerkt werden, daß das selbe Konkurrenzsystem nicht nur von den beiden "feindlichen Brüdern" der  individualistischen  Ideenfamilie, sondern auch von  anti-individualistischer  Seite seine Rechtfertrigung zu finden vermag und gefunden hat.

Auch wer sich zur Idee des Primats des sozialen Ganzen, sich also zum Sozialprinzip bekennt, kann aus diesem ethischen Dogma die praktische Folgerung des "laissez-faire" ziehen. Denn - argumentiert er (ob mit Recht oder nicht, ist hier nicht zu entscheiden) - die Konkurrenz, der Kampf um das wirtschaftliche Dasein, bewirkt ja das "survival of the fittest": nur die wirtschaftlich höherwertigen Individuen können sich halten, die wirtschaftlich minderwertigen werden ausgemerzt; eine "soziale Auslese" vollzieht sich und mit ihr eine Vervollkommnung der Gattung.

4.  Skizze der Entwicklung des Individualismus. Eine Geschichte des Individualismus würde sich eine doppelte Aufgabe stellen müssen. Einmal wäre die  äußere  Geschichte zu geben, d. h. eine Darstellung der wechselnden Bedeutung des Individualismus im Leben der Völker; erörtert müßte werden, weshalb er jetzt zur Herrschaft gelangte und die soziale Ordnung nach seinem Bild formte, dann aber wieder entthront wurde. Zweitens die  innere  Geschichte, d. h. eine Darstellung der sich folgenden Erscheinungsformen des Individualismus, der mannigfachen Varianten, in denen er aufgetreten ist.

Hier kann nur die letztere Aufgabe in Angriff genommen werden, und auch diese nur in begrenzter Fassung. Nicht die "allgemeine Revolte gegen die Autorität", sondern nur die verschiedenen Phasen des Kampfes für eine  wirtschaftliche  Vollbefriedigung des Subjekts, für eine Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung nach dem Individualprinzip, will ich zu skizzieren versuchen. Indem sich so die Aufgabe  sachlich  einzieht, schrumpft sie auch  zeitlich  zusammen. Sollte die innere Geschichte des Individualismus nach allen Seiten hin dargelegt werden, so wäre ein breites Eingehen auf die Sozialethik des Altertums und des Mittelalters notwendig. So dagegen entfällt diese Notwendigkeit - denn erst zuende des Zeitalters der Renaissance ergreift die individualistische Idee mit Kraft und Folgerichtigkeit das ökonomische Gebiet, welches sie bis dahin nur flüchtig und inkonsequent gestreift hatte.


A. Altertum und Mittelalter

Die Forderung des Primats des Individuums reicht, wie bereits oben gesagt, soweit zurück wie die Geschichte des sozialphilosophischen Denkens. Die hellenische Sophistik hat Religion, Sittlichkeit und Staat dem Menschen als dem "Maß der Dinge" unterworfen. Die objektiven Ideen, zu denen die Ahnen in frommer Scheu emporgeblickt, erscheinen den aufgeklärten Zeitgenossen der PHIDIAS und PERIKLES als Geschöpfe des Subjekts, seiner Vernunft und seinem Willen botmäßig.

Auch an der  wirtschaftlichen  Ordnung rüttelt der Individualismus. Aber diese Bewegung ist dem Umfang wie dem Grad der Energie nach weniger bedeutsame als der Kampf gegen die überkommenen religiösen, moralischen, politischen Dogmen. Während in der Literatur das Wesen und Wirken von Monarchie und Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie, Demokratie und Ochlokratie nach allen Seiten und mit voller Spannung des Denkens, in einer Weise und mit einem Erfolg erörtert wird, daß auch heute noch jedes Räsonnement über Verfassungsfragen zu den Ergebnissen der hellenischen Geistesarbeit Stellung nehmen muß, so kommt die Doktrin der wirtschaftlichen Lebensformen über unsystematische und schlaffe Anläufe nicht hinaus.

Wo einmal ein sorgfältiger ausgeführtes Bild der Welt des Besitzes - wie im "Staat" und besonders in den "Gesetzen" PLATOs - vorliegt, da ist es aus einer Feder geflossen, die im Geist des Sozialprinzips schreibt. Für die Rekonstruktion des wirtschaftlichen Individualismus sind wir fast ausschließlich auf Material beschränkt, welches sich in den Schriften seiner Gegner, in den platonischen Dialogen, in den aristophanischen Komödien findet. Doch genügt das Vorhandene, um das Dasein jener beiden oben charakterisierten Hauptrichtungen nachzuweisen.

Aus der  Macht doktrin wird von den einen die Notwendigkeit einer "amorphen" Gesellschaft gefolgert - eines Zustandes, in dem das von allem Zwang losgebundene Subjekt seine Individualität schrankenlos, ohne Rücksicht auf das Wohl und Weh der übrigen Individuen, entfalten kann.

Eine solche soziale Ordnung findet ihre Vorkämpfer im attischen Junkertum, dessen Typus wir im  Kallikles  des platonischen "Gorgias" und im  Thrasymachos  der "Politeia" vor uns haben. Der Raubtiermoral (DÜMMLER) dieser adeligen Wölfe ist es ein Dogma, daß ihnen - im modernen Jargon gesprochen: den "Übermenschen" - freistehen muß, die bürgerlichen Schafe nach Belieben zu scheren oder zu zerfleischen.

Die anderen ziehen umgekehrt aus der Machtdoktrin die Konsequenz eines zugunsten der Masse regierten und regulierten Gemeinwesens. Der Sophist KRITIAS lehrt, daß der Gesellschaftsvertrag dem Interesse der Mehrheit der Schwachen, sich zu verbünden und gemeinsam die Minderheit der Starken niederzuhalten, entspringt. In den "Ecclesiazusen" des ARISTOPHANES wird - in derber Verspottung der attischen Sozialdemokratie und ihrer Utopien (1) - ausgemalt, wie die Plebejer sich zusammenrotten, um die Optimaten ihrer Herrschaft und ihres Reichtums zu entkleiden und eine völlig kommunistische, die Güter- wie die Weibergemeinschaft enthaltende Ordnung zu errichten. Der Pöbel reißt kraft seiner auf der Überzahl der Fäuste und der Wahlstimmen beruhenden Macht den "Gemeinbrei" an sich, verwaltet ihn nach seiner Willkür, teil die nationale Dividende, die bisher der großen Quote nach an eine Kleinzahl floß, zu seinen Gunsten - aber er ist weit entfernt, diese Aktion, wie die modernen Kommunisten es tun, aus der Idee des einen Menschentums zu rechtfertigen; er denkt nicht daran, daß die Sklaven "gewissermaßen auch Menschen" sind, die ein gleiches Recht zur Teilnahme haben, sondern läßt diese Schwächsten der Schwachen weiter fronden, damit die attischen Bürger ein zwischen Essen, Küssen und Schlafen harmonisch geteiltes Dasein führen können. Wie den aristokratischen Raubtieren geht diesen ochlokratischen das Recht nur so weit, wie die Macht reicht.

Von der  Rechts doktrin finden sich weit weniger Spuren. Daß aber auch diese Richtung des Individualismus, die allem was Menschenantlitz trägt ein  physei  gleiches Recht zuerkennt und fordert, daß das geschriebene, gesetzte Recht mit diesem Naturrecht,  nomos agraphos  [ungeschriebenes Recht - wp], in Einklang gebracht wird, ihre Vertreter gefunden hat, ist z. B. zu ersehen aus der Überlieferung des Wortes des ALKIDAMAS, daß Gott allen Individuen die Freiheit geben, die Natur niemanden zum Sklaven geschaffen hat.

Während in dieser oder jener Variante die Sophisten das individualistische Dogma verkünden, so wird ihnen aus dem Kreis der sokratischen Schule das Sozialprinzip entgegengehalten - vor allem, bis zum Extrem vorgetrieben, seitens PLATOs, weniger schroff, mit dem Versuch zwischen den kontradiktorischen Axiomen zu vermitteln, seitens ARISTOTELES', des "Kathedersozialisten" (SALVIONI).

Der Gegensatz wiederholt sich in späterer Zeit. Während der Epikureismus das souverände Recht des Subjekts predigt, so der Stoizismus die absolute Pflicht des Individuums, sich in den Dienst der objektiven Ideen zu stellen; ein ihrer ethischen Grundnorm entsprechendes politisches oder wirtschaftliches Programm hat aber weder jene noch diese Schule entwickelt. Hier wie dort - und ebenso bei ihren römischen Epigonen - waltet die gleiche weltflüchtige, jeder sozialpraktischen Reformarbeit feindliche Stimmung. -

Einen weit breiteren Raum als in der antiken Literatur nehmen Erörterungen über das Seinsollen auf ökonomischem Gebiet in den Schriften der Kirchenväter, im  Corpus juris canonici,  in den Traktakten der Scholastik ein. Der Standpunkt ist aber hier immer anti-individualistisch; wie die platonische und die stoische, so legt die christliche Ethik das Individuum mit seinen sündigen, auf materielles Genießen zielenden Trieben in straffe Fesseln; will das Fleisch knechten, um den Geist zu befreien. Wenn das Sondereigentum verdammt, die Gütergemeinschaft als "dulcissima rerum" [süße Angelegenheit - wp] gepriesen wird, geschieht dies nicht aus der individualistischen Tendenz, jedem Individuum zum Besitz zu verhelfen, sondern aus der anti-individualistischen: niemand soll etwas sein Eigen nennen, weil das Hangen am irdischen Mammon das Seelenheil gefährdet.

Bis in das Zeitalter der Kreuzzüge hinein bleibt diese asketische Grundanschauung die herrschende. Dann aber beginnt, allmählich erstarkend, die Reaktion, beginnt die Empörung gegen die Doktrin der "civitas dei" [Gottesstaat - wp], gegen das Unterfangen, die Sehnsucht nach diesen Güter dieser Welt aus den Herzen der Menschen zu reißen.


B. Zeit der Renaissance;
Beginn der individualistischen Opposition gegen
das herrschende anti-individualistische System.

Nachdem durch den Humannismus die antike Ethik an die Seite der christlichen gestellt worden war und die Reformation die Kirche des Abendlandes in zwei Konfessionen, die sich beide der Habe des echten Ringes rühmten, gespalten hatte, grub sich die seit den Tagen FRIEDRICHs II. heranrauschende rationalistische Strömung ein weit breiteres Bett als bisher. Vielmehr Köpfe wir früher mühen sich jetzt um das Problem, Moral und Religion aus der Vernunft zu finden und zu begründen. Mit gewaltiger Energie rüttelt das Individuum an den theologischen Dogmen, deren Joch seit mehr als einem Jahrtausend auf ihm gelastet hat.

Dafür aber verfällt es einer umso strafferen, zwingenderen Zucht seitens des weltlichen Regiments. Geht die Macht der Kirche nieder, so steigt die bis dahin von ihr in Schach gehaltene Macht des  Staates  jetzt zu voller Majestät empor. Nicht selten sind es dieselben Denker - so z. B. MACCHIAVELLI und BODIN -, welche als Vorkämpfer des ethischen und religiösen Rationalismus das Subjekt vom Zwang der Kirche lösen, während sie es zum Sklaven des Staates herabdrücken.

Das  absolutistisch-merkantilistische  System, welches von der Renaissance bis zum Schluß des "siécle Voltaire" die Geister beherrscht, ist auf das Sozialprinzip gebaut: in der - wie oben gesagt, grundsätzlich nicht haltbaren - Fassung, daß der Staat Selbstzweck ist, der Einzelne dagegen ein dienendes Organ, Werkzeug des Ruhms und der Herrlichkeit der Nation. In Berufung auf PLATO und ARISTOTELES wie auf die "geschriebene Vernunft", das  Corpus juris  JUSTINIANs mit seinem absolutistischen Staatsrecht, wird gefordert, daß der Untertan sich unbedingt den Geboten des von der allweisen Regierung authentisch interpretierten Staatsinteresses beugt. In allem und jedem: in Fragen des Glaubens wie der Sittlichkeit, der Bildung wie der Wirtschaft.

Insofern als sie durchaus anti-individualistisch ist, deckt sich die Grundanschauung dieser Zeit mit jener, welcher das Denken des Mittelalters gehuldigt hatte. Aber im Negativen gleich, weicht doch im Positiven das neue System gewaltig ab vom alten; es lehrt die Völker und ihre Führer, nach Ziele zu ringen, auf welche die christliche Ethik mit Verachtung geblickt hatte.

Es ist ein System der Weltbejahung statt der Weltverneinung. Nicht mehr gilt die Erziehung des Christenmenschen zu Tugend und Gottähnlichkeit als die oberste Aufgabe des Staates; seine Pflicht wird durchaus profan gefaßt. Die eigene  Macht  "über alles" zu erheben - wie es im Titel der bekannten Schrift von HORNIGKs heißt - und den  Reichtum  an sich zu locken, ihn den Rivalen abwendig zu machen, erscheint als die oberste Norm der Politik. Die Hypbris, die HERAKLIT am Individuum gescholten hat, ist jetzt auf die Kollektivindividuen, die Staaten, übergegangen.

Salus publica suprema lex; quod principi placuit, legis habet vigorem; omnia sunt principis  [Das Gemeinwohl ist das Gesetz des Staates; Was dem Fürsten gefällt, hat die Kraft des Gesetzes; Jede Seele unterliegt dem Fürsten - wp] (d. h. dem Staat) - in diesen Sätzen faßt sich kurz das System zusammen, welches bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Nimbus der Orthodoxie umgeben ist.

Allerdings fehlt es nicht an Ketzern, an einer individualistischen Opposition. Zunächst erschallt der Ruf nach politischer und ökonomischer Freiheit von seiten deren, welche, während sie im Mittelalter die Gewalt mit dem Fürstentum geteilt hatten, durch den Sieg des Absolutismus zu Boden geworfen waren.

So vertritt die jesuitische Publizistik (MARIANA, SUAREZ usw.) das Recht der Revolution, selbst des Fürstenmordes für den Fall, daß der weltliche Herrscher sich anmaßt, in die Sphäre des Gewissens einzugreifen, über die allein die geistliche Gewalt, höher als die irdische, ein Recht hat. Während das Papsttum auf unmittelbarer göttlicher Einsetzung beruth, leitet das Fürstentum seine Krone aus der Übertragung seitens des Volkes ab, dessen Willen sie auch zurücknehmen kann. Ähnlich argumentieren die schottischen Monarchomachen" des 16. und die englischen des 17. Jahrhunderts. Weit zahmer im Ton, aber doch im gleichen Sinn sprechen Führer der protestantischen Bewegung; so fordert LUTHER, daß man "die geschriebenen Rechte unter der Vernunft halten soll, aus der sie geflossen sind, als dem rechten Brunnen", betont, "daß das Evangelium, wie es der Obrigkeit das Amt bestätigt"und "öffentliche violatio [Gewalt - wp] (seitens der Obrigkeit) alle Pflichten zwischen dem Untertan und Oberherrn  jure naturae  aufhebt."

Wie hier das  kirchliche  Interesse an einer Niederhaltung der weltlichen Gewalt dem sozialen Individualismus Bahn bricht, so wappnet sich auch das ständische Interesse mit dem Schlagwort des zum Nutzen der Individuen abgeschlossenen Gesellschaftsvertrags, um Eingriffen des Oberhaupts in die Genußsphäre der Glieder abzuwehren. Steuern sind "gegen die Natur einer Staatsgesellschaft" - erklärt BRAUNSCHWEIG-WOLFENBÜTTEL auf dem Reichstag von 1653 - "da man sich nur in der Hoffnung, das Seine zu behalten, in bürgerliche Verbindungen eingelassen habe."

Individualistisch ist aber hier wie dort nur die Schale.

Im Kern ist die Doktrin der theologischen Gegner des Absolutismus das Gegenteil einer individualistischen. Das Individuum wird von der staatlichen Kette nur befreit, um es desto ausschließlicher in die Fessel der geistlichen Gewalt zu legen. Nicht für Autonomie des Individuums streiten sie, wenn sie der Monarchie den Handschuh hinwerfen, sondern für eine Autonomie der Kirche. Gleiches gilt von den Anwälten der ständischen "Libertät" - nur so weit wie die wirklichen oder angeblichen  jura quaesita,  die man verteidigen will, sich erstrecken, reicht ihr Pseudo-Individualismus.

Der wahre Individualismus findet seine für Jahrzehnte bedeutsamsten Vertreter in GROTIUS und LOCKE, HOBBES und SPINOZA.

Gemeinsam ist ihnen das Dogma, daß die sozialen Organisationsformen um der Individuen willen bestehen; daß der Staat wie alle anderen Kollektiva auf dem Konsens der Individuen beruhen, ihre Legitimation durch ein "pactum sociale" empfangen.

Aber GROTIUS und LOCKE bekleiden das Individuum mit "ewigen Rechten, die droben hangen unveräußerlich und unzerstörbar, wie die Sterne selbst", mit Naturrechten, deren es sich nicht rechtsgültig entäußern kann, und legen ihm andererseits Naturpflichten auf, denen es sich nicht entziehen darf. Diese Naturrechte und Naturpflichten - die "droits et devoirs reciproques", von denen bei den Physiokraten dann soviel die Rede ist - schweben als  objektive, physei  gegebene, über Individuum und Gesellschaft. Die Verwirklichung dieser "natürlichen" Ordnung ist die dem historischen Staat gesetzte Aufgabe, sein ideales Ziel.

Der historische Staat ist verdorben, weil der Mensch entartet ist. Von Natur war der Mensch gut, vom Gattungsgefühl, vom Gemeinschaftstrieb durchdrungen; und dieser Trieb war es, welcher die isoliert lebenden Individuen zum Abschluß des "pactum sociale" der Urzeit führte. Allmählich aber wucherte der dem Menschen gleichfalls von Natur eigene Individualtrieb, der Trieb der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung, mehr und mehr empor, erstickte das Einzelbewußtsein das Solidaritätsbewußtsein.

Mit Kummer sehen GROTIUS und LOCKE auf die böse Zeit, in der sie leben - die Zeit, da Staaten gegen Staaten, Fürsten gegen Völker, einzelne gegen einzelne stehen in unnatürlicher Eigensucht. Hier gilt es, Wandel zu schaffen - allen müssen ihre natürliche Rechte gewährleistet werden, dafür sich aber auch alle zu ihren natürlichen Pflichten bekennen.

SPINOZA und HOBBES dagegen wissen nichts von einem organischen Band zwischen den "creatures of the same rank and species" [Geschöpfe vom gleichen Rang und Individualität - wp] (LOCKE), kennen kein ungeschriebenes, ewiges Gesetz, sondern nur gesetzte, wandelbare Normen, kein objektives Sollen, sondern nur ein  subjektives  Wollen. Und dieses Wollen der Individuen erscheint ihnen als durchaus beherrscht durch den gegen das Wohl und Wehe der Mitmenschen völlig gleichgültigen Egoismus: homo homini lupus [der Mensch ist des Menschen Wolf - wp] (HOBBES).

Während GROTIUS und LOCKE der  species homo  das Recht, die niederen, schwächeren Lebewesen im Kampf ums Dasein zu unterdrücken, zugestehen, aber auf dem Gebiet der Menschenwelt nicht die Macht, sondern die Gerechtigkeit zum Prinzip erheben, wenden HOBBES und SPINOZA das Prinzip des "Rechts des Stärkeren" auch auf die Menschenwelt an.

Der Staat und seine Ordnung müssen so sein,wie es dem Interesse der herrschenden, durch ihre Zahl oder ihre geschickte Taktik herrschenden Gruppe entspricht. Die sozialen Organisationsformen haben keine Ideale zu erfüllen; sie sind nicht zu beurteilen danach, ob und in welchem Maß in ihnen die Postulate der Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung Erfülung gefunden haben. Jede teleologische Betrachtung liegt HOBBES und SPINOZA fern: sie schildern einfach den sozialen Kausalismus unter der Voraussetzung, daß die zur Herrschaft tauglicheren Individuen zur Herrschaft gelangen, und daß dies geschieht, nennen sie  gerecht.  Die Individuen - so skizziert AHRENS (Naturrecht, Bd. 1, Seite 100) die Auffassung SPINOZAs - "haben nur soviel Recht, als sie  Macht  haben, da zu sein und zu handeln."

Nicht aus dem Gemeinschaftstrieb entsteht der Staat, sondern er ist - so lehrt HOBBES nach dem Voranschreiten GASSENDIs, dessen Theorie wieder auf die Antike zurückweist - das Produkt des Interesses der Schwächeren an der Errichtung einer sozialen Gewalt, welche sie vor der Knechtung durch die Stärkeren, bzw. vor der Gefahr des "bellum omnium contra omnes" [Krieg aller gegen alle - wp], schirmen soll.

Daß HOBBES diese Gewalt in die Hand  eines,  des absoluten Fürsten legt, SPINOZA dagegen sie den Vielen, dem absoluten Volk, zuweist, deutet keineswegs auf einen Gegensatz in der Grundanschauung beider. Darin kommt vielmehr nur die Tatsache zum Ausdruck, daß sich mit der Machtdoktrin - wie auch mit der Rechtsdoktrin - die verschiedensten Programme rechtfertigen lassen. Auf politischem wie auf ökonomischem Gebiet: wenn z. B. HOBBES das Sondereigentum und die Sklaverei aus dem Interesse der herrschenden Klasse legitimiert, so ist natürlich auch jede andere Ordnung der Beziehungen zwischen Individuum und Sachenwelt wie zwischen Individuum und Individuum legitim, falls nur die Individuen sich finden, in deren Macht es steht, sie zu erzwingen und zu sichern.

In der Folgezeit tritt diese  Macht doktrin mehr und mehr in den Hintergrund. Der Sieg des Individualprinzips über das Sozialprinzip, des liberalen Systems über das "Ancién Régime", wird im Zeichen der  Rechts doktrin der GROTIUS und LOCKE erfochten. Letztere gelangt zu so unbedingter Hegemonie, daß, wenn heute von einem "Naturrecht" die Rede ist, dabei immer an diese, durch die Idee des  einen  Menschentums charakterisierte Spielart des Individualismus gedacht wird, vergessen wird, daß auch die andere Spielart, die Lehre der HOBBES und SPINOZA, ihre Schlüsse aus einem, nur anders aufgefaßten Naturrecht zieht und nicht minder die Vertreter des absolutistisch-merkantilistischen Systems ihr Dogma, daß der Staat den Individuen vorgeht, "jure naturae" begründen.


C. Neue Zeit
Der Liberalismus als die erste
Erscheinungsform der Rechtsdoktrin.

Der Kernsatz des sozialethischen Denkens des Renaissancezeitalters hatte gelautet: alle Individuen, ob hoch oder gering, haben die  gleiche Pflicht,  sich der "ratio status" zu beugen. Gegen 1700 begann ein neues, das  liberale  System, sich Bahn zu brechen, in dessen Mittelpunkt die Norm stand, daß die "ratio status" allein die sein darf, jedem Individuum das  gleiche Recht,  sich gemäß seiner Eigenart in der staatsbürgerlichen Gesellschaft zur Geltung zu bringen, zu gewährleisten. Und wie hinsichtlich der Grundanschauung, so war auch hinsichtlich des praktischen Programms das liberale System dem überkommenen diametral entgegengesetzt.

Bisher hatte die  staatliche  Ordnung auf dem Prinzip des Allrechts und Alleinrechts des Fürsten beruth, des Rechts der Obrigkeit auf eine souveräne Entscheidung aller Fragen des nationalen Lebens.

Der Liberalismus verlangte statt der Omnipotenz des Monarchen die  Teilung der Gewalt  zwischen Fürsten und Volk, die Anerkennung des grundsätzklich gleichen Rechts jedes Bürgers, mit seiner Vernunft und seinem Willen auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten einzuwirken.

Durch die zweite englische Revolution wurde dieses oberste Postulat des  politischen  Programms der Rechtsdoktrin zum Gesetz des neuen Gemeinwesens. Der erste, für lange Zeit aber auch einzige Triumph der liberal-konstitutionellen Idee über den Absolutismus; dem 19. Jahrhundert blieb es vorbehalten, sie in allen Kulturländern, mit Ausnahme Russlands, zum Sieg zu führen.

Der Liberalismus forderte zweitens, daß die  ökonomische  Ordnung von Grund auf umgestaltet und mit dem Prinzip der allseitigen Einmischung der Bürokratie gebrochen wird. Dem Postulat der Teilung der Gewalt stellte er das der  Einengung der Gewalt  der Regierung in wirtschaftlichen Dingen an die Seite.

In England wie in Holland und in Frankreich - vereinzelt auch in Deutschland - hatte sich während des 17. Jahrhunderts die Opposition gegen den Merkantilismus geregt. Gegen dessen Ende schwoll sie überall höher und höher an; vor allem im Staat LUDWIG XIV., als COLBERTs genialer Geist und stupende Energie nicht mehr die "Staatsmaschine" antrieb und leitete.

In England hatte LOCKE das neue politische Programm mit aller Schärfe verfochten, die alte ökonomische Ordnung dagegen nur an einzelnen Punkten, nicht grundsätzlich, angegriffen. Umgekehrt machten die Franzosen VAUBAN und BOISGUILLEBERT auf das Schärfste Front gegen die traditionelle Vielregiererei. Konsequenter als die holländischen Gesinnungsgenossen (GRASWINCKEL, die Brüder DELACOURT), doktrinärer als die englischen (NORTH, TETTY, BARBON) fassen sie ihr Programm so radikal wie möglich: "qu'on laisse faire la nature", d. h. man lasse in wirtschaftlichen Dingen das Individuum sich völlig frei bewegen: Aufgabe des Staates ist nur, für die Freiheit des Verkehrs und die Gerechtigkeit in der Besteuerung Sorge zu tragen (les chemins libres et les impôts justement répartis).

Sie sind keineswegs Individualisten wie LOCKE: die Größe und der Glanz Frankreichs, nicht das Glück der Individuen ist ihr Leitmotiv. Auch gilt ihnen die bestehende politische Ordnung als unantastbar. Aber, wenn auch durchdrungen vom Sozialprinzip und begeisterte Apostel des Absolutismus, kommen sie in der rücksichtslosen Gegnerschaft gegen das merkantilische Wesen mit dem Liberalismus überein.

Jahrzehnte vergingen, ehe das von ihnen vertretene ökonomische Programm neue, erfolgreichere Vertreter fand: in der seit 1750 Einfluß gewinnenden Schul der  Physiokraten. 

War MONTESQUIEUs Kritik des Ancién Régime wesentlich im Politischen stecken geblieben, so erschien den Jüngern dieser Schule die ökonomische Reform als das dringlichste Bedürfnis, nahm ihr Denken nahezu voll gefangen. Erst in der "neuen Wissenschaft" dieser Economisten, wie sie sich ursprünglich nannten, verbindet sich der ethische Kernsatz, daß das soziale Ganze um der Befriedigung des "désir de jouir" [Verlangen zu genießen - wp] um der Individuen willen besteht, mit dem Postulat des "laissez faire, laissez passer" - erst von ihnen wird aus der individualistischen Grundanschauung die für den Liberalismus charakteristische Folgerung möglichst weitgehender Einengung der Gewalt des Staates auf ökonomische Gebiete gezogen.

Während in Frankreich die gegen Mitte des 18. Jahrhunderts gewaltig wachsende oppositionelle Bewegung ihr Interesse teilt zwischen dem Problem der Neugestaltung der Verfassung, das MONTESQUIEU und dem der Neugestaltung der Volkswirtschaft, das die QUESNAY, MIRABEAU, TURGOT aufgeworfen haben, so konnte sich der Liberalismus Englands in der Hauptsache auf die Arbeit an letzterem konzentrieren. Die  politische  Emanzipation des Volkes, zumindest seiner leitenden Schichten, von der Krone war vollzogen; hier handelte es sich nur noch um die  wirtschaftliche  Emanzipation des Individuums vom Staat, von seiner aus der Staatsraison diktierten, die Naturrechte der Individuen nicht achtenden Bevormundung und Willkür.

Immer größer wird die Zahl derer, welche dem Merkantilismus das gleiche Los bereiten wollen wie dem Absolutismus. Neben den Stimmen der BERKELEY und TUCKER, HUME und MORTIMER werden zwar von Zeit zu Zeit einzelne, dem Beharren beim Alten etwas günstigere laut, z. B. die HUTCHESONs. In JAMES STEUART (1766) findet die merkantilistische Praxis noch einmal einen überzeugten, redseligen Herold. Daß aber der Sieg dem neuen ökonomischen Programm zuteil werden wird, ist schon entschieden, als ihm ADAM SMITH in seiner "Wealth of Nations" (1776) die klassische Formulierung und Begründung gibt.

Es ist hier nicht der Ort, auszuführen, worin sich die Lehre QUESNAYs und die Lehre ADAM SMITHs unterscheiden, noch darzulegen, weshalb diese und nicht jene zur "Bibel" des wirtschaftlichen Liberalismus geworden ist. Nur was ihnen gemeinsam ist, muß kurz betont werden.

Beiden ist das Individuum Selbstzweck, der Staat Mittel. So falsch es wäre, sie eines vagen Kosmopolitismus zu bezichtigen - QUESNAY ist ein ebenso guter Franzose wie SMITH ein guter Brite - so kann doch daran kein Zweifel sein, daß nicht die Machterweiterung der Nation, sondern die Erhöhung der Genußmöglichkeit für die einzelnen ihnen das oberste Gebot des sozialen Seinsollens bedeutet.

Beide sind Individualisten und zwar Anhänger der Rechtsdoktrin. In einem bewußten Gegensatz zu HOBBES, in einem deutlichen, oft fast wörtlichen Anschluß an LOCKE entwirft QUESNAY sein "droit naturel". ADAM SMITH stützt zwar sein Plädoyer für das neue ökonomische Programm fast ausschließlich auf Zweckmäßigkeitsgründe; soweit sich aber bei ihm ethische Deduktionen finden, sind sie aus dem Geist des "treatise of civil government" empfangen.

Beide sind energische Gegner des "Rechts des Stärkeren". Beide finden ihr soziales Ideal in einem Zustand, in dem die Individuen in  Freiheit  nebeneinander leben, im arbeitsteiligen Tauschverkehr einander  gerecht  vergoltene Dienste leisten. Beide gehen davon aus, daß von Natur aus zwei Seelen wohnen in des Menschen Brust: der Individualtrieb, das Selbstinteresse, und der Gemeinschaftstrieb, das Interesse an den Mitmenschen. Und - befangen im gleichen Optimismus wie die Kommunisten von heute - geben die Jünger QUESNAYs oft der Hoffnung Raum, daß im "ordre naturel", im liberalen "Zukunftsstaat", das Solidaritätsbewußtsein, das Gefühl der  Brüderlichkeit  einen mächtigen Impuls empfangen wird. -

Der Sinn dieses neuen Systems der "natural liberty" ist oft mißverstanden worden. Das  politische  Programm des Liberalismus hat man unter dem Gesichspunkt angegriffen, als ob damit nur bezweckt gewesen sei, die Macht der herrscheden sozialen Schicht anstelle der Macht des Fürsten zu setzen.

Es gab und gibt ja noch huete eine extrem-liberale Gruppe, welche das Prinzip des Allrechts und Alleinrechts des Volkes, mit anderen Worten das Prinzip der Parlamentssouveränität, vertritt. Dieser Richtung gehört aber im 18. Jahrhundert nur eine Minderheit an. Die überwiegende Zahl der Reformer erkannte nicht nur, sondern übertrieb sogar die Gefahr einer Verfassung, nach der der Mehrheitswille regieren würde. Wird nicht, fragten sie, in diesem fall nur eine Verschiebung der  Form  des Absolutismus Platz greifen, die Despotie des  einen  nur vertauscht werden gegen die Despotie sei es der unteren Masse, sei es der die Masse wirtschaftlich und damit auch politisch beherrschenden oberen Zehntausend?

"Wer beschützet die Menge gegen die Menge", heißt es unter dem frischen Eindruck der französischen Revolution, in GOETHEs  Venezianischen Epigrammen.  Wird hier die Befürchtung laut, daß die Mehrheitsherrschaft zur Ochlokratie führt, so n den berühmten Versen SCHILLERs (Demetrius I, 1) die Befürchtung, daß sie die Ochlokratie heraufbeschört:
    "Hat denn der Arme eine Freiheit der Wahl?
    Er muß dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
    Für Brot und Stiefeln seine Stimm' verkaufen!"
Die Physiokraten lehnen die englische Verfassung, bei der der Monarc nur ein Ornament des Staatsgebäudes ist, deshalb ab, weil es den eigennützigen, "ungerechten Strebungen der Sonderinteressen" (QUESNAY) der höheren Klasse Tür und Tor öffnet. ADAM SMITH denkt gleichfalls und aus dem gleichen Grund ziemlich skeptisch über das parlamentarische Regime, kennzeichnet es, wenn auch nicht mit deutlichen Worten, als die Herrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen.

So hebt er beiläufig hervor, daß in parlamentarisch regierten Kolonien - "wo der Herr Mitglied der Kolonialvertretung oder Wähler ist" - der Sklavenschutz wirkungslos bleiben muß. Zur Zeit der Republik würde in Rom die Regierung "nicht Macht genug gehabt haben, solche Gesetze zu erlassen noch den Herrn (im Fall der Übertretung) zu strafen" - erst unter den Cäsaren sei sie zugunsten dieser niedersten Schicht eingeschritten. "Der Souverän kann weder Interesse noch Neigung haben, die juristische Ordnung zu pervertieren oder die große Masse der Menschen zu unterdrücken" - im Interesse der Masse darf deshalb die Rechtssphäre des Fürsten keine zu starke Schmälerung erfahren.

Das Postulat der Gleichberechtigung aller Individuen, die liberale Grundnorm, kann nicht verwirklicht werden, solange die Möglichkeit offen bleibt, daß "die Menge der Menge Tyrann" (GOETHE) wird oder die Minderheit der Reichen den Fuß auf den Nacken der Armen setzt.

"Nichts darf über der Gerechtigkeit stehen, denn gibt es etwas Höherstehendes als das gleiche Recht jedes Menschen?" rief MIRABEAU im August 1789. Mit dem Satz, das  Gesetz  - das Gerecht - sei "auf den Thron zu stellen und wahre Freiheit zur Grundlage der politischen Verbindung zu machen", bestimmte SCHILLER das Ideal staatlicher Ordnung, das dem Liberalismus vorschwebte.

Aber wie? Eine absolute Garantie gegen die Möglichkeit, daß die 101 die 100 sich unterwerfen, indem sie das "Gesetz" zu ihren Gunsten modeln, gibt es nicht. Aber eine gewisse Garantie bietet eben die  Teilung der Gewalt  zwischen Fürst und Volksvertretung. Ein Monarch, der kraft erblichen Rechts das Szepter führt, steht über der "Zinne der Partei" - gilt sein Wille soviel wie der der Mehrheit, so kann er als Patron des Interesses aller walten, kann die Nation schirmen vor der Gefahr, daß die Mehrheit ihre macht in ihrem Sonderinteresse ausnutzt. Die Teilung der Gewalt bedeutet die Konstituierung eines "Parallelogramms der Kräfte", aus deren Gegenbewegung sich die Mittellinie ergeben soll, die zu einer harmonischen, allen berechtigten Interessen gerecht werdenden Entscheidung der staatlichen Fragen führt.

Eine gewisse Garantie liegt in der Teilung der Gewalt, aber keine absolute. Denn trotz des verfassungsmäßigen Gleichgewichts mag zeitweise die eine Kraft die andere überwiegen und diese Konjunktur mißbrauchen.

Daher - so schließt der Liberalismus weiter - muß die Gewalt des Staates über die einzelnen grundsätzlich aufs äußerste eingeengt werden. Der Staatswille, gebildet durch Fürst und Volksvertretung, darf so gut wie nichts wollen, beschließen, befehlen dürfen. Vor allem nicht in wirtschaftlichen Dingen: denn soweit Fragen, die den Geldbeutel berühren anstehen, ist die Versuchung für die Träger der staatlichen Hoheit, sie eigennützig zu beantworten, größer als irgend sonst.

Mit logischer Notwendigkeit verband sich mit dem Prinzip der Teilung der Gewalt das Prinzip der  Einengung der Gewalt  des Staates. Das "laissez-faire et laissez passer" war keine bloße Zweckmäßigkeitsmaxime - es sollte eine Bürgschaft mehr für die Realisierung des Ideals der Gleichberechtigung erbringen. (2)

Noch weit häufiger als das politische ist das  wirtschaftliche  Programm des Liberalismus irrig aufgefaßt, ist verunglimpft worden als eine Kreatur der Interessenpolitik des dritten Standes, welcher dem Merkantilismus nur deshalb Fehde angesagt hat, um die bürokratische Regelung der Volkswirtschaft durch die plutokratische Vergewaltigung zu verdrängen. Mit der Proklamation der "Heiligkeit" des Eigentums habe die Bourgeoisie nur den eigenen Besitz sakrosankt machen wollen; die Flagge des freien Wettbewerbs sei nur aufgezogen, um den größeren Unternehmern und Kapitalisten die Schranken, die sie bis dahin am Niederkonkurrieren der kleineren hinderten, aus dem Weg zu räumen, den Arbeitgebern die Möglichkeit schrankenloser Ausbeutung der Arbeitnehmer zu eröffnen.

Das Gegenteil trifft zu. Das Postulat der "Heiligkeit" des  Sondereigentums  richtete seine Spitze gegen die steuerliche Willkür des Staates, des Adels, des Patriziats, unter der die  untere  ländliche und städtische Bevölkerung am schwersten gelitten hatte; es war erhoben im Interesse der "pauvres gents tailleables et corvéables à merci", im Interesse der "großen Zahl" nicht einer Minderheit. Und es wurde begründet mit dem Motiv, "daß der individuell geschaffene Mensch am Sondereigentum ein individuelles und somit unabhängiges Werkzeug für die Verwirklichung seiner Zwecke habe. So wird seine gesellschaftliche Anerkennung zu einer Garantie der freien Sittlichkeit, zu einer Konstitution der individuellen Freiheit gegenüber dem Absolutismus einer selbst liberal verfaßten Staatsgewalt" (EISENHART).

Das Postulat der wirtschaftlichen Freiheit -  Konkurrenz  - floß nicht aus der egoistischen Absicht der Besitzenden und Gebildeten, den Kampf ums Dasein zum Nutzen ihres Geldbeutels zu entfesseln. Die neue Ordnung erschien vielmehr den Liberalen des 18. Jahrhunderts als das einfachste und sicherste Mittel, jedem Individuum zu seinem natürlichen Recht, unter Wahrung des gleichen Rechts aller Mitmenschen zu verhelfen.

Im "Ancien Régime" hatte der Adlige einen Vorsprung vor dem Bauern, der Patrizier vor dem gemeinen Bürger, der Sohn des Meisters vor dem des Zunftfremden - es geboten und genossen die, welche "nichts getan hatten als geboren zu werden" (BEAUMARCHAIS). Und wie durch Gunst oder Ungunst der Geburt, so wurde weiter auch der Rang des Individuums in der sozialwirtschaftlichen Hierarchie wesentlich mitbestimmt durch die Intervention des Staates, der Gutsherrschaften und Dorfobrigkeiten, Magistrate und Gilden in das Erwerbsleben - wurden die einen vorwärts geschoben, die anderen zurückgehalten.

Die wirtschaftliche Freiheit, die der Liberalismus meinte, sollte in erster Linie dem Bauern zugute kommen, welchem bisher im Interesse des adligen Obereigentümers das Recht freier Verwertung seines Bodes und seiner Hände beschnitten war; dem Handwerksgesellen, dem die glücklichen Besitzer der Meisterstellen die Bahn zu wirtschaftlicher Selbständigkeit erschwerten oder auch gänzlich verschlossen; dem Arbeiter, dessen Lohn zugunsten des Arbeitgebers durch Lohntaxen und durch Beschränkungen der Freizügigkeit niedergehalten wurde; der breiten Masse der Konsumenten, denen durch die Monopole der Gutsherrschaften, der Zünfte und der - damals noch spärlich gesäten, aber vielfach mit überaus lukrativen Privilegien ausgestatteten - Fabrikanten und Handelskompanien das Leben verteuert wurde.

Nicht im Interesse der Bourgeoisie, sondern in dem der unteren Millionen ist das Postulat des "laisser-faire" gestellt gewesen - des Hintersassen des Barons, der zum Freiherrn auf der Scholle werden soll; des gewerblichen und agrikolen Proletariats, damit es seine einzige Habe, seine Kraft und sein Geschick, so gut zu verwerten vermöge, wie die Konjunktur es gestattet; des armen Mannes, dem man jede Ware zu möglichst niedrigen Preis verschaffen will.

Wenn alle Vorrechte, deren sich bisher eine Minderheit erfreut hat, gekappt sind, wenn für Hoch und Gering das gleiche unparteiische Recht der Konkurrenz gilt - dann, so hoffe der Liberalismus, werden die großen Vermögen und die großen Unternehmungen bis auf winzige Reste einschrumpfen, werden die "petits possesseurs" und die kleinen und mittleren Betriebe weitaus das Übergewicht erlangen, d. h. eine soziale Nivellierung eintreten.

Wenn weder der Staat noch sonstige Zwangsgemeinschaften sich mehr einmischen in das Erwerbsleben, diesem zum Heile, jenem zum Schaden - wenn jedermann gleiche, freie Bahn geöffnet ist, so wird wirtschaftliche  Gerechtigkeit  walten. "Chacun ainsi" - prophezeit ein Physiokrat - "dans la somme totale de bonheur commun, prendra la somme particuliére, qui doit lui appartenir." Denn dann werden ja alle der eigenen Arbeit, dem eigenen Können ihr wirtschaftliches Schicksal danken.

Die Ungleichheit des Besitzes wird fortbestehen. Das sie aber nur die Differenz der wirtschaftlichen Tugenden und Leistungen widerspiegeln, nur der Reflex der naturgegebenen Ungleichheit der Individuen sein wird, so steht sie mit der Gerechtigkeitsidee in Einklang.

Selbstverantwortlichkeit  der Individuen auf wirtschaftlichem Gebiet - das war das große ethische Ziel, dem die Konkurrenz zu dienen bestimmt war. Das Programm der "non-interference" [Nicht-Einmischung - wp] entsprang dem Prinzip, daß "suae quisque faber fortunae" [Jeder ist seines Glückes Schmied. - wp] werden, daß jedermann seinen Kenntnissen und Fähigkeiten, seinem Fleiß, seiner Sparsamkeit geziemenden Rang erhalten soll. Suum cuique [Jedem das Seine. - wp] - nur das darf das Individuum als das Seine aussprechen, was es aus sich, durch sich selbst erzeugt. Nur dies ist "properly his" [rechtmäßig seines - wp], wie LOCKE gesagt hatte, nur "the labour of his body, the work of his hands".

Die Liberalen des 18. Jahrhunderts wollten keine dem Sonderinteresse der Bourgeoisie Vorschub leistende, sondern eine dem "intérêt des tous" [allgemeinem Interesse - wp] entsprechende Ordnung. Sie mühten sich nachzuweisen, daß die Konkurrenz jedes Individuum auf diejenige Staffel der sozialen Leiter emporträgt oder herabzwingt, welche dem höheren oder niederen  Verdienst  des Individuums um die Befriedigung der Bedürfnisse anderer Individuen entspreche - daß bei freiem Wettbewerb jedes Individuum zu dem Maß von Lebensinhalt gelange, das seiner Individualität adäquat sei, und so die Ansprüche aller Mitglieder der staatsbürgerlichen Gesellschaft gerecht ausgeglichen würden.

Aber nicht nur vom ethischen Standpunkt, sondern auch vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit erschien den Aposteln des liberalen Evangeliums die wirtschaftliche Ordnung, deren Grundpfeiler "liberty and property! sein sollten, als die denkbar vollkommenste: denn unter ihr werde jedes Individuum zum Maximum der wirtschaftlichen Energie, deren es fähig sei, zwingend gespornt; unter ihr müsse daher den Völkern das Maximum des Reichtums werden.

Da nun, wie gesagt, die Verteilung des Volksreichtumgs auf die einzelnen, dank der Konkurrenz, gemäß der Norm "jedem nach seiner Leistung" sich vollziehe, so sei wie den Interessen der Individuen an möglichster Steigerung des materiellen Genießens, so dem Postulat der Gleichberechtigung gleicherweise genug getan, sei die "inviolable union entre l'intérêt bien entendu et la justice" [unantastbare Einheit zwischen den wohlverstandenen Interessen und der Gerechtigkeit - wp] erzielt.

Nachdem diese neue Ordnung ins Leben getreten ist, wird die paradiesische Welt des sozialen Friedens, wird das goldene Zeitalter, dessen die ersten Geschlechter der Menschen sich gefreut, wiederkehren und sich so der Zirkel der geschichtlichen Entwicklung vollenden. -

Dieses liberale System erobert sich, nachdem es zuerst in Frankreich und England festen Fuß gefaßt hatte, ein immer weiteres Reich. Die Doktrin der LOCKE und MONTESQUIEU, der QUESNAY und ADAM SMITH, ist schon um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert Gemeingut der führenden Geister der Kulturwelt geworden. Mit der französischen Revolution beginnt sie sich in die Tat umzusetzen; wie - mit Ausnahme Russlands - überall die absolutistische Verfassung der konstitutionellen weicht, so die merkantilistische Verwaltung der der "non-interference". -

Der Kommunismus als die zweite Erscheinungsform der Rechtsdoktrin. 

Das liberale System triumphierte; aber kaum hatte es seinen Siegeslauf angetreten, so entstand ihm ein Gegner im eigenen Lager des Individualismus. Kaum war durch die physiokratisch-smithsche Schule die Bresche in den Wall des "Ancien Régime" gelegt, so drängten die Vertreter kommunistischer Systeme nach, versuchten das eroberte Land für sich zu okkupieren.

Wir haben zunächst das Verhältnis zwischen Liberalismus und Kommunismu im allgemeinen zu kennzeichnen. Während die physiokratisch-smithsche Schule ihre Wirtschaftsordnung auf die Grundpfeiler des Sondereigentums und der Konkurrenz aufbaut, so geht durch alle die ökonomischen Ideale, welche die kommunistische Bewegung hervorgetrieben hat, ein Zug zu Gemeineigentum an den Arbeitsmitteln und Gemeinleitung der Arbeit (organisation du travail): nur ist der Kreis jenes und dieser bald enger, bald weiter abgesteckt.

Was das Programm betrifft, so liegt zwischen den liberalen und den kommunistischen Systemen eine mehr oder weniger tiefe Kluft. Durch die Identität des ethischen Kernsatzes, des Indidividualprinzips, sind sie dagegen aufs Engste verbunden: der Kommunismus kennzeichnet sich, mit SCHÄFFLEs prägnanter Formel, kurz als "potenzierter Individualismus". Heute, wo Bourgeoisie und Proletariat - jene eingeschworen auf die Losung "liberty and property", dieses auf kollektivistische Manifeste des oder jenes Wortlauts - in schroffster Feindschaft einander befehden, wird über der Verschiedenheit der praktischen Ziele die Gleichheit des Dogmas oft übersehen.

Zwar sind die ersten namhaften Apostel einer der liberalen entgegengesetzten kollektivistischen Ordnung - ROUSSEAU und MABLY, ROBESPIERRE und St. JUST - Anti-Individualisten. Sie erstreben die Gütergemeinschaft nicht deshalb, damit jeder etwas hat, sondern damit keiner etwas hat, weil das Sondereigentum kraft seiner Folge, der Eigensucht, den Erbfeind der Tugend bildet, den Krebsschaden des Sozialkörpers. Ihr Ideal ist nicht das "bonheur commun" [allgemeine Gute - wp], sondern das "régne de la vertu", das Analogon des platonischen Staates und des Gottesreiches der Theologen.

Aber gleichzeitig findet, in Frankreich wie in England, die Forderung der Gütergemeinschaft ihre Begründung auch vom individualistischen Standpunkt. In der sozial-revolutionären Literatur, die gegen Ende des Jahrhunderts die Massen jenseits und diesseits des Kanals erregt, kommt die Begierde des Individuums nach  Gleichheit  des Genießens, statt bloßer  Gleichberechtigung,  zu einem leidenschaftlichen Ausdruck.

Wenn das Verhältnis zwischen Liberalismus und Kommunismus dahin bestimmt wird, daß letzterer das Postulat der "égalite de droit" [Gleichberechtigung - wp], beim ersteren Halt mache, zum Postulat der "égalite de fait" [de-facto Gleichstellung - wp] erweitert habe, so trifft dies - wie eben angedeutet - zumindest teilweise zu für die kommunistische Bewegung während des letzten Dezenniums des  siécle  VOLTAIRE. Aber in deren weiterem Verlauf wird dieser radikale, plötzliche Sprung ignoriert: schrittweise vollzieht sich die Entwicklung des Kommunismus aus dem Liberalismus und die immer schärfere Differenzierung dieses und jenes.

Diese Entwicklung und Differenzierung betrifft erstens die  Gerechtigkeitsidee:  wird auch das Individualprinzip festgehalten, so wird doch der Begriff des indivualistisch Gerechten später anders gefaßt als früher. Sie betrifft zweitens das wegen des "bonheur commun" als Zweck entworfene  Programm  einer neuen ökonomischen Ordnung.

A.  Entwicklung des Kommunismus mit Rücksicht auf die den Systemen zugrunde liegenden Gerechtigkeitsideen.

1.  Den zeitlich älteren kommunistischen Systemen liegt die  liberale  Gerechtigkeitsidee zugrunde, die LOCKEsche Norm:  Jedem nach seiner Arbeit.  Von ihnen gilt das Wort eines französischen Schriftstellers, daß sie in "filiation continuelle" [ständiger Vererbung - wp] aus dem liberalen System herauswachsen.

Mit logischer Notwendigkeit nahm das erste kommunistische System, welches in weiteren Kreisen Anhänger warb, das in der liberalen Wirtschaftsordnung zugelassene Erbrecht zum Stichpunkt seines Angriffs. Schon der radikal Liberale BENTHAM hatte auf dessen Beschränkung gedrungen; die Schule des Grafen St. SIMON forderte die gänzliche Aufhebung. Weit entfernt, dem Individuum den Privatbesitz und die wirtschaftliche Freiheit schmälern zu wollen oder gar die Gleichheit des Genießens zu erstreben, bezielt dieser  Erbschaftskommunisums  nur, daß jedermann sich allein, nicht dem Fleiß der Ahnen, dem Zufall der Geburt, sein wirtschaftliches Los verdankt. Der Staat soll nur erben nicht das Individuum, um die Erbschaft dem besten Wirt zuzuführen; nur in  einem  Moment soll das individuelle Eigentum zu Gemeineigentum werden, sonst alles beim Alten bleiben. "A chacun selon sa capacité, a chaque capacité selon ses oeuvres" [Jedem nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung - wp] - der Wortlaut der Formel ist St. Simonistischen Ursprungs, aber sachlich deckt sie sich völlig mit der liberalen Gerechtigkeitsidee. Seites der St. Simonisten wird nur eine Folgerung gezogen, welche der Liberalismus des 18. Jahrhunderts keineswegs übersehen, deren ethische Berechtigung er zugegeben, die er jedoch aus Zweckmäßigkeitsgründen abgelehnt hatte.

Es war nicht minder logisch notwendig, daß, ungefähr gleichzeitig mit dem Erbrecht, das private Grundeigentum in die Acht erklärt wurde. War das Erbrecht die eine, so war das Recht auf Grundrente, auf solches "unearned increment" [unverdienter Einkommenszuwachs - wp], die zweite Inkonsequenz des liberalen Systems. Der  Bodenkommunismus,  d. h. das kommunistische System, nach welchem das Grundeigentum verstaatlicht werden soll, dagegen Sondereigentum an Kapital und Konkurrenz weiter bestehen, will nichts als Ernst machen mit dem Prinzip der QUESNAY und SMITH, daß niemand ohne Arbeit genießen darf, daß Arbeit und Genuß im Verhältnis stehen müssen.

Wie die Erbrechts-, so ist auch die Grundeigentumsfrage schon den Begründern des Liberalismus eine "wohl aufzuwerfende Frage" gewesen.

Nachdem LOCKE seine Rechtfertigung des Sondereigentums auf den Satz gestellt hat, daß, wenn auch die Erde den Menschen zu gemeinsamem Eigentum gegeben sei, das Individuum doch das Produkt seiner individuellen Arbeit als "his property" betrachten und zu seinem von den übrigen zu respektierenden Dominium erklären dürfe, stößt er auf das Problem, mit dieser "great foundation of property" das Vorkommen großer Vermögen in Einklang zu bringen. Wird denn nicht durch solche "enlarged possessions" [ausgedehnter Besitz - wp], die nicht aus der Arbeit der Inhaber stammen und nicht durch ihre, sondern, größtenteil zumindest, durch die Arbeit Dritter nutzbar gemacht werden, dem Satz, daß nur eigene Arbeit den Rechtsgrund des Eigentums an beweglichen wie unbeweglichen Dingen bilden kann, ins Gesicht schlagen?

Um die Entstehung großer Vermögen zu erklären und solche zu rechtfertigen, erfindet LOCKE zunächst die Erfindung des Geldes und einen Sozialvertrag, durch welchen die Mitglieder der staatsbürgerlichen Gesellschaft übereingekommen sind "to put value on it" [darauf Wert zu legen - wp]; außerdem aber noch, speziell zur Legitimation der großen  Grundvermögen, zwei weitere Sozialverträge, einen staats- und einen völkerrechtlichen, und schließlich weist er auf das Freiland in Übersee hin, auf dem das natürliche Recht jedes Individuums, durch Arbeit Anteil an der den Menschen zu gemeinsamem Eigentum gegebenen Erde zu erlangen, sich geltend machen könne.

Auch ADAM SMITH entgeht die Tatsache nicht, daß das Sondereigentum am Boden mit seiner Konsequenz, der Rente, ein arbeitsloses, unverdientes Genießen ermöglicht, ein Recht, dem keine es legitimierende Leistung entspricht. Man kann den Satz, daß die Rente aus der Aneignung eines Teils des Arbeitsproduktes anderer erwächst, kaum deutlicher machen als durch die von ihm angezogenen Fälle (I. Kap. XI). "Die Grundherren wollen ernten, wo sie nicht gesät" - aber die Frage, ob und wie dieser Verletzung der Gerechtigkeitsidee abgeholfen werden kann, stellt er sich nicht. Er sagt einfach, daß "der ursprüngliche Zustand, in dem der Arbeiter das volle Produkt seiner Arbeit bezog," - d. h. der dem LOCKEschen Prinzip vom Arbeitseigentum entsprechende Zustand - "nicht über das erste Auftauchen des Grundeigentums ... andauern konnte" (I. Kap. VIII).

Die  Physiokraten  dagegen stellen sich jene Frage. Ohne zu dem von ihnen mit Recht verspotteten Hilfsmittel der Sozialverträge, der "conventions ou établissements arbitraires" [willkürliche Übereinkommen und Verträge - wp], zu greifen, bemühen sie sich, das Sondereigentum am Boden zu rechtfertigen, indem sie einerseits, wie zugunsten des Erbrechts, Zweckmäßigkeitsgründe dafür beibringen, andererseits die Ungerechtigkeit des Bezugs von wirtschaftlich unverdienter, durch eigene Arbeit nicht legitimierter Bodenrente dadurch aus der Welt zu schaffen suchen, daß sie den großen Grundherrn die Pflicht auferlegen, den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft gewisse wichtige Dienste ohne Entgelt zu leisten. ("Les riches propriétaires sont etablis ... pour exercer sans retribution les fonctions publiques.") Das arbeitslose Einkommen der Landmagnaten soll nicht in einer unwürdigen "oisivete" [Müßiggang - wp] vergeudet, sondern auf diesem Weg verdient werden. So wird an dem zunächst von der Kritik (MABLY, GRASLIN) bloßgelegten Punkt die "justice" des "ordre naturel" [natürliche Ordnung - wp] gerettet.

Wenn das Großeigentum auf diese Weise mit dem Prinzip vom Arbeitseigentum in Einklang gebracht ist und ferner auch die "fortunes immenses", die großen Geldvermögen - durch eine Aufhebung der Monopole und Privilegien der Fabrikanten und der Handelskompanien, durch die Beseitigung des Systems der Steuerverpachtung, durch möglichst selte und geringe Inanspruchnahme des Staatskredits - verschwunden sein werden, so wird, meinen sie, niemand mehr sich auf Kosten eines anderen bereichern können.

Man mag die Art, wie LOCKE, ADAM SMITH, die Physiokraten sich mit dem Bedenken der Ungerechtigkeit des Grundeigentums abfinden rügen. Es ist aber historisch durchaus zu begreifen, daß sie, obgleich sie erkennen, daß hier "etwas faul ist", es mit der Kur wenig Ernst nehmen. Denn das einzige, prinzipiell und technisch richtige Mittel (eben die Bodenverstaatlichung, wie der Bodenkommunismus sie fordert) mußte den Männern, welchen der Staat als die fleischgewordene Willkür vor Augen stand, als völlig indiskutabel dünken - als ein Mittel, das ein kleineres Übel heilt, um ein größeres zu erzeugen.

Nachdem er einen Grundpfeiler der liberalen Wirtschaftsordnung unterminiert hat, bohrt der "potenzierte Individualismus" den zweiten an: die Konkurrenz. Im Mittelpunkt der Systeme OWENs und PROUDHONs steht der Satz, daß die Konkurrenz eine Verteilung der Güter nach der Norm "Jedem nach seiner Arbeit" nicht bewirkt; es sei keineswegs gewährleistet, daß Verkäufer und Käufer von Waren oder Diensten gleichen Wert hingeben und empfangen, daß der wirtschaftliche Nutzen des Tauschakts ein für beide gleich großer, ein durchaus wechselseitiger ist. Daher erfordert der  Mutualismus  (so nennen PROUDHON und seine Schule ihr System, der Name paßt aber auch auf das System OWENs) eine Organisation des Tauschverkehrs, welche jedem Produzenten den gerechten Preis, den wahren, nach Maßgabe der aufgewandten Arbeit zu bestimmenden Wert (constitution de la valeur) sichert.

Hier wird jenes, dort dieses Programm vertreten - aber als gemeinsames Band schlingt sich um diese Gruppe der kommunistischen Systeme die Gerechtigkeitsidee des Liberalismus. Wirtschaftliche Ungleichheit gilt als gerecht, sofern sie nur die Wirkung der naturgegebenen Ungleichheit der Individuen in intellektueller, moralischer, korporeller Hinsicht ist; wer mehr zu produzieren vermag, soll auch mehr konsumieren dürfen, das Maß des Genusses der Größe des Arbeitsertrags proportional sein.

In seiner ersten Periode zählt auch der  Marxismus  zu dieser Gruppe. Denn noch im Eisenacher Programm von 1869 fordert er die Garantie des "vollen Arbeitsertrags für jeden Arbeiter", will die Norm "jedem nach seiner individuellen Leistung" der Güterverteilung zugrunde legen.

2.  Die zweite Gruppe der kommunistischen System setzt an die Stelle der liberalen Gerechtigkeitsidee die Norm:  Jedem nach seinen Bedürfnissen

Kann den - fragen die Vertreter dieser Gruppe (CABET usw.) - die naturgegebene Ungleichheit, welche die Differenzierung des Produkts der Individuen zur Folge hat, einen Rechtsgrund dafür abgeben, die Individuen ungleich am Gesamtprodukt zu beteiligen? Die Antwort lautet verneinend. Den einen hat die Natur die Gaben der Klugheit, des Fleisses, der Kraft und der Geschicklichkeit in die Wiege gelegt, den anderen nicht; weshalb aber sollen die Sonntagskinder ein größeres Recht auf Genuß haben als die übrigen, weshalb die Gunst der Natur, die sie nicht verdient, jenen einen Vorrang auswirken vor diesen, die ihre Ungunst nicht verschuldet haben?

Jedes Individuum hat die Pflicht, das Höchstmaß an Arbeit einzusetzen und die höchstwertige Arbeit zu verrichten, welche seine Individualität ihm gestattet. Wenn das Individuum quantitativ Geringeres oder qualitativ Schlechteres leistet, als es leisten könnte, so gebührt ihm Strafe. Nict aber ist ihm ein Recht auf Prämie zuzugestehen, wenn es leistet, was es leisten kann - "es gibt für das Individuum nur eine Belohnung: die Freiheit zur Betätigung seiner besonderen Anlagen (MORRIS), und diese genügt vollauf.

Wenn, bei gleicher Arbeitsart, der eine in gleicher Stundenzahl mehr fertig bringt als der andere, wenn jener zum Ingenieur, dieser nur zum Grobschmied, jener zum Kunsttischler, dieser nur zum Holzhacker taugt - falls sie alle ihr Bestes tun, so haben sie Gleiches getan. Nur die naturgegebene Ungleichheit der Bedürfnisse, nicht die der Fähigkeiten darf die Richtschnur der Güterverteilung bilden. "De chaucun selon ses facultés, à chacun selon ses besoins". Als Produzent soll jedes Individuum seine Individualität voll entfalten, indem es gemäß ihrer Vermehrung des materiellen Glücks aller beiträgt; als Konsument, indem sich ihrer gemäß die Quote bestimtm, welche ihm von der "somme totale de bonheur commun" zukommt.

Daß die zweite Gruppe die Gerechtigkeitsidee in dieser Weise faßt, hat seinen Grund darin, daß sie die Idee des  einen  Menschentums strikter interpretiert als die erstere. Das Solidaritätsgefühl, das Bewußtsein der Blutsverwandtschaft der "creatures of the same rank and species" ist in ihr weit lebendiger. Dadurch wird sie zu der Forderung geleitet, daß die von Natur aus vor anderen begnadeten, die zufällig mit den über die Gattung verstreuten Gaben reicher ausgerüsteten Einzelwesen diese Differenz, diese Überlegenheit ihrer wirtschaftlichen Kapazität, nicht zu eigenem Nutzen, sondern zum Nutzen Aller zu gebrauchen haben: sie geben damit nur der Menschheit wieder, was der Menschheit ist.

Während im liberalen System und in jener ersteren Gruppe kommunistischer Systeme die Doktrin der gegenseitig anzuerkennenden Naturrechte und Naturpflichten (droits et devoirs réciproques) mehr nach der Seite der  Rechte  hin entwickelt ist, so in dieser zweiten Gruppe nach der Seite der  Pflichten  hin.

Mit dem Gothaer Programm von 1875 hat der  Marxismus  sich zu dieser zweiten Gruppe gesellt: "bei gleicher Arbeitspflicht nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen".

Die Brücke zwischen beiden Gruppen bilden die Vertreter der Norm der Gleichwertigkeit der Arbeitsarten  (équivalence des fonctions: LOUIS BLANC).

Mit den Erbschaftskommunisten und den Bodenkommunisten halten sie am Prinzip "jedem nach seiner Arbeit" fest. Aber wie die, welche die Güterverteilung nach dem Maßstab des Bedürfnisses vollzogen wissen wollen, erklären sie es für Zufall, daß der eine mehr-, der andere minderwertige Arbeit zu leisten vermag. Die Höhe des Anspruches des Individuums am Gesamtprodukt sei ausschließlich zu bemessen nach der Länge der Arbeitsdauer, d. h. nach dem Quantum Lebenszeit, das es der Gesamtheit zur Verfügung stellt; Arbeit jeder Art begründet, wenn gleiche Zeit kostend, gleichen Anspruch.

B.  Entwicklung des Kommunismus mit Rücksicht auf das Programm einer neuen ökonomischen Ordnung.

Wie der "potenzierte Individualismus" ursprünglich die liberale Gerechtigkeitsidee als gegeben hinnimmt und immer konsequenter zu verwirklichen strebt, schließlich aber sie durch eine neue ersetzt, so entfernt sich die kommunistische Bewegung auch in Bezug auf den Organisationsplan nur allmählich vom liberalen System, gelangt erst durch manche Zwischenstufen zur Aufstellung eines dem liberalen völlig entgegengesetzten Programm.

Zunächst zielte sie auf nichts weiter, als daß der Inhalt des Sondereigentums durch die Verstaatlichung des Erbrechts bzw. dessen Umfang durch die Verstaatlichung des Bodens verengt wird. Der andere Grundpfeiler der liberalen Ordnung, die Konkurrenz, sollte bestehen bleiben. Bis in die Mitte des Jahrhunderts hinein wurde der liberalen Maxime der Nicht-Intervention des Staates ziemlich strenge Reverenz erwiesen - von OWEN wie von PROUDHON, von LOUIS BLANC, dessen Produktivassoziationen (allerdings mit einiger Unterstützung und Direktive von Staatswegen) durch ihre Konkurrenz die privatkapitalistischen Betriebe überwinden sollten, wie von dessen Nachtreter LASSALLE.

Im Geiste all dieser Reformatoren haftet noch das liberale Credo, daß, vom Zweckmäßigkeitsstandpunkt aus betrachtet, eine zentralistische, auf Gemeineigentum an allen Arbeitsmitteln und Gemeinleitung aller Arbeit beruhende Ordnung, starke Bedenken gegen sich habe - daß dem Ziel  möglichster Steigerung  des Volksreichtums durch das freie Spiel der Einzelkräfte sicherer und einfacher gedient werde. Wo sie an Sondereigentum und Konkurrenz abbrechen wollen, motivieren sie diese Korrekturen - wenn auch nicht ausschließlich, aber in erster Linie - aus der Rücksicht auf das Ziel  möglichst gerechter Verteilung  des Volksreichtums.

Wie die Liberalen, so mißtrauen auch sie dem Staat als Generaldirektor der Volkswirtschaft. Von den Erbschaftskommunisten wird ihm nur die Funktion übertragen, den sachverständigen, unparteiischen Vermittler zwischen dem früheren Besitzer und dem Nachfolger zu spielen. Die Bodenkommunisten erheben zwar den Staat zum Eigentümer des Landes, verwehren ihm aber die Einmischung in die Landwirtschaft: die Individuen verstehen sich besser auf den Betrieb.

Bei OWEN und PROUDHON, LOUIS BLANC und LASSALLE - auch bei FOURIER, der meint, mitten in die ökonomische Welt, die ist, die ideale seiner "phalanstéres" hineinbauen zu können - ist die  Genossenschaft  der "spiritus regens) des Erwerbslebens.

Alle diese Kommunisten scheuen von einer Wiederannäherung an das bürokratische "Ancien Régime" zurück, huldigen wie PROUDHON es so scharf von sich betont - der Maxime, daß die Staatslosigkeit, die "Anarchie", auf ökonomischem Gebiet so weit gehen muß, wie die Rücksicht auf die Gerechtigkeitsidee nur irgend zuläßt.

Erst der  Marxismus  überwindet jene Staatsscheu - nur in seinem Jargon klingt sie noch nach, inderm er sorgfältig vermeidet vom "Staat" zu sprechen und dafür "Gesellschaft" sagt.

Im schroffsten Gegensatz zu jenen älteren bzw. gleichzeitigen Systemen (PROUDHON), die er mit dem Stigma des "Kleinbürgerlichen", des noch vom liberalen Denken Abhängigen trifft, vertritt er eine  zentralistische  Wirtschaftsverfassung, will alles Eigentum in die Hand der Gesellschaft legen, ihre die souveräne Leitung von Produktion, Zirkulation, Distribution überantworten. Umd dem Vorwurf der "Staatssklaverei" zu entgehen, um dem rivalisierenden System BAKUNINs, dem Anarchismus, welcher seinen Jüngern vollste Gerechigkeit bei vollster Freiheit von allem behördlichen Zwang verheißt, die Spitze zu bieten, suchen natürlich die Marxisten den Nach weis zu führen, daß trotz "Organisationi der Arbeit" in ihrem Zukunftsstaat das Prinzip der Autonomie des Individuums nicht minder gewährleistet sei wir in der "amorphen" Gesellschaft PROUDHONscher oder BAKUNINscher Observanz.

Der Grund dieses Wechsels im Organisationsplan, dieses Emporkommens eines Systems, welches eine Ordnung anstrebt, die das diametrale Gegenteil der liberalen bildet, ist hier nur kurz anzudeuten. Er liegt erstens darin, daß allmählich, vor allem durch die rasch sich folgenden, schweren Krisen der dreißiger und vierziger Jahre, der Glaube an die Zweckmäßigkeit des "laissez-faire" erschüttert ist; durch die Erfahrung scheint die These erwiesen, daß, im Zeichen der "Desorganisation", weder das Ziel möglichst gerechter Verteilung noch das Ziel möglichster Steigerung des Volksreichtums erreicht werden kann. der Grund liegt zweitens darin, daß sich immer mehr der Zug zum Großbetrieb Bahn gebrochen hat. Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, mit anderen Worten je konzentrierter und bürokratischer im Gegenwartsstaat das Erwerbsleben sich gestaltet, je mehr, infolge des Zugs zum Großbetrieb, Aktiengesellschaften und später dann Kartelle an die Stelle der Individualbetriebe treten, desto plausibler wird ein Zukunftsstaat, wie der Marxismus ihn sich konstruiert hat.

Dieser "wissenschaftliche Sozialismus" der MARXschen Schule möchte eine scharfe Grenze ziehen zwischen sich und den "Utopisten", d. h. den Vorgängern, die gewissen ethischen NOrmen, gewissen Gerechtigkeitsideen zuliebe, eine neue Ordnung mittels Deduktion ersonnen hätten. Stolz auf seine "materialistische Geschichtsphilosophie" leugnet wer, daß er einem Ideal nachtrachtet, spottet er über die aus dem Gehirn gezogenen Bilder einer schlechthin vollkommenen Wirtschaftsverfassung. Der Zukunftsstaat, den er malt, sei mittels Induktion aus den Tatsachen geschöpft, sei gewonnen gewonnen aufgrund der Erkenntnis, daß mit Notwendigkeit die Evolution der privatkapitalistischen zur sozietären Produktionsweise sich vollziehen wird. Was bei St. SIMON, FOURIER, OWEN usw. als ein subjektiv gesetztes und gewolltes Programm erscheint, gibt sich bei den Marxisten als ein objektiv bestimmtes, durch die Macht der Tatsachen erzwungenes Resultat. Die Marxisten entwerfen - so behaupten sie zumindest - kein Programm, sondern stellen eine Prognose. Sie sagen nicht: die künftige Ordnung  soll  so gestaltet weren,  damit  sich das Individualprinzip verwirklicht, sondern: sie  wird  so werden,  weil  die heutige Ordnung gewisse in dieser Richtung wirkende Kräfte ausgelöst hat.

Die Methode, mittels deren diese Schule zur Erkenntnis des Zukunftsstaates gelang, weicht allerdings ab von jener der "Utopisten". Daß aber dem Marxismus jede ethische Voraussetzung fehlt - daß hier rein kausal betrachtet und gefolgert wird, trifft nicht zu. Im "Kapital" ist allerdings, bis auf ganz wenige Sätze, keine Bezihung auf ethische Normen bemerkbar; wer aber z. B. einen Blick wirft in den Abschnitt "Sozialisierung der Gesellschaft" von BEBELs "Die Frau und der Sozialismus", erkennt, daß auch der Marxismus, gleich seinen Vorgängern, der individualistischen Grundanschauung huldigt - daß auch er im Bann des Dogmas steht, das, dem Wesen nach identisch ist mit dem, zu welchem GROTIUS und LOCKE, QUESNAY und ADAM SMITH und die "kleinbürgerlichen" Kommunisten sich bekennen.

Ist der  Liberalismus der ältere,  so der  Kommunismus der jüngere Bruder  aus dem Schoß der individualistischen Rechtsdoktrin. Die herrschende Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, Physiokratismus und Smithianismus, die kommunistischen Systeme in ihren zahllosen Varianten sind alle empfangen aus dem gleichen Axiom, dem Individualprinzip: alle verbunden durch das gleiche Ideal: die Herstellung eines Zustandes, in dem das Postulat der Gleichberechtigung und Gleichverpflichtung aller Individuen in Wahrheit erfüllt und "das größte Glück der größten Zahl" gesichert wird.
LITERATUR - Heinrich Dietzel, Individualismus, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 4, Jena 1900
    Anmerkungen
    1) Daß die "Ecclesiazusen" deshalb keine Parodie der platonischen Republik sein können, weil letztere Jahrzehnte später geschrieben wurden, bemerkt DROYSEN (Aristophanes, Werke, Seite 347). Zum gleichen Ergebnis führt aber auch die Betrachtung des Inhalts. Was ARISTOPHANES hier verspottet, ist eine Ausgeburt individualistischer Phantasie, individualistischer Genußgier. Die "Republik" PLATOs ist eine Ausgeburt anti-individualistischer Phantasie, eines überspannten sittlichen Rigorismus. Vgl. HEINRICH DIETZEL, Beiträge zur Geschichte des Sozialismus und Kommunismus II, (Zeitschrift für Litteratur und Geschichte der Staatswissenschaften, Bd. 1, Leipzig 1893).
    2) Die letzten Sätze sind wörtlich meiner Schrift "Das neunzehnte Jahrhundert und das Programm des Liberalismus" (1900) entnommen.