ra-2C. MengerA. WeberH. DietzelE. WachlerG. CohnA. Wagner    
 
KARL DIEHL
Die Bedeutung der wissenschaftlichen
Nationalökonomie für die
praktische Wirtschaftspolitik


"Schon Rodbertus und Adolf Wagner hatten auf die Wichtigkeit der Rechtsordnung für die Erkenntnis der sozialen Zusammenhänge hingewiesen und Rudolf Stammler hat die entscheidende methodologische Bedeutung, die der rechtlichen Grundlage allen sozialen Zusammenlebens zukommt, scharf hervorgehoben. Diese Rechtsordnung ist aber nichts Natürliches, sie folgt nicht aus irgendwelchen Eigenschaften der Menschennatur, sondern ist erst durch Menschen geschaffen, nach bestimmten Zweckmäßigkeitserwägungen ausgebildet, also etwas Willkürliches. Es kann sich nicht um ewige Naturgesetze handeln, sondern um die stets neuen, wandelbaren Rechtsgebilde, innerhalb deren die volkswirtschaftlichen Phänomene in Erscheinung treten."

"Die sogenannten natürlichen Entwicklungsgesetze mögen, wie für das ganze Tier- und Pflanzenreich, so auch für den Menschen als Naturwesen in Geltung stehen - wir haben dies nicht zu untersuchen - aber mit dem Menschen als Naturwesen hat es die Sozialwissenschaft überhaupt nicht zu tun, sondern nur mit Menschen, die in einer bestimmten sozialen Organisation leben. Hierdurch wird der Mensch aus einem Naturwesen ein soziales Wesen, das eigenen Bedingungen unterliegt, die von den Naturbedingungen, unter denen er als Naturwesen lebt, gänzlich verschieden sind."

IMMANUEL KANT veröffentlichte im Jahr 1793 in den Berliner Monatsheften eine Abhandlung, betitelt: "Über den Gemeinspruch: "Das in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" (1). Er bekämpft dort die Meinung derer, welche Theorie und Praxis in einen Gegensatz zueinander bringen wollen und bemerkt (2):
    "Nun würde man den empirischen Maschinisten, der über die allgemeine Mechanik, oder den Artilleristen, welcher über die mathematische Lehre vom Bombenwurf so absprechen wollte, daß die Theorie davon zwar fein ausgedacht, in der Praxis aber gar nicht gültig ist, weil bei der Ausführung die Erfahrung ganz andere Resultate gibt, als die Theorie, nur belachen."
KANT schließt mit dem Satz (3): "Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis."

Schon über 100 Jahre sind seit dem Erscheinen dieser kantischen Abhandlung verflossen und dennoch hört man immer wieder den Satz: "Das mag theoretisch richtig sein, praktisch ist es falsch." Den Vertretern aller Wissenschaften wird gelegentlich dieser Vorwurf zuteil, besonders häufig aber den wissenschaftlichen Nationalökonomen. Es liegt hier eine irrige Auffassung von Theorie und Praxis vor. Denn entweder ist eine Theorie richtig, so kann sie auch nicht praktisch richtig sein, oder sie ist falsch, dann ist sie theoretisch und praktisch falsch.

Dieses Mißverständnis wurde zum Teil auch dadurch hervorgerufen, daß nach alter Tradition der an den Universitäten vorgetragene volkswirtschaftliche Lehrstoff in theoretische und praktische Nationalökonomie eingeteilt wurde. So entstand wohl gelegentlich die Meinung, daß in der  theoretischen  Nationalökonomie ein Bild einer "idealen" oder "wünschenswerten gesellschaftlichen Ordnung" entworfen würde, während in der  praktischen  Nationalökonomie die wirkliche oder praktisch mögliche Gestaltung des Wirtschaftslebens zur Darstellung kommt.

Tatsächlich bedeutet jedoch die Scheidung von theoretischer und praktischer Nationalökonomie etwas gänzlich davon Verschiedenes. Während in der  theoretischen,  oder, wie man besser sagt, in der  allgemeinen  Nationalökonomie die allgemein wirtschaftlichen Erscheinungen untersucht werden, die im Wirtschaftsleben überhaupt vorkommen, z. B. die Erscheinungen des Kapitals, des Kredits, des Geldes, Zinses, Lohnes etc., werden in der  praktischen  oder besser speziellen Nationalökonomie die  besonderen  Erscheinungen in den einzelnen hauptsächlichen wirtschaftlichen Berufszweigen, also namentlich in Landwirtschaft, Gewerbe, Handel und Verkehr erörtert.

Beruth also jener Vorwurf auf einem Mißverständnis des Wesens von Theorie und Praxis, so hat ein anderes Bedenken, das gegen die wissenschaftliche Betätigung in der Volkswirtschaftslehre erhoben wird, größere Berechtigung, nämlich die Meinung, daß der Theoretiker nicht in der Lage ist, die praktischen Einzelheiten des ganzen von ihm vertretenen Wissensgebietes genügend zu beherrschen. Diese Kritik war den ersten akademischen Vertretern unseres Faches gegenüber in gewissem Maß berechtigt. Es gilt dies für die Zeit, als unser Fach noch als sogenannte  Kameralwissenschaft  vorgetragen wurde. Die Lehrstühle der Kameralwissenschaft, aus denen die heutigen nationalökonomischen Professuren hervorgegangen sind, waren gegründet, um den fürstlichen Kammerbeamten, d. h. den zur Verwaltung der fürstlichen Schatz- und Rentenkammern angestellten Beamten, die nötigen Kenntnisse zu vermitteln. Es waren daher wesentlich die praktisch-technischen Fächer, wie Bergbau, Forstwirtschaft, Fischerei und ähnliches, die unter dem Namen "Kameralwissenschaft" zusammengefaßt waren. Also die privatwirtschaftlich möglichst günstige Verwaltung des fürstlichen Vermögens zu lehren war, das Hauptziel dieser Disziplin. So weit ging man gelegentlich in der Betonung des praktischen Moments für die kameralistischen Lehrstühle, daß z. B. der Geschichtsprofessor BECKMANN in Frankfurt/Oder (1641-1717) dieses Katheder den  Quästoren  anvertraut wissen wollte, die ohnedies für die Besorgung der Wirtschaft an den Universitäten verwandt werden (4).

Wenn z. B. ZINCKE (5) in seiner 1751/52 herausgegebenen Kameralistischen Bibliothek die Kameralwissenschaft als eine Wissenschaft bezeichnet, die allen Leuten notwendig und nützlich ist, welche dem Staat in ökonomischen, Polizei-, Kammer- und Finanzbedienungen dienen und die Fähigkeit zu erlangen wünschen, jedes Handwerk, jede Fabrik, jeden Ackerbau zu regieren, oder wenn der Göttingische Nationalökonom BECKER, der von 1769-1811 als Ordinariums dieses Fach vertrat (6), über Mineralogie, Landwirtschaft, Technologie, Handlungswissenschaft, Polizei- und Kameralwissenschaft Vorlesungen hielt, so war offenbar, daß niemand die nötigen praktischen Kenntnisse in sich vereinigen konnte, um allen diesen Disziplinen gerecht zu werden. Dies führte oft genug zu einer geringschätzigen Beurteilung der nationalökonomischen Wissenschaft überhaupt.

Es war das Verdienst von RAU, endgültig mit der älteren Kameralwissenschaft gebrochen zu haben. Seine 1825 veröffentlichte Schrift: "Über die Kameralwissenschaft" trennte grundsätzlich die privatwirtschaftliche und technische von der öffentlichen und politischen Ökonomie (7).

Jetzt ist die Trennung endgültig vollzogen; die technischen Fächer, die ihr Fundament in der Naturwissenschaft haben, sind der Gegenstand besonderer Wissenschaftszweige, z. B. der Landwirtschafts- und Forstwirtschaftslehre, der Technologie etc., und werden an besonderen Lehranstalten, den landwirtschaftlichen und technischen Hochschulen, gelehrt. Die von der Technik gänzlich losgelöste Wirtschaftslehre oder Nationalökonomie gehört dagegen zu den Rechts- und Staatswissenschaften, oder allgemeiner zur Sozialwissenschaft.

Die Nationalökonomie betrachtet es nicht mehr als ihre Aufgabe, wie zur Zeit der Kameralwissenschaft, zu lehren, wie Bergwerke, Forsten und Landgüter privatwirtschaftlich am rentabelsten zu bewirtschaften sind, sondern sie sieht das gesamte wirtschaftliche Leben unter dem Gesichtspunkt eines staatlich und rechtlich organisierten Systems der Güterversorgung an, dessen Grundzüge und Zusammenhänge sie aufzudecken hat, dessen technisch-ökonomische Details sie jedoch nicht interessieren.

Aber führt gerade diese Betrachtung der wirtschaftlichen Erscheinungen vom staatswirtschaftlichen Standpunkt aus nicht direkt zur Politik? Indem die wissenschaftliche Nationalökonomie sich nicht nur damit beschäftigt, die heute herrschenden Zustände zu  erklären,  sondern auch die Frage aufwirft, wie die bestehenden Zustände zu  ändern,  zu  reformieren  sind, gelangt sie so nicht zur Beschäftigung mit politischen Fragen?

Welche Beziehung besteht zwischen der wissenschaftlichen Nationalökonomie und der Politik?

Tatsächlich sind die Lehren der wissenschaftlichen Nationalökonomie auf die praktische Wirtschaftspolitik vielfach von Einfluß gewesen. Ich erinnere daran, daß bei der Durchführung der großen wirtschaftspolitischen Reformgesetze in England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders bei der Reform der Bankgesetzgebung und bei der Änderung der Handelspolitik die Theorien der klassischen Nationalökonomie vielfach herangezogen wurden.

Bei den Enqueten, die man in Deutschland vor Erlaß wichtiger Gesetze, wie z. B. des Börsengesetzes, veranstaltete, waren auch wissenschaftliche Nationalökonomen hinzugezogen worden, und ebenso sind wieder bei der jüngsten Bankenquete, wie bei der noch nicht abgeschlossensn Kartell-Enquete mehrere Vertreter unseres Faches als Sachverständige geladen. Es handelt sich um die Vorbereitung politischer, speziell wirtschaftspolitischer Aktionen. Welche Dienste kann hier die wissenschaftliche Nationalökonomie der Politik leisten?

Um diese Frage richtig zu beantworten, muß zunächst der grundsätzliche Wesensunterschied beachtet werden, der zwischen Wissenschaft und Politik besteht. Sodann dürfen gewisse spezielle Eigentümlichkeiten nicht außer acht gelassen werden, die prinzipiell unsere Wissenschaft von anderen Wissensgebieten unterscheiden.

Zweifellos hat die wissenschaftliche Nationalökonomie auch Fragen der Politik zu behandeln. Wir begnügen uns nicht damit, die bestehenden wirtschaftlichen Zustände kausal zu erklären, sondern wollen auch final Richt- und Zielpunkte für die künftige Gesetzgebung auf wirtschaftspolitischem Gebiet aufstellen. Dies gilt für die theoretische wie für die praktische Nationalökonomie. In der theoretischen Nationalökonomie wollen wir z. B. nicht nur die tatsächliche Entwicklung der Lohnhöhe darlegen, sondern auch zu der Frage Stellung nehmen, inwieweit der Staat in der Lage ist, durch seine Politik, z. B. durch eine Förderung des Gewerkvereinswesens, auf die Lohngestaltung einzuwirken. Bei der Behandlung des Krisenproblems suchen wir nicht nur die  Ursachen  der Krisen zu erforschen, sondern werfen auch die Frage auf: Inwieweit hat der Staat die Macht, durch gesetzgeberische Maßnahmen die Krisen zu  verhindern  oder sie  abzuschwächen?  In der praktischen Nationalökonomie schildenr wir aus Groß-, Mittel- und Kleinbesitz, sondern wir nehmen auch zur Rentengesetzgebung, diese bestehende Grundbesitzversteilung zugunsten einer stärkeren Vermehrung des kleinen Besitzes zu ändern.

Wenn aber auch die wissenschaftliche Nationalökonomie zu Fragen  de lege ferenda  [nach künftigem Recht - wp] Stellung nehmen muß, so ist doch ihre Aufgabe eine ganz andere, wie die des praktischen Politikers.

Die Politik ist die Kunst des momentan Erreichbaren. Wenn also z. B. der verantwortliche Staatsmann eine bestimmte Politik verfolgt, so muß er das zu vertreten suchen, was in Anbetracht der Machtverhältnisse der politisch maßgebenden Faktoren, d. h. in parlamentarisch regierten Ländern bei einer bestimmten Zusammensetzung des Parlaments, zu erreichen ist. Der Politiker muß mit allen realen Widerständen kämpfen, die sich der Verwirklichung selbst des kleinsten und scheinbar einfachsten Gesetzesvorschlags entgegenstellen.

Ein leitender Staatsmann kann in wissenschaftlicher Hinsicht auf dem Boden des Freihandels stehen und doch als Politiker für mäßigen Schutzzoll eintreten, wenn er z. B. dadurch verhüten kann, daß hochschutzzöllnerische Pläne verwirklicht werden, und wenn nach der politischen Konjunktur auf eine vollständige Durchführung des Freihandelsprogramms nicht zu rechnen ist. Ein Finanzminister kann mit denjenigen wissenschaftlichen Nationalökonomen übereinstimmen, welche indirekte Steuern für verwerflich halten und doch für die Einführung oder Erhöhung solcher Steuern eintreten, wenn z. B. eine Finanzkalamität besteht, und auf anderem Weg, etwa dem der direkten Besteuerung, bei den herrschenden parlamentarischen Machtverhältnissen eine Lösung dieser Schwierigkeiten nicht zu erhoffen ist.

Derartige Kompromisse mit den Strömungen des Tages kennt der Vertreter der Wissenschaft nicht. Er braucht sich nicht wie ein verantwortlicher Staatsmann nach den parlamentarischen Machtverhältnissen einer bestimmten Legislaturperiode zu richten und ist nicht auf ein bestimmtes Parteiprogramm eingeschworen.

Er wird bei seiner Stellungnahme zu konkreten politischen Fragen nur zu beurteilen haben, welche volkswirtschaftlichen Wirkungen nach seiner Kenntnis der geschichtlichen Tatsachen und nach seiner Beurteilung der wirtschaftlichen Zusammenhänge die betreffende Maßnahme haben würde.

Es ist aber nicht nur der Unterschied der Realpolitik einerseits und der Wirtschaftspolitik vom wissenschaftlichen Standpunkt andererseits ins Auge zu fassen, sondern es kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht, der zu beachten ist, wenn wir die Bedeutung unserer Wissenschaft für die Politik richtig erfassen wollen.

Es könnte nach dem bisher Gesagten so scheinen, als ob die praktische Politik bestrebt sein müßte, durch alle realpolitischen Schwierigkeiten hindurch sich allmählich den bestimmten  idealen Zielpunkten  anzunähern, die ihr von seiten der  wissenschaftlichen Nationalökonomie  angegeben werden, und zwar in der Bedeutung von festen, unverrückbaren Maßstäben, die für eine rationale Politik aufzustellen wären.

Auch dies ist unserer Wissenschaft nicht möglich, und zwar liegt dies daran, daß im Gegensatz zu anderen Wissensgebieten, namentlich den Naturwissenschaften, unserer Wissenschaft der Grad der Exaktheit und Objektivität fehlt, der zu einem solchen Vorgehen berechtigen könnte.

Lassen Sie mich zunächst erläutern, worin die Aufgabe der Nationalökonomie der Politik gegenüber  nicht  bestehen kann.

So jung auch unsere Wissenschaft noch ist - eine nationalökonomische Wissenschaft besitzen wir erst seit etwa 150 Jahren - so können wir aus der Geschichte derselben doch lernen, manche Irrwege zu vermeiden.

Der erste nationalökonomische Lehrstuhl hier in Freiburg wurde im Jahre 1775 errichtet; er war mit dem Lehrstuhl der Naturgeschichte verbunden. Der damalige Stadtphysikus JOSEF BENEDIKT WÜLLBERZ, Doktor der Philosophie und Medizin, bekleidete ihn; er war Naturforscher, interessierte sich für die Bildung eines Naturalienkabinetts und sammelte zu diesem Zweck die Insekten unserer Gegend (8). Sein Kollege JUNG, dem seit 1787 die Professur für Ökonomie, Kameral- und Finanzwissenschaft in Marburg anvertraut war, hatte seinen größten Ruhm durch die von ihm ausgeführten Staroperationen erlangt (9).

Dem Kenner des Entwicklungsganges unserer Wissenschaft wird diese Verbindung von Naturwissenschaft und Nationalökonomie nicht wunderbar vorkommen. Denn die erste wissenschaftliche Schule der Volkswirtschaft war die physiokratische, die zu der Zeit gerade in der Blüte stand, als der hiesige Lehrstuhl errichtet wurde.

FRANCOIS QUESNAY, der Begründer dieses Systems, war Arzt, und von naturwissenschaftlichen Studien aus zu seinen nationalökonomischen Forschungen gekommen.

Nach der Grundauffassung der Physiokraten sollte die nationalökonomische Wissenschaft von der Produktion des Reichtums handeln und von den Mitteln, wie die jährliche Produktion möglichst zu steigern ist, wovon wiederum die Existenz und das Glück der Gesellschaft abhängt. QUESNAY erklärt in einem im Jahr 1765 erschienenen Aufsatz (im Journal de l'agriculture, du commerce et des finances), betitelt: "Le droit naturel", wie aus dem Selbsterhaltungstrieb der Menschen heraus gewisse  natürliche Rechte  aller in einem sozialen Verband vereinigten Individuen abzuleiten sind (10).

Von diesem Standpunkt aus wurden das Eigentum, sowie die Sicherheit und die Freiheit zu genießen als Säulen der natürlichen gesellschaftlichen Ordnung bezeichnet, und als eine seiner allgemeinen Maximen erklärt.

Wir sehen also: Nach der Meinung des Stifters unserer Wissenschaft sollten Wirtschafts theorie  und Wirtschafts politik  nach derselben exakten naturwissenschaftlichen Methode erforscht werden. Die Politik sollte nichts anderes sein, als die Anwendung der natürlichen Gesetze der Nationalökonomie. Mit derselben Sicherheit, wie man den Lauf der Gestirne zu Zwecken der Zeit- und Ortsbestimmung beobachtet, kann man aus der Menschennatur Normen für das soziale Zusammenleben der Menschen ableiten.

Die englische klassische Nationalökonomie stimmt in diesem Punkt mit der physiokratischen Lehre überein. Auch sie leitet bestimmte wirtschaftspolitische Grundsätze für alle Zeiten und Völker aus natürlichen menschlichen Trieben her. Zwar sind auf die klassische Nationalökonomie außer den Physiokraten noch andere philosophische Lehrmeinungen von maßgebendem Einfluß gewesen, namentlich die englischen und schottischen Moralphilosophen, wie HUME, HUTCHESON, SHAFTESBURY, BENTHAM, aber in dieser Forderung und Begründung der wirtschaftlichen Freiheit weisen sie viele Berührungspunkte mit dem physiokratischen System auf.

In diesem Sinne lehrte ADAM SMITH, daß unbeschränkte Arbeits- und Kapitalfreiheit zu den angeborenen Menschenrechten gehören, und forderte er Handelsfreiheit denn in jedem Land muß es im Interesse des ganzen Volkes liegen, alles, was es braucht, von denjenigen zu kaufen, die es ihm am billigsten verkaufen.

Auch RICARDO ist hier zu nennen.

Zwar war er in erster Linie Wirtschafts theoretiker  und nicht Wirtschafts politiker.  Die von Ihm aufgestellten Lehrsätze waren deduziert aus dem vom Egoismus beherrschten Wirtschaftsmenschen des freien Konkurrenzsystems, und er wußte, daß er aus diesen "Gesetzen" nicht die ganze Wirklichkeit erklären konnte. Er ließ aber keinen Zweifel darüber bestehen, daß das freie Konkurrenzsystem, das er als  Prämisse  seiner Theorie zugrunde legete, ihm gleichzeitig auch als die "natürliche, ewige" Ordnung des Wirtschaftslebens erscheint. Wie oft berief sich RICARDO bei der Verteidigung seiner handelspolitischen Grundsätze auf die "Prinzipien der nationalökonomischen Wissenschaft"! Zu diesen Prinzipien gehörte aber vor allem, daß freie Konkurrenz herrscht, daß die Interessen des Einzelnen und der Gesamtheit nie in Widerspruch miteinander geraten könnten, gemäß dem Grundsatz: "Die Verfolgung des eigenen Vorteils steht in wunderbarer Harmonie mit dem Vorteil der ganzen Gesellschaft."

Die "Lehrsätze der politischen Ökonomie" spielen in der englischen Wirtschaftspolitik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Bei der parlamentarischen Beratung des neuen Koalitionsgesetzes von 1824, des Armengesetzes von 1834, der PEEL'schen Bankakte von 1844, der Freihandelsgesetzgebung der vierziger Jahre - bei allen diesen gesetzgeberischen Aktionen berief man sich mit Vorliebe auf die "Autoritäten" der wissenschaftlichen Nationalökonomie. Häufig wurden ADAM SMITH und RICARDO von PEEL zitierte, und in den beiden nach diesem Staatsmann benannten Gesetzen über Geld- und Bankwesen zeigte sich der Niederschlag bestimmter nationalökonomisch-theoretischer Lehren, die er in sich aufgenommen hatte.

COBDEN hebt in seinen parlamentarischen Reden hervor, daß PEEL die Theorie des ADAM SMITH in die Praxis übergeführt hat, und zur Stütze seiner Freihandelsreden sagte er: "Ich behaupte, die Nationalökonomen (political economists) sind die wohltätigsten Leute in diesem Land; die Freihändler sind die den Armen des Landes am besten Gesinnten." Der Freihandel entspricht nach COBDEN dem  Natur gesetz, der Schutzzoll dagegen ist ein Gesetz "schlechter Menschen" (11).

Wie auch in Deutschland die Ableitung wirtschaftspolitischer Sätze aus der "Naturlehre der Volkswirtschaft" üblich war, möchte ich nur an einem Beispiel zeigen. Als man im Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in Preußen ein neues Gewerbegesetz vorbereitete, bearbeitete Kommerzienrat REICHENHEIM einen Entwurf zu diesem Gesetz, der zwar im allgemeinen auf dem Standpunkt der Gewerbefreiheit stand, aber einige wenige Einschränkungen derselben enthielt. Jedoch auch diese erschienen dem Führer der deutschen Freihandelsschule, PRINCE-SMITH, als zu weitgehend. Er erklärte daher in seiner Broschüre: "Für volle Gewerbefreiheit" ein Gewerbegesetz überhaupt für überflüssig, da alle Beschränkungen der Gewerbefreiheit von Übel sind. Zur Begründung dieser Meinung berief er sich auf die "Naturgesetze" des Wirtschaftsverkehrs: "Für eine feste Ordnung im Wirtschaftsganzen, für die vollste Betätigung aller Produktivkräfte und für eine angemessene Beteiligung an den erarbeiteen Befriedigungsmitteln ist durch die volkswirtschaftlichen  Naturgesetze  gesorgt (12). Staatliche Fürsorge könnte nur insofern das Wirtschaftswesen fördern, als sie für das "freieste Spiel jener natürlichen Gesetze volkswirtschaftlicher Selbstordnung" (13) sorgt.

Die  physiokratisch-Smithsche  Auffassung des Wirtschaftslebens als eines  natürlichen  Organismus, die Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen als  naturgesetzlicher  beruth auf einer Verkennung des Wesens der Volkswirtschaft.

Nie dürfen wir von Naturgesetzen reden, wenn wir volkswirtschaftliche Erscheinungen betrachten. Zwar ist und bleibt der Mensch auch im  sozialen  Verband ein Naturwesen, und in jeder denkbaren sozialen Organisation sind die Menschen von gewissen Naturbedingungen abhängig. Aber - soweit wir die Menschen nach dieser Richtung hin betrachten - fassen wir sie naturwissenschaftlich und nicht sozialwissenschaftlich auf. Für die soziale Betrachtung ist der Mensch kein Naturwesen, sondern er gehört einer sozialen Gemeinschaft an, die durch eine bestimmte  rechtliche Ordnung  zusammengehalten wird. Diese Rechtsordnung gibt die grundlegenden Normen des wirtschaftlichen Verkehrs. Schon RODBERTUS und ADOLF WAGNER hatten auf die Wichtigkeit der Rechtsordnung für die Erkenntnis der sozialen Zusammenhänge hingewiesen und RUDOLF STAMMLER hat die entscheidende methodologische Bedeutung, die der rechtlichen Grundlage allen sozialen Zusammenlebens zukommt, scharf hervorgehoben (14). Diese Rechtsordnung ist aber nichts Natürliches, sie folgt nicht aus irgendwelchen Eigenschaften der Menschennatur, sondern ist erst durch Menschen geschaffen, nach bestimmten Zweckmäßigkeitserwägungen ausgebildet, also etwas Willkürliches. Es kann sich nicht um ewige Naturgesetze handeln, sondern um die stets neuen, wandelbaren Rechtsgebilde, innerhalb deren die volkswirtschaftlichen Phänomene in Erscheinung treten. Man könnte also nur von "wirtschaftlichen Gesetzen" innerhalb bestimmter historisch-rechtlicher Epochen reden. Daß jedoch auch in dieser Beziehung von "Wirtschaftsgesetzen" nicht die Rede sein kann, soll später gezeigt werden.

Hier möchte ich nur darauf hinweisen, daß man von dieser irrigen, "natürlichen" Auffassung der Volkswirtschaft auch zu einer fehlerhaften Begrüundung der Wirtschafts politik  gelangte. Wenn die bestehende Volkswirtschaft kein Naturgebilde ist, so kann auch die Frage nach den Normen für die Wirtschaftspolitik nicht auf dem Weg gefunden werden, daß man nach dem "natürlichen" Verlauf des sozialen Lebens forscht, sondern nach dem richtigen  Mittel  für bestimmte  Zwecke,  welche die soziale Gemeinschaft zu verfolgen hat. Wäre die Politik aus der Menschennatur zu folgern, so gäbe es auch nur eine einzige, wahre und richtige Politik. Da aber tatsächlich die Politik bestimmte  Zwecke  durch bestimmte  Mittel  verfolgt, so hängt die Entscheidung politischer Fragen vom Zweck ab, welche die Politik im Auge hat, und von den Mitteln, die dafür als geeignet erachtet werden. Es ist jedoch mit dem Wesen der Sozialwissenschaft unvereinbar, hierfür eine objektive wissenschaftliche Norm zu geben. Es gibt daher keine wissenschaftliche Politik - zumindest wenn wir "wissenschaftlich" im strengen Sinne von exakter objektiver Erkenntnis nehmen. Sobald wir erkannt haben, daß die wirtschaftlichen Erscheinungen kein abgesondertes Leben für sich führen, sondern nur ein Stück unseres Kulturlebens sind, müssen wir uns überzeugen, daß unsere Stellung zur Wirtschaftspolitik durch die Kulturideale bedingt ist, die wir vertreten.

Schon über die  Ziele der Politik  wird man verschiedener Meinung sein können. Je nachdem wir mit ADAM SMITH diese Aufgabe allgemein wirtschaftspolitisch in der Förderung des Volksreichtums erblicken, oder mit FRIEDRICH LIST nationalpolitisch in der Hebung der nationalen Produktivkräfte, oder mit SAINT SIMON sozialpolitisch in der moralischen, intellektuellen und physischen Hebung der zahlreichsten und ärmsten Volksklasse", werden wir eine sehr verschiedene Stellung zu den Einzelfragen der Politik einnehmen.

Selbst bei voller Einigkeit über den Endzweck der Wirtschaftspolitik können wieder die Meinungen über die  Mittel  zur Erreichung dieses Zwecks auseinandergehen.

Auch unter den Anhängern der Meinung, daß die Aufgabe der Wirtschaftspolitik darin besteht, die große Mehrheit des Volkes in stets wachsendem Maße an den Kulturgütern teilnehmen zu lassen, können solche sein, die glauben, dieses Zile besser durch eine nationale, und solche, die glauben, es durch internationale soziale Gesetzgebung erreichen zu können, kann der eine das Heil mehr in der Selbsthilfe der Arbeiter, der andere im staatlichen Zwang erblicken.

Es war eine große Kompetenzüberschreitung, bei solchen Fragen der Wirtschaftspolitik die wissenschaftliche Nationalökonomie als entscheidende Instanz zu betrachten. Die schlechten Erfahrungen, die man mit den sogenannten "Gesetzen der politischen Ökonomie" machte, haben dem Ansehen unserer Wissenschaft sehr geschadet.

Um nur zwei Beispiele herauszugreifen: Mit welcher Sicherheit in England vorausgesagt, daß die Handelskrisen verschwinden würden, wenn man die Freihandelspolitik befolgt, und trotz Bestehens des vollen Freihandels seit 1846 hat England im 19. Jahrhundert eine Reihe schwerster Krisen durchgemacht.

Ein zweites Beispiel liefert die englische Banknoten-Gesetzgebung. Es herrscht keine Meinungsverschiedenheit darüber, daß das englische Banknotensystem ein unzweckmäßiges ist. Es fehlt ihm die Elastizität, und so mußte die englische Bankakte, die man gerade zur Ordnung des Banknotenwesens erlassen hatte, mehrmals suspendiert werden. Sie beruhte aber auf bestimmten wissenschaftlichen, nationalökonomischen Lehrsätzen, die man als Grundwahrheiten der Nationalökonomie ansah, nämlich auf gewissen Lehren RICARDOs, vor allem auf der von ihm vertretenen sogenannten Quantitätstheorie.

Zu dieser älteren, an die physiokratische Anschauung sich anschließenden natürlichen Auffassung der Sozialwissenschaft ist in neuerer Zeit noch eine zweite hinzugekommen, die ebenfalls glaubt, für die praktische Wirtschaftspolitik sogenannte natürliche Regeln aufstellen zu können. Ich meine die Lehre der darwinistischen Sozialwissenschaft. Während die zuerst betrachtete physiokratische Schule nach  besonderen Naturgesetzen  der ökonomischen Ordnung forschte, übertrag diese Richtung Gesetze, die für die gesamte anorganische und organische Natur gelten sollen, auf das Gebiet der sozialen Erscheinungen. Der Gedanke der Entwicklung wird in eigenartigerweise auf das soziale Gemeinschaftsleben angewandt.

Der wichtigste Vertreter dieser Gedankenrichtung ist HERBERT SPENCER. Er hat die hier in Betracht kommenden Anschauungen in seinem Werk: "The study of sociology" (15) niedergelegt. SPENCER spricht von den quantitativen und qualitativen Gesetzen der Kausalität, welche das gesellschaftliche Leben beherrschen (Seite 6), und von der Morphologie und Physiologie der Gesellschaft (Seite 72). Eine natürliche Kausalität sei im sozialen Leben vorhanden, und eben diese macht ihren wissenschaftlichen Charakter aus. "Jeder, der politische Meinungen ausdrückt, jeder, der behauptet, diese oder jene öffentlichen Anordnungen werden wohltätig oder nachteilig wirken, drückt stillschweigend den Glauben an die Sozialwissenschaft aus, denn er behauptet damit, daß es gewisse soziale Vorgänge und eine natürliche Folge gibt und daß, da es eine Folge gibt, Resultate vorhergesehen werden können (Seite 56).

Die Sozialwissenschaft hat dieser Auffassung gemäß die Grundzüge der Entwicklungslehre zu übernehmen. Sie muß von dem Satz ausgehen, daß sich ein Prozeß sozialer Auslese im sozialen Organismus vollzieht. Eine selbständige aktive Aufgabe ist nach dieser Auffassung dem Politiker überhaupt nicht gegeben - er hat nur darauf zu achten, daß die Gesetzgebung und Verwaltung in den "natürlichen" Gang der Entwicklung nicht störend und hemmend eingreift. Wie schon COMTE, der ebenfalls einen bei allen Völkern gleichen Entwicklungsgang annimmt, der aus fundamentalen Gesetzen der menschlichen Organisation hervorgeht. Auch diese Richtung verkennt den Unterschied zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Glied eines sozialen Verbandes. Die sogenannten natürlichen Entwicklungsgesetze mögen, wie für das ganze Tier- und Pflanzenreich, so auch für den Menschen als Naturwesen in Geltung stehen - wir haben dies nicht zu untersuchen - aber mit dem Menschen als Naturwesen hat es die Sozialwissenschaft überhaupt nicht zu tun, sondern nur mit Menschen, die in einer bestimmten sozialen Organisation leben. Hierdurch wird der Mensch aus einem Naturwesen ein soziales Wesen, das eigenen Bedingungen unterliegt, die von den Naturbedingungen, unter denen er als Naturwesen lebt, gänzlich verschieden sind. Zwar ist der Ausdruck "Kampf ums Dasein" zuerst für gesellschaftliche Vorgänge von MALTHUS geprägt worden, dennoch hat er aber - in DARWINs Sinn gemeint - auf soziale Verhältnisse keine Anwendung.

Der "Kampf ums Dasein" in DARWINs Lehre ist der ewige Kampf, den die Lebewesen mit der Knappheit der Subsistenzmittel ihrer Umwelt führen müssen - der "Kampf ums Dasein" in der Volkswirtschaft wechselt je nach der Organisation der Volkswirtschaft, in der er sich abspielt.

Die "natürliche Vererbung" in DARWINs Sinn ist auch bei der Sozialwissenschaft zu beachten, aber doch nur in dem Sinn, in dem jede Wissenschaft auch die Ergebnisse anderer Wissenschaften beachten muß. Wenn wir aber von "Vererbung" im sozialwissenschaftlichen Sinn sprechen, sehen wir gerade von solchen "natürlichen" Vorgängen ab und beobachten, welche Wirkungen durch die Einrichtung bestimmter  Erbrechtsformen  entstehen. Bei der Erörterung von Erbrechtsfragen  de lege ferenda  müssen wir uns daher hüten, aus den natürlichen Vererbungsvorgängen irgendwelche Schlüsse auf die Notwendigkeit bestimmter Erbrechtsgesetze zu ziehen.

Die beste Kritik ihrer Methode liefern die Vertreter dieser Richtung selbst, indem sie die Frage, wie aufgrund dieser sogenannten "natürlichen" Entwicklung die Volkswirtschaft beschaffen sein muß, im genau entgegengesetzten Sinn beantworten.

SPENCER und mit ihm viele andere erklären, daß die freie Konkurrenz der natürlichen Ordnung adäquat ist und die soziale Auslese am besten befördert. Der Staat soll sich jeden Eingriffs in das Wirtschaftsleben enthalten, denn staatliche Maßregeln, gesetzgeberische und andere, richten großes Unheil an, indem sie den Tauglichsten das Überleben erschweren und dafür die Vermehrung der Untauglichen fördern. SPENCER geht in seiner Forderung des gouvernementalen Nihilismus so weit, die öffentliche Armenpflege und den Schulzwang zu verwerfen.

Umgekehrt behaupten andere darwinistische Soziologen, daß nicht die individualistische, sondern allein die sozialistische Ordnung dem Prinzip der Entwicklungslehre entspricht. So meint WOLTMANN, daß die freie Konkurrenz des privatkapitalistischen Systems keineswegs den "Kampf ums Dasein" darstellt, wie er DARWINs Theorie entspricht. Die Konkurrenz unter den Menschen wieder zu einer natürlichen, d. h. einem der kulturellen Bestimmung des Menschen entsprechenden Lebensprinzip zu machen, sei Aufgabe des Sozialismus. Indem er den Arbeiter mit seinen Arbeitsmitteln wieder verbindet, gibt er die Grundlage zu einem industriellen und produktiven Wetteifer persönlicher Fähigkeiten, der dem den Fortschritt erzwingenden Kampf ums Dasein in der Tierwelt wieder analog geworden ist und ein Mittel zur Vervollkommnung darstellt, während der  kommerzielle  Konkurrenzkampf um Sachen und Stellen in der warenerzeugenden kapitalistischen Gesellschaft eine Ursache der Entartung und des Elends ist (16). Sie sehen: die Anhänger dieser "Naturlehre" nennen "natürlich" das, was sie für zweckmäßig oder wünschenswert halten.

Während die bisher betrachteten Richtungen eine natürliche Gesetzmäßigkeit des Wirtschaftslebens annehmen und die Politik als die Erfüllung eines Programms ansehen, das sich mit mit Notwendigkeit aus bestimmten, natürlichen Prämissen ergibt, lehnt eine neuere Forschungsmethode diese Verquickung von Politik und Wirtschaftstheorie völlig ab. Auch diese Richtung behauptet, daß es Wirtschaftsgesetze gibt, aber sie sind nur für die Wirtschafts theorie  gültig. In der Wirtschaftslehre muß das Gebiet des "Seinsollens" und des "Seins" streng geschieden werden. Die Wirtschafts theorie  hat es nur mit der Erklärung der bestehenden Volkswirtschaft zu tun; die Wirtschaftspolitik ist ein davon völlig getrenntes Gebiet der Erkenntnis mit eigenen Methoden und Prinzipien. Dem Wirtschaftspolitiker soll für seine Entschließungen freie Bahn gewährt werden, aber die Wirtschaftstheorie soll ihm wertvolle Lehrsätze zur Verfügung stellen. Also z. B.: Man kann sehr wohl allgemein das Bevölkerungsgesetz von MALTHUS akzeptieren, in der Frage der Armenpolitik jedoch durchaus von MALTHUS abweichen.

Als Repräsentanten dieser Richtung nenne ich einerseits HEINRICH DIETZEL, andererseite CARL MENGER und die sich ihm anschließende österreichische Schule.

DIETZEL erklärt ausdrücklich, daß die nationalökonomischen Gesetze in der Wirklichkeit der Volkswirtschaft nicht genau zutreffen. Sie sind hypothetisch und könnten nur mit gewissen Kautelen [Vorbehalten - wp] und mit Vorsicht zur Erkenntnis der wirklichen Volkswirtschaft dienen. Aber sie sind doch ein wertvolles, unentbehrliches wissenschaftliches Rüstzeug dem Chaos der tatsächlichen Erscheinungen gegenüber. Die Theorie hat sich weder mit der "Natur" noch mit der "Politik" zu befassen, sondern sie stellt nur abstrakte, theoretische Kausalformeln auf. Im Anschluß an JOHN STUART MILLs "Economical man" geht DIETZEL von einem abstrakten "Wirtschaftsmenschen" aus, der nach dem wirtschaftlichen Motiv handelt, d. h. so, daß er ein Maximum an Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse mit einem Minimum an Schmälerung wirtschaftlischer Bedürfnisse erreicht. Dabei geht er von der sozialen Prämisse des freien Konkurrenzsystems aus (17).

Während aber dieses Konkurrenzsystem in der klassischen Nationalökonomie die "natürliche" Wirtschaftsform bedeutet, ist es bei DIETZEL ein methodologisches Hilfsmittel für seine isolierende Abstraktion. Seine Theorie selbst ist ethisch und politisch farblos. Ethisch ist sie indifferent, weil der supponierte Wirtschaftsmensch weder als Egoist, noch als Altruist gedacht ist; politisch indifferent, weil es gar nicht Aufgabe der Theorie ist, über die Zweckmäßigkeit eines Wirtschaftssystems zu urteilen. Das Konkurrenzsystem wird zugrunde gelegt, weil es dem Theoretiker die wichtigsten und schwierigsten Aufgaben stellt.

DIETZEL stimmt inhaltlich den hauptsächlichen, in der klassischen Nationalökonomie aufgestellten Gesetzen, wie z. B. dem Bevölkerungsgesetz, dem Preis-, Lohn- und Grundrentengesetz, zu, aber er verwirft die allgemeingültige Bedeutung, die sie dort besaßen. Er will sie nur in einem viel kleineren Sinn als gültig ansehen.

Auch CARL MENGER fordert eine strenge Scheidung von Politik und volkswirtschaftlicher Theorie. Während es sich bei der Politik um Maximen zu zweckmäßiger Leitung und Förderung der Volkswirtschaft handelt, will die Theorie das generelle Wesen und die Zusammenhänge der volkswirtscahftlichen Erscheinungen erklären (18).

MENGER stellt eine Reihe von Gesetzen der Volkswirtschaft auf, für die er denselben Grad an Exaktheit beansprucht, wie für die Gesetze der exakten Naturwissenschaft. Er abstrahiert von der realen Volkswirtschaft und legt seinen Deduktionen, wie die klassische Nationalökonomie das vom Egoismus beherrschte Wirtschaftssubjekt und einen bestimmten bedeutsamen Zustand der volkswirtschaftlichen Verfassung zugrunde.

Die Schüler MENGERs haben besonders die Wertgesetze weiter auszubilden und sie durch eine psychologische Detailanalyse gründlicher festzustellen gesucht.

WIESER geht in der Abstraktion noch weiter als MENGER. Während dieser eine bestimmte Organisation der Volkswirtschaft zugrunde legt, soll WIESERs "natürlicher Wert" ohne die störenden Einflüsse, welche sich durch die Schwächen aller menschlichen Einrichtungen ergeben, dargestellt werden. Es soll der Wert sein, wie er aus dem gesellschaftlichen Verhältnis von Gütermengen und Nutzen hervorgeht. Er spricht daher von einer "natürlichen" Grundrente, einem "natürlichen" Kapitalertrag etc. Diese Wertgesetze sollen für die politische Ökonomie das sein, was das Gesetz der Schwere für die Mechanik bedeutet.

In einem noch stärkeren Maßstab als WIESER abstrahiert der neueste Bearbeiter der theoretischen Nationalökonomie aus der österreichischen Schule, SCHUMPETER. Er verwirft auch jede psychologische Vertiefung des Wertproblems und stellt ein neues System der Logik der wirtschaftlichen Dinge unabhängig von irgendeiner Organisationsform, unabhängig von psychologischer Begründung sowohl von seiten der Willenstheorie, wie von seiten der Lehre von den Gefühlen auf. Für ihn besteht das Problem der "reinen Ökonomie" darin, gewisse Notwendigkeiten, welche die Beschränktheit der Gütermengen dem wirtschaftlichen Handeln auferlegt, immer und überall - mögen die konkreten Formen und Verhältnisse des Wirtschaftslebens sein, wie sie wollen - und deren Konsequenzen abzuleiten (19). Er kommt so zu einer Reihe von Theorien über Preis, Lohn, Zins, Rente, die er in mathematische Formeln kleidet. Er erklärt die "reine Ökonomie" als eine Naturwissenschaft und ihre Theorien für "Naturgesetze".

Diese schärfste Zuspitzung nationalökonomischer Sätze zu mathematischen Formeln war früher bereits von WALRAS, PARETO u. a. durchgeführt worden. Wie die analytische Mechanik materielle Punkte und starre Körper behandelt, so betrachtet die mathematische Wirtschaftslehre einen abstrakten Menschen, den  homo oeconomicus.  Dieser befaßt sich ausschließlich mit den rationalen Handlungen, die den Zweck haben, ökonomische Güter zu erwerben.

Gegenüber der zuerst behandelten physiokratisch-Smithschen Richtung, welche der Wirtschaftspolitik bestimmte, feste Ziele von seiten der nationalökonomischen Wissenschaft zuweist, bedeutet die zuletzt betrachtete theoretisch-abstrakte Schule, die ausdrücklich die Autonomie der Politik proklamiert, einen Fortschritt. Sie irrt aber darin, daß sie glaubt, dem Politiker einen festen Bestand "wirtschaftlicher Gesetze" überliefern zu können, die er dann nach Gutdünken zu verwerten imstande ist. Solche Gesetze gibt es überhaupt nicht, und speziell die Ableitung derselben aus dem Trieb des Egoismus oder dem Verhalten des  homo oeconomicus  ist irreführend. Diese Prämisse ist viel zu eng, wie auch die Prämisse des sogenannten Konkurrenzsystems zu unbestimmt ist, um hieraus klare und einwandfreie Gesetzmäßigkeiten entwickeln zu können. Der Trieb des Egoismus oder der wirtschaftliche Trieb läßt sich nicht so klar aus dem ganzen menschlichen Triebleben ausscheiden und in einem komplizierten wirtschaftlichen Getriebe spielt er nicht die ausschlaggebende Rolle, welche die Theorie ihm zuweist. Die Aufstellung solcher "Gesetze" führt zu der Vorstellung, als ob es eine "normale" Volkswirtschaft gäbe, und daß wirtschaftliche Vorgänge, die nicht mit dem "Gesetz" übereinstimmen, Abweichungen von der "Norm" sind. Trotz des hypothetischen Charakters, den diese aufgrund einer isolierenden Abstraktion aufgestellten "Gesetze" notwendig haben müssen und trotz der Prinzipiell geforderten Trennung wissenschaftlicher und politischer Fragen werden doch gerne solche "abstrakten" Sätze zur politischen Nutzanwendung verwertet. Dies trat deutlich hervor, als bei der jüngsten Erneuerung der deutschen Handelsverträge die Frage der Erhöhung der Getreidezölle wissenschaftlich debattiert wurde. Hierbei hatte sich z. B. DIETZEL mit seinem sogenannten "Konträrgesetz" beteiligt. Obwohl dieses Gesetz, daß nämlich bei sinkenden Kornpreisen die Löhne steigen, bei steigenden Kornpreisen die Löhne sinken müssen, nur so gewonnen wurde, daß von vielen in der Wirklichkeit vorhandenen wirtschaftlichen Faktoren abstrahiert wurde, es also nur eine "Teilwahrheit" darstellt, wurde es dennoch zur Empfehlung einer bestimmten Wirtschaftspolitik herangezogen. DIETZEL erklärte, daß die deutsche Gesetzgebung, die Sozialreform betreibt, sich mit sich selbst in einen Widerspruch setzt, wenn sie trotz dieses "Konträrgesetzes" Getreideschutzzölle beibehält.

Es ist das Verdienst der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie, vor allem ihrer Begründer, ROSCHER, HILDEBRAND, KNIES, das Irrige der naturrechtlichen Begründung der Wirtschaftstheorie und -politik der physiokratisch-Smithschen Nationalökonomie, wie der Abstraktionen nach dem sogenannten ökonomischen Prinzip nachgewiesen zu haben. Durch zahlreiche historisch-statistische Detailuntersuchungen hat diese Schule eine viel umfassendere, auf die Erfahrung gestützte Kenntnis des tatsächlichen Wirtschaftslebens ermittelt.

Aber so sehr dieses Verdienst auch anzuerkennen ist, so muß andererseits doch hervorgehoben werden, daß sie mit dem methodischen Irrtum der von ihr bekämpften Richtungen nicht gründlich aufräumen konnte, da sie selbst das Bestehen von nationalökonomischen Gesetzen keineswegs leugnet. Die Hauptführer der historischen Schule haben vielmehr, wenn auch in anderer Begründung als die klassische Nationalökonomie, darum doch nicht minder energisch, das Bestehen wirtschaftlicher Gesetze behauptet. Einige ihrer Vertreter haben direkt eine neue "Naturlehre" der Volkswirtschaft begründet.

In seinem 1842 erschienenen Werk über THUKYDIDES sagt ROSCHER: "Ich betrachte aber die  Politik  als die Lehre von den Entwicklungsgesetzen des Staates" (20) und in seinem  Grundriß der Nationalökonomie  nennt er seine Methode die geschichtliche oder "physiologische". Er will die Anatomie und Physiologie der Volkswirtschaft darstellen und meint, wenn erst die  Naturgesetze der Volkswirtschaft  hinreichend erkannt und anerkannt sind, so bedarf es im einzelnen Fall nur noch einer genauen und zuverlässigen Statistik der betreffenden Tatsachen, um alle Parteizwiste über Fragen der volkswirtschaftlichen Politik, zumindest insofern sie auf einer entgegengesetzten  Ansicht  beruhten, zu versöhnen (21).

HILDEBRAND erklärte in seinem 1848 erschienen Werk: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft", auf dem Gebiet dieser Wissenschaft einer gründlichen historischen Richtung und Methode Bahn brechen und die Nationalökonomie zu einer Lehre von den  ökonomischen  Entwicklungsgesetzen der Völker umgestalten zu wollen (22).

In neuerer Zeit hat GUSTAV SCHMOLLER wiederum das Bestehen nationalökonomischer Gesetze behauptet. Er begründet die volkswirtschaftlichen Erscheinungen letztlich aus bestimmten Trieben der Menschen. Nicht der Erwerbstrieb allein, sondern das ganze menschliche Triebleben muß in den Bereich der Untersuchung gezogen werden. Aus ihnen ergibt sich der "ewige" Bestand bestimmter Rechtsinstitutionen, z. B. des Privateigentums. So spricht er von einem  allgemeinen historischen Gesetz,  daß große, entgegengesetzte politische Kräfte innerhalb desselben Staates doch zuletzt immer den Punkt der Vereinigung und des Zusammenwirkens finden (23). Die Entwicklung der psychologischen Voraussetzungen der Konkurrenz folgt nach seiner Ansicht "einem gewissen historischen Gesetz" (24); auch Anklänge an die darwinistische Auffassung der Volkswirtschaft fehlen nicht, so z. B., wenn er meint, daß die Konkurrenz ein dem Fortschritt günstiges Ausleseverfahren fördert (25).

Wie für SCHMOLLER, so ist auch für den methologisch grundverschieden gerichteten Nationalökonomen ADOLF WAGNER die Psychologie die wissenschaftliche Grundlage der Nationalökonomie. Die volkswirtschaftlichen Probleme sind in erster Linie psychologische Probleme, weil sie mit dem Menschen, seinem Tun und Lassen, daher seinen Motiven und Trieben, untrennbar verbunden sind. Die Nationalökonomie ist also in einer Hinsicht "angewandte Psychologie (26). Die Menschen, das Baumaterial für alle sozialen und volkswirtschaftlichen Organisationen, hätten eine im wesentlichen bestimmt gegebene, wesensunveränderliche, psychische wie physische Natur mit im ganzen typischen Triebleben, mit im Ganzen typischem Bestimmtwerden durch die gleichen Motive (27). Darin liegt die Berechtigung der Deduktion aus dem Motiv des wirtschaftlichen Vorteils.

Dieses "Konstante" in der wirtschaftlichen Natur des Menschen, daher in seinem Triebleben, seinen Motiven, gestattet dann auch den Schluß, ja, mache ihn notwendig, daß, insoweit die wirtschaftlichen Handlungen und soweit diese dafür entscheiden, die wirtschaftlichen Erscheinungen selbst  konstante,  also auch gleichmäßige sind. Daher ist es auch gerechtfertigt, von "Gesetzen", d. h. von einem gleichmäßigen Verlauf wirtschaftlicher Handlungen und Erscheinungen unter der Voraussetzung des Obwaltens und ausschließlichen Enwirkens gerade der  wirtschaftlichen  Natur zu sprechen (28).

SCHMOLLER und WAGNER erkennen demnach wirtschaftliche "Gesetze" an und erklären sie aus gewissen konstanten menschlichen Trieben. Während aber SCHMOLLER in erster Linie der nationalökonomischen Forschung die Aufgabe zuweist, den tatsächlichen historischen Verlauf des Wirtschaftslebens zu studieren, wie er sich aufgrund des menschlichen Trieblebens gestaltet, deduziert WAGNER mehr nach dem Vorbild der klassischen Nationalökonomie die "Gesetze" aus bestimmten Trieben, ohne weiteres empirisches Material beizubringen. Beide Nationalökonomen bestätigen somit das Urteil von WUNDT (29), der die Psychologie für die Grundlage aller Geisteswissenschaften erklärt, und speziell von der Sozialwissenschaft behauptet, sie müsse sich bei ihren Interpretationen auf die Psychologie stützen (30). Auch WUNDT spricht von "sozialen Gesetzen" und unterscheidet  "soziale Entwicklungsgesetze",  d. h. solche, welche die gesetzmäßige Aufeinanderfolge bestimmter Zustände der Gesellschaft ausdrücken, wie z. B. die Gesetze der Aufeinanderfolge der Verkehrs-, Wirtschafts- und Verfassungsformen und  "soziale  Beziehungsgesetze", d. h. solche, welche die ursächlichen Beziehungen der einzelnen Bestandteile eines gegebenen Zustandes zueinander ausdrücken. Als Beispiele solcher Gesetze nennt WUNDT MALTHUS' Bevölkerungsgesetz, MARX' Gesetz des Mehrwertes und das Gesetz der ökonomischen Krisen.

Wie aus meinen früheren Bemerkungen schon hervorgeht, kann ich WUNDTs Meinung nicht zustimmen, daß der Begriff der  Gesellschaft  schon dort verwirklicht ist, wo "durch irgendwelche menschliche Eigenschaften eine Verbindung zwischen einer Vielheit Zusammenlebender hergestellt wird", daß vielmehr zum Begriff der Gesellschaft auch gemeinsame Rechtsnormen gehören. Hierdurch erhält die Sozialwissenschaft den Charakter eines künstlichen Gebildes. Wegen dieser Willkür weisen auch die sozialen Erscheinungen nichts Gesetzmäßiges auf. Es fehlt ihnen der Charakter der Allgemeingültigkeit ebenso, wie die zwingende Notwendigkeit, also gerade die Kriterien, welche das Wesen der "Gesetze" ausmachen. Wer die Psychologie zur Grundlage der Nationalökonomie macht, faßt sie naturwissenschaftlich auf, und begeht somit denselben Fehler, wie die physiokratische Schule. Man sollte es schließlich aufgeben, vom Bestehen sozialer oder wirtschaftlicher "Gesetze" zu reden, weil hierdurch nur Unklarheit über das Wesen unserer Wissenschaft entsteht (31). Dies gilt sowohl für die sogenannten Entwicklungs- wie für die Beziehungsgesetze. Die Aufeinanderfolge der Verkehrs-, Wirtschafts- und Verfassungsformen stellt kein Entwicklungsgesetz dar, sondern eine Reihe von tatsächlichen geschichtlichen Zuständen. Die von WUNDT aufgeführten "Beziehungsgesetze" wird der Nationalökonom ablehnen müssen.

Was MALTHUS' Bevölkerungsgesetz betrifft, so ist das einzig Gesetzmäßige daran, nämlich die durch das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag bedingte natürliche Insuffizienz der Bodenkräfte, ein  Naturgesetz,  aber kein  soziales Gesetz.  Die sonstigen Teile des sogenannten MALTHUS-Gesetzes, die Tendenzen, die er aus dem Selbsterhaltungs- und dem Geschlechtstrieb ableitet, sind aber nichts Gesetzmäßiges, sondern wiederum sehr verschieden geartet je nach der Rechtsordnung, welche wir bei der Betrachtung der Bevölkerungsbewegung zugrunde legen. Je nach der Armen- und Arbeiterschutzgesetzgebung, der Grundbesitzverteilung und anderen derartigen Institutionen sind die Bevölkerungstendenzen sehr mannigfaltig, und es ist ein Fehler von MALTHUS, hier von einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit zu sprechen.

Das MARX'sche Mehrwertgesetz wird von WUNDT aufgrund des 1. Bandes des "Kapital" zitiert. Ein Jahr vor dem Erscheinen von WUNDTs Werk - 1894 - war der dritte Band von MARX' "Kapital" erschienen, worin erhebliche Modifikationen dieses "Gesetzes" vorgenommen werden, so daß viele MARX-Interpreten behaupten, durch die Ausführungen des 3. Bandes sei das Wertgesetz in seiner alten Bedeutung völlig aufgehoben. Andere Schriftsteller suchen durch eine besonders kühne Interpretaton den 1. und 3. Band miteinander in Einklang zu bringen. Doch wie dieser Streit auch zu entscheiden sei - für unsere Frage ist jedenfalls wichtig, daß das MARX'sche Wertgesetz in der gewöhnlich akzeptierten Fassung von der gesamten wissenschaftlichen Nationalökonomie abgelehnt wird, ja sogar aus dem Kreis der Marxisten selbst heraus einen entschiedenen Widerspruch erfahren hat.

Von einem Gesetz der ökonomischen Krisen kann ebenfalls nicht gesprochen werden. Wir haben im 19. Jahrhundert eine Reihe wirtschaftlicher Krisen gehabt, die in vielen Einzelheiten übereinstimmende Züge aufweisen, aber irgendeine Gesetzmäßigkeit ist auch bei diesen Erscheinungen nicht zu entdecken.

Nachdem ich mich darüber ausgesprochen habe, was der praktische Wirtschaftspolitiker von seiten der wissenschaftlichen Nationalökonomie  nicht  erwarten darf, nämlich kein fertiges Programm für eine bestimmte Politik, aber auch nicht wirtschaftliche Gesetze, die er bei seinen Entscheidungen zugrunde legen kann, will ich jetzt kurz die Dienste schildern, welche die wissenschaftliche Nationalökonomie berechtigterweise der Politik leisten kann und soll.

Hier ist zunächst zu betonen: Sie vermag dem Politiker eine Menge an wertvollem, tatsächlichen Material aus der Geschichte und Statistik zu liefern, das er dann bei seiner politischen Tätigkeit verwenden kann. Welche Schlüsse er daraus für die Politik zieht, ist dann seine Sache; darüber hat jedenfalls die wissenschaftliche Nationalökonomie kein allgemeingültiges, maßgebliches Urteil zu fällen. Der Politiker wird aber seine Ideen weit besser und zielbewußter durchführen können, wenn er in Kenntnis solcher tatsächlichen Vorgänge handelt. Ein Agrarpolitiker der Gegenwart schlägt z. B. vor, das bestehende System des Getreidezolls in ein veränderliches Zollsystem umzuwandeln, d. h. eine sogenannte gleitende Skala einzuführen. Weiß er aus der Agrar- und Handelsgeschichte, welche Erfahrungen in England und Frankreich mit solchen Zöllen gemacht worden sind, so wird er ganz anders ausgerüstet an diese Frage herantreten. Wegen der schlechten Erfahrungen, die man dort früher mit diesem System gemacht hat, braucht er für die Gegenwart diesen Plan nicht einfach abzulehnen, denn es können jetzt wesentlich andere Momente hinzugekommen sein, die ein solches Verfahren rationaler erscheinen lassen. Er wird jedoch aus den früheren Erfahrungen vieles lernen können.

Ich habe schon vorher darauf hingewiesen, welche großen Verdienste die historische Schule sich dadurch erworben hat, daß sie auf die Notwendigkeit solcher historisch-statistischer Studien energisch hinwies: Der Wirtschaftspolitiker der Gegenwart steht mit dem heute erreichten Stand der Agrar-, Gewerbe und Handelsgeschichte viel besser ausgerüstet da, als etwa vor 25 Jahren. Über die Dienste, welche von seiten der historisch-deskriptiven Forschung der Wirtschaftspolitik geleistet werden können, herrscht jedoch kein Streit, wohl aber darüber, ob auch die in einem engeren Sinn sogenannte theoretische oder systematische Forschung, welche das Wesen und den Zusammenhang der einzelnen wirtschaftlichen Phänomene, wie z. B. von Lohn, Zins, Rente ect. zu erklären sucht, ebenfalls der Politik irgendwelche Dienste zu leisten vermag. Trotz aller früheren Mißgriffe, welche die Politik bei der Verwertung, der Theorien der abstrakten Nationalökonomie begangen hat, ist diese theoretische Forschung aber auch heute noch ein zumindest gleichberechtigtes, vielleicht ein noch wichtigeres Hilfsmittel für die praktische Wirtschaftspolitik als die deskriptive Forschung.

Die Mahnung SCHMOLLERs an die Jünger der Wissenschaft, sich an die streng selbstlose Zucht einer methodischen Einzeluntersuchung zu gewöhnen (32) und BRENTANOs Forderung, fürs Erste die spezielle oder praktische Nationalökonomie in den Vordergrund, die allgemeine oder theoretische dagegen zurücktreten zu lassen (33), wurden in allzu reichlichem Maß erfüllt. Die Vernachlässigung systematisch-theoretischer Arbeit in unserem Fach hat große Nachteile mit sich gebracht. Hinsichtlich einzelner wirtschaftspolitischer Fragen, wie z. B. der Handels-, Wohnungs- und Gewerbepolitik, können wir das massenhaft aufgehäufte Material kaum mehr bewältigen, aber wir beobachten oft eine bedauerliche Unkenntnis und Unklarheit hinsichtlich der für diese Fragen grundlegenden theoretischen Gesichtspunkte.

Der Stand der wissenschaftlichen Forschung spiegelt sich auch wider in den Publikationen des Vereins für Sozialpolitik. Eine nicht mehr zu bewältigende Fülle an Stoff ist uns über die Geschichte der Handelspolitik, des Handwerks, der Krisen etc. durch die Veröffentlichungen des Vereins geliefert worden, aber es fehlen fast völlig die grundlegenden, theoretisch-systematischen Untersuchungen, die ebenfalls zur Beurteilung solcher Fragen notwendig sind. Umgekehrt sehen wir, wie wenig umfangreich und zahlreich die Publikationen des Vereins aus früherer Zeit sind, jedoch immer gingen sie in fördernder Weise auf die zugrunde liegenen wissenschaftlich-theoretischen Grundprobleme ein.

Wie vielfach wird in den letzten zehn Jahren das Thema der Wozhnungsfrage und Wohnungsreform behandelt! Eine Menge tatsächlichen Stoffes besitzen wir in den Detailuntersuchungen über die Wohnungszustände aus allen Ländern. Als man dann an die eigentliche Wohnungsreformpolitik herantrat, ergab sich, daß trotz all dieser Darstellungen über das Wohnungswesen die eigentliche Wohnungs frage  nach ihrer wichtigsten theoretisch-systematischen Seite hin noch voller Unsicherheit war. Wer praktische Wohnungspolitik betreiben und daher die hohen Wohnungspreise bekämpfen will, sollte doch vor allem über die Frage im klaren sein: Sind diese hohen Preise durch die Grundrente oder durch hohe Baukosten verursacht? Sind die Preise durch die Spekulation künstlich in die Höhe getrieben, oder entsprechen sie dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage? Solche Untersuchungen werden aber nur selten angestellt und stiefmütterlich behandelt: Es finden sich über diese Fragen unter den Wohnungspolitikern nicht nur Meinungsverschiedenheiten, sondern vor allem - was beklagenswerter ist - es ist oft ein Mangel an Fähigkeit zu beobachten, über diese Probleme klar zu urteilen,  weil die Erziehung zum theoretischen Denken allzu stark vernachlässigt wurde.  Über das Wesen der städtischen Grundrente, über den Einfluß der Spekulation auf die Preisbildung und ähnliches sollte unter den Nationalökonomen eine gewisse Einigkeit wohl erzielt werden können - es ist dies ein neutraler Boden für die Wissenschaft - während über die zweckmäßigste Lösung dieser oder jener Einzelfrage der Wohnungspolitik Meinungsverschiedenheiten herrschen können und müssen. Systematische Aufklärungsarbeit über die von mir genannten Grundprobleme der Preisbildung, der Grundrente etc., das ist doch das Wesentliches, was der Boden- und Wohnungspolitiker von der wissenschaftlichen Nationalökonomie erwarten muß, während die Beschäftigung mit Einzelheiten zweckmäßigen Haus- und Wohnungsbaues viel besser den Techniker und praktischen Kommunalbeamten überlassen wird.

Noch ein anderes Beispiel! Das Jahr 1907 wies lange Zeit andauernd ungewöhnlich hohe Diskontsätze auf. Über die Ursachen dieser Erscheinung wurde lebhaft debattiert. Bei den Erörterungen über diese Frage in der Presse und in Broschüren konnte man feststellen, daß gewisse theoretische Elementarbegriffe gar nicht genügend bekannt waren. Die einen meinten, die Ursache liegt im Mangel an Umlaufsmitteln, die anderen behaupteten, in Kapitalknappheit. Man machte allerlei wirtschaftspolitische Vorschläge. Das Schlimme war dabei, daß viele, welche über diese Fragen handelten, sich des Unterschiedes von Geld und Kapital gar nicht bewußt waren und diese beiden  toto coelo  [himmelweit - wp] verschiedenen Phänomene miteinander vermengten.

Aber auch die wissenschaftliche Diskussion über diese Probleme war nicht sehr ergiebig; man hatte sich zu sehr daran gewöhnt, solchen grundlegenden begrifflichen Untersuchungen aus dem Weg zu gehen.

Diesem Zustand gegenüber ist zu fordern: Begriffliche Klarheit über die Elementarerscheinungen des Wirtschaftslebens. Gründlichere Pflege der theoretischen Nationalökonomie aber wird und muß hier eine Besserung bewirken. Man kann z. B. verschiedener Meinung über die politische Frage sein, ob die Verstaatlichung der Reichsbank zweckmäßig ist oder nicht, aber man sollte einig sein über den Unterschied von Papiergeld und Banknote und über den Unterschieden von "valutarischem" und akzessorischem" Geld, um in KNAPPs Sprache zu reden.

Darin liegt eben das Wertvolle des neuen KNAPPschen Werkes über die staatliche Theorie des Geldes, daß es sich in den Dienst dieser systematischen Aufklärungsarbeit stellt. Nicht darauf kommt es an, ob man dem Inhalt der KNAPPschen Theorie zustimmt oder nicht, sondern daß man dadurch angeregt wird, über die Grundnatur des Geldes von neuem nachzudenken. Daß hier die herrschende Theorie des Geldes noch manche Lücke aufweist, wird auch der Gegner der KNAPPschen Theorie zugeben müssen. Diese  begriffsmäßige Klarheit  muß der Politiker vor allem vom wissenschaftlichen Nationalökonomen verlangen, während die Einzelheiten vieler Bankprobleme, z. B. wie weit die steuerfreie Notengrenze gehen soll, dem Praktiker des Banwesens überlassen bleiben können.

Für die erste Aufgabe, welche hier zu lösen ist, Aufstellung scharfer Definitionen der wirtschaftlichen Elementarbegriffe, dürfte auch eine gewisse Übereinstimmung gegenüber der heutigen Vielgestaltigkeit der Meinungen zu erreichen sein. Im Interesse dieser Klärung ist allerdings eine Sonderung der sogenannten "rein-ökonomischen" und "historisch-rechtlichen Begriffe" zu fordern.

Nach dem Voranschreiten von RODBERTUS, der die Trennung vom Kapitla im rein ökonomischen Sinn, d. h. als produziertes Produktionsmittel vom Kapital im historisch-rechtlichen Sinne, d. h. als einen Teil des Erwerbsvermögens, vornahm, ist diese Unterscheidung noch weiter auszudehnen. Auch die Grundrente im rein ökonomischen Sinne als naturaler Ertragsüberschuß bestimmter Grundstücke  müßte scharf getrennt werden von der Grundrente im historisch-rechtlichen Sinn als Einkommensquote bestimmter Grundbesitzer. 

Hierbei ist zu beachten, daß diese sogenannten "rein-ökonomischen" Begriffe gar keine nationalökonomischen, sondern naturwissenschaftlich-technische Begriffe sind, die wir in der Nationalökonomie zur Anwendung bringen.

Eine "reine Ökonomie" im Sinne mancher Nationalökonomen, die ein Begriffssystem aufgebaut haben, unabhängig von jeder Organisation, nur aus der Abhängigkeit der Menschen von der begrenzten Güterwelt deduzierend, führt zu methodologischen Irrungen.

Wenn also die nationalökonomischen Begriffe stets eine bestimmte Organisationsform voraussetzen, so darf natürlich bei der Aufstellung dieser Begriffe kein Werturteil über dieselbe in den Begriff selbst hineingebracht werden (34). Man mag über die volkswirtschaftlichen Wirkungen des Privatkapitals noch so sehr auseinandergehen, in der Begriffsbestimmung desselben könnte völlige Einigkeit herrschen.

Diese klare Begriffsabgrenzung ist es aber nicht allein, was von seiten der theoretischen Nationalökonomie dem Wirtschaftspolitiker geboten werden kann. Auch über die  Bewegungstendenzen  der wichtigsten Grunderscheinungen des Wirtschaftslebens, wie Lohn, Zins, Rente, Gewinn etc. und ihre gegenseitigen Zusammenhänge kann sie wertvolle Aufschlüsse bieten.

Gerade aber bei der Behandlung dieser Probleme, z. B. der Frage: wie hat sich der Arbeitslohn, die Grundrente, der Kapitalzins im 19. Jahrhundert entwickelt, und in welchem Zusammenhang steht die Entwicklung dieser Einkommenszweige untereinander? muß der Nationalökonom auf die Schwierigkeiten hinweisen, welche der objektiven und einheitlichen Beantwortung entgegenstehen. Gegenüber der apodiktischen [unumstößlichen - wp] Sicherheit, mit welcher zur Beantwortung dieser Fragen früher auf einige wenige "Gesetze" hingewiesen wurde, müssen heute die vielen  unsicheren Faktoren  hervorgehoben werden, die dabei mitspielen. Zunächst ist das statitische und historische Material meist nicht vollständig genug, um zu ganz zuverlässigen Resultaten zu gelangen. So einfach es ist, die Entwicklung der Löhne etwa für ein bestimmtes Unternehmen und für einen kürzeren Zeitraum festzustellen, so schwer ist es, über die Gestaltung des durchschnittlichen Lohnniveaus etwa in Deutschland in den letzten 50 Jahren zu einem richtigen Gesamturteil zu kommen. In diesem speziellen Fall kommt noch hinzu, daß, wenn man auch eine lückenlose Statistik der gesamten Nominallöhne zur Verfügung hätte, auch noch die Höhe der Lebensmittelpreise und die Entwicklung des Geldwertes berücksichtigt werden müssen. Unvermeidlich wird daher auch bei der Beurteilung dieser Fragen der subjektive Standpunkt des Beurteilenden eine Rolle spielen. Eine  communis opinio  [allgemeinen Meinung - wp] wird in solchen Fragen kaum möglich sein.

Dazu kommt noch ein weiteres. Alle die genannten Erscheinungen unterliegen fortwährenden Veränderungen. In gewisser Hinsicht gelangen daher diese Theorien nie zu einem Abschluß (35). Die zusammenfassenden systematischen Sätze müssen immer wieder revidiert und an den Tatsachen geprüft werden. Solche Veränderungen sind nicht nur bedingt durch Änderungen der Rechtsordnung und Gesetzgebung. Auch im Rahmen derselben Rechtsordnung können Änderungen eintreten, welche die Gestaltung der wirtschaftlichen Phänomene wesentlich beeinflussen. Durch technische Umwälzungen, z. B. durch eine weitgehende Verdrängung der Handarbeit durch arbeitsparende Maschinen können die Tendenzen des Arbeitsmarktes wesentlich modifiziert werden. Ohne daß das Rechtssystem des freien Arbeitsvertrages geändert wird, können durch eine freiwillige Entschließung der Kontrahenten wichtige Einwirkungen auf die Einkommensverhältnisse stattfinden, z. B. durch eine Beteiligung der Arbeiter am Unternehmergewinn, durch die Einführung des Achtstundentages etc. Wie sehr sind die Preisgestaltungstendenzen des Systems der sogenannten freien Konkurrenz dadurch verändert worden, daß ohne gesetzliche Abänderung dieses Systems auf dem Weg einer freien Vereinbarung der Unternehmer durch Kartelle diese Konkurrenz eingeschränkt wurde! Durch die Vielgestaltigkeit aller solcher einwirkenden Faktoren wird die Lösung der sogenannten Probleme vollends erschwert.

Aus all dem folgt, daß, wenn schon der Nationalökonome bei der Beurteilung der  bisherigen  Gestaltung der Einkommensverteilung den Mangel an Exaktheit zugestehen muß, er mit noch größerer Vorsicht zu verfahren hat, wenn er sich über die mutmaßliche  künftige  Entwicklung äußßern soll, oder die Frage zu beantworten hat, wie etwa eine bestimmte Steuer- oder Zollpolitik auf die Güterverteilung wirkt. Nicht mit dem Hinweis auf ein paar allgemeine Gesetze nach Art der älteren Nationalökonomie, sondern durch die Feststellung zahlreicher Regelmäßigkeiten muß die Verschlungenheit und Kompliziertheit des Problems immer von neuem erwiesen werden. Ein Finanzminister z. B., der beobachtet, daß der Zinsfuß eine Reihe von Jahren hindurch fortwährend sinkt, würde, wenn er hierin einfach eine Betätigung des Gesetzes der sinkenden Zinsrate erblicken würde, viel leichter zu einer Konversion von Staatspapieren schreiten, als wenn er, wie es richtig ist, auch die vielen anderen Tendenzen beachtet, die diesem sogenannten Gesetz entgegenstehen.

Trotzdem hat man bis in die neueste Zeit hinein mit solchen angeblichen Gesetzen in der Politik operiert.

Es ist bekannt, wie gerade aus Arbeiterkreisen heraus mit dem Hinweis auf das sogenannte eherne Lohngesetz gegen die Konsumvereine agitiert wurde, weil die Vorteile solcher Vereine wegen dieses "Gesetzes" den Arbeitern doch nicht zugute kämen. In einem ungarischen Gesetzentwurf zur Regelung der Kartelle, der vor einigen Jahren erschien, findet sich eine Bestimmung, die offenbar den Zweck hat, die Preise gemäß dem Produktionskostengesetze der klassischen Nationalökonomie zu regeln. Es heißt in § 12: "Der Kartellvertrag kann angefochten werden, wenn die Kartellparteien die Kartellpreise so beeinflussen, daß die Differenz zwischen Produktionskostenpreis und Verkehrspreis den allgemein gebräuchlichen Nutzen in auffallend unverhältnismäßiger Weise übersteigt." (36) - Es liegt hier also die Anschauung zugrunde: Es gibt einen normalen Warenpreis, der sich berechnen läßt, wenn man zu den durchschnittlichen Produktionskosten den Durchschnittsprofit hinzuschlägt. In der neueren theoretischen Nationalökonomie ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es eine solche "normale Preisbildung" tatsächlich gar nicht gibt, ganz abgesehen von der Frage, ob es wünschenswert wäre, eine derartige Preisbildung erzwingen zu wollen.

Der Nationalökonom muß sich daher des  subjektiven Charakters  vieler seiner Forschungsergebnisse bewußt bleiben. Dies gilt schon, wenn er die Entwicklung der Vergangenheit kausal erklärt; dies gilt in noch weit stärkerem Maß, wenn er  Normen für die Politik  aufstellt oder kritisiert. "Als handelte es sich um irgenein den Leidenschaften entrücktes Problem der parteilosesten aller Wissenschaften, der Mathematik", erklärte BRENTANO seinen Zuhörern in einer Rede zugunsten des Freihandels, "so bitte ich Sie, meinen Ausführungen zu folgen" (37) - derselbe Autor, der bei seiner vorhin erwähnten Antrittsrede in Wien im Jahre 1888 nicht scharf genug den Absolutismus der Lösungen seitens der klassischen Nationalökonomie tadeln konnte. Von "Parteilosigkeit" kann aber hier keine Rede sein. Es ist BRENTANOs gutes Recht, den Freihandel für das beste handelspolitische System zu halten; er wird aber den übrigen Nationalökonomen das Recht nicht abstreiten können, einem anderen handelspolitischen System den Vorzug zu geben. Eine neutrale, wissenschaftlich allein haltbare Lösung gibt es in solchen Fragen nicht. Sobald der Nationalökonom das Gebiet der Politik betritt, fällt auch er Werturteile und vertritt Kulturideale, kurz, er ist nicht minder subjektiv wie der Politiker.

Verglichen mit dem stolzen Anspruch, den die Begründer unserer Wissenschaft erhoben hatten, erkennen wir der Nationalökonomie nur eine sehr bescheidene Stelle in der Politik zu. Meister der Politik wollte die Väter unserer Wissenschaft sein: Es soll nur gelten, die natürlichen Gesetze der ökonomischen Ordnung zu erforschen, um diese dann dem Politiker als Richtschnur seines Verhaltens anzugeben.

Eine solche Herrschaft kann sich die Nationalökonomie gar nicht anmaßen, weil ihr Charakter einer "exakten" oder "Gesetzeswissenschaft" völlig abgeht.

Bis zu welcher Verirrung die Auffassung der Nationalökonomie als "exakte" Wissenschaft führt, dafür noch ein Beispiel aus jüngster Zeit.

In den letzten Jahren sind in England einige Bücher erschienen, worin die zweckmäßigste Art der Kapitalanlage aufgrund "exakter Wissenschaft" dargelegt wird. Die eine Schrift dieser Art ist von HENRY LÖWENFELD verfaßt: "Investment an exact science", die andere von EDWARD LAW: "Scientific investment". Diese ist unter dem Titel: "Kapitalanlage als Wissenschaft" ins Deutsche übersetzt worden (38).

Es wird dort auseinandergesetzt, daß die Grundlagen der "wissenschaftlich" betriebenen Kapitalanlage auf der Erkenntnis des Gesetzes" der Verteilung des Risikos und der Anwendung dieses "Gesetzes" in der Auswahl der Wertpapiere bei Kapitalanlage beruhten. Man könne sein Kapital nur auf rationale Weise sicherstellen, wenn man das "Gesetz von der geographischen Verteilung des Risikos" beachtet. Gemäß diesem "Gesetz" soll man sein Kapital in Wertpapieren verschiedener Länder, nicht eines Landes, anlegen.

Diejenigen, welche diesem "Gesetz" entsprechend handeln und dabei Vermögensverlust erleiden, werden schließlich die wissenschaftliche Nationalökonomie hierfür verantwortlich machen.

Doch von solchen Verirrungen abgesehen, die "exakten" volkswirtschaftlichen Erkenntnisse werden auch sonst gerne zur Stütez aller möglichen wirtschaftspolitischen Richtungen herangezogen.

So erfreulich es ist, daß in neuerer Zeit das Interesse für die theoretisch-systematische Nationalökonomie sich wieder mehr belebt, so sehr ist zu hoffen, daß bei der Betätigung dieses Interesses die Fehler früherer Zeit vermieden werden, daß vor allem der Dogmatismus und Doktrinarismus der älteren klassischen Periode keine neue Auflage erlebt.

Nicht "ewige wirtschaftliche Gesetze" gilt es zu finden, sondern die immer wechselnden, immer neuen Phänomene zu erforschen und aufzuhellen. Das Ideal, das ROSCHER vorschwebte, der, wie wir sahen, von der Meinung ausging, die Nationalökonomie habe Naturgesetze zu erforschen, und es müßte daher "gerade in tief bewegter Zeit, wo der gute Bürger oft verpflichtet ist Partei zu nehmen allen redlichen Parteimännern erwünscht sein, im Gewoge der Tagesmeinungen zumindest eine feste Insel wissenschaftlicher Wahrheit zu besitzen, die ebenso allgemein anerkannt wäre, wie die Ärzte der verschiedensten Richtungen die Lehren der mathematischen Physik gleichmäßig anerkennen" (39) - dieses Ideal ist unerreichbar.

Eine solche Insel in den Wogen des Kampfes, wohin sich die Streiter der verschiedenen Parteien zum Waffenstillstand zurückziehen könnten, bildet die Nationalökonomie nicht.

Wer als Nationalökonom die politische Arena betritt, ergreift selbst Partei, tritt nicht als Friedensstifter auf, sondern als Mitkämpfer für bestimmte Ideale, für bestimmte Überzeugungen, von denen in letzter Linie seine Stellungnahme abhängt. Genug, wenn er dazu beitragen kann, daß die Waffen auf beiden Seiten "gut und gleich" sind.

Daß seine Meinung den wirtschaftspolitischen Fragen gegenüber eine subjektive ist, braucht den Jünger unserer Wissenschaft nich abzuschrecken: Im Gegenteil, es übt einen eigenen Reiz aus, seine Kraft einer Wissenschaft zu widmen, die einsieht, daß dort Probleme vorliegen, wo man früher glaubte, feste, unumstößliche Wahrheiten erkennen zu können. Die Meinung aber, die gelegentlich aufgestellt wurde, daß die Nationalökonomie aufhört, Wissenschaft zu sein, sobald sie darauf verzichtet, Gesetze aufzustellen, beruth auf der irreführenden Neigung, die von den Naturwissenschaften angewandten Wissenschaftsmethoden als die allein zulässigen zu halten. (40)

Wissenschaft und Politik werden besser fahren, wenn sie sich stets der engen Schranken bewußt bleiben, die der sozialwissenschaftlichen Forschung, verglichen mit der naturwissenschaftlichen, gezogen sind.

Der Politiker wird gut tun, sich auf sogenannte "nationalökonomische Autoritäten" nur dann zu berufen, wenn er ihnen streng empirisch beglaubigtes Material entnimmt, nicht zur Stütze bestimmter politischer Endziele - hier gibt es keine "wissenschaftlichen Autoritäten" - ein solches Verfahren hätte auch den weiteren fatalen Nachteil, daß der politische Gegner sofort eine andere "Autorität" zitieren könnte, die gerade auf dem entgegengesetzten Standpunkt steht.

Der wissenschaftliche Nationalökonom hat alle Ursache, sich überhaupt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einer politischen Betätigung aufzuerlegen. Wenn er es indessen für angemessen hält, am politischen Kampf teilzunehmen, so sollte er keinen Zweifel darüber lassen, daß bei dieser seiner Betätigung von streng objektiver Wissenschaft nicht die Reden sein kann.
LITERATUR Karl Diehl, Die Bedeutung der wissenschaftlichen Nationalökonomie für die praktische Wirtschaftspolitik [Akademische Antrittsrede, gehalten am 25. Februar 1909 an der Universität Freiburg i. Br.] Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, Bd. 37, Jena 1909
    Anmerkungen
    1) Immanuel Kants vermischte Schriften, Bd. 3, Halle 1799.
    2) a. a. O., Seite 181
    3) a. a. O., Seite 248
    4) STIEDA, Die Nationalökonomie als Universitätswissenschaft (Bd. XXV der Abhandlungen der philosophisch-historischen Klasse der Königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Nr. II, Leipzig 1906, Seite 9
    5) STIEDA, a. a. O., Seite 25
    6) STIEDA, a. a. O., Seite 31
    7) STIEDA, a. a. O., Seite 145
    8) SCHREIBER, Geschichte der Albrecht-Ludwig-Universität Freiburg, III. Teil, Freiburg 1860, Seite 120.
    9) STIEDA, a. a. O., Seite 231
    10) QUESNAY, Oeuvres économiques et philosophiques, ed. Oncken, 1888, Seite 359.
    11) RICHARD COBDEN, Speeches on questions of Public Policy, edited by John Bright and James E. Th. Rogers, London 1880, Seite 35
    12) PRINCE-SMITH, Berlin 1861, Seite 4
    13) PRINCE-SMITH, a. a. O., Seite 5
    14) RUDOLF STAMMLER, Wirtschaft und Recht, Leipzig 1906
    15) In deutscher Übersetzung von MARQUARDSEN unter dem Titel: "Einleitung in das Studium der Soziologie", erschienen Leipzig 1896.
    16) WOLTMANN, Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus, Düsseldorf 1899
    17) Theoretische Sozialökonomik, Leipzig 1895, Seite 83f
    18) CARL MENGER, Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften, Leipzig 1883, Seite 19.
    19) JOSEPH SCHUMPETER, das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, Leipzig 1908, Seite 241.
    20) Leben, Werk und Zeitalter des Thukydides, Göttingen 1892, Seite VII.
    21) Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart 1882, Seite 56
    22) Frankfurt am Main 1848
    23) Grundriß der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, II. Teil, Leipzig 1904, Seite 557.
    24) a. a. O., Seite 46
    25) a. a. O., Seite 51
    26) Grundlegung der politischen Ökonomie, I. Teil, Leipzig 1892, Seite 15
    27) a. a. O., Seite 15
    28) a. a. O., Seite 83
    29) WILHELM WUNDT, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1907, Seite 19
    30) Logik, Bd. 2, Methodenlehre, II. Abteilung, Stuttgart 1895, Seite 236. Ebenso ALFRED WENZEL: "Auch in der Wirtschaftslehre tritt deutlich zutage, daß, je tiefer sie in die Analyse der wirtschaftlichen Erscheinung vordringt, umso mehr sich die  Psychologie  als ihr unentbehrliches Fundament geltend macht." (Beiträge zur Logik der Sozialwirtschaftslehre, Philosophische Studien, Bd. 10, Seite 484)
    31) Gegen die Aufstellung historischer Gesetze siehe von BELOW, Die neue historische Methode, Historische Zeitschrift, Bd. 58.
    32) Über Zweck und Ziele des Jahrbuchs. In  Schmollers Jahrbuch,  1881, Seite 7.
    33) LUJO BRENTANO, Die klassische Nationalökonomie, Leipzig 1888, Seite 28.
    34) Wie oft hiergegen gefehlt wird, zeigt treffend PINKUS, Das Problem des Normalen in der Nationalökonomie, Leipzig 1906.
    35) Richtig bemerkt von ZWIEDINECK: "Mit dem Glauben an die Beständigkeit und Allgemeingültigkeit irgendeiner Grundlehre ist daher überhaupt zu brechen. Auch hier ist alles Sein Entwicklung und der volkswirtschaftlichen Theorie entstehen auch auf diesem engstem Rahmen stets neue Aufgaben (Kritisches und Positives zur Preislehre, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Tübingen 1908, Seite 596).
    36) Ein Entwurf zu einem Gesetz über die Kartellverträge, Budapest 1904
    37) Das Freihandelsargument, Berlin 1901, Seite 4. Schon PRINCE-SMITH hatte im Namen der "unparteiischen Wissenschaft zur Wahrung des Allgemeininteresses und gegen die Forderungen unwissenschaftlicher Sonderinteressen" den Freihandel gefordert. (In seiner Schrift: "Über die Nachteile der Industrie durch Erhöhung der Einfuhrzölle", Elbing 1845. Siehe auch BECKER, Das Deutsche Manchestertum, Karlruhe 1907, Seite 65.
    38) London 1908
    39) Grundlagen der Nationalökonomie, Stuttgart 1887, Seite 56
    40) Auch GOTTL spricht von dem  Vorurteil,  als ob auch die Sozialwissenschaft, um Wissenschaft zu bleiben, in Allgemeinbegriffen und "Gesetzen" aufgehen müsse. (Zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, Archiv für Sozialwissenschaft, 1909, Seite 73)