ra-2B. BauchK. KromanA. Schopenhauervon EhrenfelsN. Hartmann    
 
ERICH ADICKES
Ethische Prinzipienfragen
[1/3]

"Gut machen kann die wissenschaftliche Ethik nicht, sie setzt gute Menschen voraus und wendet sich mit ihren Normen nur an die Guten; sie beansprucht nichts weiter, als den, der gut handeln möchte, darüber aufzuklären, was gut ist. Ist der Wille zum Guten da, so kann der Einfluß der Ethik auch auf den Einzelnen mittels der großen geistigen Strömungen ein bedeutender sein."

"Die meisten Ethiker waren bislang absolut. Für sie hört die Moral auf, eine Wissenschaft zu sein, wenn es nicht absolut notwendige Moralprinzipien gibt, zu deren Anerkennung jeder auf dem Weg logischer Beweisführung gezwungen werden kann. Bloß psychologische Gesetzlichkeit genügt nicht, da sie nur eine subjektive, nur für das einzelne Individuum gültige ist. Was man verlangt, ist eine logische überindividuelle Notwendigkeit, mit strengster objektiver Allgemeingültigkeit verbunden."

"Die Ansicht des Altertums, daß Tugend lehrbar ist und durch die Mitteilung abstrakter Erkenntnisse auch dem Schlechten eingeimpft werden kann, hat sich nach zweitausendjähriger Erfahrung als irrig erwiesen. Trotzdem gibt es freilich auch heute noch Träumer, die glauben, die Einsicht allein gestaltet und lenkt den Willen, so daß sich die Menschheit durch Aufklärung und Belehrung über die Forderungen der Vernunft einem paradiesischen Zustand voll Frieden, Unschuld und Gerechtigkeit immer mehr annähern kann."

Die Besprechung der nachstehenden Werke hat geraume Zeit auf sich warten lassen. Schuld daran ist die Doppellast, welche auf mir ruht: außer einem Extraordinariat volle Lehrtätigkeit an einer höheren Schule: dazu noch die Mitarbeit an der KANT-Ausgabe der Berliner Akademie. Infolge dieser Häufung von Arbeit ist es nicht wahrscheinlich, daß ich in absehbarer Zeit die schon lange Jahre betriebenen ethischen Studien wenigstens zu einem vorläufigen Abschluß bringe und ihren Ertrag in einem projektierten größeren Werk veröffentliche. Deshalb sei mir gestattet, bei dieser Gelegenheit einige ethische Prinzipienfragen etwas eingehender zu besprechen als bisher (besonders in der "Deutschen Literaturzeitung") möglich war. Es handelt sich um vier Punkte: I. Ethik und Werttheorie (Absolutismus und Relativismus in der Moral); II. Eudämonismus (Utilitarismus); III. Folgen der deterministischen Weltanschauung für die Moral; IV. Ethik (Philosophie) und Soziologie.


I. Ethik und Werttheorie
(Absolutismus und Relativismus in der Moral)

A. Dieses Thema wird in einem bedeutsamen Werk behandelt, welches zum erstenmal versucht, die gesamten Probleme der Wertwissenschaft in einem geschlossenen Zusammenhang zu erörtern. Es ist das "System der Werttheorie" von CHRISTIAN von EHRENFELS. Bisher sind zwei Bände erschienen. Beide Bände sind eine Erweiterung und Umgestaltung von Aufsätzen, welche der Verfasser unter den Titeln "Werttheorie und Ethik" und "Über Fühlen und Wollen" in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (1893, 1894) und in den Sitzungsberichten der philosophisch-historischen Klasse der Wiener Akademie (1887) veröffentlichte. Mit Recht wirft EHRENFELS den Philosophen vor, sie hätten die Erörterung der Wertphänomene bisher fast ganz der Nationalökonomie überlassen, während doch für Psychologie und Ethik hier große Aufgaben harrten. Das Versäumte will er nachholen. Der noch ausstehende dritte Band seines "Systems" soll die ethisch-ökonomischen Werttatsachen und -probleme bearbeiten und zugleich die rein ökonomische Wertlehre einer logischen und psychologischen Prüfung unterziehen.

Das letzte Drittel des ersten Bandes trägt den Titel "Analyse des Begehrens". Dieser Teil hat einen rein psychologischen Charakter und führt Untersuchungen fort, die im ersten Teil Seite 41 abgebrochen wurden. Gleich zu Anfang nämlich kommt EHRENFELS zu dem Resultat, daß man über den Wertbegriff selbst zu einer Klarheit kommen kann, wenn man nicht die Phänomene des menschlichen Fühlens und Begehrens einer eingehenden Prüfung unterzieht. Von dieser Prüfung wird dann nur das Notwendigste vorweggenommen und das Übrige als besonderer dritter Teil an den Schluß des Bandes gestellt.

Daß jeder, welcher die Probleme der Wertwissenschaft behandeln will, zuvor die Erscheinungen des emotionalen Lebens gründlich untersucht haben muß, ist selbstverständlich. Aber ob es notwendig oder empfehlenswert war, einem "System der Werttheorie" diese ganzen Untersuchungen einzuverleiben, ist mir fraglich. Zumal sie schon gedruck vorlagen in des Verfassers Aufsatz "Über Fühlen und Wollen", von dem nicht ganz die Hälfte fast unverändert übernommen ist! Und zumal am Schluß (Seite 276) behauptet wird, daß die vorgetragene
    "allgemeine Werttheorie nebst allen Folgerungen, denen sie das Dessin [fortlaufende Muster - wp] gibt, nicht an die Voraussetzungen irgendeiner speziellen psychologischen Schule appelliert, sondern vom Standpunkt jeder Psychologie aus, welche nur den breitesten empirischen Tatbeständen Gerechtigkeit widerfahren läßt, im wesentlichen Kern ihrer einzelnen Thesen Anerkennung beanspruchen darf".
Ich bezweifle, daß dem so ist. Aber der Verfasser meint es un hatte dann umsomehr Grund, seine psychologischen Ansichten - nicht etwa zu verbergen, wohl aber - nicht ausführlich zu begründen, sondern nur kurz in ihren Resultaten mitzuteilen.

Mich mit der Willenstheorie des Verfassers auseinanderzusetzen, würde eine besondere Abhandlung erfordern. Ich begnüge mich damit, seine zwei Hauptsätze abzudrucken und meine entgegengesetzte Stellung anzudeuten.
    "Alle Akte des Begehrens werden sowohl in ihren Zielen wie in ihrer Stärke von der relativen Glücksförderung bedingt, welche sie gemäß den Gefühlsdispositionen des betreffenden Individuums bei ihrem Eintritt ins Bewußtsein und während ihrer Dauer in demselben mit sich bringen." (Seite 41)

    "Ein besonderes psychisches Grundelement Begehren (Wünschen, Streben oder Wollen) gibt es nicht. Was wir Begehren nennen, ist nichts anderes, als die - eine relative Glücksförderung begründende - Vorstellung von der Ein- oder Ausschaltung irgendeines Objekts in das oder aus dem Kausalgewebe um das Zentrum der gegenwärtigen konkreten Ichvorstellung." (Seite 248f)
Das Begehren ist also nur einer der Fälle, in denen das Gefühl den Vorstellungslauf beeinflußt.

Ich für meine Person halte es für ein unmögliches Beginnen: das Begehren als etwas Sekundäres aus ursprünglicheren geistigen Vorgängen abzuleiten. Gefühl und Erkennen, rein für sich betrachtet (also in einer Isolierung, in welcher sie das wirkliches Geistesleben niemals zeigt), tragen nichts in sich, was einem Streben oder Begehren auch nur entfernt ähnlich sieht. Sie können letzteres daher auch nie aus sich heraus erzeugen. Das Gefühl geht nur auf den eigenen Zustand und charakterisiert ihn als angenehm oder unangenehm, ohne den einen zu suchen und den andern zu fliehen. Das Vorstellen will nur das Objekt widerspiegeln, aber es wertet nicht und wählt nicht. Die Brücke zwischen Subjekt und Objekt schlägt allein das Begehren, eine mindestens ebenso ursprüngliche Äußerung unseres Organismus wie das Fühlen und Erkennen. Alle Versuche, es aus einem von diesen beiden oder aus beiden zusammen abzuleiten, haben nur dann einen scheinbaren Erfolg, wenn man in das angeblich Primäre von vornherein ein Streben hineinlegt: in diesem Fall hat man freilich keine große Mühe es nachher wieder herauszuholen. Aber bewiesen oder erklärt ist damit nichts. Auch bei EHRENFELS trifft dieser Vorwurf durchaus zu. Wenn er vom Einfluß des Gefühls auf den Vorstellungsverlauf, von einem "Haften der Phantasie an der subjektiven Wirklichkeit", von der Vorstellung der Ein- oder Ausschaltung eines Objekts und ähnlichen Dingen spricht, so haben alle diese Ausdrücke, genau betrachtet, nur dann Sinn und Bedeutung, wenn man das Vorhandensein eines primären selbständigen Strebens oder Begehrens voraussetzt. Das Gefühl z. B. hat als solches überhaupt gar keinen Einfluß auf den Vorstellungsverlauf. Es begutachtet nur die einzelenen Vorstellungen in ihrem Verhältnis zum Gesamtzustand. Weil ich bewußt oder unbewußt danach strebe, die mir angenehmen Vorstellungen zu erhalten und zu verstärken: nur darum vermag das Gefühl den Vorstellungsverlauf zu beeinflussen. Ja, man kann noch weiter gehen und sagen: es würde überhaupt kein Gefühl geben, wenn nicht im Menschen Anlagen wären die sich entwickeln, Triebe, die sich äußern, Fertigkeiten, die sich betätigen, Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Hätte der Mensch kein Bedürfnis, keinen Trieb nach Nahrung, so würde er auch kein Hungergefühl haben: das erkannte schon der weise HUME.

Nun zur Werttheorie! Sie zerfällt bei EHRENFELS in zwei Hauptteile; der erste handelt vom allgemeinen Wertbegriff und seinen Derivaten [Ablegern - wp], der zweite von den Gesetzen der Wertveränderungen. Der "Wert" ist
    "keine Eigenschaft oder gar ein Bestandteil der äußeren Dinge, etwas wie ein ideeller Feingehalt oder eine übersinnliche Essenz der Dinge, deren Vorhandensein in den Dingen diese dem Menschen erst begehrbar macht" (Seite 2).
Der Wert eines Dings ist vielmehr seine Begehrbarkeit oder genauer:
    "Wert ist eine Beziehung zwischen einem Objekt und Subjekt, welche ausdrückt, daß das Subjekt das Objekt entweder tatsächlich begehrt oder doch begehren würde, falls es von dessen Existenz nicht überzeugt wäre." (Seite 65)
Nachdem diese Definition gewonnen ist, beschäftigt sich EHRENFELS bis zum Schluß des ersten Teils (Seite 115) mit den Varianten und Derivaten des allgemeinen Wertbegriffs, der Einteilung der allgemeinen Werte, der Bemessung der Wirkungswerte (welche nicht wie die Eigenwerte um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Wirkungen begehrt werden), den Kollektivwerten, den Wertirrtümern und den wichtigsten tatsächlichen Wertobekten.

Der zweite Teil (bis Seite 176) ist zum größten Teil wörtlich aus der "Vierteljahrsschrift" übernommen. Unter Werveränderungen versteht EHRENFELS nicht Veränderungen von Wertobjekten, sondern von Wertungen. Die der Eigenwerte sind nur von den dauernden Veränderungen der Gefühlsdispositionen abhängig, die der Wirkungswerte außerdem noch von zahlreichen anderen Umständen. Es würde zu weit führen, auf die Ausführungen dieses Teils näher einzugehen. Sie sind nach meiner Ansicht die interessantesten des ganzen Werkes und dem Verfasser am besten gelungen.

Auf der allgemeinen Werttheorie baut sich sodann im zweiten Band die Ethik auf. Sie ist ein Zweig jener. Denn
    "die fundamentalen Tatbestände aller ethischen Lebensäußerungen - die Hochschätzung des Guten und die Mißachtung des Bösen - sind Wertphänomene".
Ferner spielen in der Ethik von Alters her die absoluten Werte eine große Rolle: auch ihre Untersuchung ist eine spezifisch ethische. Dazu kommt für EHRENFELS persönlich noch ein dritter Grund, daß nämlich
    "zumindest in unserer Kulturwelt auch die durch ethische Wertungen getroffenen Objekte - das Gute und das Böse - selbst wieder Wertungen (Gefühls- oder Begehrungsdispositionen) sind". (Seite 6)
So wird die Ethik zu einer Psychologie der sittlichen Werttatsachen. Zugleich kann nur auf diese Weise die alte Streitfrage entschieden werden, ob es absolute Normen in der Ethik gibt oder nicht.

Auf des Seite 7 bis 69 schlägt EHRENFELS den Weg der "ethischen Realanalyse" ein, indem er die "ethisch" genannten Tatbestände auf ein gemeinsames charakteristisches Merkmal hin untersucht. Als das eigentlich ethisch Wertvolle stellen sich dabei gewisse Gefühls- bzw. Begehrungsdispositionen heraus; Handlungen dagegen werden ethisch nur als Indizien gewertet, insofern sie auf das Vorhandensein oder den Mangel dieser Dispositionen schließen lassen. Unter den letzteren sind nicht etwa alle gemeinnützigen auch ethisch wertvoll, sondern nur diejenigen,
    "deren Anwachsen und weitere Verbreitung unter den Menschen vom Standpunkt der Förderung des Gesamtwohls aus gewünscht werden müßte". (Seite 36)
Oder allgemeiner und auch für niedrige Kulturgebiete passen:
    "Sittlich gut werden jene Verhaltenstendenzen genannt, deren Vermehrung unter einem größeren Kreis von Mitlebenden für deren Wohl förderlich, deren Verminderung schädlich sein würde." (Seite 67)
Weitere Kapitel handeln von den Gesetzen der ethischen Entwicklung, d. h. von den Gesetzen, nach welchen - bei aller Stabilität der ethischen Begriffe - sich die Veränderung der ethischen Objekte vollzieht; ferner von moralischen Maximen, Sitte und Recht; von der Individualethik und dem Gewissen; von der Annahme absoluter Werte und dem Indeteminismus. Ein Schlußabschnitt endlich stellt die gewonnenen Resultate unter umfassenden Gesichtspunkten zusammen, deckt die Beziehungen auf, deren volles Verständnis nur aus einer Übersicht über das Ganze gewonnen werden kann, und grenzt Gegenstand sowie Arbeitsplan der ethischen Spezialdisziplinen ab.

Das Werk als Ganzes ist entschieden eine wertvolle Erscheinung, die man mit Freuden begrüßen wird. Es bietet des Interessanten und Anregenden viel, freilich auch vieles was zum Widerspruch herausfordert. "Das" abschließende System ist es nicht; aber ein solches wird wohl nie geschrieben werden. Umso mehr wird EHRENFELS zu weiteren Erörterungen Anlaß geben. Ein doppeltes Verdient kann ihm nicht bestritten werden: er hat als Erster das ganze Gebiet der Werttatsachen einer umfassenden Untersuchung unterzogen und hat andererseits richtig erkannt, daß die Ethik ein sicheres Fundament nur in der Psychologie des Wertens finden kann.

Freilich, eins darf nicht verschwiegen werden: die Aufsätze in der "Vierteljahrsschrift" machen einen gewinnenderen Eindruck auf den Leser, als die beiden jetzt vorliegenden Bände. Dort meint man noch etwas von der Ursprünglichkeit der ersten Konzeption zu spüren. Die Darstellung ist frischer, der Gedankengang straffer; der Verfasser geht energischer gerade auf die Probleme los. In der erweiterten Form ist die Darstellung umständlicher, der Stil schlechter; die Sätze der "Vierteljahrsschrift" sind stellenweise durch Einschiebsel - nicht bereichert, aber - entstellt. Es werden Schwierigkeiten geschaffen und dann wieder beseitigt, die in Wirklichkeit keine sind und die auch dem Leser keinen Anlaß zu Einwänden geben würden. In das Werk ist ein übersubtiler Geist eingezogen, ein unfruchtbarer, gekünstelter Scharfsinn, wie sie sich auch in MEINONGs "Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werttheorie" geltend machen. Letzteres Werk und mündliche Einwendungen MEINONGs haben, wie EHRENFELS wiederholt betont, auf seine Ansichten fortbildend eingewirkt, wie auch zu den ursprünglichen Aufsätzen die wichtigsten Anregungen von MEINONG ausgegangen sind. Die Wissenschaft ist dafür Letzterem sehr zu Dank verpflichtet; zu bedauern bleibt aber, daß auch das Spitzfindig-Scholastische in MEINONGs Denkweise auf EHRENFELS übergegangen zu sein scheint.

B. Und nun zu meinen Bemerkungen über "Ethik und Werttheorie". Ich sagte schon: letztere muß das Fundament ersterer sein. Darin liegt ein Doppeltes. Einmal: die Ethik bedarf einer psychologischen Grundlegung (nicht einer erkenntnistheoretischen oder wie man es sonst nennen mag); anders wird sie nie zu sicheren Resultaten kommen, wird nicht Tatsachen begrifflich umschreiben und deuten, sondern sich in bloßen Worten und leeren Abstraktionen bewegen. Zweitens: es gibt keine absoluten Werte oder Normen, keine kategorischen Imperative in der Ethik.

Muß die Ethik psychologisch begründet werden, so ist sie doch deshalb nicht durch und durch Psychologie und daher auch kein Teil dieser Disziplin. In wichtigen Untersuchungen trägt sie durchaus den Charakter einer Normwissenschaft. Zwar hat sie zunächst die vorhandenen sittlichen Wertungen zu beschreiben, zu erklären, ihrem Werden und Wandel nachzuforschen und so die auf diesem Gebiet herrschenden Gesetzmäßigkeiten oder Regelmäßigkeiten (nicht aber Notwendigkeiten!) durch Induktion aufzusuchen und zu formulieren. Soweit ist sie rein deskriptiver Art. Dann aber beginnt ihr normativer Teil: sie geht darauf aus, das Tun der Menschen zu beeinflussen, ihre Charaktere, ihre Gefühls- und Begehrungsdispositionen umzugestalten, anstelle alter überlebter Werte neue lebenskräftige zu setzen. All das vermag die Ethik als Wissenschaft, wenn auch nur in beschränktem Maß. Sie wirkt zwar nicht, oder auf jeden Fall nur in ganz geringem Umfang, auf das Tun des Einzelnen direkt ein. Aber sie ist imstande, geistige Strömungen zu verstärken oder gar hervorzurufen, welche zunächst den erkennenden Menschen mit sich fortreißen und ihm neue Ideen, neue Anschauungsweisen aufzwingen, welche dann aber auch weiter auf den handelnden Menschen einwirken und ihn drängen, diesen neuen Anschauungen gemäß im Einzelfall zu werten und zu entscheiden. Freilich, gut machen kann die wissenschaftliche Ethik nicht, sie setzt gute Menschen voraus und wendet sich mit ihren Normen nur an die Guten; sie beansprucht nichts weiter, als den, der gut handeln möchte, darüber aufzuklären, was gut ist. Ist der Wille zum Guten da, so kann der Einfluß der Ethik auch auf den Einzelnen mittels der großen geistigen Strömungen ein bedeutender sein. Gerade vor unseren Augen spielt sich ein solcher Vorgang ab: der Wandel in den sozialen Anschauungen, in der Ansicht über das, was den arbeitenden Klassen gegenüber gerecht ist. Es ist kein Zufall, daß gerade in den Kreisen akademischer Bildung die Sympathien für die Arbeiterbewegung und der Wunsch nach einem fruchtbaren sozialen Forschritt früher und stärker verbreitet waren als im übrigen Bürgertum. Gewiß waren hierbei viele Momente von Einfluß. Aber eines von ihnen ist auf jenden Fall in dem Umstand zu suchen, daß die Ethik das Verantwortlichkeitsgefühl dieser Kreise geweckt und gestärkt hat, daß sie das ihrige zu der großen Bewegung beitrug, welche die Gebildeten ergriffen hat und sie treibt, von sich aus dem Aufwärtsstreben des vierten Standes entgegenzukommen. Wobei ich bitten möchte, unter "Ethik" nicht dieses oder jenes philosophische System der Ethik zu verstehen, sondern jede wissenschaftliche Erörterung der bezüglichen Fragen, also auch in der Theologie und vor allem in der Nationalökonomie. Der "Verein für Sozialpolitik" und der "evangelisch-soziale Kongreß" sind Tatsachen, welche beweisen, daß die wissenschaftliche Ethik sehr wohl dazu helfen kann, vorhandene sittliche Werte umzuwerten oder neue einzuführen, wo vorher Indifferenz herrschte.

Diese Fähigkeit der Ethik wird aber dadurch in keiner Weise berührt, daß man die Werttheorie zum Fundament wählt. Auch im letzteren Fall ist und bleibt die Ethik in einem großen Teil ihres Gebietes eine Normwissenschaft. Aber schon um dieser Normen selbst willen muß das Fundament ein psychologisches, muß ein ausgeführter deskriptiver Teil vorangehen. Die Normen würden andernfalls in der Luft schweben. Was geschehen soll, kann nur der angeben, welcher weiß, was bisher geschehen ist und was - unter den Bedingungen menschlichen Lebens und Daseins - geschehen kann.

Viele meinen nun aber, die Ethik werde degradiert, wenn man sie psychologisch und nicht erkenntnistheoretisch oder logisch begründet. Es sei dann nicht möglich, absolute Normen und Werte aufzustellen, kein kategorischer Imperativ lasse sich deduzieren, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit gehen verloren und damit auch der Charakter der Wissenschaft. Wolle man, was überbleibt, - unberechtigterweise! - noch Ethik nennen, so müsse man auf jeden Fall darauf verzichten, sie als Wissenschaft zu bezeichnen.

So lautet das Klagelied seit alter Zeit, und auch EHRENFELS weiß davon zu erzählen. Er meint mit Recht, daß durch die Aufgabe absolut verpflichtender Normen der Charakter der Wissenschaft durchaus nicht tangiert wird. Er zeigt, daß es kein wirklich sittliches Phänomen gibt, welches nicht auch ohne Zuhilfenahme absoluter Werte und Normen verständlich wäre, und daß ein derartiges Absolutes sich nirgends auffinden läßt.

Darin stimme ich ihm völlig zu. Anders ist es, wenn er weiter geht und zur Erklärung der "ausgesprochenen populären und wissenschaftlichen Tendenz", gerade in der Ethik auf absolute Wertbestimmungen zu rekurrieren, die allgemeine Neigung des menschlichen Denkens heranzieht, Relatives in Absolutes umzudeuten.

Daß in vorwissenschaftlichen Zeiten eine solche Neigung fast ausnahmslos vorhanden war und daß sie auch jetzt noch weit verbreitet ist, gebe ich ohne weiteres zu. Doch scheint sie mir nicht dem Intellekt, sonderm dem Charakter zu entstammen. Die ganze Menschheit zerfällt in zwei Typen, die in allem Gegensätze sind: ich möchte sie als Ganze oder Relative und als Halbe oder Absolute bezeichnen.

Der Ganze ist auf sich selbst gestellt, der Halbe ergänzungsbedürftig. Sein Schwerpunkt ließt außerhalb von ihm; er muß sich stützen, sich anlehnen können. Er bedarf eines Letzten, Unbedingten, Absoluten. Und darum kann er auch der Absolutist oder Absolute genannt werden. Dieses Trachten nach dem Absoluten ist nicht, wie KANT meinte, ein allgemeines Merkmal oder eine durchgehendes Eigenschaft der menschlichen Vernunft. Es ist vielmehr nur gewissen Menschen eigen und auch bei diesen keine Eigentümlichkeit der Vernunft, sondern des Charakters, etwas, was mit ihrer ganzen Lebenstendenz in innigster Verbindung steht. Darum macht sich auch der Gegensatz zwischen Halben und Ganzen auf allen Gebieten: im täglichen Leben wie in der Politik, in der Kunst wie in der Wissenschaft und Philosophie mächtig geltend. Dem Halben ist nicht wohl, wenn er sich nicht in allen seinen Meinungen und Gewohnheiten, seinen Prinzipien und Wertungen auf etwas durchaus Sicheres und Festes berufen kann. Für den Ganzen dagegen gibt es nichts Absolutes. Über jenes Gegebene drängt es ihn hinweg zu seiner Bedingung. Das Seiende vermag er nur als ein Werdendes aufzufassen und zu begreifen. Werden ist die Kategorie, welche im Mittelpunkt seiner Welt- und Lebensanschauung steht. Die historisch-genetische Betrachtungsweise ist darum für ihn ein noli me tangere [Rühr mich nicht an! - wp]; es gibt kein Gebiet, welches er ihr verschlossen sehen möchte.

In einem der nächsten Hefte der "Deutschen Rundschau" werde ich einen Essay veröffentlichen, betitelt: "Die Ganzen und die Halben: zwei Menschentypen". In ihm versuche ich das Wesen dieses Gegensatzes allseitig zu beleuchten und die Größe seiner Bedeutung auf den verschiedenen Gebieten menschlichen Lebens nachzuweisen. Hier an dieser Stelle kommt nur sein Einfluß auf die Wissenschaft und besonders auf die Ethik in Betracht.

Der Absolute treibt in der Wissenschaft mit Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit einen wahren Kultus. Diese beiden Eigenschaften verleihen in seinen Augen Allem eine ganz besondere Würde. Wo Erkenntnisse ihrer entbehren müssen, da kann von Wissenschaft nicht mehr die Rede sein. Wollte man letzteren Namen auch den Erkenntnissen zugestehen, welche durch Erfahrung und Induktion gewonnen sind, dann würe nach Meinung der Absoluten Wissenschaftlichkeit und wissenschaftliche Disziplin völlig verschwinden, das Wahrscheinliche müßte dem Gewissen, das Vielleicht dem Sicher gleichgestellt werden.

Der Relative dagegen begnügt sich völlig mit dem Maß von Allgemeinheit, was ihm Erfahrung und Induktion auf breitester Grundlage verschaffen; er glaubt an jener vielgepriesenen strikten Notwendigkeit des Absoluten nichts zu verlieren. Zumal er klar einsieht, daß sie nur ein Schemen sind und den Besitz der Absoluten in keiner Weise vermehrt. Höchstens um eine Jllusion! Notwendigkeit in den Dingen mag es geben: es wird das dem Relativen sehr wahrscheinlich sein. Aber von dieser Notwendigkeit eine notwendige Erkenntnis haben - was doch der Fall sein müßte, wenn unserem Wissen eine wahre Notwendigkeit zukäme - das ist ihm ein ganz unvollziehbarer Gedanke.

Ebenso in der Ethik! Die meisten Ethiker waren bislang absolut. Für sie hört die Moral auf, eine Wissenschaft zu sein, wenn es nicht absolut notwendige Moralprinzipien gibt, zu deren Anerkennung jeder auf dem Weg logischer Beweisführung gezwungen werden kann. Bloß psychologische Gesetzlichkeit genügt nicht, da sie nur eine subjektive, nur für das einzelne Individuum gültige ist. Was man verlangt, ist eine logische überindividuelle Notwendigkeit, mit strengster objektiver Allgemeingültigkeit verbunden. Ohne das kann nicht nur die Ethik keinen Bestand haben: auch die Sittlichkeit verfällt. Und mit den Absoluten der Wissenschaft gehen Kirche, Staat und landläufige Meinung Hand in Hand. Auch sie sind auf das Dogma eingeschworen, daß "alle Laster frei walten" würden, spräche man den Moralgesetzen ihre unbedingt verpflichtende Kraft ab.

Demgegenüber glauben die Relativen, das wirklich Gegebene zu seinem Recht bringen zu müssen. Und soviel sie suchen: nirgends finden sie die vielgerühmte Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit der Verpflichtung. Was sie finden, sind nur die Jllusionen und Vorurteile, die unerfüllbaren Forderungen und unbefriedigenden Lösungen der Absoluten.

Wird es ihnen gelingen, die Jllusionen zu zerstören, die Absoluten aus ihrer Welt der Träume an das Tageslicht der Wirklichkeit zu ziehen? Durch Gründe und Beweise sicher nicht! Denn es handelt sich hier nicht um Ansichten, die, durch Nachdenken und eine Betrachtung der Dinge gebildet, durch eben diese produzierenden Kräfte auch wieder zerstört werden könnten. Sondern es ist ein Gegensatz zweier Welt- und Lebensanschauungen und dessen, worauf diese ihrerseits wieder beruhen: der Charaktere und ganzen Lebenstendenzen.

Mitten in der Wissenschaft also, mitten in der Ethik besonders, bei grundlegenden Untersuchungen macht sich ein Gegensatz geltend, der in erster Linie nicht auf intellektuellen Momenten, sondern auf einer Verschiedenheit der Individualitäten beruth. Der Gegensatz zwischen Absoluten und Relativen, zwischen Halben und Ganzen trennt die Forscher in zwei Gruppen, zwischen denen eine tiefe Kluft gähnt, so tief, daß selbst ein gegenseitiges Verständnis oft nur schwer zu erreichen ist. Besonders die Absoluten sind gar zu leicht geneigt, eine Verschiedenheit der Auffassung dem Gegner als Dummheit anzurechnen, ein Mangel an Verständnis als bösen Willen. In der Erkenntnistheorie (beim Notwendigkeitsproblem) begnügen sie sich zumindest, mit leichtem Lächeln und Achselzucken an den seichten Gegnern - den Empiristen - vorüberzugehen. In der Ethik aber kommen sie leicht dazu, bei den Relativen nicht nur eine Charakterverschiedenheit, sondern eine Charakterschlechtigkeit zu wittern. Und doch sind derartige Vorwürfe durchaus unangebracht, mögen sie von den Absoluten oder von den Relativen ausgehen. Nicht Herzenshärte und Nicht-Wollen ist es, was die Forscher der einen Partei hindert, den Gründen der anderen beizupflichten, sondern Nicht-Können. Den Demonstrationen der Einen fehlt in den Augen der Anderen die beweisende Kraft. Ihre ganze Anlage macht es ihnen unmöglich, in dem, was die Gegenpartei vorbringt, ein durchschlagendes Argument zu erblicken. Gründe und Widerlegungen verfangen eben nicht, wo die Voraussetzungen und der Denkhabitus so verschieden sind, wo die Macht der Persönlichkeit das eigentlich Entscheidende ist. Daher die Erbitterung, mit welcher gerade solche Meinungskämpfe geführt werden. "Er müßte das zugeben, wenn er nur wollte": das ist immer der Refrain. Und doch handelt es sich durchaus nicht um ein Wollen, sondern um Können und Nicht-Können.

Das beste Beispiel für die entscheidende Rolle, welche die Individualität in diesem Punkt spielt, ist KANT. Kein deutscher Philosoph seiner Zeit wurde von HUMEs Einfluß so stark getroffen wie er. ALs erster der Deutschen verstand er die Tragweite der neuen Notwendigkeitstheorie. Aber was geschah? Er selbst gibt darüber Auskunft an bekannter Stelle. "Ich war weit entfernt, Hume in Anbetracht seiner Folgerungen Gehör zu geben." Die Revolution, die sich in KANTs Denken vollzieht, vermag auch nicht im Geringsten die rationalistischen Grunddogmen zu erschüttern. So relativ KANT über viele Dinge denkt: in seinen Ansichten über Wissenschaft und die Erfordernisse wahren Wissens, überall da also, wo er auf Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zu sprechen kommt, ist er durchaus absolut. In HUMEs Denken vermag er sich schließlich doch nicht hineinzufinden. Als völliger Umsturz erscheint ihm des gr0ßen Schotten Zweifel. Daß dieser Zweifel irrig und unberechtigt ist: das steht ihm von vornherein fest. Es fragt sich nur: wie ihn vermeiden? welcher Art müssen die Prämissen sein, um zu entgegengesetzten Resultaten zu kommen? - In der Ethik dasselbe Bild! Vielleicht ist KANT nirgends reicher an Mißverständnissen und sicher nie ungerechter, als wenn er die feindlichen Moralprinzipien bekämpft. Reinheit und Kraft des sittlichen Lebens, Autonomie und Selbstlosigkeit - alles ist nach ihm an den kategorischen Imperativ gebunden. Für die gegnerische Ansicht hat er kein Verständnis; er begreift nicht, wie man bei solchen Theorien noch sittlich sein kann. Hält er die Gegner auch nicht für böswillig, so doch sicher für denkschwach. Und was ihn zu dieser Annahme zwing, ist nicht der Intellekt, sondern etwas viel tiefer Liegendes, für Gründe und Gegengründe nicht Erreichbares: Charakteranlage und Erziehung, Jugendeindrücke und innerstes Herzensbedürfnis wirken dabei zusammen im innigsten Verein.

Solche Erscheinungen muß man verstehen lernen und sich wirklich mit dem Gedanken vertraut machen, daß beim Notwendigkeitsproblem in letzter Hinsicht nicht intellektuelle Momente, sondern die ganzen Lebenstendenzen das Ausschlaggebende sind: dann würde der Streit der Meinungen weniger erbittert und gehässig sein. Auch ich begriff früher nicht, daß die Gründe, welche von den Gegnern absoluter Moralprinzipien vorgebracht wuren, bei deren Anhängern nicht durchschlagen; auch ich war geneigt, an Verstocktheit und Verranntheit in gewisse Ansichten zu denken. Jetzt sehe ich ein, daß diese Gründe - also auch die meinigen - nicht überzeugend wirken können. Es fehlt bei den Gegnern die Aufnahmefähigkeit; ihr Werten ist ein anderes. Indem es mir gelang, den in der Polemik über Notwendigkeit und absolute Normen zutage tretenden Unterschied unter den allgemeineren Gegensatz zwischen Absoluten und Relativen zu subsumieren, erkannte ich zugleich, daß an den fraglichen Punkten Individualität und Weltanschauung in die Wissenschaft hineinragen und ihren Einfluß ausüben.

Damit ist aber zugleich gesagt, daß der Streit nie aufhören wird, ebensowenig wie die Absoluten je aussterben werden, wenn sie auch entschieden in der Abnahme begriffen sind: früher hatten sie das Terrain ganz allein inne; jetzt kommen die Relativen auch zu Wort, wenngleich jene noch immer in der Mehrzahl sind. Es ist nach dem Bisherigen auch selbstverständlich, daß ich durch die Gründe, welche ich für den moralischen Relativismus vorzubringen gedenke, keinen Absoluten zu bekehren erwarte, es sei denn, daß er durch eine Wiedergeburt seines Charakters zuvor zum Relativen wird. Aber auf Gleichgesinnte und Gleichangelegte können die nachstehenden Erörterungen wirken und Vorurteile zerstören helfen, indem sie zeigen, daß der ethische Relativismus durch die Vorwürfe und Verleumdungen, welche sich in so überreichlicher Weise gegen ihn richten, nicht getroffen wird.

C. Dreierlei möchte ich nachweisen: 1. Absolute Normen, Werte und Zwecke gibt es nicht und kann es nicht geben; 2. wären sie nachzuweisen, so erfüllten sie doch nicht das, was man sich von ihnen verspricht; 3. auch ohne sie sind die moralischen Phänomene der Verpflichtung, Schuld, Reue, des Gewissens zu erklären; auch ohne sie vermag die Ethik allen Anforderungen zu genügen, welche man billigerweise an sie stellen kann.

1. Absolute Normen, Werte und Zwecke sind noch niemals als faktisch existierend aufgezeigt worden. Deduktionen dieser wahren Portenta [Wunder - wp] hat man oft zu hören bekommen; aber so glänzend sie waren: ihre Widerlegung war jedesmal noch glänzender. Die intuitive Moral mit ihrer Annahme eines allgemein angeborenen Bewußtseins von einem Unterschied zwischen Gut und Böse sowie einer mit diesem Bewußtsein verbundenen allgemein-menschlichen Verpflichtung zum Guten kann heutzutage nicht mehr als Wissenschaft gelten.

Auch FRANZ BRENTANOs neuester Versuch, eine solche intuitive Moral zu retten, muß als durchaus mißlungen angesehen werden. Schon mit der absoluten Wahrheit ist eine heikle Sache. Nach BRENTANO soll sie allen Urteilen zukommen, welche das Merkmal der Evidenz an sich tragen. Das Gegenteil solcher Urteile soll niemals und von niemandem mit Evidenz gefällt werden können. Ich meine, die Erfahrung beweist das gerade Gegenteil. Wieviel diametral entgegengesetzte Ansichten sind schon als selbstevident und denknotwendig verkündet worden? Denknotwendigkeit und Evidenz sind eben für Verschiedene verschieden. Nicht nur der Intellekt entscheidet da: auch die persönliche Eigenart hat mitzusprechen. Und selbst der Intellekt kann aufgrund derselben Prämissen zu verschiedenen Resultaten kommen. Man denke nur an die vielen Beweise für ein allgemeines Kausalgesetz oder für die Existenz einer transsubjektiven Außenwelt. Von ihren Erfindern wurden sie natürlich als denknotwendig angesehen, von andern aber ohne Mühe als nicht stringent erwiesen oder widerlegt. Und nun gar auf emotionalem Gebiet! Auch hier meint BRENTANO an gewissen Akten des Begehrens (oder, wie er sagt, des "Liebens" und "Hassens") eine Besonderheit wahrzunehmen, welche sie als "richtig" charakterisiert, die entgegengesetzten als falsch. Es soll da eine Art Evidenz vorliegen, ganz ähnlich wie bei den evidenten Urteilen. Und das Objekt, worauf sich diese richtigen, quasi-evidenten Akte des Begehrens richten, ist das absolut Wertvolle, absolut Gute. Auf das entgegengesetzte Böse dagegen sollen sich niemals und bei niemandem Begehrungsakte beziehen können, welche jenes Merkmal der Richtigkeit oder Quasi-Evidenz an sich tragen. Jeder Mensch bringt also in diesem Merkmal ein Kennzeichen mit auf die Welt, an dem er ohne weiteres das Gute vom Bösen unterscheiden kann. Aber, wenn es schon auf intellektuellem Gebiet eine solche entscheidende Evidenz erfahrungsmäßig nicht gibt, dann erst recht nicht auf emotionalem. Der Wandel sittlicher Werte und Begriffe beweist das, ferner die Tatsache, daß sich über den Geschmack nicht streiten läßt, daß es nichts in der Welt gibt, was von diesem oder jenem nicht schon begehrt oder verabscheut worden wäre. Allerdings doch mit einer Ausnahme: die Lust, ganz abstrakt vorgestellt, kann nie verabscheut werden. Und insofern hat BRENTANO Recht, wenn er der Liebe zur Lust (dem Begehren nach Lust) das Merkmal der Quasi-Evidenz zuschreibt. Aber ist damit irgendetwas gewonnen? Jede konkrete Lust kann unter bestimmten Umständen verabscheut werden. Aber freilich nur, weil dieses Verabscheuen dann mit größerer Lust verbunden ist oder verbunden sein würde, wenn man überhaupt im jeweiligen Augenblick auf den Lusteffekt seines Tuns achtet. BRENTANOs Formel von der "Richtigkeit" der "Liebe zur Lust" besagt also nichts anderes, als daß jeder Mensch die Grundtatsache des emotionalen Lebens für etwas Natürliches, Selbstverständliches hält: die Tatsache nämlich, daß jeder das tut, was ihm im Augenblick am gemäßesten ist, was ihm die größte Lust verschaffen würde für den Fall, daß der Lusteffekt der Handlung überhaupt zu Bewußtsein kommt. Aus jener Formel aber etwas absolut Wertvolles ableiten: das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Denn die Lust kann ja auf Alles und Jedes gehen, kann Alles für wertvoll erklären, kann aber durch Nichts und niemanden gezwungen werden, sich stets auf ein bestimmtes Objekt (einen absoluten Wert) zu richten. Nur wenn es im Objekt der Lust oder des Begehrens eine Notwendigkeit gäbe, könnte von absoluten Werten die Rede sein.

Ein solches notwendiges Begehrungsobjekt, einen solchen logisch-notwendigen Zweck, mit dem notwendig Lust verknüpft ist, haben nun manche Forscher nachzuweisen gesucht. Aber, wie es in der Natur der Dinge liegt, ganz erfolglos. Zweck, Wert, Begehren, Lust: das sind alles ganz individuelle Kategorien, es gibt da nichts Absolutes, nichts was über die Individuen hinausgreift und doch auch wieder für jedes Individuum gültig wäre, außer der Tatsache, daß sie alle begehren, werten, Zwecke setzen, Lust empfinden und das erstreben, wonach es sie gelüstet. Aber daraus läßt sich, wie wir sahen, nichts Absolutes ableiten. Die Objekte für Lust, Begierde oder Wertung können so verschieden sein, wie die Individuen und ihre einzelnen Lebensmomente verschieden sind. Abstrakt betrachtet, gleichsam rein logisch, kann diese Verschiedenheit bis ins Unendliche gehen und so groß sein, daß die einzelnen Fälle sich nicht einmal unter Begriffe bringen lassen, daß also jede Regelmäßigkeit wegfällt. Faktisch ist innerhal gewisser Grenzen eine Gemeinsamkeit vorhanden; nicht nur Begriffe, auch Regeln und Gesetze lassen sich bilden. Aber nicht aufgrund von Deduktionen, sondern allein von gewissenhafter Induktion. Und den Regeln kommt keine größere, eher eine geringere Allgemeingültigkeit zu, als z. B. den biologischen oder diätetischen [geregelte Lebensweise - wp] Gesetzen, weil man es mit selbsttätigen Geschöpfen zu tun hat, welche mit Bewußtsein und Willen in einen Gegensatz zu Regeln treten und dadurch ihre Neuformulierung erzwingen können. Von logischer Notwendigkeit, etwa wie sie in einem mathematischen Beweis vorliegt, kann also nicht die Rede sein. Von allen Regeln, die hinsichtlich des Begehren aufgestellt werden könnten, kann es Ausnahmen geben; und jeder kann eine jede solche Regel in jedem Augenblick übertreten: er wird es tun, sobald ein solches Übertreten das ihm Gemäßere ist.

Übrigens braucht man die Herren Absoluten nur sich selbst zu überlassen: sie widerlegen sich gegenseitig. Gibt es absolute Werte oder Zwecke, so kann doch nur einer der oberste sein. Erweist nun aber der eine diesen, der andere jenen Zweck mit mathematischer Sicherheit als vernunftnotwendig: so heben sich für den unparteiischen Zuschauer die Demonstrationen gegenseitig auf, und durch all das Beweisen wird nur das Eine bewiesen, daß nichts bewiesen werden kann. So deduziert SCHUPPE das Bewußtsein überhaupt als das absolut Wertvolle, für OTTO STOCK ist das Erkennen der notwendige absolute Zweck, nach STAUDINGER der von der Vernunft notwendig geforderte durchgängige Zusammenhang aller Zwecke. Und der Relative schaut dem Streit zu und spielt den tertius gaudens [lachenden Dritten - wp]. Vermöchte eine Deduktion das Unmögliche, ihn in seinen Ansichten wankend zu machen: die Vielheit der Deduktionen würde diese Wirkung sofort paralysieren.

Aber selbst wenn es den Absoluten gelänge, einem überindividuellen, unbedingt notwendigen Zweck im Individualleben zu entdecken: er wäre doch unfähig, zum Fundament für eine Ethik zu dienen. Wenigstens für das, was man bisher Ethik nennt. Denn ihre Werte entstammen größtenteils einer sozialethischen Betrachtungsweise. Jene obersten Zwecke könnten höchstens zu einer Individualethik führen; diese aber betrachtet den Menschen in einer Vereinzelung, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, und kann sich auch zur Erklärung des ethischen Handelns nur solcher Motive bedienen, welche der Rücksicht auf das eigene Ich, nicht solcher, welche der Rücksicht auf andere Menschen entstammen. Von hüben nach drüben gibt es keine Brücke: es sei denn, daß man schon in die Individualethik sozialethische Gesichtspunkte aufnähme und den obersten Zweck von vornherein den Bedürfnissen der Gesamtheit, nicht denen des Einzelindividuums, anpaßt. Dann wäre es aber noch unmöglicher, ihn zu deduzieren, als es jetzt schon ist; und auf keinen Fall wären die "unbedingt notwendigen" Zwecke zu gebrauchen, von welchen eben die Rede war.

Gäbe es also einen obersten absoluten Zweck, so wäre es nicht möglich, auf seiner Grundlage eine Ethik aufzubauen. Und andererseits: der oberste Zweck, den das moralische Handeln wirklich hat, ist nicht absolut. Dieser Zweck bleibt immer ein und derselbe; ob man sich dessen bewußt ist oder nicht, ob man es eingesteht oder hinter hohen eudämonismus-feindlichen Worten zu verbergen such: faktisch ist er stets das Wohl der Menschheit oder "namentlich in früheren Zeiten) einer anderen größeren Gemeinschaft (Volk, Staat, Kulturwelt). Ich will beides zusammennehmen unter dem Ausdruck "Gesamtwohl" und diesen Begriff zunächst in seiner ganzen Unbestimmtheit belassen, um so den verschiedenen Theorien zugleich gerecht zu werden, welche ein und dieselbe Sache mit verschiedenen Namen belegen und im Komplex "Gesamtwohl" bald das eine bald das andere Moment stärker betonen (z. B. größtmögliche Lust, Gesundheit menschlichen Lebens, Entwicklung usw.). Allen diesen Theorien ist gemeinsam, daß die Rücksicht auf ein größeres Ganzes und seine Interessen den Maßstab bildet, nach welchem Gutes und Böses geschieden werden.

Nun ist aber dieses Gesamtwohl durchaus kein absoluter Zweck oder Wert. Es kann nicht als solcher deduziert werden für den, der es nicht freiwillig oder durch Rücksichten auf Nebenmenschen gezwungen als Richtschnur des Handelns anerkennt. Und außerdem wechselt der konkrete Inhalt des Abstraktums "Gesamtwohl" sehr nach Völkern und Zeiten. In doppelter Weise! Zunächst die Ansicht darüber, was im einzelnen Fall als dem Gesamtwohl dienlich anzusehen ist. Der gewaltige Wandel der sittlichen Ideen und Anschauungen, Werte und Ideale ist zu bekannt, als daß ich mit mehr als dieser flüchtigen Andeutung darauf hinweisen müßte. Sind doch die Extremen sogar so weit gegangen zu behaupten, daß es überhaupt nichts Gemeinsames gibt an dem, was die verschiedenen Zeiten und Völker schon alles für sittlich oder unsittlich gehalten haben, daß es also überhaupt keinen Sinn hat, vom Guten oder Bösen schlechthin zu sprechen, sondern nur von einem zu einer Zeit oder in einem Volk für gut oder schlecht Gehaltenen. Diese Behauptung schließt die weitere Annahme in sich, daß nicht nur die Meinung der Menschen über das der Gesamtheit Frommende gewechselt hat, sondern daß auch Letzeres selbst etwas nach Zeiten und Völkern Verschiedenes ist. Man wird die Möglichkeit dieser Annahme zugeben müssen und sogar noch mehr: daß sie nämlich zwar nicht im Großen und Ganzen, aber doch für manche Punkte das Richtige trifft. Krieg, Revolution, Blutvergießen heißen im Allgemeinen mit Recht böse, gewiß aber gab und gibt es Zeiten, wo sie im Interesse des Gesamtwohls erwünscht oder gar notwendig, auf jeden Fall also gut sind. Vielweiberei ist auf tieferen Kulturstufen das Höchsterreichbare, also für sie "das Gute", während der Zwang zur Monogamie von Übel wäre wegen der schlimmen Folgen, welche die erst gewaltsam eingedämmten, nach der Durchbrechung des Dammes aber umso stürmischer einherflutenden Begierden nach sich ziehen würden. In roheren Zeiten gilt es dieselbe Sitte zu schirmen und zu schützen, welche heutzutage zur Unsitte geworden ist und deshalb fortgebildet, d. h. durchbrochen werden muß. Und vor allem: sämtliche Fälle eines Konfliktes zwischen Pflichten werden je nach Zeit, Volk und Individualität des Handelnden einer verschiedenartigen Lösung fähig und bedürftig sein.

Aber wenn auch dies alles nicht wäre, wenn sich auch das Gute zu allen Zeiten gleich bleiben und die Rücksicht auf das Gesamtwohl heutzutage bei uns in jedem Fall ganz dieselbe Handlung moralisch notwendig machen würde wie vor 5000 Jahren oder wie etwa bei den Hottentotten: wie sollten wir diese Notwendigkeit erkennen? Der einzige Wegweiser könnte die Erfahrung sein, die einzige Methode: Induktion. Aber wann führten die jemals zu einer Notwendigkeit im strengen Sinne des Wortes? Handlungen, welche vom moralischen Standpunkt aus schlechthin notwendig sind, also auch zu allen Zeiten und in allen Völkern notwendig gewesen sein würden, mag es, wird es sicherlich in sehr vielen Fällen geben: aber wir können diese ihre Unbedingtheit weder erkennen noch beweisen. Wie in allen Wissenschaften von Tatsachen bleiben wir auch in der Moral innerhalb des Gebietes der Wahrscheinlichkeit, auch wenn sie sich der Notwendigkeit noch so sehr nähert.

Absolute, unbedingt notwendige Normen, Werte und Zwecke gibt es also nicht. Und

2. selbst wenn es gelänge, sie nachzuweisen: die Absoluten sähen sich in ihren Erwartungen doch getäuscht; die Hoffnungen, welche sie auf jene Wunderdinge setzen, würden nicht in Erfüllung gehen.

Auch wenn Menschen gezwungen werden könnten, die allgemeine Verpflichtung zum moralischen Handeln theoretisch anzuerkennen: praktisch würden sie sich ihr doch entziehen, es sei den, daß sie schon gut sind: ist das aber der Fall, dann bedürfen sie jener Verpflichtung nicht mehr. Das Guthandeln ist keine Sache des Kopfes, sondern des Herzens und des Willens. Die Ansicht des Altertums, daß Tugend lehrbar ist und durch die Mitteilung abstrakter Erkenntnisse auch dem Schlechten eingeimpft werden kann, hat sich nach zweitausendjähriger Erfahrung als irrig erwiesen. Trotzdem gibt es freilich auch heute noch Träumer, die glauben, die Einsicht allein gestaltet und lenkt den Willen, so daß sich die Menschheit durch Aufklärung und Belehrung über die Forderungen der Vernunft einem paradiesischen Zustand voll Frieden, Unschuld und Gerechtigkeit immer mehr annähern kann. Glückliche Menschen, die noch nie in die Tiefen der Schuld hinabgetaucht sind, wo das Böse nicht mehr aus mangelnder Erkenntnis geschieht, sondern mit dem klaren Bewußtsein seiner Schlechtigkeit! Über manches Ungemach mag ihr Träumen ihnen hinweghelfen, manchen Selbstvorwurf ihnen ersparen; die Zukunft verklärend, lassen ihre Jllusionen auch die Gegenwart in einem rosigen Licht erscheinen. Die Weltgeschichte aber geht ruhig ihren Gang fort; die rauhe Wirklichkeit kümmert sich nicht um das Träumen und Sehnen der Idealisten. Ihr Gesetz lautet: das Gute wächst mit dem Besserwerden des Willens, nicht der Einsicht; Erkenntnis wirkt nur, wenn sie Gefühle auszulösen und durch sie den Willen zu beeinflussen vermag.

Gerade das ist aber eine schwere Aufgabe. Denn es handelt sich dabei nicht um momentane Gefühlsaufwallungen, sondern um etwas Dauerndes, um die Bildung neuer oder die Verstärkung alter Gefühlsdispositionen. Dazu bedarf es dauernder Einflüsse, wie sie fast allein von der Erziehung, von Beispiel und Vorbild, vom engen Zusammenleben und der Arbeitsgemeinschaft in Familie und Haus, in geringerem Maße auch in der Schule ausgehen können. Schon Moralpredigen und anderes erbauliches Reden über ethische Dinge wirkt wenig, und wenn es wirkt, wirkt es nicht durch die Worte, sondern durch die Art wie sie gesprochen werden, durch die Macht des persönlichen Einflusses dessen der redet, durch die Gewöhnung an eine sittliche, ideale Richtung der Gedanken und Gefühle, wie sie eine Folge des fleißigen Besuchs von Predigt, Messe, Gebetsversammlung und Ähnlichem nicht ist, aber doch wohl sein kann.

Aber Demonstrieren? Deduzieren einer allgemeinen unbedingten Verpflichtung? Es wird nur abschrecken, nie gewinnen. Kein Mensch ist dadurch jemals gebessert worden, daß er jene langatmigen, schwer verständlichen Formeln und Beweise gelesen oder gehört hat. Machten sie überhaupt einen Eindruck, so konnte er höchstens auf den Gedanken kommen, es müsse doch wohl um die Ethik schlecht bestellt sein, da man eines solchen Apparates bedarf, um nur erstmal vom Zu-Recht-Bestehen der Verpflichtung zu überzeugen.

Davon aber, daß ein Schlechter sich die Verpflichtung andemonstrieren lassen würde, um hernach wirklich ihr gemäß zu handeln: davon kann absolut nicht die Rede sein. Denkt Euch einen Augenblicksmenschen mit all seinen Fehlern, vom Glück begünstigt, im Vollbesitz seiner Kraft: glaubt Ihr denn wirklich ihm eine Verpflichtung aufreden zu können, einen Plan in seine Lebensführung zu bringen, einem höchsten Gut alle anderen unterzuordnen? Er wird sich lachend abwenden und meinen, daß er sich sehr wohl fühlt bei seiner Lebensweise. Nie und nimmer werdet Ihr ihn durch Euer Reden und Beweisen zu einem anderen Menschen machen. Höchstens würde er die Verpflichtung als ein Ideal theoretisch zugeben, ohne sich gemüßigt zu fühlen, diesem Ideal nachzustreben. Und selbst jenes Zugeständnis würde ihm nicht die Kraft und siegreiche Gewißheit Eurer Deduktion entreissen: er würde es machen, weil Erziehung, Sitte und Umgebung ihn daran gewöhnt haben. Ein Lebemann, den nichts zu interessieren vermag als die Freuden des Bacchus und der Venus: sollte er sich durch einen intellektuellen Zwang die Überzeugung aufnötigen lassen, daß er verpflichtet ist, das Erkennen als den absolut notwendigen Zweck seines Lebens zu betrachten und demgemäß zu handeln? Ein Selbstsüchtiger erklärt das Wohl der Gesamtheit für eine ihm gleichgültige Sache: meint Ihr wirklich durch Eure Beweise ihn dazu verpflichten zu können, daß er das Gesamtwohl zum Leitstern seines Tuns macht?

Nein und abermals nein! Auf diese Weise werden die Menschen nicht anders, nicht besser! Ob Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der sittlichen Verpflichtung deduziert werden oder nicht, ob absolute Werte und Zweck beweisbar sind oder nicht: das sittliche Leben eines Volkes wird dadurch nicht affiziert [berührt - wp]. Der Masse des Volkes ist es ganz selbstverständlich, daß es absolute Werte und Normen gibt, diejenigen eben, welche Sitte und Religion, Standesehre und Gesellschaftsformen dafür ausgeben. An diese Werte glaubt die Masse, und dieser Glaube ist von Beweisen und Widerlegungen nicht abhängig; durch jene wird er nicht geschaffen, durch diese nicht zerstört. Praktisch ist es daher völlig gleichgültig, ob die Sätze der Ethik theoretisch bestreitbar sind oder nicht. Die Jagd der Absoluten auf Notwendigkeit wäre also schließlich auch dann nutzlos, wenn sie ihr Ziel erreichen würde. Die Hoffnungen, welche daran geknüpft werden, könnten doch nicht in Erfüllung gehen.

Insofern schadet also der Relativismus der Ethik durchaus nicht. In praktischer Hinsicht geht nichts verloren, und die Ethik bleibt auch ohne die Unbedingtheit der Normen und der Verpflichtung eine Wissenschaft voll bedeutsamer Aufgaben, welche den Naturwissenschaften an Wichtigkeit nicht nachsteht und sie in der Sicherheit ihrer Resultate (bei richtiger Methode!) in sehr vielen Punkten erreicht.

Nun fragt es sich noch, ob

3. der Relativismus auch die moralischen Phänomene der Verpflichtung, Schuld, Reue, des Gewissens zu erklären vermag. Diese Phänomene sind es ja gerade, auf welche immer wieder hingewiesen wird, um die Notwendigkeit absoluter Werte und Normen zu erhärten.

Aber auch für den Relativen fällt der Begriff der Verpflichtung und diese selbst durchaus nicht fort. Die Tatsachen machen die Unterscheidung zweier Arten von Verpflichtung nötig: Heteronomie und Autonomie. Und ebenso gibt es zwei Arten des Gewissens: Das eine ist die Stimme der freiwillig übernommenen Verpflichtung, das andere der Widerhall eines fremden Willens.

Heteronomie ist bei weitem das Gewöhnliche. Die meisten Menschen sind Absolute oder zumindest stark absolutistisch angehaucht. Sie sind deshalb im gewöhnlichen Leben von Autoritäten aller Art abhängig. Von der Rücksicht auf diese werden sie bei ihrem Tun und Lassen geleitet. Sie sind gleich den Planeten, welche um einen fremden Schwerpunkt kreisen. Daher geschehen die meisten inhaltlich guten Handlungen, weil Sitte und Religion, Gesetz, Gesellschaft und Standesehre sie fordern, also aus Furcht vor Strafen und dem Gerede der Menschen. Allen diesen Faktoren ist eine verpflichtende Kraft von gewaltiger Wirksamkeit eigen, der sich wohl kein Mensch je ganz und gar entzieht. Von intellektuellen Momenten, von Begründung und Beweis, ist sie in keine Weise abhängig, läßt sich auch nicht durch sie modifizieren. Der Gemeinschaftsgeist ist es, welcher sich in ihr ausspricht. Ihr Inhalt mag wechseln: die Energie der verpflichtenden Kraft bleibt. Wohl sinkt sie zeitweilig unter das normale Niveau herab, wenn etwas Neues sich im Schoß der Zeiten vorbereitet, wenn eine neue Welt der Sitte sich zum Leben emporringt. Das Niveau ist auch nicht immer dasselbe. Heutzutage steht es niedriger als im Mittelalter, bei Völkern mit Kastenwesen höher als in Ländern, wo die Bewegung eine freiere ist. Ganz oder fast ohne Einfluß sind jene Faktoren nur bei sinkenden, degenerierten Nationen. So war es in den Zeiten der Selbstauflösung der antiken Welt. Der Untergang ist dann aber auch sicher, und keine Macht der Welt kann ihn aufhalten, es sei denn die Mischung mit jugendkräftigen Völkern. Worauf die Sittlichkeit eines Volkes als eines Ganzen beruth, das ist also weder wissenschaftliche Ethik, noch Moralpredigt, weder schöne Worte noch kluge Beweise, sondern allein der äußere Zwang, welcher vom Gemeinschaftsgeist ausgeht und die Einzelnen an das Wollen des Ganzen bindet, welcher Zucht und Ordnung sowohl schafft als aufrecht erhält. Die Institutionen und Gebräuche, Anschauungen und Sitten, in denen der Gemeinschaftsgeist zum Ausdruck kommt, denen er sein Siegel aufprägt: sie sind die wahren "Stützen der Gesellschaft". Werden sie morsch, dann "lösen sich alle Band frommer Scheu", und keine Wissenschaft - wäre sie auch im Besitz der durchschlagendsten Beweise für die Unbedingtheit sittlicher Verpflichtung - vermag dem Verfall Einhalt zu gebieten.

Das ist die eine Form der Verpflichtung, die äußere. Wer sich ihr entzieht, wird von der Gesellschaft geächtet, und diese Ächtung oder die Furcht vor ihr zieht alle Qualen des Gewissens, ein drückendes Schuldgefühl und zehrende Reue nach sich.

Wahrhaft moralisch ist allein die innere, die autonome Verpflichtung. Der Gute stellt sich freiwillig in den Dienst des Guten, nicht um äußerer Vorteile willen (sei es in der Zeit, sei es in der Ewigkeit), nicht wegen der Meinung der Menschen, nicht aus Furcht vor Strafen und Nachteilen, sondern allein aus einem inneren Drang. Er wird nicht von außen her verpflichtet, er selbst ist der Verpflichtende zugleich und der Verpflichtete. Nicht weil er soll will er, sonder weil er will soll er. Kein kategorischer Imperativ steht ihm dräuend [drohend - wp] gegenüber, sondern ein spontanes Gelübde bindet ihn an das Gute als an das ihm Gemäße. Nur durch ein Tun des Guten kann er Befriedigung und Glück erlangen. Jedem Menschen wohnt ein Trieb inne, sich zu betätigen, wie auch jede Anlage auf Entwicklung und Betätigung drängt. Der sittliche Mensch nun kann für seinen Betätigungstrieb keine würdigere Aufgabe finden als sich dem Guten in Treue zu geloben, als an seiner Selbstvervollkommnung und für das Wohl der Gesamtheit zu arbeiten.

Und auch beim Autonomen gibt es Gewissensbisse, Reue und Schuldgefühl - und zwar weit quälender noch als beim Heteronomen. Sie treten auf, wenn ein Bruch des Gelübdes droht, bzw. geschehen ist. Die unterdrückten Tendenzen, Triebe und Gefühle sind es, die dann in der Stimme des Gewissens gebieterisch ihr Recht fordern.

Weil aber diese Verpflichtung eine vollkommen freiwillige ist, sind, ebenso wie bei der heteronomen Form, auch hier Gründe und Beweise ganz unangebracht. Sie können nichts wirken, können den aus innerstem Herzen kommenden natürlichen Drang zum Guten Niemandem aufzwingen oder einimpfen. Das Problem ist nicht, einen Verpflichtungsgrund zu finden, der alle Menschen ohne weiteres bindet und bessert. Die Kunst besteht vielmehr darin, die Menschen zunächst gut zu machen: dann kommt die Verpflichtung von selbst. Und die Menschen bessern? Es geschieht durch Erziehung und Beispiel, durch Bildung von Gemüt und Charakter, durch die Stählung des Willens, durch eine Erweckung altruistischer Gefühle und Triebe, aber sicher nicht durch Demonstrationen und Deduktionen, und nur zum allerkleinsten Teil durch Aufklärung und Verstandesbildung.

Auch der Relativismus kennt also sittliche Verpflichtung, Reue, Schuldgefühl, Gewissen. Ohne sich auf absolute Zwecke, Werte und Normen zu stützen, vermag er diesen Erscheinungen gerecht zu werden. Seine Ethik befriedigt daher alle Anforderungen, welche man billigerweise an eine solche Wissenschaft stellen kann.
LITERATUR - Erich Adickes, Ethische Prinzipienfragen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 116, Leipzig 1900