ra-2B. BauchK. KromanH. DietzelW. SternN. Hartmann    
 
ERICH ADICKES
Ethische Prinzipienfragen
[2/3]

"Das Wesen der Sittlichkeit oder das wirkliche Grundprinzip der Ethik ist der Trieb zur Erhaltung des Psychischen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durch die Abwehr aller schädlichen Eingriffe in dasselbe."

"Oft liegt er in so ferner Zukunft, daß man mit Bestimmtheit weiß, man werde ihn nie erreichen. Es bleibt dann nur die Vorfreude; es werden dann die Lustgefühle antizipiert, welche Kinder und künftige Generationen einst haben werden oder zumindest einst haben könnten. Oder auch: mit dem Streben nach dem Zweck sind schon Lustgefühle verbunden, weil man dieses Streben für etwas Wertvolles hält."


II. Eudämonismus (Utilitarismus)
[Fortsetzung]

A. Über den Eudämonismus (Utilitarismus) möchte ich im Anschluß an ein Werk des Berliner Arztes WILLIAM STERN einiges sagen. Das Buch heißt "Kritische Grundlegung der Ethik als positiver Wissenschaft", Berlin 1897.

STERN stellt sich auf den Standpunkt des kritischen Positivismus; er will die Ethik von allen religiösen und metaphysischen Voraussetzungen unabhängig machen und dadurch zum Rang einer positiven Wissenschaft erheben. Er sehr löbliches Unternehmen! Schade nur, daß STERN, um den Träumen der Metaphysik zu entgehen, sich in die bösesten Phantastereien über den Leibes- und Seelenzustand des Urmenschen verliert! In einem Abschnitte, überschrieben: "Das wirkliche Grundprinzip der Ethik", spielen diese Phantastereien eine große Rolle.

Aber zu diesem Abschnitt, der eigentlichen piéce des résistance [Herzstück - wp] des ganzen Werkes, muß man sich erst durch 300 Seiten mühsam hindurcharbeiten! Zunächst stellt STERN seinen theoretischen Standpunkt, den kritischen Positivismus, dar. Dann folgt ein Abschnitt mit dem Titel "Problemstellung", der in ein mysteriöses Halbdunkel getaucht ist: in geheimnisvollen Andeutungen nimmt er die späteren Resultate vorweg; es wird zu wenig geboten, al daß die schließlichen Lösungen schon jetzt verständlich werden könnten, aber mehr als genug, um den Abschnitt der Klarheit und Übersichtlichkeit zu berauben und um schon die Problemstellung mit unbewiesenen Prämissen und erst später beweisbaren Behauptungen zu beschweren.

Darauf werden auf 168 Seiten die bisherigen ethischen Systeme (besonders Methoden und Grundprinzipien) ein Kritik unterzogen (Seite 68 - 236). Diesen Abschnitt hätte der Verfasser im eigenen Interesse besser fortgelassen. In systematischen Schriften sind solche langatmigen Exkurse nicht am Platz. Zehn fesselnd geschriebene Seiten, welche das Neue, das der Autor zu sagen hat, in knapper, kurzer Darstellung enthalten, wirken mehr als hundert Seiten Polemik. Der historische Teil in STERNs Werk geht zwar den Dingen zuleibe und enthält manche recht guten Partien, aber im Ganzen betrachtet macht er doch einen recht schulmeisterlichen Eindruck. Etwa als wenn ein Lehrer des Deutschen Aufsätze zurückgäbe und erteilte ihnen fast durchweg schlechte Noten, weil sie nicht die Disposition befolgt haben, die ihm zufällig vorschwebte. Betrachtung und Kritik sind zu schematisch. STERN beurteilt die Systeme nach einem ganz willkürlichen Maßstab, nach seiner Methode und seinen Ansichten nämlich, die aber - und das ist das Schlimmste - noch gar nicht genau bekannt sind, sondern in dunklen Andeutungen mehr verhüllt als entschleiert werden.

Dem historischen Abschnitt folgen drei weitere vorbereitender Natur. Der erste enthält methodologische Erörterungen; der zweite will nachweisen, daß zwischen der organischen und unorganischen Natur nur ein scheinbarer Gegensatz besteht, hervorgerufen durch die größere, bzw. geringere Kompliziertheit ihrer Erscheinungen, daß dagegen der Unterschied zwischen beseelter und unbeseelter Natur ein essentieller, scharf trennender ist und sogar von den Tieren empfunden wird; der dritte Abschnitt handelt von den Trieben und der Freiheit des Willens (was letztere betrifft, so hält STERN die richtige Mitte ein zwischen einem Indeteriminismus mit seiner regellosen Willkür und einem "mechanistischen Determinismus, welcher den Menschen in eine Maschine verwandelt.

Dann kommt der eigentliche Hauptteil, welcher STERNs neuen Grundlegung enthält (Seite 302 - 379). Ihm folgen noch 100 Seiten, welche die Lehren von den Tugenden, Pflichten, vom höchsten Gut, von Recht und Staat zum Inhalt haben. Sie geben einen Grund- und Aufriß des systematischen Baus, welcher auf dem neuen Fundament errichtet werden soll.

Nun zu diesem Fundament! Der Titel des Abschnitts wurde schon genannt: "Das wirkliche Grundprinzip der Ethik" (Grundprinzip - causa efficiens, principium movens der sittlichen Handlungen). Das Sittliche ist etwas, was sich allmählich, beim Menschen im Laufe sehr vieler Jahrtausende, wahrscheinlich einiger, vielleicht gar meherer Jahrzehntausende, und bei den Tieren zum Teil im Lauf von Hunderttausenden von Jahren" entwickelt und weitervererbt hat (Seite 304).

STERN ist nun auf den unglücklichen Gedanken verfallen, diese Entwicklung zu rekonstruieren. Er versetzt uns zu diesem Zweck einige Jahrzehntausende zurück in die Zeit des Urmenschen, (etwa am Anfang der älteren Steinzeit). Mit großer Phantasie und Beredsamkeit wird geschildert, wie der arme Urmensch fast täglich mit tausend Schlägen von den Elementen getroffen wird. Bald wird infolge eines Wolkenbruchs seine Höhle überschwemmt, wobei ein Kind ertrinkt und die andern nur mit Mühe gerettet werden. Bald verscheucht ein großer Waldbrand das Wild und beraubt ihn dadurch der Nahrung, bald überrascht ihn auf seinen Streifzügen ein Orkan". "Bald (!) zwingen ihn in der Eiszeit Gletscher und wiederholt auftretende Überschwemmungen, sein bisheriges Obdach aufzugeben." Jetzt rafft er sich aber auf, besinnt sich auf seine wahren: die geistigen Kräfte und beugt mehr als bisher durch Präventivmaßnahmen den schädlichen Eingriffen der Elemente in sein psychisches Leben vor. "Es beginnt nunmehr die neolithische Zeit".
    "Seine vorläufig noch sehr geringe vorbeugende Arbeit an der Natur wurde von dieser belohnt. Aber wiederum (!) rüttelten die schädlichen Eingriffe der Elemente in sein psychisches Leben ihn aus der Ruhe (!) auf: ein Blitzschlag trifft seine Hütte, tötet sein Weib, das Vieh kommt in den Flammen um, oder eine Überschwemmung raubt ihm Hab und Gut."
Darauf vermehrte Präventivtätigkeit, aber auch "von Neuem ganz unerwartete schädliche Eingriff": Hagelschlag eben vor der Ernte, Trockenheit und Dürre, Wildmangel. Um seine Lage zu verbessern, sucht er mit vielen seiner Mitmenschen ein von großen Bergen umgebenes fruchtbares Tal auf. Hier lebt er auch lange ruhig und ungefährdet. Aber dann plötzlich: ein Lawinensturz oder der Ausbruch eines feuerspeienden Berges oder Erdbeben, je nachdem wohin den Leser seine Neigung zieht.

Mit gleich rührender Liebe und nicht geringerer Phantasie begleitet Stern seinen Urmenschen durch die Metallzeit hindurch. Resultat: die fortwährend drohenden oder eintretenden Eingriffe der Elemente in das psychische Leben der Menschen und Tiere erwecken in diesen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit aller beseelten Wesen gegenüber der unbesellten Natur. Dieses Gefühl führt zu gemeinschaftlichen vorbeugenden und abwehrenden Handlungen: jene der Kulturtätigkeit angehörig, diese die Quelle aller Sittlichkeit. Tausendfache Wiederholung, Übung, Gewöhnung hinterlassen in beiden Fällen sich weiter vererbende Spuren in der psycho-physischen Organisation: im ersteren Fall geht daraus eine technisch-wissenschaftliche Begabung hervor, im zweiten Fall der anfängliche Kern des sittlichen Triebes, nämlich der Trieb "zur Abwehr der schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur ins psychische Leben". Die allgemeingültige Gefühlsgrundlage dieses Triebes sieht STERN in einem dauernden Groll gegen die feindliche Seite der unbeseelten Natur, welcher in den beseelten Wesen erzeugt und durch unzählige Generationen vererbt wird. (Auch bei den Tieren bildet sich angeblich dieser sittliche Trieb sowie das ihm zugrunde liegende Gefühl der Zusammengehörigkeit mit allen beseelten Wesen gegenüber den schädlichen Eingriffen der Elemente aus.)

Groll wie Trieb tragen einen objektiven, unpersönlichen, allgemeinen Charakter an sich. Der sittliche Trieb geht nicht darauf aus, irgendeinem bestimmten beseelten Wesen zu nützen, sondern er will die schädlichen Eingriffe der unbeseelten Natur überhaupt in ihrer Gesamtheit abwehren. Durch dieses in ihm liegende Unpersönliche wird angeblich jeder Eudämonismus von vornherein ausgeschlossen.

"Im Lauf der Zeit" richten sich Groll wie Trieb auch gegen die "schädlichen Eingriffe" beseelter Wesen. Doch findet diese Ausdehnung erst "in einem späteren Teil der vorgeschichtlichen Zeit statt, als bereits eine größere Anzahl von Menshen in derselben Gegend zusammenwohnte".

Das Resultat der Untersuchungen wird Seite 337 so zusammengefaßt:
    "Das Wesen der Sittlichkeit oder das wirkliche Grundprinzip der Ethik ist der Trieb zur Erhaltung des Psychischen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen durch die Abwehr aller schädlichen Eingriffe in dasselbe."

    Die Handlungen, zu welchen dieser Trieb führt, sind aber nur dann sittlich, wenn sie mit einem freiwillig oder aus eigenem Antrieb gebrachten Opfer, also einem Unlustgefühl, einem Akt der Selbstüberwindung verbunden sind. Dieses Opfer ist nach Stern das allgemeine Kriterium der Sittlichkeit.

    "Die sittliche Handlung oder eigentlich die zu ihr führende Kausalreihe beginnt stets als eine egoistische und wird erst in ihrem weiteren Verlauf durch das Opfer, welches vom sittlichen Trieb verursacht wird, zur sittlichen." (Seite 347)
Was die formale Seite des Werkes betrifft, so läßt es nicht weniger als alles zu wünschen übrig. Es fehlt jedes Inhaltsverzeichnis, es fehlen Überschriften, bzw. Stichworte über den einzelnen Seiten. Man muß erst das ganze Werk durchblättern, um eine ungefähre Idee vom Aufbau zu bekommen. Disposition und Gedankenentwicklung sind wenig übersichtlich. Was später kommen sollte, wird früh vorweggenommen. Was abgetan ist, wird fortwährend wiederholt. Der Stil ist sehr schwerfällig: Absätze von 4 - 6 Seiten sind nicht selten (ein Uniku von 9 Seiten kommt sogar vor!); die Perioden sind lang, voller Einschachtelungen. Eine einschläfernde Wirkung haben die stetig wiederkehrenden technischen Formeln, die fast so zusammengesetzt sind wie die chemischen. Die Formel "schädliche Eingriffe der objektiven Außenwelt im Sinne der unbeseelten Natur und besonders der Elemente ins psychische Leben" kehrt bis zum Überdruß wieder, in gewissen Teilen des Buches auf einer Seite mehrere mal, ganz zu schweigen von den Abkürzungen, welche durch die Weglassung eines oder einiger Glieder entstehen. Pronomina [Fürwörter - wp] vermeidet STERN bei solchen Gelegenheiten ängstlich. Er darf sich aber auch nicht wundern, wenn im Leser ein "dauernder Groll" gegen diese Formeln entsteht als gegen einen Eingriff der unbeseelten Buchstaben in sein psychisches Leben.

Inhaltlich ist STERNs Leistung eine sehr respektable, insofern sein System eine durchaus originale Schöpfung ins voll Individualität. Das allein ist schon ein Verdienst in unserer Zeit der Geschichte, der Synthesen und Vermittlungen. STERN ist ein scharfsinniger Denker und architektonischer Kopf mit allen Vorzügen und Schattenseiten eines solchen.

Aber dem System beistimmen? Ich kann es nicht, und auch sonst wohl niemand. Phantasie und Phantasterei machen sich gar zu breit. Die Geschichte der Sittlichkeit ist zu unnatürlich, um eine Rekonstruktion der wirklichen Entwicklung zu sein. Aus STERNs Grundprinzip ergeben sich die wundersamsten Konsequenzen, welche sämtlich mit der Erfahrung in Widerspruch stehen. Ich beschränke mich auf Weniges.

Von der Unterscheidung zwischen beseelter und unbeseelter Natur weiß der Urmensch nichts, geschweige denn das Tier. Die Völkerpsychologie lehrt, daß der Mensch auf tieferen Kulturstufen seine Art des Lebendigseins und Handelns auch auf die unbeseelte Natur überträgt und ihr Seele und Leben unterlegt. Dadurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Menschen sich auch damals in ihren Reaktionen gegen die unbeseelte und gegen die beseelte Natur verschieden verhielten. Das geschah jedoch infolge sich zudrängender verschieden gearteter Assoziationen, nicht aber mit dem klaren Bewußtsein des Unterschiedes zwischen den verschiedenen Objekten oder gar aufgrund einer abstrakten Formulierung dieses Unterschiedes, geschweige denn aufgrund einer begrifflichen Zusammenfassung der sämtlichen unbeseelten Objekte zu einem Ganzen (der unbeseelten Natur). Damit sind auch STERNs ursprünglicher "Trieb" und "Groll" gerichtet. Es sind das reine Phantasieprodukte. STERN mag sie anempfunden haben. Aber sonst gibt es sie heutzutage gewiß nicht, und auch ihre Entstehungsgeschichte ist nicht mehr als ein Märchen. Unterschied der Urmensch wirklich unbeseelte und beseelte Natur, so mußten die Gegenstände seines Grolls vielmehr Tiere und Menschen sein. Denn von diesen ging, wie mir ganz unzweifelhaft ist, die meisten Eingriffe in sein psychisches Leben aus, nicht von der unbeseelten Natur. Feuersbrünste, Waldbrände, vulkanische Eruptionen, Erdbeben etc. sind zu seltene Ereignisse, als daß sie einen tiefen dauernden Groll erregen könnten. Unter der gewöhnlichen Unbill der Witterung aber und Ähnlichem litt der Mensch damals, weil er abgehärteter und bedürfnisloser war, sehr viel weniger als jetzt. Von Seinesgleichen dagegen und von den Tieren erfuhr er fortwährend einen Abbruch, mit ihnen lag er im Kampf: mit den Mitmenschen, weil sie auch essen wollten, mit den Tieren weil sie sich nicht essen lassen, eventuell sogar ihn fressen wollten. Dazu die Reiberein und Kränkungen, wie sie ein gemeinschaftliches Leben täglich mit sich führt; je geringer die Selbstbeherrschung und je weniger ausgebildet die feste Sitte war, einen umso ernsteren Charakter mußten sie natürlich annehmen. Wäre also ein allgemeiner Groll gegen feindliche Mächte entstanden, so hätte er sich gewiß nicht gegen die unbeseelte Natur, sondern gegen Mitmenschen und Tiere gerichtet.

Allgemeines Kennzeichen der sittlichen Handlungen soll das mit ihnen verbundene Opfer sein. Konsequenzen dieser Anschauungsweise: Wenn Handlungen zugunsten von Verwandten oder sonst nahestehende Personen geschehen, so müssen sie, um einen sittlichen Charakter zu tragen, mit weit größeren Opfern verbunden sein, als wenn dieselben Handlungen zugunsten gleichgültiger Personen vollbracht würden. Gibt eine Mutter das Leben für ihr kleines, hilfloses Kind hin, so entspringt diese Tat dem Selbsterhaltungstrieb (weil das Kind ihr als Teil des eigenen Selbst gilt) und ist nicht sittlich. Ist das Kind aber körperlich selbständig, so ist jenes Gefühl der Solidarität nicht mehr vorhanden, und die Hingabe des Lebens ist jetzt eine sittliche Tat! Wenn eine Menschen das Tun des Guten etwas Selbstverständliches ist und keine Überwindung kostet, so kann man bei ihm nicht mehr von guten, sondern nur von schönen Handlungen reden.

Man wird STERNs Theorie schon deshalb für verfehlt halten müssen, weil sie zu solchen Lehren führt. Gewiß ist keine menschliche Moral ohne Askese und ohne Opfer denkbar. Aber wir Menschen sind auch keine Idealwesen. Und man wird doch nicht das, was unsere Schwäche bildet, als unsere Stärke, das Zurückbleiben hinter der Norm für die Norm selbst ausgeben wollen! Das Ideal, dem wir nachstreben sollen, ist und bleibt (trotz STERN!): daß wir die Opfer, welche das Guthandeln von uns fordert, gar nicht als Opfer empfinden, daß das Sittliche uns nicht mehr fordernd als Gebot gegenüber steht, sondern als ein innerer Drang in uns wirkt, dem zu widerstreben gegen unsere Natur ist.

Als sittlich betrachtet STERN nur diejenigen Handlungen, welche schädliche Eingriffe in unser psychisches Leben abwehren wollen, mögen diese Eingriffe stattgefunden haben oder stattfinden oder unmittelbar drohen. Wo die Vorbeugung beginnt, hört die Sittlichkeit auf; da ist nur noch von Kultur die Rede. Ihrem Ursprung nach ist die Sittlichkeit ein von der unbeseelten Natur den beseelten Wesen, die Kultur umgekehrt ein von den beseelten Wesen der unbeseelten Natur aufgedrängter Kampt. Diese Auffassung führt nun zu den kostbarsten Folgerungen. Es ist anzuerkennen, daß STERN den Mut hat, diese Folgerungen zu ziehen und sogar selbst auszusprechen, aber in den Augen des Unbefangenen genügen sie, um die ganze Theorie zu stürzen.

"Das Herrichten und Bereithalten insbesondere das Instandhalten eines Feuerlöschapparates zum eventuellen sofortigen Gebrauch" ist zu den ethischen Handlungen zu zählen, da der Apparat nur im Fall einer bereits eingetretenen Feuersbrunst zur Abwehr in Tätigkeit tritt. Dagegen soll die Herrichtung und das Instandhalten eines Blitzableiters lediglich eine Präventiv- oder Kulturtätigkeit sein (Seite 374). Folgert man weiter, so müßte der Erfinder einer wichtigen Verbesserung am Feuernlöschapparat eine sittlich hochstehende Handlung vollziehen, während der armselige Mensch, der einen neuen Blitzableiter konstruiert, sich "nur" einer Kulturtätigkeit rühmen könnte. Wenn ein reicher Mann einer Stadt, deren Einwohner er nicht ist, Geld zum Bau eines Dammes gegen Überschwemmungen schenkt, so ist seine Handlung keine vorbeugende, sondern eine sittliche (weil Kulturarbeiten stets aus einem selbstsüchtigen Interesse geschehen). Wohnte er aber in der derselben Stadt, so beugte seine Handlung den auch von ihm befürchteten schädlichen Eingriffen vor und gehörte zur Kultur (Seite 375)! Die Berufshandlungen des Landmannes, Kaufmanns, Künstlers, Lehrers sind nur kulturell, die des Arztes, Soldaten, Richters größtenteils sittlich. In Technik und Industrie würde man wohl nach den Verhältnissen scheiden müssen. Fabrikanten von Dampfspritzen fabrizieren ethisch, die von Blitzableitern anethisch! Von staatlichen Funktionen sind Finanzverwaltung, Förderung von Kunst, Wissenschaft, Technik, eine wirtschaftliche Tätigkeit, die Errichtung öffentlicher Lehranstalten, die Handhabung der Polizei, Verhütung von Verbrechen usw. kulturell, die Rechtspflege dagegen, Landesverteidigung, Gesandtschafts- und Konsularwesen, Armenpflege, Aufsicht über kulturelle Institute (wie Schulen) usw. sittlich; auch von der Abwehr schädlicher Eingriffe der Elemente gilt letzteres (danach wäre der Bau von Dämmen anetisch, ihre Reparatur nach Hochwasser sittlich!). Von den Tugenden sieht STERN sich gezwungen die Selbstbeherrschung zu einem großen Teil für etwas Anethisches, also sittlich Gleichgültiges zu erklären: soweit sie nämlich irgendwie vorbeugend ist und nicht direkt darauf ausgeht, alle Affekte, Triebe und Neigungen zurückzudrängen, welche zu schädlichen Eingriffen in fremdes psychisches Leben führen würden. Einen wichtigen Teil aller bewußten Erziehung muß STERN also als etwas sittlich Gleichgültiges bezeichnen. Auch die Tapferkeit im Dulden, unerschrockener Mannesmut bei allen Schicksalsschlägen sind Tugenden, die in STERNs Ethik keinen Platz finden. Und alle diese Sonderbarkeiten nur deshalb, weil das "einzig wahre" Grundprinzip der Moral nichts von Prävention weiß, sondern nur Abwehr kennt! Sapienti sat [Wer Verstand hat, dem genügt das! - wp]!

Besonders viel tut STERN sich darauf zugute, daß seine Ethik frei von jedem Eudämonismus und ist. Aber der "unpersönliche, objektive" Groll und Trieb, auf welchen es in dieser Frage so viel ankommt, sind, wie wir sahen, nur Phantasiegebilde STERNs. Und wäre so etwas Ähnliches wirklich vorhanden, so würde der Groll sich gegen ein bestimmtes Objekt richten, und Mitleid sowie sittlicher Trieb gingen auf das ganz spezielle jedesmalige Opfer des Eingriffs. Mag STERN auch noch so spröde tun: auch seine Ethik ist utilitaristisch. Um eine Abwehr schädlicher Eingriffe handelt es sich bei ihm. Durch die Abwehr wird Nutzen geschaffen, wird das Gesamtwohl erhöht. Und daß Letzteres der Zweck des sittlichen Handelns ist: das ist der Kernpunkt der Ethik des Utilitarismus. An vielen Stellen, besonders in der Staats- und Rechtslehre, tritt dann auch die Rücksicht auf den Nutzen ganz offen zutage.

STERNs Ethik ist auch eudämonistisch. Seite 408 heißt es: Die Tugend
    "ist das einzige Gut, welches den Menschen dauernd und in einem ungleich höheren Grad, als alle anderen Güter befriedigt ... Die jedesmalige Befriedigung des auf Befriedigung nachdrücklich dringenden sittlichen Triebes, welche zwar im einzelnen Fall mit einem keinem anderen vergleichbaren LustLustgefühl der inneren Ruhe und Zufriedenheit mit sich selbst als ihrer Folge verbunden ist, auf dessen Erlangung aber der Mensch beim sittlichen Handeln nicht ausgeht, das er also nicht sucht, ist für den Menschen zumindest ein Selbstzweck des sittlichen Handelns."
Also Ziel des sittlichen Handelns ist auch nach STERN ein wertvolles Gut: ein drängender Trieb wird befriedigt. Das Streben nach Gütern, die Befriedigung von Trieben entspringen nun aber beide dem Selbsterhaltungsstreben, welches nicht nur auf die nackte Erhaltung des Lebens geht, sondern auch auf das Sichdurchsetzen, Sichentwickeln der ganzen Persönlichkeit mit allen ihren verschiedenen Trieben und Anlagen. Ob ich das mit dem sittlichen Handeln verbundene Lustgefühl mit Bewußtsein als Zweck meines Handelns erstrebe oder ob ich gut handle einem übermächtigen Trieb folgend: in beiden Fällen ist doch die Rücksicht auf mich, auf mein Wohl das Entscheidende. Und mehr behauptet der Eudämonismus, richtig verstanden, nicht.

Wer Anhänger des Determinismus ist und die Ethik nur auf einer psychologischen Basis glaubt aufbauen zu können: für den ist der Eudämonismus (und Utilitarismus) etwas ganz Selbstverständliches. Aber auch jede andere Ethik wird sich, falls sie noch irgendeine Fühlung mit den Tatsachen hat, de facto auf jenen Standpunkt stellen müssen, so sehr sie es theoretisch auch ableugnet. Der Widerspruch zwischen dem, was man möchte, und dem, was man wirklich lehrt, läßt sich da überall leicht nachweisen. Die eudämonistische (und utilitaristische) Betrachtungsweise ist eben in den Tatsachen begründet, und darum kann sich ihr niemand entziehen. Daß dem so ist, sollen die folgenden Ausführungen zeigen; zugleich wird sich ergeben, daß die Reinheit einer ethischen Lehre und die Selbstlosigkeit des ethischen Handelns dadurch nicht getrübt, sondern erhöht wird.

Um zum Ziel zu gelangen, muß ich etwas weiter ausholen. Damit die eigentliche Untersuchung nachher glatt verlaufen kann, lege ich ihr einige Fundamentalsätz der deterministischen Weltanschauung zugrunde.

B. Jede menschliche Handlung ist Resultante aus dem augenblicklichen Wesen des Handelnden und aus den äußeren Umständen, in denen er sich befindet. Unter letzteren befasse ich alles, was außer ihm ist, von außen auf ihn eindringt und von irgendeinem Einfluß auf seine Willensentwicklung sein kann, also z. B. erziehliche Einwirkungen, Lebensschicksale, die jedesmalige Umgebung etc. Den Ausdruck "Wesen des Menschen" gebrauche ich als kurze Bezeichnung für seinen ganzen psycho-physischen Organismus. Zu seinem "Wesen" gehört also z. B. auch das Faktum, daß die Außenwelt diese oder jene Reaktionen in ihm hervorruft, daß sie zu bestimmten Empfindungen, Anschauungen, Gedanken, Gefühlen und Motiven Anlaß gibt, daß unter diesen Motiven sich wieder eins als das stärkste erweist. Bei demselben "Wesen" und unter denselben äußeren Umständen hätte also keine andere Handlung geschehen können als die, welche wirklich geschehen ist - einerlei ob es sich um sittliche oder unsittliche oder indifferente Handlungen, ob es sich um einen Totschlag oder um ein Linksrum oder Rechtsrum handelt. Der Mensch tut in jedem Augenblick dasjenige, was seinem "Wesen" unter den obwaltenden äußeren Umständen am genehmsten, am angemessensten ist.

Darüber was am genehmsten ist, kann in den meisten Fällen ohne Weiteres die Entscheidung getroffen werden, so z. B. bei allen Instinkt-, Reflex-, Trieb-, Gewohnheitshandlungen. Da ist der psycho-physische Organismus durchaus nicht zweifelhaft darüber, welche Handlungsweise seinen augenblicklichen Interessen und Bedürfnissen am meisten entspricht. Ist aber eine eigentliche Willensentscheidung, ein Entschluß, eine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten erforderlich, so müssen Lust- und Unlustgefühle hinzutreten. Ihre biologische Funktion besteht darin, daß sie über das dem Organismus augenblicklich oder auch dauernd Genehme aufklären. Aufgrund dieser - wirklichen oder als künftig vorgestellten - Gefühle wird dann entschieden und gewählt.

Bei der ersten Art können also die Gefühle stets fehlen. In manchen Fällen können sie auch da vorhanden sein, aber mehr oder nur als Begleiterscheinungen. Sie rufen die Handlung nicht hervor (welche vielmehr auch ohne sie stattfinden würde): doch können sie die Momente, welche zu ihr drängen, verstärken. Bei der zweiten Art, vor allem also bei Zweck- und Wahlhandlungen, müssen immer Gefühle beteiligt sein; sie sind sogar das Ausschlaggebende. Wo der Intellekt mit seinen Überlegungen zu Wort kommen muß, da sendet der Organismus gleichsam als seine Bevollmächtigten die Gefühle mit zur Beratung, und sie spielen dann etwa die Rolle wie in einem Gesamtministerium beim Ausgabenetat ein einflußreicher Finanzminister. Die Vorstellungen können wohl diese oder jene Möglichkeit des Handelns in lockenden Farben darstellen; aber die Farben sind der Palette des Gefühls entlehnt, das Gefühl muß die Farben erst lockend finden. Eine Vermeidung drohender Unlust ist bei der schließlichen Entscheidung oft wichtiger als eine erwartete Lust. Es kann auch Unlust erstrebt werden, um noch größerer Unlust zu entgehen. Man kann sogar den Tod vorziehen, wenn die mit ihm verbundene Unlust geringer erscheint, als die vom Weiterleben erwartete.

Handlungen der ersten Art geschehen vor allem da, wo bestimmte Tendenzen, Keime, Triebe, Bedürfnisse des Individuum vorliegen. Zeigt sich von außen her eine Möglichkeit, daß sie sich durchsetzen, entwickeln, befriedigen: dann tritt die entsprechende Handlung sofort ein, ohne daß sich Gefühl und Vorstellung einzuschieben brauchen. Oder in anderen Fällen tritt wohl eine Vorstellung, Wahrnehmung, Empfindung dazwischen, aber kein Gefühl. Auf diese Weise geht zu einem großen Teil das Tun des täglichen Lebens vor sich, besonders alle mechanisierten oder zur Gewohnheit gewordenen Handlungsreihen.

Ein Zweck kann also nur deshalb in Aussicht genommen werden, weil man sich vorstellt, daß sich mit der Erreichung des Gewollten Gefühle der Lust einfinden werden. Verhieße der Zweck keine Realisierung von etwas Wertvollem, so würde man nicht erstreben. Oft liegt er in so ferner Zukunft, daß man mit Bestimmtheit weiß, man werde ihn nie erreichen. Es bleibt dann nur die Vorfreude; es werden dann die Lustgefühle antizipiert [vorweggenommen - wp], welche Kinder und künftige Generationen einst haben werden oder zumindest einst haben könnten. Oder auch: mit dem Streben nach dem Zweck sind schon Lustgefühle verbunden, weil man dieses Streben für etwas Wertvolles hält und aufgrund seiner Selbstachtung oder der Achtung durch Andere teilhaftig wird.

Jede Handlung kann als Mittel zur Erreichung verschiedener Zwecke benutzt werden, und jedes der Lustgefühle, welche mit diesen verschiedenen Zwecken in der Vorstellung verbunden sind, kann als Motiv zu einer Zweckhandlung treiben. Denn jede Handlung hat - über den unmittelbaren, äußerlich sichtbaren Inhalt hinaus - die Tendenz, gewisse Konsequenzen nach sich zu ziehen, die sich erfahrungsmäßig mit einiger Sicherheit berechnen und vorherbestimmen lassen, die jedoch nicht in jedem einzelnen Fall einzutreffen brauchen, sondern durch die Umstände hintertrieben oder modifiziert werden können. Ich nenne diese Konsequenzen Nebenfolgen oder Nebeneffekte. Bei Zweckhandlungen nun kann sich das Motiv sowohl auf den eigentlichen Inhalt der Handlung beschränken, als auf diese oder jene der Nebenfolgen übergreifen, wie auch letztere allein in Rechnung ziehen.

Ich wähle ein Beispiel: Ein Mann beseitigt durch Schenkung einer größeren Summe Geldes die Not einer Familie. Das sei der unmittelbare äußere Inhalt der Zweckhandlung! Abgesehen von dieser direkten Folge wird die Handlung im gewöhnlichen Lauf der Dinge noch mancherlei Nebenfolgen nach sich ziehen. Sie kann den Geber in den Ruf eines wohltätigen Mannes bringen, kann seinen Kredit stärken, kann ihm Freunde und Ansehen erwerben, kann in ihm die Zuversicht erwecken, daß er auf Belohnung im Jenseits Anspruch hat etc. Jede dieser Nebenfolgen kann bei ihrem Eintreffen im Geber ein Gefühl der Lust erregen, jedes dieser erwarteten Lustgefühle kann den Geber zu dieser Tat bestimmen, oder mit anderen Worten: jede der Nebenfolgen kann dem Geber der eigentliche Zweck der Handlung und das von der Nebenfolge erwartete Lustgefühl das Motiv zur Handlung sein. Die Tat ist ihrem unmittelbaren Inhalt, ihren wahrscheinlichen Folgen, den durch sie erreichbaren Zwecken nach in allen Fällen dieselbe: die Motive sind verschieden; überein kommen sie nur darin, daß sie alle in Gefühlen der Lust bestehen, die von der vollzogenen Handlung erwartet werden.
LITERATUR - Erich Adickes, Ethische Prinzipienfragen, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 116, Leipzig 1900