ra-2 F. BrentanoJ. FriedmannR. GeijerF. KleinP. Rée    
 
NATHANAEL DRANSFELD
Der Zusammenhang des
Wissens mit dem Gewissen

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"Selbst das höchste Wissen ist nur Mittel."
       - Johannes von Kirchmann


Es handelt sich hier zunächst um eine Definition des Wissens. Dasselbe entsteht, wenn die sinnliche Wahrnehmung durch Erfahrung fest wird und mittels des hinzukommenden Denkens auf dem Weg der Induktion Gesetze des Seins findet, deren Wahrheit ihm immer wieder aufs neue bestätigt wird. Man kann es fassen als: die Summe der durch das Denken zur Erkenntnis ausgebildeten Vorstellungen oder im höchsten Sinne als: die begrifflich erkannte Natur. Jedenfalls kann es nur aus der Sinneserfahrung stammen und zur Erkenntnis vom Grund des Gewußten als zu seinem letzten Ziel hinführen, womit es dann freilich nur einen weiten Zirkel beschrieben hat, und, obwohl vertieft und geläutert, zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt ist. Die Sinne vermitteln das Wissen von dieser Welt; sie allein geben dem Menschen die Elemente, aus welchen die Körperwelt aufgebaut ist und es gibt außer ihnen kein weiteres Mittel dafür, so daß andere Elemente als diese der Mensch selbst in seinen wildesten Phantasien nicht zu erreichen vermag (JULIUS von KIRCHMANN, Lehre vom Wissen, Seite 3). Ohne Sinnes und Selbstwahrnehmung keine seelische und keine leibliche Tätigkeit, keine Fertigkeit, keine Kunst, keine Wissenschaft, endlich keine Religion. Wissen und Können gehören auf sittlichem Gebiet so zusammen, daß dieses an jenes gebunden ist. Ein Knabe  kann  z. B. ein Fenster einwerfen, einen jungen Baum umbrechen, ein Nest ausnehmen, aber dieses "können" hat mit dem Wissen in unserem Sinne nichts zu tun. Überall wo im Verlauf dieser Arbeit von Wissen die Rede ist, schließe man daher alles Können (was also Kunst genannt wird) mit ein. Der Realismus in der Philosophie betont mit Recht den bedeutsamen begrifflichen Unterschied zwischen dem Sein und dem Wissen und rühmt das Verdienst SCHELLINGs und HEGELs "welche die von den früheren Systemen verkannte Identität des Seins und des Wissens wieder geltend machten und sagten, daß der Inhalt beider identisch, nur die Form verschieden sei, welchen Unterschied HEGEL leider für unwesentlich erklärt habe und dadurch mit seinen Begriffen ins Unfaßbare geraten sei. Auch bei SCHOPENHAUER verhalte sich "Sein und Wissen nur wie Ursache und Wirkung." Das mag gut sein: aber wenn nun die realistische Ansicht fortfährt, "folglich könne nur der Inhalt des Seins in das Wissen übergehen und nicht auch noch seine Form, so ist das rein unbegreiflich. Denn in Wirklichkeit sind weder Ursache und Wirkung, nach Inhalt und Form so voneinander getrennt - kein Denkender wird sie noch so scheiden - sondern sie sind koexistierend, so daß der eine Vorgang nur in unserem Denken in zwei geschieden ist, wenn auch ungeheure räumliche oder Zeitspannen zwischen beiden lägen. - Fassen wir den Telegraphen an irgendeinem Ort als Ursache, so kann seine Wirkung in unmessbar kurzer Zeit 700 Stunden weiter wahrgenommen werden und sich in einer Sekunde auf 62000 Meilen erstrecken; andererseits wirkt z. B. die französische Revolution noch heute fort. Ebenso kann man auch, wenn von Inhalt und Form die Rede ist, den Inhalt eines Baumes, einer Kugel, eines Gewehres, gar nicht wissen, ohne seine Gestalt mit zu wissen und wenn man den Inhalt eines Buches  kennt,  so wird man notgedrungen die Form der Worte, in welche dieser Inhalt gegossen ist, mitwissen müssen und gar nicht davon abtrennen können. Solche ungenauen Unterschiede sind auf Rechnung des trennenden Denkens zu schreiben oder vielmehr, da die Sprache das alleinige Ausdrucksmittel unseres Denkens ist, sie liegen mehr in der Sprache, sofern diese ihren sinnlichen Ursprung verleugnen möchte, als daß sie in Wirklichkeit vorhanden wären. Übrigens ist der Mensch selbst Gegenstand seines Wissens, wie es die Natur ist. Ich weiß z. B., daß der Erdboden fest ist, daß uns die Sonne wärmt, aber auch daß ich arbeiten und sterben muß. Wenn nun daher KIRCHMANN sagt (Lehre vom Wissen, Seite 66) es folgt, daß die Seinsform nicht in das Wissen mit eingeht, sondern ihm unfassbar bleibt, so müßte es vielmehr heißen: Das Sein geht unter der Form des Wissens in den Geist des Menschen ein; der Inhalt bleibt der nämliche. Wenn nämlich Metall in eine Form eingeschmolzen wird, so wird notwendig das Metall diese Form annehmen; aber wenn diese zerbrochen wird, so bleibt das Metall in derselben Form. Dieses Bild mag, wie jenes andere bekannte, "das Wissen sei nur der Spiegel des Seienden", das Verhältnis beider veranschaulichen. Jedenfalls kann das Wissen nicht ohne das Seiende existieren und müßte sonst verschwinden, während dieses - und zum Seienden gehört auch der Mensch - wohl bestehen kann,  ohne daß es gewußt wird.  Nur hierin kann der Grund liegen, weswegen das Wissen den Menschen nicht zu stolz machen darf und jedenfalls für sich allein nicht glücklich macht - es ist übrigens in der menschlichen Seele niemals rein vorhanden, sondern mit anderen Zuständen der Sinnes- und Selbstwahrnehmung vermischt.

Die Bedeutung des Wissens für das menschliche Geschlecht, welches seine ganze Kultur nur dieser, ebenso rastlosen als allmählich sich steigernden Verstandesarbeit verdankt ist ungeheuerlich. Unermeßlich sind seine Schätze, welche in Wort und Bild, in Druckschrift und in Tönen, als schöne Kunstprodukte und Maschinen von staunenswerter Feinheit oder eben solcher Mächtigkeit vor unseren Blicken ausgebreitet sind. In einer Zeit, welche mit dem Blitz spricht, mit dem Licht malt und mit dem Dampf fährt und überdies die Kulturmittel immer mehr als gemeinsames Besitztum ausbreitet, mag jeder, der dies erkennt, froh des Kulturbesitzes und angetan mit dem stählernen Rüstzeug der Wissenschaft unseres Jahrhunderts, "in edler stolzer Männlichkeit" ausrufen im Kampf des Daseins.
    "Vieles gewaltige lebt und nichts
    Ist gewaltiger als der Mensch.
    Überall weiß er Rat,
    Ratlos trifft ihn nichts
    Zukünftiges." (SOPHOKLES, Antigone)
Und nicht einmal dem Tod gegenüber ist er so ratlos, wie die folgende Zeile des alten Dichters behauptet, da er ihm nicht entrinnen, sondern ihn nur hinausschieben, vor allem aber begreifen will. Was die einzelnen Gebiete betrifft, so genügt die Industrie nahezu auch dem raffiniertesten Lebensbedürfnis und ist dabei ebenso erfinderisch im Zerstören, wie im Erhalten (Dynamit, KRUPPsche Riesenkanone) die Chirurgie läßt in der Narkose das Leben entschlummern, um in seine Organe heilkräftig einzugreifen. Nicht zum wenigsten dient diesen Bestrebungen für das physische Wohlsein die neuere Statistik, indem sie durch Zahlen und Tabellen die Bedingungen desselben und die gegenteiligen Wirkungen nachweist. Die Völkerkunde zeigt bei den bei allen individuellen Besonderheiten bestehenden Grundtypus des Menschlichen und wirft überraschende Streiflichter besonders auf unsere sittliche und religiöse Entwicklung; sie ist zur Kulturgeschichte geworden und hat gewissermaßen das Erbe der Sprachkunde, Geographie und Religionsgeschichte, deren Gehalt sie in sich begreift, angetreten. Für die Geistesnahrung sorgt in unerschöpflicher Fülle eine Literatur, in welcher jede Stilgattung musterhaft vertreten ist. (Kritik) Die Ästhetik betrachtet all diese Wissensgegenstände, um das Gefühl für das Schöne und Gute, freilich auch den Blick für das Häßliche zu bilden oder zu schärfen; die Pädagogik, ihrem Wesen nach eine Kunst und keine Wissenschaft, verwertet die Ergebnisse der rationalen Psychologie, um dem Menschen zum Wissen und zum sittlichen Wollen teils zu bilden, teils zu erziehen, während sie freilich die meisten ihrer Erziehungsgrundsätze der positiven Theologie, in deren Gebiet diese allein gehören, abgeborgt und mit ganz anderen Elementen vermischt hat, weswegen sie auch in ihren Zielen nebelhaft bleibt, da sie zwischen humaner Durchbildung - ein Ziel, mit dessen Entdeckung sie erst angefangen hatte, systematisch dargestellt zu werden - und exklusiv konfessioneller Erziehung schwankt. Was die übrigen (Erfahrungs-) Wissenschaften betrifft, so besteht ihre neueste Leistung darin, daß sie über Gegenstände, welche der Wahrnehmung entzogen sind, dennoch Bestimmungen haben aufstellen können, welche mit anderem Wahrgenommenen genau übereinstimmen: so die Astronomie über die Weltkörper, die Geologie über den Zustand der Erde aus Zeiten, welche über alle historische Bestimmung weit hinausreichen. Auch die Naturwissenschaft stellte über die Natur des Lichts, der Töne und der Körper in den Atomen, Molekülen und den Oszillationen, Bestimmungen von nicht wahrnehmbarer Feinheit auf, deren berechnete Ergebnisse aber mit dem Wahrgenommenen doch genau stimmten. Endlich die Philosophie, als die Wissenschaft von den höchsten Begriffen und Gesetzen des Seins, faßt als Wissenschaft der Wissenschaften die Summe aller zusammen. Bei dieser ist Folgendes zu bemerken. Die Philosophie wurde früher öfter als die den Grund und die Ursache allen Seins erforschende Wissenschaft definiert. Seit sie jedoch in ihrer neuesten Entwicklung aufs entschiedenste dazu fortgeschritten ist, die Unendlichkeit der Welt (des Universums) als Quelle allen Seins und Wissens zu behaupten, ist es unmöglich, die Definition noch so zu fassen und ebenso unmöglich die darauf noch bestehenden anders denn als Apostaten [die sich abkehren - wp] vom echten Geist der Philosophie anzusehen. Wohl aber mag letztere noch die Wissenschaft "vom Grund des Gewußten" heißen. - Diese Betrachtung der Macht des Wissens sollte nicht allein zeigen, was der Mensch durch dasselbe vermag, sondern auch, wie er ohne irgendein Wissen gar nichts vermag (ohnmächtig ist). Denn es hat sich nicht bloß alle Kultur ganz allmählich entwickelt, sondern auch die einfachste Stufe derselben setzt eine stetige Arbeit des Wissens voraus, wobei letzteres vom Wesen des Menschen so unzertrennlich ist, wie das Wachsen von der Pflanze und das Leuchten vom Feuer. Die einfachste körperliche Arbeit erhält Licht und Wert erst vom Wissen und die komplizierteste (Virtuosentum in der Musik, Magie, Technik) wird erst möglich und wird erleichtert, wenn sie von einer beständigen Wissensarbeit begleitet wird. Nicht nur hat jede Wissenschaft jetzt ihre Geschichte sich ausgearbeitet, sondern die meisten haben eine solche Ausdehnung gewonnen, daß eine einzelne längst nicht mehr in eines Menschen Kopf geht (in allen ihren Details) und das Spezialstudium erforderlich wird. Das Gefühl und das Begehren gehören für sich nicht in das Wissen, ein Satz, welcher in der Folge für uns noch sehr wichtig sein wird. Denn man kann z. B. wissen und bedenken, daß der Zucker süß schmeckt, daß das Glück eines Menschen in unserer Hand liegt, daß man sich in Gefahr befindet und doch zugleich, von diesen Dingen nichts fühlen, nichts begehren, nichts mit ihnen tun wollen. Von welcher Bedeutung das Wissen für den Menschen ist, das beweist die Sprache, diese Lehrmeisterin der Erfahrung. Nicht nur in er heiligen und Gelehrtensprache gebraucht erstens die Bibel "Wissen" gleichbedeutend mit Erfahrung und Wahrnehmung (Psalm 139,2. Ich sitze oder stehe, so weißt du es; Römer 1,19. Das, was man wissen kann von Gott, ist ihnen deutlich.) und werden zweitens die Schriften der Inder  Vedas  (Sammlungen des Wissens) genannt, sondern auch in unserer Umgangssprache bezeichnen Ausdrücke wie: nicht wissen, wohin; wissen, was man will; nicht wissen, was man will und was zu tun (anzufangen) - geradezu instinktiv, daß des Menschen Wesen aufs Wissen angelegt ist und "er weiß nichts" bedeutet geradezu soviel wie "er kann nichts." Übrigens ist auch die Wurzelbedeutung von "wissen" (sanskrit: veda; griechisch: eido keine andere als: wahrnehmen (idein) sehen.

Nicht hoch genug zu preisen ist die freudige Begeisterung, die erhebende Wirkung, welches echtes Wissen für den Menschen mit sich führt aber auch nicht genug zu bedauern der Umstand, daß bis jetzt sehr wenige Schriftsteller sich bemühten, das Wissen in seiner Bedeutung für das ganze physische und geistige Leben, ja als die Grundlage des sittlichen Denkens und Wollens, mit einem Wort des Gewissens zu betrachten. Hiermit haben wir den Nerv unserer Abhandlung gefaßt und denken ihn nicht wieder loszulassen; die Absicht ist, zu zeigen, wie das Gewissen ausschließlich das Ergebnis des Wissens ist, von keiner andern Ursache bedingt werden kann, wie es von anderen Erscheinungen des Seelenlebens, z. B. von den Affekten des Fühlens und Begehrens nur begleitet wird und wie es endlich das Übersinnlich nur in derselben Weise ergreift wie das Wissen. Was aber den gewöhnlichen Vorwurf betrifft, welcher der Lobpreisung menschlichen Wissens entgegengehalten wird, daß es das menschliche Elend doch nicht hinwegnehmen könne und daß es nicht glücklich mache, weil der wissende das menschliche Elend nur tiefer empfände bei sich und bei anderen oder andererseits zu einem schädlichen Stolz verleitet würde (Prediger 1, 18: Wo viel Weisheit, da ist viel Grämens und wer viel lernt, der muß viel leiden und 1. Korinther 8, 1 und 2) so ist dem entgegenzusetzen, daß auch ein geringerer Grad von Wissen besser ist als Unwissenheit, daß Empfindungen und Begehrungen an und für sich mit dem Wissen nichts zu tun haben und was den ersten und letzten Punkt, nämlich das Verhältnis des Wissens zum Leiden und zum Glauben angeht, so soll gleich davon ausschließlich die Rede sein. Zunächst rede für unsere Auffassung die sprachliche Bedeutung von "Gewissen". Indem die bekannte Tatsache, daß dieses Wort in allen bekannten Sprachen sehr ähnlich ausgedrückt ist, hier nur angedeutet wird, sei bemerkt, daß es in den wichtigsten: lat. conscientia ein genaues oder "sehr wohl" wissen, oder auch "sich selbst bewußtsein" bedeutet, ja daß es zuweilen gerade zu synonym mit "Bewußtsein" vorkommt. (Prediger 10, 20) Ebenso heißt es im Hebräischen  Herz,  ganz synonym mit Verstand und Gesicht, da das Herz dem Hebräer als Zentralorgan des ganzen Denkens und Fühlens gilt. Die Bedeutung "Mitwissenschaft" "Mitkunde" gemeinsames Mitwissen mit anderen um dieselbe Sache (z. B. conscientia facinoris [Bewußtsein des eigenen Verbrechens - wp] TACITUS) ist nur eine abgeleitete. Im Deutschen ist gar kein Zweifel, daß Gewissen nur "das Gewußte" bedeutet, nur daß man es ausschließlich für das sittliche Gebiet gebraucht, während man für alle anderen "Wissen" gebraucht. In Wirklichkeit wird es auf dasselbe hinauskommen. Die Silbe  ge  (gotisch  ga  = mit, zusammen) bedeutet in abstrakten Wörtern allemal nur die Summe und die Wiederholung der im Stammwort genannten Tätigkeit (Geräusch, Gesicht, Geschmack, Gespräch). Der einzige sprachliche Unterschied ist also der, daß das Gewissen nur auf sittlichem Gebiet gebraucht wird - wenn man nämlich die Bedeutung des Wissens für das praktisch-sittliche Handeln bezeichnen will. (1) Schon die sprachliche Bedeutung führt also auf die Definition, welche aus allen anderen Gründen unvermeidlich ist: das Gewissen ist derjenige Zustand oder diejenige Tätigkeit, in welcher der Mensch seinem Wissen gemäß sein Begehren oder Handeln bestimmt, ist das auf sittlichem Gebiet praktisch gewordene Wissen. Höchstbedeutsam ist es, wie das Gewissen überall als neuestes, unverletzliches Besitztum und als freie Tat des Menschen angesehen wird (conscientia mille testes [Ein Gewissen ist so gut wie tausend Zeugen. - wp], sagt QUINCTILIAN) und wie es auch in der Bibel, nirgends als eine übernatürlich gewirkte Gnadengabe (wie: Busse und Glauben) sondern als ganz natürliche Fähigkeit (z. B. der Unterscheidung zwischen gut und böse) bezeichnet wird. (Römer 13, 15 auch 14, 20 und 22).

Hier begegnet uns nun wohl der Vorwurf, bei diesem Wissen und Gewissen fehle der Inhalt des Glaubens; und es wird daher das gegenseitige Verhältnis des Glaubens und Wissens hier anzudeuten sein. Zunächst gilt in der Religion (und wir stellen die christliche stets in den Vordergrund) der Glaube als ein "unmittelbares Fürwahrhalten aufgrund einer Neigung und eines Bedürfnisse, welches keines Schlußbeweises bedarf. Niemals ist daher eine geschichtliche Religion auf Vernunftbeweise gegründet worden. Hieran ließen sich Orthodoxe im ganzen genügen, während Freunde des Denkens aus einem gewissen Bedürfnis versuchten, den Glauben zum Wissen zu gestalten, wie z. B. die Alexandriner über pistis = gläunige christliches Vertrauen, - welche sie doch vollständig anerkannten, - dennoch die  gnosis  als das Höhere stellten, nämlich als die philosophische Begründung jener, mit welcher sie übrigens vollständig den gleichen Inhalt hatte. Die Scholastik setzte in der Folge bei ihrem labyrinthischen Lehrgebäude die wissenschaftliche Beweisbarkeit des Dogmas voraus, wogegen ein BERNHARD von CLAIRVAUX über den Glauben (über welchener die mystische Anschauung stellt) außerordentlich schön sagt er, er sei "nur eine mit dem Willen ergriffene sichere Vorempfindung einer noch nicht ganz enthüllten Wahrheit und gründe sich auf Autorität oder Offenbarung, wohingegen die (innere) Anschauung (contemplatio) die gewisse und zugleich offenbare Erkenntnis des Unsichtbaren sei". Er wollte also offenbar das Geglaubte in einer ähnlichen Weise, wie das beim Wissen stattfindet, sinnlich-geistig wahrnehmen. Nachdem der scholastische Wahn gefallen ist, versuchen doch alle späteren, teils aus Überzeugung, teils aus praktischem Bedürfnis (tendenziös) Glauben und Wissen ineinander oder nebeneinander zu ketten. So erklärt KANT: Wissen ist ein Fürwahrhalten aus objektiv und subjektiv zureichenden Gründen, Glauben eines aus nur subjektiv zureichenden. TWESTEN: der Glaube ein auf dem Gefühl beruhendes Fürwahrhalten. NITZCH: der Glaube: die Einheit des Gefühls und des Erkennens, ein gefühlsmäßiges Erkennen. SCHLEIERMACHER: der religiöse Glaube, als unsicher und vermittelt, soll übergehen zur intellektuellen Anschauung). In allen diesen Richtungen, war doch der Inhalt des Glaubens, immerhin das Erste und erhielt nur durch das Wissen seine Bestätigung (zuweilen seine Korrektur, z. B. bei KANT die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft und Moral) bis zuletzt in unserem Jahrhundert eine mit allen Mitteln der Wissenschaft ausgerüstete theologische Richtung als direkter Gegensatz der Scholastik hervortritt, welche mittels der Kritik den Glauben (christlichen) als ein untergeordnetes Wissen und als dazu bestimmt bezeichnet, in letzterem aufgelöst zu werden und dann zu verschwinden. Ja, selbst DAVID FRIEDRICH STRAUSS, welcher durch sein "Leben Jesu" den Anstoß zu dieser glänzendsten Evolution der Wissenschaft gegeben hat, versuchte anfangs, unter dem Einfluß des bekannten HEGELschen Dogmas "Religion und Philosophie hätten bei übrigens gleichem Inhalt nur eine verschiedene Form (der Vorstellung bzw. des Begriffes)", den Inhalt des Glaubens, welchen er eben noch als einen vom Wissen verschiedenen meisterhaft nachgewiesen hatte, dennoch in der Form des Wissens als einen Teil desselben darzulegen (siehe "Leben Jesu", 1835, § 149: "Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie" etc.) wohingegen er später mit bekannter ausgezeichneter Konsequenz und Wahrheitsliebe, dem neuen Wissen einen "neuen Glauben" als dessen Ergebnis, zur Seite gestellt hat. Und während nun schon in der altprotestantischen Dogmatik das Wissen nur innerhalb der Grenzen zugelassen war, innerhalb welcher es mit dem Wortlaut der Schrift sich  nicht  im Widerspruch befand (in Einklang damit zu bringen war) so scheint die neueste positive Theologie denn auch in richtiger Würdigung dieser Sachlage und in der Ahnung, daß das Wissen auf keinen Fall dem Glauben zur Stütze dienen kann - auf das neue Wissen vollständig verzichtet zu haben, es wäre denn, wo sie dasselbe als Auskunftsmittel gebraucht, etwa um die Glaubwürdigkeit der Wunder aus der Analogie der Natur zu behaupten oder die abgetanen scholastischen Sätze von der Beweisbarkeit der Dogmen gar wieder hervorzusuchen.

Und wenn wir nun, zwar an letzter Stelle, aber mit dem Vorbehalt höchster Bedeutung, hinzufügen, daß der gesamte Offenbarungsgehalt, welcher der selbstgemachten Vernunftreligion gegenüber glücklicherweise als innerster Kern der geschichtlichen Religionen gilt, daß also dieser innerhalb des Wissens sich sehr leicht in Elemente auflösen läßt, (2) die aus dem Gebiet der gewöhnlichen Erfahrung, der Sinnes- und Selbstwahrnehmung, stammen, daß sie im Dienst einer Phantasie stehen, welche wiederum den Gefühlen und Wünschen dient und daß es sich mit dem Hellsehen, dem Geisterverkehr und der "intellektuellen Anschauung" des Spiritismus, welche einige für eine Art Offenbarung erklären möchten, ganz ähnlich verhält, so muß es klar werden, daß nicht nur der Vater aller Religion das Gemüt und ihre Mutter die Phantasie ist, sondern vor allem die Offenbarung nicht in das Wissen, sondern durchaus nur in das Fühlen und Begehren des Menschen gehört und wir eilen damit dem Ende dieses Abschnitts zu.

Daher hierüber nur noch Folgendes:

Die biblischen Wundererzählungen sind in der Erfahrung beispiellos und für ein gewissenhaftes Denken deshalb unzugänglich, weil hier das Sinnliche plötzlich übersinnlich und umgekehrt das Übersinnliche plötzlich sinnlich geworden sein soll. Anders stünde es ja, wenn man behauptete, alles Natürliche sei auch zugleich ein Übernatürliches, weil zum Ewigen gehöriges und daher unbegreifliches - das müßten zuletzt selbst die Materialisten zugeben - allein das war nie die Behauptung des (unverfälschten) Glaubens. Hierfür ein kurzes Beispiel, dem wir die beiden Fundamentalsätze:
    1) Das Wahrgenommene existiert
    2) Der Widerspruch existiert nicht
zugrunde legen. Gott sich als Person  vorzustellen  - ich sage nicht: glauben - ist dem gewissenhaften Denken unmöglich. Denn nur absichtlich kann man leugnen, daß wir doch von keinen anderen Personen, als von menschlichen, etwas wissen, noch wissen können. Wenn wir nun dieser menschlichen Person, wie sie in der biblischen Geschichte redet und erscheint, von Affekten ergriffen ändert usw., die Attribute der Ewigkeit, Unendlichkeit, Allgegenwart, Allwissenheit etc. beifügen, so wird entweder die Person von diesen verschlungen oder wollen wir diese festhalten, so verschwinden eben jene Attribute. Denn daß z. B. Gott allgegenwärtig, d. i. auf jedem Punkt der Welt gleichmäßig wirkend und deshalb unsichtbar sein soll und dennoch dem MOSES auf dem Berge zu einer Zeit besonders sichtbar und hörbar gewesen sei. Beides kann man sich nur vorstellen, wenn man es sich nur halbvorstellt, d. h. eine von beiden Vorstellungen fallen läßt. Wohl aber begreifen wir, welches Bedürfnis den Menschen nötigte, sich seinen Gott nach seinem Bild vorzustellen und wohl weiß auch das Wissen von einem Gott in der erhabensten Bedeutung des Wortes: Es ist der reine Inhalt alles Seienden, ohne die Form desselben, der Gott, welcher in allem Sein und Wissen der Kern ist, welcher die ganze Welt erhält und alles in allem ist. Das Wissen kann diesen Gott natürlich nicht sinnlich wahrnehmen (wie der Glaube, welcher sich selbst widerspricht, indem er das Unsichtbare zu sehen behauptet,) sondern nur begreifen und glauben: nur widerspricht dieser Glaube in nichts der sogenannten Vernunft. Ebenso kann die Unendlichkeit der Welt nicht mehr vorgestellt, aber begriffen und geglaubt werden. Mit den Dogmen von der Erlösung und von der Auferstehung (Unsterblichkeit) welche absolut wunderbar sind, verhält es sich ganz ähnlich, daß nämlich, wenn man eines von ihren Elementen festhalten und betrachten will, alle verschwinden.
LITERATUR - Nathanael Dransfeld, Der Zusammenhang des Wissens mit dem Gewissen und seine praktische Bedeutung - Ein zeitgemäßer Beitrag zur Lehre vom Gewissen - Halle 1887
    Anmerkungen
    1) Die oft am stärksten betonte Bedeutung "Mitwissen" mit Gott, ist auch vorhanden, aber nicht die gewöhnliche und ursprüngliche. Soll das Gewissen des einzelnen ein "Mitwissen" heißen, so kann das nie einen anderen Sinn haben, als daß er etwas weiß, was alle wissen, allen gemeinsam ist, dann hieße es hier zugleich: ein Wissen mit Gott und ein Wissen von Gott, ein gemeinsames Wissen mit Gott von Gott. Wen man aber diese Bedeutung zur ursprüngliche stempeln will, so ist das eine Verwechslung, eine wörtliche, d. h. falsche Übertragung eines fremden Sprachidioms ins Deutsche.
    2) Es ist dies, freilich ausschließlich vom Standpunkt eines das Gemüt beherrschenden Verstandes, ausgeführt in der christlichen Glaubenslehre von DAVID FRIEDRICH STRAUSS und LUDWIG FEUERBACH, Wesen des Christentums, 1841.