ra-2B. BauchA. SchopenhauerM. SchelerN. Hartmannvon Ehrenfels    
 
KRISTIAN KROMAN
Allgemeine Ethik
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"Die Ethik muß durch die spezielle Natur des Menschen bestimmt werden; jeder Natureigentümlichkeit entspricht eine bestimmte Form des ethischen Gesetzes. Bin ich ein Bube, so lautet mein ethisches Gesetz: Du sollst recht viele Bubenstücke verüben! Bin ich menschenfreundlichen Gemüts, so heißt mein ethisches Gesetz: Du sollst menschenfreundlich handeln! Und so gibt es viele Ethiken. Die Menschen sind sich nicht gleich. Jede Sorte muß deshalb ihre Ethik erhalten und kann sich nicht der für eine andere Sorte gültigen Ethik unterwerfen."

Der Mensch kennt Mächte des Daseins oder hat sich die Vorstellung von solchen gebildet, die mit "dem Ethischen" nicht verwechselt werden dürfen.

In scheinbarem Widerspruch mit letzterem steht der unmittelbare Selbstbehauptungstrieb, der deshalb mitunter auch als unethisch betrachtet und Egoismus genannt wird. Wieviel Richtiges oder Falsches in dieser Auffassung liegt, werden wir später untersuchen. Von einer Verwechslung wird hier daher abr wohl nicht die Rede sein können.

Dagegen ist die ethische Gewalt oft für eins mit der sozialen Gewalt, mit der Gewalt der Gesellschaft erklärt worden. Ebenso wie die ethische Gewalt sagt ja die Gesellschaft zum Individuum: Du sollst!, und ebenso wie die ethische Gewalt hat sie ihre Gewaltmaßregeln, mittels deren sie sich Gehorsam zu verschaffen sucht.

Das gewöhnliche Bewußtsein stellt hier jedoch eine scharfe Sonderung an: die Gewalt der Gesellschaft kommt von außen her zu mir; das Gebot der Gesellschaft ist ein äußeres Gebot. Die ethische Gewalt dagegen befindet sich  in  mir, ist ein Teil oder eine Seite meines eigenen Wesens: meine Vernunft, mein Gewissen oder was es nun sein mag. Ethisch betrachtet bin ich deshalb der Redende und der Angeredete zugleich. Dieser Umstand bewirkt, daß das ethische Gebot ein vom sozialen weit verschiedenes ist. Trifft ein soziales Gebot vollständig mit einem Gebot der ethischen Gewalt in meinem Inneren zusammen, so mag ich dasselbe wegen dieses Zusammentreffens gern ausschließlich ein ethisches Gebot nennen. Niemand wird aber ein soziales, jener inneren Gewalt widerstreitendes Gebot ein ethisches nennen.

Das gewöhnliche Bewußtsein unterscheidet tatsächlich also zwischen "dem Ethischen" und der sozialen Gewalt. Mit wie geringem oder großem Recht das geschieht, werden wir später untersuchen.

Endlich gibt es drittens  die religiöse Gewalt.  Die meisten Menschen haben in ihrem Bewußtsein eine mehr oder weniger entwickelte Vorstellung von einer wissenden und wollenden Quelle des Daseins, von einer Gottheit, die sich für das Treiben des Menschen interessiert und ihm vielleicht sogar direkt Gebote und Verbote gegeben hat. Auch diese Gewalt ist aber nach dem gewöhnlichen Bewußtsein von der ethischen verschieden.

Ursprünglich erhält der Mensch seine Religion ja auf rein "geographische", äußere Weise: in Dänemark die dänische, in der Türkei die türkische usw. Man teilt dem Kind einen Inbegriff der wesentlichsten Annahmen mit und umgibt diese mit einem Gehege aus starken und warmen Gefühlen, wie man denn auch die Vorstellung vom Aufgeben jeder einzelnen dieser Annahmen möglichst unlustbetont macht. Dem fortdauernd Unmündigen wird dieser Standpunkt gewöhnlich genügen. Anders ergeht es aber der geistig selbständigen, ernsten und gewissenhaften Natur. Jeder solchen erscheint früher oder später ein Zeitpunkt, wo sie es als ungenügend fühlt, auf diese Weise nur von Eindrücken aus der Kindheit zu leben. Der Mensch fühlt, daß er jetzt selbst die Verantwortlichkeit dafür übernehmen muß, was er glauben und meinen will, und er stellt nun seine früheren Annahmen ethisch vors Gericht, indem er fragt: Vermag ich, ethisch betrachtet, an diesen Annahmen festzuhalten, oder muß ich sie gegen andere umtauschen? Denn ein Mohammedaner sein, nur weil ich in Konstantinopel geboren und erzogen wurde, oder ein Christ sein, nur weil ich in Kopenhagen geboren und erzogen wurde, das will ich doch nicht.

Dieser Umstand: daß der Gewissenhafte auf diese Weise selbst seine Religion ethisch übernimmt, zeigt aber nicht nur, daß das Ethische ein vom Religiösen  Verschiedenes  ist, sondern auch zugleich, daß ersteres, dem Wesen nach betrachtet, sowohl  ursprünglicher  als auch  absoluter  als letzteres ist. Das Verhältnis des Ethischen zum Religiösen ist in mehreren Beziehungen dem Verhältnis des Ethischem zum Sozialen ähnlich. Das ethische Gebot kommt zuguterletzt aus dem Inneren; das religiöse oder genauer gesagt: das positiv-religiöse kommt ebenso wie das soziale aus dem Äußeren, aus dem Fremden, und muß deshalb erst ethisch genehmigt werden, bevor es für das Subjekt seine Bedeutung erhalten kann.

Daß diese Auffassung in der Tat diejenige ist, der man bewußt oder unbewußt allgemein huldigt, werde ich noch ein wenig näher nachweisen.

Als LUTHER vor dem Reichstag in Worms erschien und erklärte, er sei nicht imstande zu widerrufen, da er es nicht geraten finde, etwas  wider das Gewissen zu tun,  unterwarf er also die verschiedenen religiösen Lehren, um die sich der Streit handelte, einer ethischen Schätzung und verwarf sie trotz des Papstes, trotz der Kirche und trotz aller religiösen Überlieferung, weil das ethische Urteil ungünstig für sie ausfiel.

Bekannt ist HOLBERGs Äußerung über sich selbst, er sei ein ehrbarer und friedliebender Mann, der sich in allem Übrigen gern nach den Vorschriften der Geistlichen richten möchte. Nur wenn sie verlangten, er solle etwas Unethisches von der Gottheit glauben, wie z. B. daß einige Menschen zur Seligkeit, andere zur Verdammnis prädestiniert seien, würde er "sich starr machen" und aus Leibeskräften protestieren.

Als DICKENS die Sklaverei in Amerika in größerer Nähe betrachtete und Ärgernis daran nahm, verwies man an die Bibel und hob hervor, diese befürworte indirekt die Sklaverei. DICKENS erwiderte hierauf, er würde jedes Blatt der Bibel, das dies tue, herausreissen und nicht mehr zu seiner Bibel rechnen.

Eine ähnliche Antwort gab HOSTRUP (1), als man in einer Versammlung in Kopenhagen, welche die Gleichberechtigung der Frau und des Mannes diskutierte, hervorhob, das Neue Testament erkläre ausdrücklich, der Mann sei das Haupt des Weibes. HOSTRUP bemerkte hierzu, wo im Testament dergleichen unethische Behauptungen vorkämen, sei anzunehmen, daß der betreffende Autor oder Redner jüdische soziale Verhältnisse, nicht aber allgemeinverpflichtende religiöse Wahrheiten ins Auge gefaßt habe.

Wohlbekannt sind endlich JOHN STUART MILLs berühmte Worte, nie werde ihn jemand bewegen, einem Wesen zu huldigen, das nicht sei, was er mit seinen menschlichen Fähigkeiten gut und edel nennen müsse, und gebe es ein solches Wesen und könne dieses ihn wegen Ungehorsams zur Hölle verdammen, so werde er in die Hölle gehen.

Hier haben wir nun übereinstimmende Äußerungen aus weit verschiedenen Lagern. Daß nun auch eben die religiösen Theorien in der Tat durchweg der geschilderten Auffassung huldigen, läßt sich ebenfalls leicht nachweisen. Jede der positiven Religionen enthält ja Lehrsätze, die von vielen Menschen als unethisch aufgefaßt werden. Viele Nicht-Christen werden z. B. die christliche Versöhnungslehre unethisch, und soviel möchte wohl festgestellt sein, daß diese, zu Zeiten wenigstens, entschieden unethische Formen angenommen hat. Ein Anhänger der Lehre könnte hier nun verschiedene Standpunkte einnehmen. Er könnte sagen: Allerdings ist dieselbe unethisch; das Ethische ist aber auch nicht das Höchste. Das Religiöse steht noch höher und vermag deshalb das Unethische zu ertragen. Oder auch könnte er sagen: Allerdings erscheint dieselbe  der Vernunft  als unethisch; "man soll aber die Vernunft im Gehorsam des Glaubens gefangen nehmen."

Keiner dieser Auswege ist jedoch der übliche. Das Gewöhnliche ist, daß der Gläubige sowohl seine Religion als auch jede der einzelnken Lehren derselben  auch in den Augen der Vernunft  ethisch wünscht. Die Theologie erhält deshalb die Aufgabe, jede dieser Lehren derartig auszugestalten, daß sie die ethische Prüfung zu bestehen imstande wird. Dies drückt aber ja nur auf andere Weise aus, daß man bewußt oder unbewußt das Ethische zum wahren höchsten Gericht macht, zu der Goldwaage, in der auch die religiösen Anschauungen zu wägen sind.

Es gibt, meines Wissens, nur einen einzigen entschiedenen Protest gegen diese sonst so gewöhnliche Auffassung. SÖREN KIERKEGAARD äußerte bekanntlich in seiner Abhandlung "Furcht und Zittern" die Ansicht, das Christentum sei keine ethische Lehre, ABRAHAM, das Muster der Gläubigen, sei "ethisch betrachtet ein Mörder", und überhaupt könne man nur, wenn man "den Verstand kreuzige" und aus unendlicher Leidenschaft das Christentum erwählen. Eben weil es so schwer sei, den Glauben zu erfassen, sei dies ihm aber eine anziehende und würdige Aufgabe.

Es hat ihm jedoch, soweit mir bekannt, an diesem Punkt niemand beigestimmt, und es geht dann auch deutlich genug hervor, daß sich hier das überspannte Gefühl einer kranken Seele in phantastischer Rede Luft verschafft hat. Wie ich es überhaupt sollte logisch ethisch verantworten können, eine unethische Religion zu erwählen, das zu erklären hat er rein vergessen. Daß diese mir zufälligerweise vorher "geographisch" (um seinen eigenen späteren Ausdruck zu gebrauchen) gegeen ist, enthält doch keine Entschuldigung, und soll das Versöhnende in der ungeheuren Schwierigkeit liegen, so ist es ein Widerspruch, daß er nicht lieber z. B. die mohammedanische Religion erwählt, die ihm doch gewiß in weit höherem Grad als das Christentum als Abstand vom Ethischen und Kreuzigung des Verstandes und der Vernunft fordernd erschien.

Es scheint mithin festgestellt zu sein, daß das gewöhnliche Bewußtsein im "Ethischen" eine eigentümliche, ursprüngliche und absolute Gewalt erblickt, die sich sowohl von der sozialen als der religiösen Gewalt unterscheidet, die im Gegensatz zu letzteren eine Gewalt  innerhalb  des Menschen ist und eine Gewalt, der sowohl das soziale Gebot nebst allen religiösen Annahmen Rechenschaft abzulegen hat.


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Eine streng wissenschaftliche Untersuchung all dieser "ethischen" Vorstellungen und Erscheinungen muß für die Menschheit offenbar von allergrößtem Interesse sein. Schon die Beschaffung eines geordneten Überblicks über die allgemein herrschenden ethischen Vorstellungen würde ihre große Bedeutung haben; denn wir wir bereits sahen, steht das Menschenleben zum Teil unter der Herrschaft dieser Vorstellungen und der mit denselben verknüpften Gefühle.

Noch weit größere Bedeutung würde es aber selbstverständlich haben, könnten wir eine zuverlässige und entscheidende Beantwortung der Frage erhalten: Welchen bleibenden Wert haben alle diese Vorstellungen? Welchen logischen Zusammenhang gibt es zwischen dem Menschenwesen und diesen Vorstellungen? Der menschliche Geist hat ja im Lauf der Zeiten so gar manche unrichtige Anschauung erzeugt, die dennoch eine gewisse Gewalt über die Gemüter errang und zum Heil oder Unheil das Ruder führte, bis ihre Falschheit entdeckt wurde und sie ihren Einfluß langsam wieder verlor. Gehören die ethischen Vorstellungen zu dieser Klasse? Sind sie falsche Vorstellungen, die leider gar zu lange eine ganz sinnlose Herrschaft über die Menschen geübt haben? Oder entspringen sie mit logischer Notwendigkeit eben aus dem Wesen und den Verhältnissen des Menschen, so daß sie stets wieder von neuem erzeugt werden, wie oft man es auch in kurzsichtiger Oberflächlichkeit und Ungeduld versuchen möchte, sie zu Boden zu schlagen?

Zwei Dinge - sagt KANT - erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.

Dies ist gewiß richtig, und seit Anfang der Zeiten hat man dann auch die größte Sorgfalt und die unermüdlichste Energie aufgeboten, um ein immer tieferes Verständnis dieser Erscheinungen zu gewinnen. Der Erfolg war aber nicht auf beiden Seiten der gleiche. Auf langen und beschwerlichen Bahnen, auf Wegen, die sich bald aus- bald einschlängelten, durch Irrtümer und Selbstwidersprüche hindurch hat die Astronomie sich zum Licht und zur Klarheit emporgearbeitet, zu solcher Allgemeinheit und Sicherheit, daß wir gar keine astronomischen Systeme mehr kennen, weder positige noch negative, weder gläubige noch ungläubige, sondern nur die eine allgemeine und allgemeingültige, wissenschaftliche Astronomie. Es wird niemand mehr die durchgeführte Ordnung des Universums bestreiten; es wird niemand wieder das feste, massive Himmelsgewölbe einführen wollen. Alles Wesentliche hat seine vollständige Entscheidung gefunden. Die wissenschaftliche Astronomie hat nachzuweisen vermocht, wie man von einer verhältnismäßig kleinen Anzahl unbestreitbarer Beobachtungsresultate mit logischer Notwendigkeit bewogen wird, sich eine nach der anderen der großen umfassenden und weittragenden Ansichten zu gestalten, welche den Inhalt dieser Wissenschaft bilden.

Ganz anders unfertig sieht es aber auf einem anderen Gebiet aus. Hier kämpft noch System gegen System. Bald spricht man den ethischen Vorstellungen allen wirklichen Sinn und alle Berechtigung ab, bald stellt man Theorien auf, welche die üblichen Grundanschauungen zum Teil bestreiten, zum Teil gutheißen, bald endlich stimmt man diesen in allem Wesentlichen und Entscheidenden bei. Die Methode ist jedoch fast immer ein willkürliches Gemisch objektiven strengen Denkens und subjektiven Meinens und Behauptens, und das Interesse scheint fortwährend weit lebhafter in der Richtung vieler und erschöpfender "Resultate" als in der RIchtung des sicheren und geordneten Fortschritts zu gehen, bei welchem Fortschritt möglicherweise zahlreiche Fragen ungelöst bleiben würden und man der Sache vielleicht gar nicht auf den Grund gelangte.

Weshalb ist dem nun so? Ist es eine unvermeidliche Folge der verschiedenen Natur der beiden Gegenstände? Das scheint nicht unmittelbar einzuleuchten. Hat das Philosophieren der Vergangenheit vielleicht eine so starke Gewohnheit erzeugt, das Denken mit dem Phantasieren dreist zusammenzumischen, daß es schwer fällt, diese Gewohnheit auf einen Schlag ganz und gar abzulegen? Oder wäre der Mensch etwa gar nicht imstande, auf dem mehr verwickelten geistigen Gebiet an sich selbst eine scharfe Unterscheidung des Denkens und des Phantasierens durchzuführen? Ich lasse die Beantwortung dieser Fragen dahingestellt bleiben und schreite in meinen Untersuchungen weiter, indem ich mich damit tröste, daß es jedenfalls mehr befriedigend ist, auch selbst Schiffbruch zu erleiden, als aus Furcht vor dieser Möglichkeit, schon bevor die Segel beigesetzt sind, eiligst das Land aufzusuchen.

Es würde, wie gesagt, von höchstem Interesse sein, eine wissenschaftliche Lehre von der Vorstellung des gewöhnlichen Bewußtseins vom "Ethischen" zu erhalten. Sollte man in dieser Vorstellung einen Widerspruch finden, so wäre sie ja als mißlungenes Erzeugnis zu verwerfen, das jedenfalls erst nach einer Umgestaltung Bedeutung erhalten könnte. Sollte es sich erweisen, daß die üblichen ethischen Anschauungen ein mit sich selbst übereinstimmendes Ganzes wären, das jedoch in der Luft schwebte, ohne im Wesen des Menschen die notwendige Wurzel zu haben, so wären sie ja zur Kategorie der zufälligen Phantasieprodukte zu zählen und könnten dann höchstens ein geschichtliches Interesse erlangen.

Endlich ist aber auch die Möglichkeit vorhanden, daß sie sich als in allen wesentlichen Zügen völlig notwendige Konsequenzen des Bleibenden und Zentralen im Wesen des Menschen erwiesen. Alsdann würden sie ihre entscheidende Bedeutung erhalten, und es müßte eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft werden, sie in dieser ihrer Notwendigkeit und Wahrheit darzustellen. Ganz so wie die Astronomie eine kurze, klare, geradlinige Ableitung der astronomischen Sätze aus gewissen einfachen Beobachtungsresultaten gibt, müßte eine Lehre vom Ethischen dann eine kurze, klare, geradlinige Ableitung der ethischen Sätze aus den zugrunde liegenden gegebenen Eigentümlichkeiten der Menschennatur zu geben suchen. Aus diesem Ursprung derselben müßten dann ihre Wahrheit und Gültigkeit hervorgehen, wie es gleichzeitig vielleicht möglich werden würde, teils den ganzen umfassenden Begriff "des ethischen Gesetzes", "des ethischen Betragens" scharf abzugrenzen, teils mehr oder weniger eingehend die mannigfaltigen speziellen Formen abzuleiten, in die sich derselbe verzweigen müßte, sobald er unter den mannigfaltigen wechselnden Umständen mit den verschiedenen Individuen in Beziehung käme.

Eine wissenschaftliche Lehre, welche diese Bedingungen erfüllte, würde den Namen  einer wissenschaftlichen Ethik  verdienen. Und unsere Hauptfrage ist nun die: Ist eine  wissenschaftliche Ethik möglich? 


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Mancher möchte meinen, es sei eine leichte Sache, diese Frage mit einem wohlbegründeten Nein zu beantworten. Unter einer wissenschaftlichen Ethik wird hier nämlich ja eine Lehre verstanden, die wissenschaftlich nachzuweisen vermöchte, wie es für jedes einzelne menschliche Individuum ein Betragen gebe, das im Gegensatz zu allen anderen logisch als das ethische, das rechte, das einzige mit dem innersten, bleibenden Wesen des Individuums völlig übereinstimmende gestempelt werden könnte. Von allen diesen ethischen Betragen sollte sich nun ferner nachweisen lassen, daß sie zuguterletzt nur Äußerungen eines einzigen gemeinschaftlichen Gesetzes wären, das im Verein mit der jeweilig gegebenen Situation jedes derselben bestimmte.

Ist eine solche Gemeinschaftlichkeit, eine solche Einheit aber möglich? Muß man nicht vielmehr im Anschluß an Äußerungen von HARALD HÖFFDING (in seiner "Ethik" und in seinen "Ethischen Untersuchungen") sagen: die Ethik wurd durch zwei Dinge bestimmt: durch die Grundlage und den Maßstab, und die Grundlage bestimmt wiederum den Maßstab? Oder mit anderen Worten: Die Ethik muß durch die spezielle Natur des Menschen bestimmt werden; jeder Natureigentümlichkeit entspricht eine bestimmte Form des ethischen Gesetzes. Bin ich ein Bube, so lautet mein ethisches Gesetz: Du sollst recht viele Bubenstücke verüben! Bin ich menschenfreundlichen Gemüts, so heißt mein ethisches Gesetz: Du sollst menschenfreundlich handeln! Und so gibt es viele Ethiken. Die Menschen sind sich nicht gleich. Jede Sorte muß deshalb ihre Ethik erhalten und kann sich nicht der für eine andere Sorte gültigen Ethik unterwerfen.

Dies ist in gewissem Sinne völlig unangreifbar. Es ist augenscheinlich richtig, daß das, was mir  ethisches  Gesetz sein soll, aus meiner Natur entspringen, ein  inneres  Gesetz sein muß. Von außenher kann ich religiöse, soziale, juristische Gebote erhalten, jedoch keine ethischen, es sei denn, daß der Begriff "des Ethischen" völlig verlassen würde. Der Gedankengang wird mithin nicht dadurch widerlegt, daß man sagt: "Die Gesellschaft wird den Buben schon zwingen, sich ein anderes ethisches Gesetz zu gestalten", denn dazu ist die Gesellschaft den benutzten Voraussetzungen zufolge gar nicht imstande. Sie kann vielleicht den Buben bewegen, seine Bubenstücke  innerhalb  der polizeilichen Grenzen zu halten. Tut er dies aber, so wird er es mit Unwillen tun, indem er sich selbst wegen dieser Nachgiebigkeit, dieser "ethischen Schwäche" gegen die Menschen mehr oder weniger verachtet. Insoweit ist alles in Ordnung.

Insofern aber nicht wie z. B. bei KANT an viele andere Arten von Wesen als die Menschen gedacht wird, enthält die Theorie offenbar an einem anderen Punkt einen Fehler.

Es ist richtig, daß zwei Menschen, die sich völlig gleich wären, nicht zu finden sind. Richtig ist aber auch, daß es nicht zwei Menschen gibt, die völlig verschieden wären. Schon die Existenz der Psychologie beweist das. Alle die vielfachen Fähigkeiten und Kräfte, Tätigkeiten und Tendenzen, welche die Psychologie behandelt, müssen ja bei jedem Wesen zu finden sein, das mit Recht zum psychologischen Begriff "Mensch" soll gezählt werden können. Nur die  Zusammenstellung  all dieser Elemente und der  Reichtum,  womit jedes einzelne auftritt, können verschieden sein, wie auch das  Mischungsverhältnis  gewöhnlich von Tag zu Tag wechseln wird. Ein Mensch, der  nur  Bube oder  nur  Menschenfreund wäre, ist daher, streng genommen, gar nicht zu finden. Selbst der ärgste Bube muß einen, wenn auch noch so mikroskopischen Zug der Menschenliebe oder deren Möglichkeit in sich haben, und selbst im größten Menschenfreund muß ein wenn auch noch so mikroskopischen Zug des Bubenhaften oder dessen Möglichkeit liegen. Kein Mensch ist schlechthin Engel oder Teufel.

Eben wegen dieser  Zusammengesetztheit  der menschlichen Natur, eben weil sich auf diese Weise alles in allen findet, nur in verschiedenen Graden und in beständig wechselnder Mischung, muß die genannte Theorie aufgegeben werden. Es würde ungebührlich und übereilt sein, wenn der Forscher, der ethische Forscher, sich an den Buben wendete und ihm sagte: Dein "rechtes Betragen" besteht darin, Bubenstücke zu verüben! Denn es wäre ja möglich, daß es eines schönen Tages dem Manne einleuchtete, er sei ganz im geheimen mehr als ein Bube, und der Forscher habe ihn mithin betrogen. Ähnlicherweise würde es ungebührlich sein, wenn der Forscher zum Menschenfreund ginge und ihm sagte: Dein rechtes Betragen ist ganz einfach das natürliche, das aus deiner Natur unmittelbar hervorquellende! Denn es wäre dann ja möglich, daß jener mikroskopische Zug des Bübischen in einem unbehüteten Augenblick einen solchen Spielraum erhalten könnte, daß auch der Menschenfreund seinem Ratgeber Vorwürfe machte.

Wie das juristische Gebot und das Gebot "der öffentlichen Meinung": Du sollst nicht stehlen! an  alle  gerichtet ist, an den Buben wie an den Menschenfreund, an den Hungrigen wie an den Gesättigten, an den Diebischen wie an den, der nie die geringste Lust zum Stehlen verspürt hat, so ist auch das  ethische  Gebot: Du sollst nicht stehlen! offenbar an  alle  gerichtet; auch an den Diebischen und an den, der dem Hungertod nahe ist. Eine Individualisierung, die darin bestünde, daß das Gesetz zum Diebischen oder Hungrigen sagte: Du darfst schon! kann sich niemand im Ernst denken. (2) Dagegen ist es sicher, daß der ethische Unwille in unbegrenztem Grad in Mitgefühl für denjenigen umschlagen kann, der von Kindheit an zum Stehlen erzogen und gezwungen wurde, oder für denjenigen, der stiehlt, nur um sich und die Seinigen vom Hungertod zu erretten. Eine und dieselbe objektive Handlung kann in subjektiver Beziehung zwei weit verschiedene Handlungen darbieten. Der in letzterem Umstand liegenden ethischen Individualisierung wird die Ethik des gewöhnlichen Bewußtseins dann auch sowohl huldigen als huldigen können. Dagegen wird dieselbe ganz gewiß verlangen, daß die Allgemeinheit des Gesetzes aufrechterhalten werde, und dem soeben Entwickelten zufolge wird es keineswegs ausgeschlossen sein, daß sie hierin recht hat. Die Unmöglichkeit einer allgemeinen Ethik ist mithin nicht dargetan. (3)

Das ethische Gebot muß ein inneres Gebot sein, das ethische Gesetz muß das Gesetz meines Wesens, das ethische Wollen ein Wesenswollen sein. Ist nun aber das Menschenwesen ein höchst zusammengesetztes und variables Wesen, was dann?

Eben in dieser Zusammengesetztheit liegt offenbar die Bedingung, um überhaupt etwas im gewöhnlichen Sinn des Wortes "Ethisches" erreichen zu können. Bei dem Buben, der nur Bube ist, beim Engel, der nur Engel ist, und überhaupt bei Wesen, die wir uns als durchaus unzusammengesetzt, als nur aus einer einzigen Art von Elementen erbaut denken, wird im strengen Sinn nicht von ethischem oder unethischem Betragen die Rede sein können. Es fehlt hier nämlich noch das charakteristische Merkmal, daß innerhalb des Rahmens des Wesens gesagt wird: Du sollst! Wo das stattfindet, muß es doch auf irgeneine Weise einen geben, der den Befehl  erteilt,  einen anderen, der denselben  erhält,  einen, der für das Gesetz kämpft, einen anderen, der eine gewisse größere oder geringere Neigung fühlt, dasselbe zu übertreten. Und soll der Befehl überdies stets und überall ein Ausdruck eines allgemeinen ethischen Gesetzes sein, ja dann bleibt nur der Ausweg, daß es  das innerste, bleibende, zentrale Wesen des Menschen  ist, das dem mehr Oberflächlichen, Wechselnden, Peripherischen das Gebot erteilt oder die Forderung stellt. Dieses innerste, zentrale Wesen muß also bis zu einem gewissen Grad  bei allen Menschen gleich  sein, und da das Gesetz an alle denkt, müssen sich ferner im Innersten jedes Menschen auf irgendeine Weise Vertreter oder  Fürsprecher der gesamten Menschheit  finden.

Ist ein Mensch ein so eigentümliches Wesen, so wird unsere Frage noch auf eine positive Antwort hoffen können. Läßt dieser Ausweg sich aber nicht durchführen, so ist der Begriff des Ethischen notwendigerweise als ein falscher Begriff und das Ethische selbst als eine Jllusion zu kennzeichnen. Viele Ethiken würden dasselbe sein wie gar keine Ethik.
LITERATUR - Kristian Kroman, Allgemeine Ethik, Leipzig 1904
    Anmerkungen
    1) Ein bekannter dänischer Schriftsteller und Prediger.
    2) Man hat mich hier von mehreren Seiten gefragt: Wenn nun aber eine Mutter mit einem Kind, das dem Verhungern nahe ist, ein Stück Brot aus einem unbewachten Bäckerladen stiehlt, um womöglich das Leben des Kindes zu retten, willst du dies denn ebenfalls unethisch nennen? Es scheint mir nicht schwer, diese Frage zu lösen: Eignet sie sich das Brot mit dem Vorsatz an, ihre Handlung womöglich zu verbergen, so hat sie sicherlich unethisch gehandelt. Das Brot könnte ja vermißt werden, und ein Unschuldiger könnte vielleicht in Verdacht geraten und hierdurch zeitlebens unglücklich gemacht werden. Eignet sie sich das Brot dagegen in Verzweiflung über die augenblickliche Gefahr an, jedoch mit dem Vorsatz, dem Eigentümer möglichst bald ihre Tat zu gestehen und ihm zu versprechen, das Entwendete möglichst bald zu ersetzen, so kann ihre Handlung nicht ohne weiteres unethisch genannt werden. Diese kann dann aber - ethisch betrachtet - auch nicht ohne weiteres ein Diebstahl genannt werden.
    3) Es ist wohl auch die Anerkennung dieses Umstands, die bewirkt hat, daß die angedeutete Theorie nur als flüchtiger Gedanke in der Einleitung zu HÖFFDINGs "Ethik" vorkommt, während die übrigen Seiten des Buches ausschließlich einer allgemeinen Menschenethik gewidmet sind. Es möchte gewiß auch nicht leicht gewesen sein, z. B. eine "Egoisten"- oder eine "Buben-Ethik" von mehr als 500 Seiten zu geben.