ra-2cr-4 Fundament der MoralB. Bauch - EthikDing an sich und Erscheinung    
 
ARTHUR SCHOPENHAUER
(1788-1860)
Zur Ethik
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"Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche  Perversität  der Gesinnung und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat."

§ 109. Physikalische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben; aber die innere fehlt ihnen. Diese ist das Vorrecht der Intellektuellen und moralischen Wahrheiten, als welche die höchsten Stufen der Objektivation des Willens zum Thema haben; während jene die niedrigsten. Zum Beispiel wenn wir Gewißheit darüber erlangten, daß, wie man jetzt nur mutmaßt, die Sonne am Äquator Thermoelektrizität, diese den Magnetismus der Erde verursacht; so wären diese Wahrheiten von vieler äußeren Bedeutsamkeit; an innerer aber arm. Beispiele von dieser letzteren hingegen liefern nicht nur alle hohen und wahren geistigen Philosopheme, sondern auch die Katastrophe jedes guten Trauerspiels, ja, auch die Beobachtung des menschlichen Handelns in den extremen Äußerungen der Moralität und Immoralität desselben, als der Bosheit und Güte: denn in allem Diesen tritt das Wesen hervor, dessen Erscheinung die Welt ist und legt, auf der höchsten Stufe seiner Objektivation, sein Inneres zutage.

§ 110. Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche  Perversität  der Gesinnung und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat. Dennoch und allen Religionen zum Trotz, als welche sämtlich das Gegenteil davon behaupten und solches in ihrer mythischen Weise zu begründen suchen, stirbt jener Grundirrtum nie ganz auf Erden aus, sondern erhebt immer, von Zeit zu Zeit, sein Haupt von Neuem, bis ihn die allgemeine Indignatioin abermals zwingt, sich zu verstecken.

So sicher aber auch das Gefühl einer moralischen Bedeutung der Welt und des Lebens ist; so ist dennoch die Verdeutlichung derselben und die Enträtselung des Widerspruchs zwischen ihr und dem Lauf der Welt so schwierig, daß es mir aufbehalten bleiben konnte, das wahre, allein echte und reine, daher überall und allezeit wirksame Fundament der Moralität, nebst dem Ziel, welchem es zuführt, darzulegen; wobei ich zu sehr die Wirklichkeit des moralischen Hergangs auf meiner Seite habe, als daß ich zu besorgen hätte, diese Lehre könne jemals noch wieder durch eine andere ersetzt und verdrängt werden.

So lange jedoch selbst meine Ethik noch von den Professoren unbeachtet bleibt, gilt auf den Universitäten das Kantische Moralprinzip und unter seinen verschiedenen Formen ist die der "Würde des Menschen" jetzt am beliebtesten. Die Leerheit derselben ich bereits in meiner Abhandlung über das Fundament der Moral (§. 8) dargetan. Daher hier nur soviel. Wenn man überhaupt früge, worauf denn diese angebliche Würde des Menschen beruhe; so würde die Antwort bald dahin gehn, daß es auf seiner Moralität sei. Also die Moralität auf der Würde und die Würde auf der Moralität. - Aber hiervon auch abgesehen, scheint mir der Begriff der  Würde  auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein:
    Quid superbit homo? cujus conceptio culpa,
    Nasci poena, labor vita, necesse mori!
    [Wessen sollte der Mensch sich brüsten? Ist doch seine Empfängnis Schuld,
    seine Geburt Strafe, sein Leben Arbeit, sein Tod unausweichlich.]
Daher möchte ich, im Gegensatz zu besagter Form des Kantischen Moralprinzips, folgende Regel aufstellen: bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung kommt, unternehme man nicht eine objektive Abschätzung desselben nach Wert und Würde, ziehe also nicht die Schlechtigkeit seines Willens, noch die Beschränktheit seines Verstandes und die Verkehrtheit seiner Begriffe in Betrachtung; da Ersteres leicht Haß, Letzteres Verachtung gegen ihn erwecken könnte: sondern man fasse allein seine Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge: - da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen, mit ihm sympathisieren und, statt Haß oder Verachtung, jenes Mitleid mit ihm empfinden, welches allein die  agape  [herabsteigende Liebe, die das Geringere erhöht - wp] ist, zu der das Evangeliums aufruft. Um keinen Haß, keine Verachtung gegen ihn aufkommen zu lassen, ist wahrlich nicht die Aufsuchung seiner angeblichen "Würde", sondern, umgekehrt, der Standpunkt des Mitleids der allein geeignete.

§ 111.  Die Buddhisten  gehn, infolge ihrer tieferen, ethischen und metaphysischen Einsichten, nicht von Kardinaltugenden, sondern von Kardinallastern aus, als deren Gegensätze oder Verneinungen, allererst die Kardinaltugenden auftreten. Nach J. J. SCHMIDTs "Geschichte der Ostmongolen", Seite 7, sind die buddhistischen Kardinallaster: Wollust, Trägheit, Zorn und Geiz. Wahrscheinlich aber muß statt Trägheit Hochmut stehn: so nämlich werden sie angegeben in den "lettres édifiantes et curieuses, édit. de 1819, Vol. 6, Seite 372; woselbst jedoch noch der Neid oder Haß, als fünftes hinzukommt. Für meine Berichtigung der Angabe des hochverdienten J. J. SCHMIDT spricht noch die Übereinstimmung derselben mit den Lehren der, jedenfalls unter dem Einfluß des Brahmanismus und Buddhismus stehenden  Sufis.  Auch diese nämlich stellen die selben Kardinallaster und zwar sehr treffend paarweise, auf, so daß die Wollust mit dem Geiz und der Zorn mit dem Hochmut verschwistert auftritt. (Siehe THOLUCKs Blütensammlung aus der morgendländischen Mystik, Seite 206) Wollust, Zorn und Geiz finden wir schon in der Bhagavadgita (XVI, 21) als Kardinallaster aufgestellt; welches das hohe Alter der Lehre bezeugt. Ebenfalls im  Prabodha-Chandrodaya,  diesem für die Vedantaphilosophie so höchst wichtigen philosophisch-allegorischen Drama treten diese drei Kardinallaster auf, als die drei Heerführe des Königs Leidenschaft, in seinem Krieg gegen den König Vernunft. (1) Als die jenen Kardinallastern entgegengesetzten Kardinaltugenden würden sich ergeben Keuschheit und Freigebigkeit, nebst Milde und Demut. -

Vergleicht man nun mit diesen tiefgefaßten orientalischen Grundbegriffen der Ethik die so berühmten und viele tausend Mal wiederholten Platonischen Kardinaltugenden, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Weisheit; so findet man sie ohne einen deutlichen, leitenden Grundbegriff und daher oberflächlich gewählt, zum Teil sogar offenbar falsch. Tugenden müssen Eigenschaften des Willens sein: Weisheit aber gehört zunächst dem Intellekt an. Die  sophrosyne,  welche von CICERO  temperantia  und im Deutschen Mäßigkeit übersetzt wird, ist ein gar unbestimmter und vieldeutiger Ausdruck, unter welchen sich daher freilich mancherlei bringen läßt, - wie Besonnenheit, Nüchternheit, den Kopf behalten. Tapferkeit ist gar keine Tugend, wiewohl bisweilen ein Diener oder Werkzeug derselben: aber sie ist auch ebenso bereit, der größten Nichtswürdigkeit zu dienen: eigentlich ist sie eine Temperamentseigenschaft. Schon GEULINX (Ethica, in praefatione) verwarf die Platonischen Kardinaltugenden und stellte diese auf: diligentia, obedentia, justitia, humilitas; [Gewissenhaftigkeit, Gehorsam, Gerechtigkeit, Demut - wp] - offenbar schlecht. Die Chinesen nennen fünf Kardinaltugenden: Mitleid, Gerechtigkeit, Höflichkeit, Wissenschaft und Aufrichtigkeit. Das Christentum hat nicht Kardinal- sondern Theologal-Tugenden: Glaube, Liebe und Hoffnung.

Der Punkt, an welchem die moralischen Tugenden und Laster des Menschen zuerst auseinandergehn, ist jener Gegensatz der Grundgesinnung gegen andere, welche nämlich entweder den Charakter des Neides oder aber den des Mitleids annimmt. Denn diese zwei einander diametral entgegengesetzten Eigenschaften trägt jeder Mensch in sich, indem sie entspringen aus der ihm unvermeidlichen Vergleichung seines eigenen Zustandes mit dem der andern: je nachdem nun das Resultat dieser auf seinen individuellen Charakter wirkt, wird die eine oder die andere Eigenschaft seine Grundgesinnung und die Quelle seines Handelns. Der Neid nämlich baut die Mauer zwischen Du und Ich fester auf: dem Mitleid wird sie dünn und durchsichtig; ja bisweilen reißt es sie ganz ein, wo dann der Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verschwindet.

§ 112. Die oben zur Sprache gekommene  Tapferkeit  oder genauer der ihr zum Grunde liegende  Mut  (denn Tapferkeit ist nur der Mut im Krieg), verdient noch eine nähere Untersuchung. Die Alten zählten den Mut zu den Tugenden, die Feigheit den Lastern bei: dem Christlichen Sinn, der auf Wohlwollen und Dulden gerichtet ist und dessen Lehre alle Feindseligkeit, eigentlich sogar den Widerstand, verbietet, enstpricht das nicht; daher es bei den Neuern weggefallen ist. Dennoch müssen wir zugeben, daß Feigheit uns mit einem edlen Charakter nicht wohl verträglich scheint; schon wegen der übergroßen Besorglichkeit um die eigene Person, welche sich darin verrät. Der Mut nun aber läßt sich auch darauf zurückführen, daß man den im gegenwärtigen Augenblick drohenden Übeln willig entgegengeht, um dadurch größeren, in der Zukunft liegenden, vorzubeugen; während die Feigheit es umgekehrt hält. Nun ist jenes Erstere der Charakter der  Geduld,  als welche eben im deutlichen Bewußtsein besteht, daß es noch größere Übel, als die eben gegenwärtigen gibt und man durch heftiges Fliehen oder Abwehren dieser jene herbeiziehn könnte. Demnach wäre denn der Mut eine Art  Geduld  und weil eben diese es ist, die uns zu Entbehrungen und Selbstüberwindungen jeder Art befähigt; so ist, mittels ihrer, auch der Mut wenigstens der Tugend verwandt.

Doch läßt er vielleicht noch eine höhere Betrachtungsweise zu. Man könnte nämlich alle Todesfurcht zurückführen auf einen Mangel an derjenigen natürlichen, daher auch bloß gefühlten Metaphysik, vermöge welcher der Mensch die Gewißheit in sich trägt, daß er in allen, ja in allem, ebensowohl existiert, wie in seiner eigenen Person, deren Tod ihm daher wenig anhaben kann. Eben aus dieser Gewißheit hingegen entspränge demnach der heroische Mut, folglich (wie der Leser sich aus meiner Ethik erinnert) aus derselben Quelle mit den Tugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe. Das heißt nun freilich die Sache gar weit oben anfassen: jedoch ist außerdem nicht wohl zu erklären, weshalb Feigheit verächtlich, persönlicher Mut hingegen edel und erhaben erscheint; da von keinem niedrigeren Standpunkt aus sich absehen läßt, weshalb ein endliches Individuum, welches sich selber alles, ja, sich selber die Grundbedingung zum Dasein der übrigen Welt ist, nicht der Erhaltung dieses Selbst alles andere nachsetzen sollte. Daher wird eine ganz immanente, also rein empirische Erklärung, indem sie nur auf den Nützlichkeit des Mutes fußen könnte, wohl nicht ausreichen. Hieraus mag es entsprungen sein, daß CALDERON einmal ["Die Tochter der Lust"] eine skeptische, aber beachtenswerte Ansicht über den Mut ausspricht, ja, eigentlich die Realität desselben leugnet; und zwar tut er das aus dem Mund eines alten, weisen Ministers seinem jungen Köngi gegenüber:
    "Denn obowohl die natürliche Furcht in allen auf gleiche Weise wirksam ist;
    so ist man dadurch, daß man sie nicht sehn läßt, tapfer und dieses eben macht die Tapferkeit aus."
Hinsichtlich der oben berührten Verschiedenheiten zwischen der Geltung des Mutes als Tugend bei den Alten und bei den Neuern, ist jedoch noch in Erwägung zu ziehn, daß die Alten unter Tugend, virtus, arethe, jede Trefflichkeit, jede an sich selbst lobenswerte Eigenschaft verstanden, sie mochte moralisch oder intellektuell, ja, allenfalls bloß körperlich sein. Nachdem aber das Christentum die Grundtendenz des Lebens als eine moralische nachgewiesen hatte, wurden unter dem Begriff der Tugend nur noch die moralischen Bezüge gedacht. Inzwischen findet man den früheren Sprachgebrauch noch bei den älteren Latinisten, wie auch im Italienischen, wo ihn zudem der bekannte Sinn des Worte  virtuoso  bezeugt. - Man sollte auf diesen weiteren Umfang des Begriffs Tugend bei den Alten die Schüler ausdrücklich aufmerksam machen; da er sonst leicht eine heimliche Perplexität bei ihnen erzeugt. Zu diesem Zweck empfehle ich besonders eine und von STOBÄUS aufbehaltene Stellen: die eine, angeblich von einem Pythagoreer METOPOS herrührende, wo die Tauglichkeit jedes Gliedes unseres Leibes für  arethe  erklärt wird. Hieraus erklärt es sich auch, warum in der Ethik der Alten von Tugenden und Lastern geredet wird, welche in der unsrigen keine Stelle finden.

§ 113. Wie die Stelle der Tapferkeit unter den Tugenden, so läßt auch die des  Geizes  unter den Lastern sich in Zweifel ziehn. Nur muß man solchen nicht mit der Habsucht verwechseln, welche es zunächst ist, die das lateinische Wort  avaritia  ausdrückt. Wir wollen daher einmal das pro und kontra über den Geiz auftreten lassen und abhören, wonach das Endurteil jedem anheimgestellt bleibe.

A. Nicht der  Geiz  ist ein Laster, sondern sein Gegenteil, die  Verschwendung.  Sie entspringt aus einer tierischen Beschränktheit auf die Gegenwart, gegen welche alsdann die noch in bloßen Gedanken bestehende Zukunft keine Macht erlangen kann und beruth auf dem Wahn eines positiven und realen Wertes der sinnlichen Genüsse. Demgemäß sind künftiger Mangel und Elend der Preis, um welchen der Verschwender diese leeren, flüchtigen, ja oft bloß eingebildeen Genüsse erkauft oder auch seinen leeren, hirnlosen Dünkel an den Bücklingen seiner ihn im Stillen verlachenden Parasiten und am Staunen des Pöbels und der Neider über seine Pracht weidet. Dieserhalb soll man ihn fliehen, wie einen Verpesteten und, nachdem man sein Laster entdeckt hat, bei Zeiten mit ihm brechen; damit man nicht, wenn späterhin die Folgen eintreten, entweder sie tragen zu helfen oder aber die Rolle der Freundes des TIMON von Athen zu spielen habe. - Imgleichen steht nicht zu erwarten, daß der, welcher sein eigenes Vermögen leichtsinnig durchbringt, das eines andern, wenn es etwa in seine Hände gegeben ist, unangetastet lassen werde. Daher führt Verschwendung nicht bloß zur Verarmung, sondern durch diese zum Verbrechen: die Verbrecher aus den bemittelten Ständen sind es fast alle in Folge von Verschwendung geworden. Mit Recht sagt demnach der  Koran  (Sure 17, Vers 29): "Die Verschwender sind Brüder der Satane." (2) Der Geiz hingegen hat den Überfluß in seinem Gefolge: und wann wäre dieser unerwünscht gekommen? Das aber muß ein gutes Laster sein, welches gute Folgen hat. Der Geiz geht nämlich vom richtigen Grundsatz aus, daß alle Genüsse bloß negativ wirken und daher eine aus ihnen zusammengesetzte Glückseligkeit eine Chimäre ist; daß hingegen die Schmerzen positiv und sehr real sind. Daher versagt er sich jene, um sich vor diesen desto besser zu sichern: sonach wird der Verzicht und die Abstinenz seine Maxime. Und weil er ferner weiß, wie unerschöpflich die Möglichkeiten des Unglücks und zahllos die Wege der Gefahr sind; so häuft er die Mittel dagegen an, um sich, wo möglich, mit einer dreifachen Schutzmauer zu umgeben. Wer kann denn sagen, woe die Vorsorge gegen Unfälle anfängt übertrieben zu werden? nur der, welcher müßte, wo die Tücke des Schicksals ihr Ende erreicht. Und sogar wenn die Vorsorge übertrieben wäre, würde dieser Irrtum höchstens ihm selbst, nicht anderen zum Schaden gereichen. Wird er die Schätze, welche er auflegt, nie nötig haben; nun, so werden sie einst andern zugute kommen, denen die Natur weniger Vorsorge verliehen hat. Daß er bis dahin das Geld der Zirkulation entzieht, bringt gar keinen Nachteil: denn Geld ist kein Konsumartikel: vielmehr ist es ein bloßer Repräsentant der wirklichen, brauchbaren Güter; nicht selbst ein solches. Die Dukaten sind im Grunde selbst nur Rechenpfennige: nicht sie haben Wert, sondern das, was sie vertreten: dieses aber kann er gar nicht der Zirkulation entziehn. Zudem wird, durch sein Zurückhalten des Geldes, der Wert des übrigen, zirkulierenden, genau um soviel erhöht. - Wenn nun auch, wie man behauptet, mancher Geizige zuletzt das Geld unmittelbar und seiner selbst wegen liebt; so liebt dagegen, ebenso gewiß, mancher Verschwender die Ausgabe und das Verschleudern geradezu ihrer selbst wegen. - Die Freundschaft aber, oder, gar Verwandtschaft mit dem Geizigen ist nicht nur gefahrlos, sondern ersprießlich, da sie großen Nutzen bringen kann. Denn jedenfalls werden die ihm Nächsten, nach seinem Tod, die Früchte seiner Selbstbeherrschung ernten: aber auch noch bei seinem Leben ist, in Fällen großer Not, etwas von ihm zu hoffen, wenigstens immer noch mehr, als vom ausgebeutelten, selbst hilflosen und verschuldeten Verschwender. "Mehr gibt der Hartherzige, als der Nackte", sagt ein spanisches Sprichwort. Dem allen zufolge ist der Geiz kein Laster.

B. Er ist die Quintessenz der Laster! - Wenn physische Genüsse den Menschen von der rechten Bahn ableiten; so trägt seine sinnliche Natur, das Tierische in ihm, die Schuld. Er wird eben vom Reiz hingerissen und handelt, vom Eindruck der Gegenwart überwältigt, ohne Überlegung. - Hingegen wenn er durch Körperschwäche oder Alter, dahin gekommen ist, daß die Laster, die er nie verlassen konnte, endlich ihn verlassen, indem seine Fähigkeit zu sinnlichen Genüssen erstorben ist; da überlebt, wenn er sich zum Geiz wendet, die geistige Gier die fleischliche. Das Geld, als welches der Repräsentant aller Güter der Welt, das Abstraktum derselben ist, wird jetzt der dürre Stamm, an welchem seine abgestorbenen Begierden, als Egoismus in abstracto, sich klammern. Sie regenerieren sich nunmehr in der Liebe zum Mammon. Aus der flüchtigen, sinnlichen Begierde ist eine überlegte und berechnende Gier nach dem Geld geworden, welche, wie ihr Gegenstand, symbolischer Natur und, wie er, unzerstörbar ist. Es ist die hartnäckige, gleichsam sich selbst überlebende Liebe zu den Genüssen der Welt, die vollendete Unbelehrbarkeit, die sublimierte und vergeistigte Fleischeslust, der abstrakte Brennpunkt, in den alle Gelüste zusammengeschossen sind, zu welchen er daher sich verhält wie der allgemeine Begriff zum einzelnen Ding. Dem entsprechend ist Geiz das Laster des Alters, wie Verschwendung das der Jugend.
LITERATUR - Arthur Schopenhauer, Zur Ethik, Parerga und Paralipomena II, Sämtliche Werke, Bd. VI (Ausgabe Frauenstädt), Leipzig 1874
    Anmerkungen
    1) KRISHNA-MICRA, Prabodha-Chandrodaya oder die Geburt des Begriffs. Ein theologisch-philosophisches Drama. Aus dem Sanskrit übersetzt, mit einem Vorwort eingeführt von ROSENKRANZ 1842.
    2) Auf diese Stelle des Koran spielt SADI an, wo eine Geschichte von einem Verschwender erzählt wird und die Worte vorkommen: "Der Vorrat der Schatzkammer ist der Bissen der Armen, nicht die Speise der  Satansbrüder."  [der Herausgeber]