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FELIX MARIA GOLDNER
Die Begriffe der Geltung
bei Lotze

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"Die Frage der kantischen Vernunftkritik ist: Gibt es eine Wissenschaft von der Wirklichkeit? Sollte es Wissenschaft im prägnanten Sinn des Wortes geben, so müßte diese zu Sätzen gelangen, die unbedingt sicher sind und nicht durch Erfahrung umgestoßen werden können. Es gibt aber nur eine Bedingung, unter der das möglich ist: Die Sätze dürfen nicht aus der Erfahrung stammen, d. h. der Grund ihrer Wahrheit darf nicht in der Erfahrung liegen, wie dies meist der Fall ist. Denn was die Erfahrung gibt, kann sie jederzeit auch nehmen."

"Wir glauben an die Richtigkeit (synthetischer Sätze apriori), aber die Berechtigung unseres Glaubens ist noch nicht bewiesen, denn unser Fürwahrhalten ist kein Beweis für die Wahrheit. ... So steht im Mittelpunkt die Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorien (d. h. der synthetischen Apriorica) auf die Objekte. Objektive Gültigkeit heißt demnach Gültigkeit hinsichtlich der Objekte, und Gültigkeit bedeutet das Anwendbarsein, Sicherstrecken der Kategorien auf Dinge der Erfahrung, ihre Eigenschaft, den Stoff der Sinneserfahrung zu formen und formend zu beherrschen."

"Das Denken ist kein einfaches Hinnehmen des Wirklichen, kein passives Anschauen der Gegenstände, sondern Tätigkeit. Jede Handlung des Denkens aber besteht in einem In-Beziehung-Setzen mindestens zweier Vorstellungen zueinander. Gleichsetzung und Unterscheidung zweier Inhalte können hierfür als Beispiel dienen, denn sie sind es, die immer stattfinden, nicht nur, wo wir Allgemeinbegriffe bilden, sondern schon, wo immer wir eine Vorstellung mit einem Namen fixieren."


III. Das legislative Gelten

Wie die erste Bedeutung des Geltens ein Analogon zum kantischen Begriff der Allgemeingültigkeit ist, so weist auch die dritte auf KANT hin. Es ist diejenige, in der KANT von der objektiven Gültigkeit der Kategorien spricht.

Ohne diese zu kennen, könnte man leicht dazu neigen, den Sinn der objektiven Gültigkeit mit dem zu identifizieren, was wir das normative oder logische Gelten nannten. Objektiv, könnte man meinen, ist der Gegensatz zum Eingebildeten, dem Subjektiven, und objektive Gültigkeit sei das nicht psychologische, das mehr als psychologische Gelten. So naheliegend das ist, so bedeutet der Ausdruck objektiv und Gültigkeit, angewandt auf die Kategorien, etwas wesentlich anderes, dessen Sinn das Ganze der Probleme der Vernunftkritik erhellt.

Ihre Frage ist: Gibt es eine Wissenschaft von der Wirklichkeit? Sollte es Wissenschaft im prägnanten Sinn des Wortes geben, so müßte diese zu Sätzen gelangen, die unbedingt sicher sind und nicht durch Erfahrung umgestoßen werden können. Es gibt aber nur eine Bedingung, unter der das möglich ist: Die Sätze dürfen nicht aus der Erfahrung stammen, d. h. der Grund ihrer Wahrheit darf nicht in der Erfahrung liegen, wie dies meist der Fall ist. Denn was die Erfahrung gibt, kann sie jederzeit auch nehmen. So müßten wir apriori Sätze synthetischen Inhaltes haben, die, wenn auch gelegentlich der Erfahrung, nicht durch Erfahrung gewonnen werden, denn nur sie enthalten wirkliches Wissen. Doch damit ist erst die Form echter Wissenschaft gekennzeichnet. Es genügt aber nicht, daß ein solches Wissen von den Gegenständen unserer Einbildung möglich ist, ihr Gegenstand muß das Wirkliche sein. Wirklich ist nun für den realistischen und physikalischen Ausgangspunkt des Kritizismus das jenseits und außerhalb des Menschen liegende, von ihm unabhängige, durch den Raum von ihm getrennte körperliche Reale. Gerade dies aber erfassen wir andererseits nur durch die am wenigsten rationale Erfahrung, die Sinneswahrnehmung. Und doch kann von der Forderung nicht abgelassen werden, daß rein aus dem Intellekt geborene oder zu begründende Sätze gibt über diese intellektjenseitigen Gegenstände, die durch das Verhalten dieser Gegenstände niemals Lügen gestraft werden können. Unsere wissenschaftlichen Ansprüche scheinen durch solche Fragen auf das Äußerste gefährdet. Freilich, wir haben synthetische Sätze apriori nicht nur über die möglicherweise irrealen Gegenstände der Mathematik, sondern über das wirklich Wirkliche im Raum. Doch diese sind vorläufig nur - psychologisch gültig. Wir glauben an die Richtigkeit, aber die Berechtigung unseres Glaubens ist noch nicht bewiesen, denn unser Fürwahrhalten ist kein Beweis für die Wahrheit. Und nichts ist ja eigentlich wahrscheinlicher, als daß diese nicht durch die Objekte gegebene rein subjektiven (apriorischen) Begriffe überhaupt nicht auf die Objekte anwendbar sind, nichts ist naheliegender, als daß sie, die gar nicht "nach Maß" gearbeitet wurden, auf die Objekte überhaupt nicht passen werden. Aber selbst wenn ihre Anwendbarkeit für eine Reihe von Fällen im Laufe der Jahre und Jahrhunderte erfahrungsmäßig bestätigt ist, was garantiert sie für die Zukunft? So steht im Mittelpunkt die Frage nach der Anwendbarkeit der Kategorien (d. h. der synthetischen Apriorica) auf die Objekte. Objektive Gültigkeit heißt demnach Gültigkeit hinsichtlich der Objekte, und Gültigkeit bedeutet das Anwendbarsein, Sicherstrecken der Kategorien auf Dinge der Erfahrung, ihre Eigenschaft, den Stoff der Sinneserfahrung zu formen und formend zu beherrschen.

Eine solche Anwendbarkeit ist unendlich weniger problematisch, wenn es sich um Begriffe handelt, die aus der Erfahrung stammen, deren Inhalt durch die Objekte selbst gegeben wird. Daß aposteriorische Begriffe eine objektive Gültigkeit haben, für Objekte oder von Objekten gelten, ist für LOTZE keine ernsthafte Frage, wohl aber, in welcher Weise sie von ihnen gelten. Doch selbst, daß sie überhaupt von den Dingen gelten, hat man im Laufe der Geschichte des philosophischen Denkens bestritten in der Überzeugung, daß sie, wenn schon nicht wegen ihres der Erfahrung entlehnten Inhaltes, so wegen ihrer Form zur Wirklichkeit keine lebendige Beziehung haben. Diese kommt vielmehr nicht den Begriffen, sondern allein den Wahrnehmungen zu. Andere hingegen glaubten umgekehrt gerade den Begriffen und ihnen mehr als den Wahrnehmungen eine "Geltung" von den Dingen zusprechen zu müssen.

Die Diskussion dieser Frage nimmt in der Philosophie mit Recht den breitesten Raum ein, denn sie ist ersichtlich identisch mit dem Grundproblem des Denkens, dem Wahrheitswert unserer Erkenntnis im Ganzen und dem der einzelnen Erkenntnisarten.

Wie im ersten Abschnitt ist auch hier im Anfang die Wortbedeutung des Geltens zu entwickeln.

LOTZEs Lehre über das Gelten im Sinne von KANTs objektiver Gültigkeit der Kategorien hat zum Gegenstand das Phänomen des Begriffs. Begriffe sind Inhalte. Und insofern ist die Frage nach der Geltung der Begriffe eine Fortführung der Probleme und Einsichten, die im vorigen Abschnitt im Hinblick auf das existentiale Gelten entwickelt wurde. Ja, man kann geradezu sagen, daß die Lehre vom Gelten in der dritten Bedeutung ein Teil der Lehre vom existentialen Gelten der Inhalte ist.

So zeigt sich, daß alle drei Bedeutungen des Terminus Gelten zusammengehören. Denn Inhalte gelten existential; diejenigen Inhalte, die wir Wahrheiten oder Werte nennen, haben Geltung in einem normativen Sinn. Material für das existentiale Gelten ist im wesentlichen LOTZEs Kapitel "die Ideenwelt", das für die dritte Bedeutung ist die Lehre vom Begriff und das Kapitel über "Reale und formale Bedeutung des Logischen". Die Gedanken in der "Ideenwelt" und dem letztgenannten Abschnitt hängen durch den Gegenstand, den Begriff, in vieler Hinsicht zusammen. So ist es vor allem LOTZEs Begriff der Inhalte, die da gelten, gleichviel ob sie in der Welt des subjektiven Vorstellens oder der subjektiven Dinge realisiert werden, der hier eine Ergänzung und Vertiefung erfährt und hier erst zu einer Theorie, zu einer Lehre ausgebaut wird, blieb es doch in der "Ideenwelt" wesentlich bei der intuitiv entdeckten Tatsache, daß die Inhalte als zeitlos-unsinnlich etwas anderes sind als alles andere in Raum und Zeit. Erst hier tritt die fundamentale Erkenntnis hinzu, daß das Vorstellen nicht ist, was es bedeutet, ein Satz, dessen tiefen Sinn wir weiter unten explizieren werden. Er ist es, der LOTZEs Lehre vom Begriff das entscheidende Gepräge gibt, wodurch sie zu einem sachlich höchst bedeutsamen Wendepunkt in den nominalistischen und anti-nominalistischen Untersuchungen über das Allgemeine des Begriffs und den Begriff des Allgemeinen wird.

Man kann den Wert seiner Lehre nicht besser veranschaulichen und zugleich ihren Gehalt nicht eingehender charakterisieren als dadurch, daß man die philosophiegeschichtliche Diskussion bis zu dem Ort führt, an dem seine Gedanken einsetzen. Aus diesem Grund ist ein kurzer Überblick über die Theorien des Begriffs zu geben, wie sie von realistisch-rationalistischer und nominalistisch-psychologischer Seite aus versucht worden sind. Diese Darstellung wird sich zum Teil auf LOTZE selbst stützen können. Zugleich wird durch sie noch eine andere Aufgabe erfüllt. Es ist im vorigen Abschnitt behauptet worden, daß LOTZEs Lehre von der Identität der platonischen Idee mit der Bedeutung der Vorstellungen ein Mißverständnis ist. Das Wenige, das in diesem Zusammenhang über PLATOs Idee gesagt wird, kann hinreichen, um die völlige Disparatheit LOTZEs und PLATOs zu zeigen.

Es gibt nicht viele Gegenstände der Philosophie, über die im Laufe der Zeit aber auch gleichzeitig so absolut Entgegengesetztes behauptet wurde, wie der Begriff. Es erinnert an die Divergenzen des PARMENIDES und HERAKLITs, wenn wir den platonischen Glauben, die Begriffe seien das wahrhaft Wirkliche, dahingewandelt finden, daß sie nicht nur Einbildungen des menschlichen Verstandes sind, sondern nicht einmal in diesem ein Dasein haben und folglich überhaupt nicht sind oder das reine Nichts sind, wie der Anti-Platonismus in BERKELEY meint.

PLATOs Lehre über die Begriffe ist bestimmt durch die des SOKRATES. Diesem war daran gelegen, in einer Zeit, da alle Bindungen der Auflösung nahe schienen, etwas zu finden, das unantastbar ist. Wer er ein Philosoph war, sah er dies in der Wahrheit, oder besser, weil er dieses Feste, Unveränderliche, von dem aus das Leben wieder aufzubauen war, in der Wahrheit zu finden glaubte, war er ein Philosoph. Wahrheit war ihm das, das für alle gleich ist und in dem sich deshalb alle Menschen vereinen können. So traten ihm Wahrheit und Wissen in einen Gegensatz zum bloßen Meinen. Da das Wissen, das allen Gemeinsame ist, schloß er höchst seltsam, daß nur das Element oder Material des Wissens werden kann, was seiner Natur nach geeignet ist, mehreren Menschen gemeinsam zu sein. Die Sinneswahrnehmung aber ist dies nicht; sie ist immer nur Einem gegeben. Vielen gemeinsam ist nur der der zufälligen Wahrnehmung des Augenblicks abgewandte Begriff. Was in ihn eingeht und nur so viel, als in ihn eingeht, ist Gegenstand des wahren Wissens. Dies aber ist das Allgemeine. Dies wird von PLATON dahin weitergeführt, daß nicht nurdas Wissen andere Gegenstände hat als das Meinen, dieses die Wahrnehmung, jenes die Begriffe, sondern daß wie das Wissen das Meinen an Wert überragt, so der Gegenstand des Wissens realer ist als der des Meinens. Die volle Wirklichkeit ist demnach die, die das Korrelat zum Begriff bildet. Die Welt der Wahrnehmung entsteht und vergeht. Sie ist in Raum und Zeit, die andere aber ist jenseits aller Sinnlichkeit. Ihrem Inhalt nach dem Begriff gleich ist sie das Absolute, der Grund des Daseins der ganzen zeitlichen Welt der Dinge und des Menschen. Als dieses Absolute wird der Begriff "Idee" genannt. Als Begriff ist er ein Gebilde des Menschen im Menschen, als Idee ist er die höchste Wirklichkeit. Insofern der Begriff das Allgemeine der Einzelwahrnehmungen, der Einzeldinge und die Idee an Inhalt dem Begriff völlig gleich ist, ist das "Allgemeine" die höchste Wirklichkeit, wirklicher als das Besondere, die irdische Welt. Aber die Welt der Idee ist nicht nur wirklicher als die zeitliche, räumliche, sie ist der Grund der Wirklichkeit auch dieser, denn es gibt im Grunde nur eine Wirklicheit für PLATON, das Unsichtbare, jenseits des Wahrnehmbaren. Das, wodurch die Sinnenwelt überhaupt wirklich ist, ist sie allein durch das Verankertsein im Übersinnlichen der Ideen. Dies ist die letzte Tendenz des Platonismus, die Trennung zwischen den Ideen und dem Irdischen zu überwinden. War ursprünglich das Verhältnis der Sinnenwelt zu den Ideen wie das zwischen Meinen und Wissen, so war doch das Sinnliche selber noch wirklich, selbständig, wie die Meinung dem Wissen gegenüber, wenn auch weniger real als die Ideen. Diese Selbständigkeit wird zurückgenommen in dem Maße, in dem die Realität der Ideen ins Unermeßliche wächst, bis sie so alles wird, daß außer ihr kein Raum mehr ist und die Dinge ganz eingetaucht erscheinen in den Glanz der Ideen. Die Zeit ist verschwunden vor der Ewigkeit. Das ist das Ende von PLATONs Lehre. Die Ideen sind nicht nur wirklicher als die Dinge, nicht nur die Vorbilder, die diesen ewig unerreichbar gegenüberstehen, sondern ihre Ursachen, und zwischen ihnen ein höchst lebendiger Zusammenhang. Doch auch schon für die frühere Fassung der Ideenlehre wären die Ideen das eigentlich Wirkliche der Dinge. Insofern als nun die Begriffe den Ideen gleich sind, so gleich, daß Begriff und Idee nur zwei Worte sind für dasselbe Etwas, das als Wirklichkeit Ideen und als Gedanke des Menschen Begriff heißt, kann PLATON sagen: die Begriffe sind das Wesen der Dinge; die Begriffe sind die Dinge; oder anders ausgedrückt: das Allgemeine ist das wahrhaft Wirkliche und wirklicher als das Besondere.

Das Ende PLATOs war ein Versuch, den Dualismus der Wirklichkeit zu überwinden. Soweit dies gelang, geschah es zugunsten des Zeitlosen. Den Dualismus des Zeitlichen und des Überweltlichen, der Dinge und der Ideen, des Besonderen und des Allgemeinen zu überwinden im Sinne des Ausgleichs der Gegensätze ist die Tendenz des ARISTOTELES. Das, was an den Dingen oder den Erscheinungen - die wahren Dinge sind ja die Ideen - das Wirkliche ist, sind die Ideen, doch diese werden wirklich erst an den Erscheinungen in der Zeit, in den Erscheinungen, als Erscheinungen. In diesem Sinn sind auch für ARISTOTELES die Begriffe Dinge und die Dinge Begriffe.

Anders wird es, wenn sich die Überwindung des Dualismus ein wenig mehr mit Akzentuierung des Zeitlichen, der Besonderheit, der Einzelerscheinungen vollzieht, wenn das Gleichgewicht der Gegensätze, das so schwer zu wahren ist, verloren wird, und zwar in umgekehrter Richtung wie beim späten PLATON. Dann kommen wir zu einem Naturalismus, für den die Ideenwelt, hierin ähnlich wie bei ARISTOTELES, erst wirklich wird in den zeitlichen Einzeldingen, wobei aber nur diese als die eigentlichen Träger des Realen, als die wahren Substanzen erscheinen, ohne der Ideenwelt annähernd so zu bedürfen wie diese ihrer. Für diesen Standpunkt sind die Begriffe nicht wirklicher als die Dinge, auch sind sie nicht die Dinge selbst, vielmehr sind die Begriffe nur in den Dingen und an den Dingen. In dem Maße, in dem man mit der Immanenz der Ideen in den Dingen noch mehr ernst macht, wird die Situation eine völlig andere. Der eben erwähnte Naturalismus leugnet zwar auch schon die Transzendenz und Selbständigkeit der Ideen, aber man merkt ihm noch deutlich seine Herkunft von PLATON und ARISTOTELES an. Der Glaube an die Ideenwelt erfährt zwar eine Modifizierung, wie sie kaum intensiver zu denken ist, und doch ist noch nicht völlig mit ihm gebrochen. Noch immer gibt es für diesen Standpunkt eine Ideenwelt, wenn sie auch noch so sehr an metaphysischem Wert herabgesetzt, also ein bloßes Akzidenz [Merkmal - wp] der Dinge in der Zeit gefaßt wird. Ihre Selbständigkeit ist vernichtet, aber die Annahme ihrer freilich nur von den Dingen getragenen oder geschaffenen Realität ist doch nicht als völlig sinnlos empfunden. Noch ein kleiner Schritt weiter, und die Rede von der Ideenwelt verliert jede Bedeutung. Es gibt dann nur noch die Wirklichkeit der Einzeldinge und weder ihr gegenüber noch selbst in ihr die "Idee", die jetzt nicht mehr als Abstraktion, sondern nur noch als Phantom erscheint. Auch von diesem neuen Standpunkt aus wird gesagt: die Begriffe sind in den Dingen. Aber die Bedeutung dieses, den Worten nach gleichen Satzes ist hier eine ganz andere als vorhin, denn die Wortbedeutung des Terminus Begriff ist nun eine neue oder vielmehr eine ganz alte, die vorplatonische des SOKRATES. Die ersten drei Sentenzen sind Aussagen über die Realität der Ideenwelt, über das Verhältnis der Wirklichkeit der Ideen zu den Erscheinungen, der Ewigkeit zur Zeit, und der Ausdruck Begriff bedeutete weit mehr sein Gegenstück im Absoluten, die dem Begriff inhaltlich identische Idee als den Gegensatz zur Wahrnehmung. Dieser ursprüngliche Sinn des "Begriffs", den er bei SOKRATES hatte, ist es, in dem er nun wieder auftritt. Die Worte: "Die Begriffe sind in den Dingen" bedeuten nicht mehr eine metaphysische Behauptung über das gegenseitige Verhältnis der Schichten des Realen, sondern fassen den Begriff in psychologisch-erkenntnistheoretischem Sinn. Und das ist nicht erstaunlich, denn jetzt, nachdem in metaphysischer Hinsicht die ganze Alternative, Ideenwirklichkeit - Erscheinungswelt hinfällig geworden war, konnte überhaupt nur noch die sokratische Bedeutung in Betracht kommen. So ist es erst der metaphysische Naturalismus oder Individualismus (denn das hier metaphysisch Reale ist das Individuum, nicht das Allgemeine), dem es beschieden war, die eigentlichen Probleme des Begriffs wieder aufzunehmen. Die Frage nach dem Wahrheitsinhalt des Wissens wird selbständig gestellt, erst nachdem der religiöse Gehalt des Platonismus verloren gegangen ist. War ehemals das Korrelat des Begriffs das Allerrealste, so erscheint es nunmehr zweifelhaft, ob nicht vielleicht die Sinneswahrnehmungen in höherem Maße eine Erkenntnis der Wirklichkeit geben als der Begriff, ob der Inhalt der Empfindungen nicht intensiver das Wirkliche, als das nunmehr das Räumlichzeitlich-Wahrnehmbare ist, abbilden, als das abstrakte Denken. Ja es taucht wieder der Gedanke auf, ob nicht der Begriff die Quelle allen Irrtums ist. Auf Fragen dieser Art ist es eine Antwort, wenn man den Gehalt der Begriffe als nicht gänzlich beziehungslos zu den Dingen glaubt und sagt: Die Begriffe sind in den Dingen. Ohne mit ihrem Inhalt die Struktur der Dinge nachzuzeichnen, bringen sie etwas zum Ausdruck, was die Dinge doch tatsächlich sind. Dies etwa bezeichnet den Standpunt ABÄLARDs oder WILHELM von OCKHAMs. Überlegungen dieser Art, die das Verhältnis des Begriffsgehaltes zu den Dingen zum Gegenstand haben, sind gepaart mit solchen, die sich auf die Begriffe als Leistungen der Seele des Menschen richten und ihr Sein innerhalb des Intellekts ins Auge fassen. Wir scheiden heute beide deutlich und weisen die erstere der Erkenntnistheorie, die letztere der psychologischen Untersuchung zu. In der richtigen Einsicht, daß beide nicht metaphysisch sind, hat man sie lange in zu große Nähe gerückt. Man übersah, daß sie nicht identisch sind, und daß nur jedem erkenntnistheoretischen Standpunkt auch ein solcher der Psychologie des Begriffs entspricht. So ist dann der Satz, daß die Begriffe nur in den Dingen sind, wie wir ihn oben diskutierten, in keinem Widerspruch zu dem, daß Begriffe nur im Intellekt sind. Der erste enthält eine Behauptung der Erkenntnistheorie, der zweite eine psychologische oder wenn man will, eine metaphysische - die Psychologie steht der Metaphysik viel näher als die Logik -, denn sie handelt von der Lokalisierung der Begriffe in der Seele des Menschen. Daß die Begriffe, auf die Beziehung ihres Inhaltes zu den Dingen hin betrachtet, sich als nicht völlig adäquat erweisen, sagt nichts gegen ihr Dasein im Intellekt. Umgekehrt könnte man erkenntnistheoretisch die völlige Unanwendbarkeit und Beziehungslosigkeit der Begriffsinhalte behaupten, ohne deshalb veranlaßt zu sein, ihr Dasein im Bewußtsein des Menschen zu bestreiten. Schließlich wäre es noch möglich, erkenntnistheoretisch den Anewendungswert ihres Inhaltes zuzugeben und ihr Sein in der Seele - in einem gewissen Sinn - zu leugnen. So wenig sind die Sätze der Psychologie zugleich solche der Erkenntnistheorie. Dieser Grundsatz des Kritizismus ist durch LOTZE zur absoluten Unbestreitbarkeit gelangt. Darum ist die äußerste Position, die der Nominalismus in BERKELEY erreicht hat, ein seltsames Gemisch von Richtigem und Falschem. Hatten mittelalterliche Nominalisten und LOCKE die Adäquatheit der allgemeinen Begriffe für die Gegenstände bestritten, so hatten sie an der Existenz derselben im Geiste festgehalten. BERKELEY endlich bestreitet auch diese und bestreitet es durch Überlegungen, die sich LOTZE aneignet. Wo wir eine abstrakte Vorstellung oder einen Begriff zu haben glauben, schwebt uns in Wahrheit doch immer ein bestimmtes einzelnes Exemplar vor. Wir können wohl in Worten von einem Baum als Allgemeinbegriff sprechen, woran wir aber tatsächlich denken, wenn wir uns überhaupt etwas dabei vorstellen, ist ein sinnlich bestimmter Baum, der Baum der Wahrnehmung. Die psychologische Analyse ergibt, daß die sogenannten Begriffe gar nicht, wie der Rationalismus behauptet, von sinnlichen Elementen befreite Abstraktionen, sondern ebenfalls nur sinnliche Einzelvorstellungen sind, so daß der Begriff nicht einmal im Intellekt seinen Ort hat. Das Allgemeine - denn auch so können wir das Resultat ausdrücken - ist nicht nur nicht wirklich in der Welt der Dinge, sondern auch nicht in der des Vorstellens! Wie in der Welt der Dinge nur Einzelnes ist, so auch im Geist. Allgemeines, Begriffe gibt es nicht einmal "in" der Einbildung. Aus diesem Grund, glaubt BERKELEY, kann es nicht mehr Gegenstand ernsthaften Forschens sein, den Inhalt der Begriffe mit dem Inhalt der Dinge zu vergleichen, denn was nicht wirklich ist, kannja überhaupt keinen Inhalt haben, viel weniger einen solchen, der der Struktur des Wirklichen gemäß ist. Dies ist die Problemlage, die LOTZE vorfindet und unübertrefflich klärt.

Die Basis hierfür ist, wie schon erwähnt, sein Satz: "Das Vorstellen ist nicht das, was es vorstellt" (Seite 553). Es ist dies eine Erleuchtung der Elehre von den in einem existentialen Sinn geltenden Inhalten. Dort wurde dreierlei unterschieden: der Gegenstand unseres Vorstellens (z. B. die Sonne), unser Vorstellen dieses Gegenstandes und das Was dessen, was wir vorstellen. Das erste ist objektiv-physisch, das zweite psychisch-subjektiv und das dritte ist geltend. Ihrem Inhalt nach scheinen sie alle drei einander gleich. Die "reale" Geltung, d. h. die Identität der Struktur des Objektiven und des Geltenden wird von LOTZE in dem Kapitel über die reale und formale Bedeutung des Logischen im Großen und Ganzen prinzipiell verneint. In der Sphäre des Subjektiven nimmt er durch den zitierten Satz eine weitere Gliederung vor. So unterscheidet er zwischen der Tätigkeit des Bewußtseins, dem Prozeß des Vorstellens und dem Inhalt des Vorgestellten. Diese sind morphologisch einander absolut unähnlnich und unvergleichlich. Denn so wenig der Vorstellungsinhalt des Gelben selber gelb ist wie sein Gegenstand in der Wirklichkeit, so wenig ist der Bewußtseinsinhalt gelb, dem Prozeß des Vorstellens des Gelben an Form oder Gestalt zu vergleichen; man kann sagen, so wenig wie der physiologische Vorgang im Gehirn, der dem vom Bewußtsein vorgestellten Inhalt gelb vorhergeht oder parallel ist. Die Situation, die durch die schwer zu definierende Natur des Vorstellens geschaffen ist, wenn das Bewußtsein einen Gegenstand zum Inhalt hat, ist also diese: Auf der Seite des Subjekts ist der Vorstellungsakt und sein Inhalt, beide einander völlig ungleich; gleichsam zwischen dem Objekt und dem Subjekt vermittelnd ist der existential geltende Inhalt; das Was des Gegenstandes; und endlich, vom Subjekt getrennt, der seiende Gegenstand. Hierbei kommt der "Inhalt" zweimal vor als Korrelat des Vorstellungsaktes, mit dem er für das Subjekt, innerhalb des Subjekts untrennbar verbunden ist (Logik, Seite 554) und als Glied im Reich des Geltens. Innerhalb des Subjekts ist er zeitlich, psychisch; im Reich des Geltens unpsychisch, zeitlos; dem Inhalt, dem Gehalt, der Gestalt, Form oder Struktur nach im Psychischen und im Geltenden absolut gleich. Über das Verhältnis des Inhalts zum Gegenstand später.

Nun ist es eine höchst merkwürdige Tatsache, daß unter Umständen der Inhalt innerhalb des Subjekts gleichsam fehlen kann. Es ist dies der Fall bei demjenigen Inhalt, von dem BERKELEY sagt, daß es ihn - überhaupt nicht gibt: dem Begriff oder dem Allgemeinen. Für LOTZE wie für BERKELEY ist es von vornherein selbstverständlich, daß es das Allgemeine in der Wirklichkeit der Dinge nicht gibt. Es ist interessant, sich zu vergegenwärtigen, daß dies von PLATO auch gar nicht behauptet worden ist, denn diejenige Wirklichkeit, in der er das Allgemeine lokalisierte, war nicht die der zeitlich-räumlichen Einzeldinge, sondern das zeitlos Überwirkliche. Und dies war ihm dem Inhalt nach gerade etwas ganz anderes als die sinnliche Welt. Weil aber für LOTZE (wie für BERKELEY) das Allgemeine unter der Kategorie des Ding-Wirklichen von vornherein unannehmbar ist, kam es für ihn als Gegenstand des Betrachtens und Suchens lediglich nur in der Form des Gemeinsamen in Betracht. Daß es Gemeinsamkeiten und in diesem Sinne Allgemeines gibt, ist unbestreitbar. Rot, gelb, blau und die anderen Farben hängen durch ein nicht zu definierendes, intuitiv Erfaßbares zusammen, das ihnen allen auf den ersten Blick gleicherweise zukommt und sie eben zu Farben Macht. Es fragt sich nur, in welcher Weise und in welchem Sinn es das Gemeinsame "gibt". Wieder ist es selbstverständlich, daß es in der Welt der Dinge nicht gesondert neben den Dingen existiert, die etwas Gemeinsames haben. Wenn überhaupt, so muß es in der Welt des Subjekts aufzuweisen sein. Aber auch hier ist es nicht leicht zu finden. Denn die Selbstbeobachtung lehrt, daß sich das, worin rot und gelb übereinstimmen und wodurch sie beide Farben sind, nicht von dem abtrennen läßt, wodurch rot rot und gelb gelb ist. Wenigstens läßt es sich nicht derart abtrennen, daß das ihnen Gemeinsame den Inhalt einer dritten Vorstellung bildet, die in der Weise ein Dasein in der Seele hat wie die beiden anderen (Logik, Seite 30). Was auch immer wir vorstellen oder empfinden, es ist, wie BERKELEY erkannt hat, die ganz bestimmte, in Worten nicht sagbare Einzelnuance einer Farbe, und es muß eingestanden werden, daß das - wenn auch schon in einem restringierten [wenig differenziert - wp] Sinn des Gemeinsamen - Allgemeine diese Anschaulichkeit nicht besitzt. Es ist eine Tatsache, daß wir, um das Gemeinsame-Allgemeine der Farbe zu fassen, eine bestimtme Farbe vorstellen, um sie sogleich mit dem Nebengedanken zu begleiten, daß jede andere Farbe, die wir zu diesem Zweck ebenfalls als eine ganz bestimmte vorstellen müssen, das gleiche Recht hat, als Beispiel des gesuchten oder empfundenen Allgemeinen zu dienen.

So ist zweifellos etwas Richtiges an der Behauptung des extremen Nominalismus, daß das Allgemeine oder der Begriff (im Gegensatz zur Einzelanschauung, keine Stätte im Bewußtsein hat; denn als ein Inhalt) der ruhig vor uns steht, als eine Vorstellung, so anschaulich und abgeschlossen wie die der nichtallgemeinen Gegenstände, können wir sie nicht nachweisen. Man drückt dies gut durch den Gegensatz von Gegebenheit und Aufgabe aus. So sagt LOTZE:
    "Worte wie Farbe und Ton sind in Wahrheit nur kurze Bezeichnungen logischer Aufgabe, die sich in der Form einer geschlossenen Vorstellung nicht lösten lassen." (Logik, Seite 31)
Freilich, es ist nur diese Form, in der das Allgemeine nicht in uns ist; daß wir es überhaupt nicht besitzen, kann nicht gesagt werden. Auch Aufgaben sind unser, ein unverlierbar Eigenes, aber sie sind es ganz anders als Sinnesempfindungen und Vorstellungen anschaulicher Gegenstände. Dies ist das unverkennbar Treffende an BERKELEY; in jener dem Dinglichen nahe kommenden Art, in der wir auf Einzelnes gerichtete Vorstellungen in der Seele haben, sind die Allgemeinbegriffe in ihr nicht real.

Das Verhältnis des Vorstellungsaktes und des subjektiven Inhalts zum geltenden Inhalt ist eben bei Begriffen ein anderes als bei Wahrnehmungen und Einzelvorstellungen. Freilich, daß die Akte, die zur Erfassung oder dem Versuch der Erfassung des Gemeinsamen als Allgemeinbegriff führen, ganz ebenso wie die Akte des Wahrnehmens oder Vorstellens in der Psyche vorhanden sind, unterliegt gar keinem Zweifel. Dies übersehen und nur das Fehlen des allgemeinen Inhalts als Vorstellung einseitig in den Vordergrund gerückt zu haben, ist BERKELEYs großer Irrtum.

Nun sind nach LOTZE aber alle Denkakte mit Inhalten untrennbar verbunden. Da aber andererseits die allgemeinen Inhalte nicht in unserer Seele "sind", so folgt daraus, daß die mit den Akten des Allgemeinen verbundenen, ihnen korrespondierenden Inhalte, die wir psychologisch besitzen, hinter denen zurückbleiben, die wir intendieren! Ja, man kann so weit gehen zu sagen, daß die das Allgemeine ausdrücken wollenden Inhalte, die wir psychologisch besitzen, nicht mit den beabsichtigten identisch sind. Soweit ist die Differenz zwischen dem Besonderen, dessen Inhalt wir haben, und dem Allgemeinen, das wir in dieser Weise nie haben. So gesehen, hat das Allgemeine oder der Begriffsinhalt kein psychisches Dasein, wohl aber das Geltende, das allein den "Inhalten" zukommt, und es ist das höchst Merkwürdige, daß der Mensch im Allgemeinen etwas wirklich meint, das als Inhalt nur in der Sphäre des transpsychischen Geltens ganz wirklich ist.

In dieser Richtung liegt wohl die Lösung der Frage nach der Realität des Allgemeinen im Intellekt (vgl. hierzu HUSSERLs "Logische Untersuchungen").

Untersuchungen dieser Art gehören zur Psychologie der Erkenntnis. Nicht auf den ersten Blick, denn diese hat es, wie in Anlehnung an LOTZE allgemein gesagt wird, mit den Akten des Denkens zu tun, wogegen diejenige Wissenschaft, welche die Inhalte zum Gegenstand hat, Logik oder Erkenntnistheorie ist. Scheinbar haben auch wir oben nicht nur den Akt, sondern auch den Inhalt des Begriffs untersucht. Dennoch war dies noch nicht Erkenntnistheorie, denn wir fragten nach dem Inhalt des Begriffs lediglich in Bezug auf die Psyche: Das Fehlen oder Vorhandensein der Begriffsinhalte im Bewußtsein, in der Seele des Menschen war das Thema: Und was wir entwickelten, waren LOTZEs Gedanken zu den psychologischen Problemen des Universalienstreits.

Von ihnen sachlich getrennt sind die zur Erkenntnistheorie des Denkens. Ein rein erkenntnistheoretisches Problem ist das Verhältnis der Struktur der (objektiven) Inhalt zu der ihrer Gegenstände. Daß dieses nicht, wie es in dem Kapitel "Die Ideenlehre" scheinen möchte, Identität ist, ist eins der Hauptmotive des Kapitels über reale und formale Bedeutung des Logischen.

Völlig gleichgültig gegen das Fehlen der allgemeinen Inhalte im Bewußtsein, das zu konstatieren der psychologischen Untersuchung oblag, und unabhängig hiervon wird die erkenntnistheoretische Natur des Allgemeinen, der Begriffe erforscht. Von nominalistischer, psychologischer Seite ist von jeher der erkenntnistheoretische Unwert derselben betont worden. Da alles Wirkliche stets ein individuelles ist, so sind die Begriffe, die nur das Gemeinsame aufnehmen wollen oder können, unfähig zur Erfassung des Wirklichen. LOTZE weist demgegnüber darauf hin, wie einseitig diese auch neuerdings wieder erhobenen Anklagen gegen den Begriff sind. Denn indem man die das Besonderste nicht beachtende Verallgemeinerung nur als Verfälschung, als Notbehelf der Annäherung an eine unerreichbare Genauigkeit ansieht, wie MAUTHNER und BERGSON, geht man zu achtlos darüber hinweg, daß sich eben in einer Mehrzahl verschiedener Eindrücke etwas wirklich Gemeinsames vorfindet (Logik 28). Indem der Begriffe dies zum Ausdruck bringt und lediglich das Zusammengehörige vereinigt, hat er einen nicht zu leugnenden Erkenntniswert hinsichtlich seines individuellen Gegenstandes. Wirklichkeit freilich kommt seinem Inhalt im allgemeinen weder im Sein noch im Denken zu, aber es ist sehr wohl möglich, die Überzeugung, die Wirklichkeit des Seins gehört nur dem Einzelding, mit der von der "Geltung" des Allgemeinen zu vereinigen (Logik 561).

Hier ist diejenige Bedeutung des Terminus Gelten, um derentwillen die Probleme der Begriffslehre nach LOTZE in dieser Arbeit zu entwickeln sind. Es könnten viele Fälle zitiert werden, die das Gelten in diesem Sinne meinen, fast auf jeder Seite finden sich Belege hierfür; so wird schon in der Benennung dieses Kapitels, dessen Untersuchungen um die Frage nach der realen oder formalen Bedeutung des Logischen zentrieren, der Ausdruck Bedeutung durch den Geltung ersetz (vgl. 548, 549, 556, 557, 559).

Der Satz von der unbestreitbaren Geltung des Allgemeinen ist gegen die Nominalisten gerichtet, die nur auf die psychologische Irrealität hinweisen und auch auf diese in einer Weise, die eine Ergänzung verlangte. Aber auch die dogmatischen Behauptungen des Anti-Nominalismus, des naiven wie des philosophischen, erfahren durch LOTZE eine bedeutende Korrektur.

Ist für PLATO und HEGEL die höchste Wirklichkeit die des Begriffs und somit die Struktur des Begriffs der des Realen völlig gleich, so ist auch der naive Verstand - soweit er nicht dem naiven Relativismus zum Opfer fällt - überzeugt, daß unser Denken die Dinge "abbildet" und eine objektive und reale Geltung hat. Sensualisten leugnen die reale Geltung der Begriffe wie überhaupt des diskursiven Denkens und lehren die Phänomenalität unserer begrifflichen Erkenntnis; umgekehrt glauben ihre Gegner, vom Dilettanten bis zum Naturwissenschaftler, daß die Welt so ist, wie sie gedacht wird, und behaupten die Phänomenalität gerade des sinnlichen Anschauens. Wieder andere behaupten die Phänomenalität all unserer Erkenntnisarten und stützen sich dabei darauf, daß wir die Welt nur so erfassen, wie wir sie mit psychologischer Notwendigkeit erfassen können. Man hat mit Recht dagegen eingewandt, daß die unverlierbare Subjektivität des Erkennens in diesem Sinn nicht ihre erkenntnistheoretische Überphänomenalität ausschließt, da eine solche Subjektivität auch stattfände, wenn uns ein überphänomenales Wissen zuteil wäre. Nun können wir die Frage nach der Phänomenalität unserer gesamten Erkenntnisarten nicht dadurch entscheiden, daß wir sie der durch Erkenntnis unverfälschten Wirklichkeit gegenüberstellen und mit ihr vergleichen, denn wir kommen niemals über den Bereich der irgendwie schon intellektualisierten Welt hinaus. Wohl aber bleibt uns der Ausweg zu fragen,
    "wie denn das Denken selbst über die Bedeutung seiner eigenen Handlungen urteilt und inwieweit es diejenigen Formen, die es als psychische Bewegungen des denkenden Subjekts annehmen muß, für Eigenbestimmtheiten des von ihnen bearbeiteten Inhaltes ausgibt" (Logik 549)
Aber auch durch diese Methode tritt der erkenntnistheoretische subjektive Charakter, die nur formale Geltung oder Bedeutung des Denkens klar zutage. Es ist gesagt worden, daß bei unserem Vorstellen der Akt des Vorstellens von seinem Inhalt scharf unterschieden werden muß. Beide sind dem Gehalt und gleichsam der Gestalt nach absolut unähnlich. So kann auch nur bei einem Inhalt die Gleichheit oder Ungleichheit des Vorstellens ein Problem sein, beim Akt des Vorstellens ist die völlige Ungleichartigkeit von vornherein ganz selbstverständlich; ganz wie beim Vorstellen parallel- oder vorhergehenden physiologischen Gehirnprozeß, der eine indirekte Beziehung zum Vorstellungsgegenstand hat und bei dem jede Annahme einer morphologischen Ähnlichkeit apriori absurd ist. In jedem Inhalt aber ist viel von der Natur des Aktes! Um dieses unveräußerlichen Restes willen, weil sich in allen unseren Inhalten, wie sehr sie durch den Gegenstand bestimmt werden, das prinzipiell subjektive Moment der Akte fortsetzt und erhält, ist an der erkenntnistheoretischen Phänomenalität des Denkens nicht zu zweifeln. Bei den Empfindungen mag es dahingestellt bleiben, ob sie das Gegebene in eine eigene Tonart gleichsam transponieren, sie sind in so naher Berührung mit der Wirklichkeit, daß sie hierzu nicht prinzipiell verurteilt sind (die sogenannte Subjektivität der Sinnesqualitäten ist für LOTZE kein Einwand). Das Denken aber ist kein einfaches Hinnehmen des Wirklichen, kein passives Anschauen der Gegenstände, sondern Tätigkeit. Jede Handlung des Denkens aber besteht in einem In-Beziehung-Setzen mindestens zweier Vorstellungen zueinander. Gleichsetzung und Unterscheidung zweier Inhalte können hierfür als Beispiel dienen, denn sie sind es, die immer stattfinden, nicht nur, wo wir Allgemeinbegriffe bilden, sondern schon, wo immer wir eine Vorstellung mit einem Namen fixieren (Logik 27). Gesetzt, rot und gelb sind unmittelbare Gegenstände einer Anschauung, so ist die Vorstellung ihrer Gleichheit oder ihrer Verschiedenheit dies nicht mehr, denn Gleichheit und Verschiedenheit sind reine Relationsbegriffe, die ein Verhältnis zum Ausdruck bringen. Als Verhältnisse aber des einen zum anderen, als Gleichheit des einen mit sich und Verschiedenheit derselben mit anderen stellen sie an uns die Forderung, an die Bewegungen des Vergleichens zu denken, die uns von dem einen zum anderen hinüberführen. Allein durch die Wiederholung all jener Bewegungen ist es möglich, ihren Sinn zu verstehen (Logik 555f). Dies darf nicht so aufgefaßt werden, als ob damit die übersubjektive Sachlichkeit solcher Verhältnisse bestritten werden soll. Wir sprechen davon, daß Dinge gleich oder ungleich sind "ansich", ohne daß erst wir sie dazu stempeln. Wie überall, so lehrt LOTZE auch hier nicht Relativismus, sondern Relationalismus. Die spezifische Inhaltlichkeit der Verhältnisse wird uns durch die Dinge gegeben, nur die Form, unter der wir das Reale fassen, das Eigentümliche dessen, was ein "Verhältnis" ist, hat eine Bedeutung bloß im Rahmen eines Denkens wie das menschliche, hat einen Sinn nur in Bezug auf den Menschen, im Hinblick auf die spezifische Natur seines Intellekts. Mag dies beim Begriff der Gleichheit eines Dings mit sich oder einem anderen noch ein wenig verschleiert sein, bei dem des Unterschiedes zwischen zwei Inhalten ist es unverkennbar. Die Nuance des "Zwischen" kann gar nicht direkt dem Sein oder Verhalten der Dinge entsprechen. Denn es ist nur verständlich, solange es uns an die räumliche Entfernung erinnert,
    "die wir, als wir a und b vorstellten, symbolisierund zu beider Auseinanderhaltung und zugleich als den verbindenden Weg einschalteten, auf dem unser Vorstellen vom Einen zum Andern übergehen konnte." (Logik 555).
Sowie die Farben und Töne nur ein Sein in der Welt des Bewußtseins und niemals im Raum haben, so besteht auch das "Zwischen" nur im Denken, und jeder Versuch müßte scheitern, einer solchen Beziehung eine "reale Geltung der Art zu geben, daß sie etwas wäre, auch abgesehen von dem Bewußtsein, welches sie denkt" (Logik 557). Der Grund hierfür ist eben der, daß der Inhalt des "Zwischen" auf die Denkhandlung hinweist und "nur die Erinnerung an eine durch die Einheit unseres Bewußtseins vollziehbare Denkhandlung ist", kurz: die Immanenz des morphologischen gegenstandsfremden Aktes.

Auch andere Argumente führen dazu, den Glauben an die Strukturgleichheit der Begriffe und der Gegenstände für immer zu erschüttern. Schon die Einsicht, daß der Begriff, das Allgemeine ein den Dingen wie immer auch tatsächlich Gemeinsames heraushebt, daß er ein Allgemeines wenigstens der Intention nach ist, während die Dinge nur individuelle sind, ist ein Zeichen ihrer Verschiedenartigkeit. Wegen dieser beabsichtigten Unanschaulichkeit des Inhalts wurde der allgemeine Begriff früher als psychologisch irreal erklärt. Für BERKELEY und frühere Nominalisten war dies ein Grund, auch die erkenntnistheoretische Subjektivität des Begriffs zu folgern; oder sie folgerten sie kaum, sie war ihnen selbstverständlich durch das psychologische Urteil über ihre psychische Nichtexistenz. Auch LOTZE benutzt die Unanschaulichkeit des Allgemeinen als Argument für die psychische Irrealität sowie auch für ihre erkenntnistheoretische Phänomenalität, aber er schließt nicht diese aus jener, sondern behandelt beide Fragen getrennt. Wie wenig haltbar die durch die zoologischen Gattungsbegriffe nahegelegte Gleichheit von Begriffsinhalt und Gegenstand ist, wird durch die Überlegung deutlich, daß wir über denselben Gegenstand in doppelter Hinsicht unendlich viele Begriffe bilden können. Nicht nur einmal bilden wir vom Einzelnen der Wahrnehmungen ausgehend etwa den Inhalt Pferd, sondern wir können solche Zusammenfassungen immer weiter fortsetzen, vom Pferd zum Säugetier, zum Wirbeltier und jeder dieser Allgemeinbegriffe könnte den gleichen Anspruch auf wesenhafte Existenz besitzen, wenn die Begriffsrealisten recht hätten (Logik 560f). Daß der Wert des allgemeinen Inhalts nicht in der Gleichheit mit dem Sein, sondern nur in der "Geltung" vom Seienden besteht, wird auch dadurch bewiesen, daß wir von beliebig gewählten Gesichtspunkten aus denselben Gegenstand verschiedenen Begriffen zugleich unterordnen können. Manche dieser Unterordnungen können zweckmäßiger sein als andere, wahrer ist keine von ihnen; die logische Struktur, die ihnen als Begriff eignet, würde nie der realen Struktur der Gegenstände entsprechen. Nie erfolgt die reale Entwicklung eines Dings in der Weise oder Reihenfolge unserer Merkmale. Keinen einzigen Moment im Leben einer Pflanze gibt es, in dem sie nur allgemein Pflanze ist, um erst von späteren Einflüssen, unseren logischen Determinationen entsprechend, eine Entscheidung darüber zu erwarten, zu welcher bestimmten Pflanz sie sich entwickeln soll. Diese Betrachtungen beziehen sich ebenso auf eine Konstruktion wie auf eine Klassifikation, alle sind sie subjektive Bewegungen unseres Denkens und nicht Vorgänge in Sachen. Und diese prinzipielle Strukturdifferenz setzt sich fort oder steigert sich in dem Maße, in welchem wir uns vom Sinnlich-Anschaulichen entfernen. Urteile, Schlüsse und Beweise haben alle keine reale Geltung, wie hier nicht näher ausgeführt zu werden braucht, denn es genügt der Hinweis, daß sie alle Begriffe als Element enthalten. Auf weitere Einzelheiten wie auf die am Ende des Kapitels gewonnene Fixierung der Gegensätze von subjektiver - objektiver, formaler - sachlicher und formaler - realer Bedeutung oder Geltung ist für unseren Zweck nicht wichtig einzugehen.

Wie sehr das Allgemeine trotz seiner Strukturverschiedenheiten, seiner psychologischen Pseudo-Realität, seiner metaphysischen Irrealität dennoch eine erkenntnistheoretische Geltung von der Wirklichkeit hat, ist aus dieser Skizze zu ersehen. Der Grund hierfür ist der, daß die Dinge, die metaphysisch immer individuelle sind, tatsächliche Ähnlichkeiten, Verwandtschaften miteinander aufweisen. Dies ist es, was der Allgemeinbegriff, in seine eigene Tonart übersetzt, anerkennend wiedergibt, wodurch sich die Möglichkeit der seit der Antike bekannten Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine ergibt und erklärt.

Indem LOTZE von der "gesetzgebenden" Bedeutung des Allgemeinen spricht (Logik 560), legt er es nahe, diese dritte Bedeutung des Geltens, des Sicherstreckens der Inhalte auf ihren Gegenstand als das legislative Gelten zu charakterisieren.

Träger dieses Geltens sind das Allgemeine, der Begriff, die allgemeinen Inhalte. Unter ihnen sind am markantesten wiederum die wahren Sätze. Denn auch diese sind Allgemeinheiten, da zwischen Begriffen und Sätzen nur ein gradueller Unterschied besteht; lassen sich doch die Begriffe, je allgemeiner und unanschaulicher sie sind, als Bedingungssätze auffassen. Die wahren Sätze aber haben noch ersichtlicher als die isolierten Allgemeinbegriffe die Eigenschaft, das Verhalten der Dinge, auf die sie sich aussagend beziehen, zu "beherrschen". Im Fall der Naturgesetze nimmt ihre Herrschaft die Gestalt der Prognose.

Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist dieses: LOTZE gebraucht den Terminus Gelten in drei verschiedenen Bedeutungen, die wir kurz als normatives, existentiales und legislatives Gelten bezeichneten.

Das existentiale Gelten will eine Wirklichkeitsart zum Ausdruck bringen - die Wirklichkeit des zeitlos Unsinnlichen. Da wir die Wirklichkeit frei von jeder Beziehung auf ein psychisches Bewußtsein denken, so bringen wir diese dem Begriff des Wirklichen anhaftende Beziehungslosigkeit zum Ausdruck, indem wir es das Gelten ansich oder das absolute Gelten nannten.

Im Unterschied hierzu haben das normative und das legislative Gelten einen relationalen Sinn. Die Norm ist "Norm" nur im Hinblick auf Individuen, die ihr unterworfen sind. Das relationale Moment des legislativen Geltens besteht darin, daß der Sinn der Geltung, der Anwendbarkeit des Allgemeinen notwendig die Beziehung auf Gegenstände einschließt, an denen sich seine Anwendung realisieren kann.

Alle drei Arten des Geltens sind gelegentlich durch eine Personalunion verbunden.

Träger des normativen Geltens sind die Werte überhaupt und somit auch Wahrheiten.

Das existentiale Gelten ist die Seinsart aller objektiven Inhalte, sofern sie nicht vom Menschen gedacht werden und somit der unter diesen am meisten hervorrangenden, der Wahrheiten.

Träger des legislativen Geltens sind die allgemeinen Inhalte und also ebenfalls die Wahrheiten.

Hiernach gelten die Wahrheiten normativ für die Menschen. Legislativ gelten sie von den Dingen.

Die Wirklichkeitsart der normativ und legislativ geltenden Wahrheit ist das existentiale Gelten.


Die normative und legislative Bedeutung des Terminus Gelten ist eine in der deutschen Umgangssprache angelegte Äquivokation  [Mehrdeutigkeit - wp] und nicht erst von LOTZE in sie hineingetragen. Die Verwendung des Geltens für die Sphäre des unsinnlich Zeitlosen ist seine Schöpfung.


Schluß:
- Das existentiale Gelten und der Kritizismus -

Es gehörte von vornherein zu den Absichten dieser Schrift, nicht beim Terminologischen stehen zu bleiben. Es genügte nicht, jedesmal zu sagen, welche Situation es ist, die LOTZE durch den Ausdruck Gelten umschreibt, sondern es war notwendig, LOTZEs ganze Lehre über die jeweilige Situation zu entwickeln. Aber so sehr auch LOTZE im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, das eigentlich philosophische Interesse auch an der Philosophie LOTZEs gilt doch nicht ihm, sondern den Problemen der Philosophie. Diese sind es, um derentwillen wir in LOTZEs Geltungsbegriffe einzudringen suchten. Es kommt viel weniger darauf an, zu wissen, was LOTZE lehrt, als welche Bedeutung seine Gedanken in systematischer Hinsicht im Ganzen der Philosophie und ihrer Geschichte haben. Hierauf ist mehrfach eingegangen worden, durch den Hinweis, daß möglicherweise die Tatsache des existentialen Geltens der Grund der Rechtfertigung für die sokratische Überzeugung von der Normativität der Wahrheit ist, und durch die Behauptung, daß seine Lehre vom Allgemeinen infolge der Unterscheidung von Vorstellungsakt und Vorstellungsinhalt ein entscheidendes Wort im Nominalismusstreit bedeutet. Im Verfolg dieser Tendenz, das systematisch Bedeutsame auch in dieser monographischen Arbeit in den Vordergrund zu stellen, muß zum Schluß noch der enge Zusammenhang der Lehre von der existentialen Geltung der Inhalte mit dem Kritizismus angedeutet werden.

Der Kritizismus will sich selber weniger als eine philosophische Lehre denn als eine Methode des Philosophierens verstanden wissen, und zwar als die allein gemäße, die Probleme der Erkenntnis in Angriff zu nehmen. Lange hat es gedauert, bis es gelungen ist, diese aus der Verschlingung zu befreien, in die sie mit Fragen einer scheinbar verwandten Wissenschaft geraten waren. Ihre Loslösung von der Metaphysik war nicht schwerer als die von der Psychologie. KANT präzisiert die Verschiedenheit psychologischer und erkenntnistheoretischer Forschung durch den berühmten Gegensatz quid facti - quid juris. Die Psychologie ist diejenige Wissenschaft, "welche die Art anzeigt, wie ein Begriff erworben ist, und betrifft das Faktum, wodurch der Besitz entsprungen" (KANT, Kritik der reinen Vernunft). Erkenntnistheorie fragt nach der Rechtmäßigkeit, dem Wahrheitswert, der logischen Bedeutsamkeit der Begriffe oder Vorstellungen - eine Frage, die gar nicht auf dem Weg der gleichsam physiologischen Ableitung der Psychologie liegt.

Diese völlige Disparatheit [Polarität - wp] der Probleme ist sein KANT unaufhörlich betont worden, ohne daß man sie bewiesen hat. Vielleicht hielt man einen Beweis für überflüssig, weil der bloße Hinweis schon einleuchtend ist. Genug, der Beweis unterblieb, wie scharf man auch den Unterschied faßte. Im Wesentlichen wird er dahin charakterisiert, daß bei aller Gleichheit des Gegenstandes die Fragestellung so total verschieden ist, daß auch die Antworten in völliger Unabhängigkeit voneinander gegeben werden können. Der Gegenstand der Psychologie des Denkens wie der Erkenntnistheorie sind die Begriffe oder Vorstellungen, aber beide Wissenschaften betrachten sie unter einem völlig anderen Gesichtspunkt. Der Psychologie liegt an der Erforschung des Entstehens, der Erkenntnistheorie an der Feststellung ihres Wahrheitsgehaltes. Der nämliche Gegenstand ist es, den die Psychologie beschreibt in seinem Werden, in seinen Beziehungen zu anderen, während die Erkenntnistheorie ihn beurteilt, prüft, bewertet und seinen Erkenntnisgehalt feststellt.

LOTZE, der im Übrigen bekanntlich nicht zu den Verehrern des Kritizismus gezählt werden will, erkennt seine Behauptungen über die Verschiedenheit der Aufgabe von Psychologie und Logik an, ohne etwas Entscheidendes hinzuzufügen.

Eine Variation hierüber ist seine berühmte Lehre von der universalen Ausdehnung und untergeordneten Bedeutung der Sendung, die der Mechanismus im Bau der Welt zu erfüllen hat. Der Gegenstand, an dem er hierbei die kritizistische Unterscheidung des Beschreibens und Bewertens anwendet, ist die Natur. Mechanismus und Teleologie sind die beiden Gesichtspunkte, unter die zwei grundverschiedene Disziplinen des Ganzen der Natur rücken, von denen jede mit Unrecht die andere auszuschließen strebt. Entweder ist die Natur ein großer undurchbrechbarer Kausalzusammenhang, dann gibt es nichts, nicht Freiheit, Wert und Sinn, das ihm selbstherrlich gegenübersteht, so glaubte man, oder es gibt all dieses, dann ist der Mechanismus nicht das Prinzip des Daseins. Ganz im Sinn des Kritizismus glaubt LOTZE, daß beide nebeneinander bestehen, sich deutlich scheiden und nicht ausschließen. Die mechanische Wissenschaft der Natur, die eigentlich erklärende, sucht die realen Mittel auf durch deren gesetzliche Verpflichtung alles, Großes und Kleines, gemacht wird (Mikrokosmus II, Seite 6f). Aber wir wollen den Weltlauf nicht nur berechnen, wir wollen auch seinen Sinn verstehen. So gibt es daneben mit Recht auch eine Wissenschaft, die lediglich ihn zu erfassen sucht. LOTZE nennt sie die "ausdeutende Ansicht der Natur". Und wie uns nach KANT die Einsicht in den kausalen Zusammenhang unserer Vorstellungen, die physiologische Ableitung der Begriffe nicht fördert bei der Beurteilung ihres Wahrheitswertes, so ist auch diese nach LOTZE gleichgültig gegen die Mittel, mit denen sich die Natur realisiert. Ohne es zu beweisen, illustriert er es anschaulich durch die ästhetische Erfahrung. Auch die Schönheit, die wir an einem Bild genießen, hängt doch nur ab von dem, was wir vor uns sehen, und nicht von der Kenntnis der Technik, mit der es zustande kam, und durch welche Mittel es immer zustande gekommen sein mag, kann die Schönheit des Bildes und somit unser Urteil über seine Schönheit nicht beeinträchtigen. So ist auch die Tatsache des Mechanismus kein Einwand mehr gegen die Möglichkeit von Sinn und Bedeutung der Dinge, denn der Mechanismus ist nichts anderes als die Art der Verwirklichung der Dinge in Raum und Zeit. Es ist aber ebenso eine Tatsache, daß die Dinge eine Bedeutung haben, mag sie wertvoll oder unwertvoll sein. Und diese ihre Bedeutsamkeit ist genau ohne Seitenblick auf die Wissenschaft der räumlich zeitlichen Naturgeschehnisse zu erforschen, wie sie selbst nicht das Geringste zu tun hat mit der Art ihrer Realisierung. So scheiden sich die beiden Gebiete der Forschung und bestehen nebeneinander - indem sie an den gemeinsamen Gegenstand, die Natur, grundverschiedene Fragen stellen.

Es ist etwas Gemeinsames in dem Antagonismus [Gegensatz - wp] von Psychologie und Logik einerseits und von beschreibender Naturwissenschaft und Bedeutungsanalyse andererseits. Und etwas Gemeinsames ist auch in dem Glauben KANTs und LOTZEs, daß die Ansprüche und Resultate der einen Wissenschaft nicht die der anderen ausschließen. Aber nicht diese Gemeinsamkeit kann ein Grund sein, diese Probleme hier zu erörtern. Er liegt einzig und allein in der Beziehung, die beide zu einem der Begriffe der Geltung haben.

Es ist die Lehre vom existentialen Gelten und die mit ihr zusammenhängende Unterscheidung des Vorstellungsaktes und seines Inhaltes, die nun eine ungeheure Bedeutung gewinnt. Denn von hier aus erweist es sich als ein Irrtum, daß es, wie noch WINDELBAND glaubt, der gleiche Gegenstand ist, den Psychologie und Logik unter wie auch immer verschiedenen Gesichtspunkten betrachten und befragen! Es ist falsch zu sagen, daß beide es mit Vorstellungen oder Begriffen zu tun haben, und daß in der Methode des Beschreibens oder Bewertens ihr ganzer Unterschied besteht, denn wir haben fortan mit LOTZE aufs Allerschärfste zu scheiden zwischen Vorstellungsakt und Vorstellungsinhalt. Die Psychologie ist gewiß frei von Werturteilen, aber was sie beschreibt, ist der Akt des Vorstellens. Der Gegenstand der Logik aber ist der Vorstellungsinhalt. Da aber selbst die einander korrespondierenden Akte und Inhalte keinerlei Vergleichbarkeit miteinander haben, so folgt daraus, daß Psychologie und Logik nicht durch die Methode, sondern vor allem durch die Gegenstände voneinander getrennt sind!

Es ist dies umso wichtiger hervorzuheben, als gerade die Methode in beiden Wissenschaften gleich sein kann. Auch die Logik oder Erkenntnistheorie kann deskriptiv verfahren. Denn es kann nicht das Recht einer Wissenschaft bestritten werden, welche die Inhalte unseres Vorstellens ganz unabhängig von der Frage nach ihrer Wahrheit beschreibt. Ein solches Verdeutlichen des Inhalts ist geradezu die unerläßliche Bedingung, nach deren Erfüllung die Wahrheitswertbeurteilung erst fruchtbar einsetzen kann. Aber die Frage nach der Wahrheit ist ja überhaupt nur auf einen kleinen Teil der Gemeinsamkeit der Inhalte anwendbar. Und auch wo sie gemäß der Natur des Inhalts zu unterbleiben hat, wie bei den Begriffen Liebe, Pflicht, Kunst u. a. ist diese Wissenschaft unbestreitbar nicht der Psychologie zuzurechnen. HUSSERL nennt sie Phänomenologie. Und sie ist zweifellos ein Zweig der Logik, denn sie erforscht die Inhalte, die "gelten" und nichts, was in der Zeit ein Dasein hat.

Ein Geltendes ist das Material der Logik, ein Zeitliches der Gegenstand der Psychologie, und beide sind so verschieden, wie kaum etwas in der ganzen Welt des räumlich-zeitlichen Seins!

Nun endlich ist es bewiesen, weshalb die kritizistische Behauptung der Autonomie der Logik und der Denkpsychologie so richtig ist: Sie ist begründet und gewährleistet durch die Unvergleichlichkeit ihrer Gegenstände.

LOTZEs Begriff der existentialen Geltung und der morphologischen Divergenz von Akt und Inhalt ist, in seiner ganzen Tiefe erfaßt, der Beweis für die Richtigkeit der hundertjährigen Ahnung des Kantianismus! - -

Nicht ganz so offensichtlich ist die Verschiedenheit der Gegenstände in der mechanisch beschreibenden Naturwissenschaft und der Naturbedeutungsanalyse. Eine starke Analogie ist freilich unverkennbar und läßt eine Gleichheit der Situation mit der der Logik und Psychologie vermuten. Die mechanisierende Kausalwissenschaft hat ein zeitliches Geschehen zum Gegenstand, die ausdeutende Ansicht der Natur erforscht die Bedeutung, den Sinn der Erscheinungen. Die hier gesuchte Bedeutung darf nicht mit der verwechselt werden, welche die Logik als Phänomenologie der Erkenntnisbegriffe zu suchen hat. Sie ist nicht Bedeutung im Gegensatz zum Akt, nicht das, was wir "Inhalte" nannten, sondern Bedeutsamkeit. Insofern ist sie dem verwandt, was die Logik als kritische Erkenntnistheorie zu erforschen hat. Als solche fragt sie nach dem Wert, dem Wahrheitswert eines Inhaltes; ist doch der Wahrheitswert dem Begriff Bedeutsamkeit zu subsumieren, insofern ein Wert gleichsam die Bedeutung ist, die etwas in den Augen der Gottheit oder unter dem Gesichtspunkt der Wichtigkeit für die Gottheit hat.

Wahrheitswert und Bedeutsamkeit der Dinge spielen sich gleichsam auf dem zeitlosen Gebiet des Geltens ab. Beim Gegenstand der Logik zumindest ist dies völlig einwandfrei, sie bezieht sich unverkennbar nicht auf den Akt des Vorstellens, sondern auf den zeitlosen Inhalt.

Auch die Frage nach der Bedeutsamkeit der Sonne etwa richtet sich nicht auf die Sonne, deren Struktur Physik und Chemie zu untersuchen haben. Ob und inwieweit aber auch hier der Grund für die Unabhängigkeit der kausal beschreibenden und der Bedeutung erforschenden Wissenschaft in einer absoluten Gegenstandsdifferenz zu sehen ist oder nicht, ist einer späteren Forschung zu entscheiden vorbehalten.
LITERATUR - Felix Maria Goldner, Die Begriffe der Geltung bei Lotze, Leipzig 1918