cr-4ra-1F. MauthnerH. J. StörigK. VorländerG. Störring    
 
ANDERS PILTZ
Nominalismus und alte Logik

Gibt es beispielsweise eine objektive "Idee des Stuhls", eine frei schwebende "Stuhl-heit", ganz abgesehen davon, ob einzelne Stühle existieren?

Es ist verhältnismäßíg einfach, über die schulmeisterhafte Verstocktheit, das festgefahrene Formalisieren und die unfruchtbare Spekulation der spätmittelalterlichen Universitätsausbildung zu ironisieren. Uns fällt natürlich sofort auf, wie unkritisch sich die Scholastiker die Lehren des ARISTOTELES und das geozentrische Weltbild angeeignet hatten. Indessen entdecken wir diese Mängel mit dem Fazit vor den Augen. Ganz so selbstsicher und mit erhobenem Zeigefinger sollten wir jedoch eine vergangene Epoche nicht verurteilen, bevor wir genau wissen, ob kommende Generationen uns nicht in ähnlicher Weise kritisieren werden.

Als Informationssystem betrachtet, war die scholastische Epoche eine relativ geschlossene Welt, vor allen Dingen im Vergleich mit der Gegenwart. Es stand eine begrenzte Anzahl antiker Autoren zur Verfügung, und es gab nur wenig Aussicht, weitere Autoren oder Texte zu entdecken. Diese überlieferten Texte wurden wegen ihres wichtigen Inhalts in einer Sammlung geordnet, die alles Wissen und alle Weisheit umfaßte und die sich jeder Gebildete - zumindest in großen Zügen aneignen mußte.

Als ARISTOTELES wiederentdeckt wurde, macht die offensichtliche Vernunft seiner Logik den größten Eindruck. Die vielen Erkenntnisse, die er selbst erstmalig formuliert und im Laufe seines Lebens zu überzeugender Klarheit und Reife ausgearbeitet hatte, besaßen die Evidenz des Selbsteingesehenen. Jedermann mußte nach einiger Überlegung seine Lehren akzeptieren, denn die Richtigkeit des Gesagten ließ sich kontrollieren und war unbestreitbar. Daher lag es nahe, daß der gesamte aristotelische Weisheitsfundus als unfehlbare Quelle des Wissens betrachtet wurde.

Was die Bibel auf dem Gebiet der "Gnade" war, das war ARISTOTELES für das Gebiet der "Natur", also ungefähr die Entsprechung den wissenschaftlichen Standardwerken von heute. Man akzeptiert ihre Angaben, solange kein besonderer Anlaß vorliegt, an deren Richtigkeit zu zweifeln. Man verläßt sich auf sie, ohne zu kontrollieren, ob das Quellenverzeichnis korrekt ist.

Es mag sonderbar erscheinen, daß die formalste aller Wissenschaften, nämlich die Logik, überhaupt irgendwelche Leidenschaften hervorrufen kann. Dennoch veränderte sich das gesamte Weltbild durch die Wiederentdeckung der ARISTOTELES-Übersetzung des BOETHIUS, die zwar vereinzelt zugänglich gewesen war, jedoch erst im 11. Jahrhundert systematisch studiert wurde. Lehrer und Schüler, die sich nun in die Technik des ARISTOTELES einarbeiteten, glaubten dort ein Instrument zu finden, mit dessen Hilfe sich die gesamte Wirklichkeit ordnen ließ. Man legte ein Raster über die Welt und machte sie dadurch verständlicher. Die Sprache konnte exakt analysiert und ihrer Vieldeutigkeit beraubt werden. Man wußte, woran man sich orientieren konnte - es war wie eine Offenbarung. Die Bücher, die später "Die alte Kunst" oder "Die alte Logik" genannt wurden, machten den von BOETHIUS übersetzten Teil der aristotelischen Logik aus: "Die Kategorien" (die Arten des Seienden), also die zehn Grundtypen von sprachlicher Bewertung; "Vom Satz und Urteil", eine Übersicht über verschiedene Satztypen sowie die von dem griechischen Kommentator PORPHYRIOS verfaßte "Einleitung" zu den Kategorien.

Die "Einleitung" des PORPHYRIOS enthält eine Reihe von Begriffen, die im Hoch- und Spätmittelalter eine derart fundamentale Rolle spielten, daß es kaum eine Wissenschaft gab, in der man nicht mit eben diesen Begriffen arbeitete. Der eigentliche Anlaß zu der einschneidendsten Meinungsverschiedenheit in der mittelalterlichen Philosophie waren ein paar scheinbar völlig harmlose Zeilen ganz im Anfang der "Einleitung".
Ich möchte mich nicht darüber äußern, ob die "Gattungen" und "Arten" wirklich, d. h. dinglich oder nur in unserer Vorstellung vorhanden sind, und falls dem so ist, ob sie körperlich oder unkörperlich sind, ob sie gesondert von den Wahrnehmungen existieren oder diese voraussetzen, oder ob sie nur Hirngespinste sind. Auf diese Frage will ich hier nicht eingehen, da sie äußerst schwierig zu klären ist und eingehendere Untersuchungen erfordert.
Die Zurückhaltung des PORPHYRIOS wirkte auf spätere Philosophen wie eine Herausforderung. Alle Denker von Rang sahen sich genötigt, früher oder später zu dieser Frage Stellung zu nehmen. In den späteren Jahrhunderten des Mittelalters wurde der Grundriß ganzer Weltanschauungssysteme dadurch bestimmt, wie sich die "Architekten" zu diesem aufgeworfenen Problem stellten. Was auf den ersten Blick wie eine philosophische Geschmackssache aussah, sollte in Wirklichkeit tiefe Abgründe zeigen. Es ging um die unterschiedlichen Auffassungen von der Beschaffenheit der Wirklichkeit, wie sie aufgebaut ist und über unsere Möglichkeit, etwas darüber zu erfahren - falls dies überhaupt möglich sein sollte.

Worum handelte es sich eigentlich?

Wir wollen einmal an alle Stühle denken, die es in einem Haus gibt. Manche würden wir als Küchenstühle bezeichnen, andere als Sessel, wieder andere als Schreibtischstühle. Möglicherweise existieren dort auch Schemel, Klappstühle und andere Varianten. Für alle diese Gegenstände gilt, daß man sie als Stühle bezeichnen kann, ohne daß jemand Einspruch erhebt. Sie haben also alle irgendeine Beschaffenheit gemeinsam, so daß man ihnen ohne weiteres ein und dieselbe Bezeichnung geben kann.

Falls man so veranlagt ist, könnte es passieren, daß man diesen Gedankengang noch weiter fortsetzt: Läßt sich die Gruppe der Stühle ihrerseits mit anderen im Haus vorkommenden Gruppen von Gegenständen zusammenführen? Und könnte man für alle einen gemeinsamen Namen finden? Man braucht nicht lange nachzudenken, um festzustellen, daß alle Gegenstände mit der Bezeichnung "Betten" und mit der Bezeichnung "Tisch" mit den Stühlen zusammen unter den Oberbegriff "Möbel" eingeordnet werden können und daß sich alle bisher betrachteten, einzelnen Gegenstände als "Möbel" bezeichnen lassen.

Wer Zeit und Lust hat, kann dieses Gedankenspiel weiterführen, bis es das ganze Universum erfaßt und bis alle neu hinzugekommenen Gruppen mit netten und schmucken Etiketten versehen sind. Einmal muß jedoch dieser Prozeß aufhören, denn irgendwann erreicht man die höchste Klasse, d. h. eine Bezeichnung, die auf alles paßt, was es überhaupt gibt. Wenn man nun zum Ausgangspunkt, zu den Stühlen, zurückkehrt, mag man eine Weile darüber nachdenken, woran es liegt, daß sich eine Gruppe von Gegenständen ohne eigentliche Schwierigkeiten als "Stühle" bezeichnen läßt. Welches ist der gemeinsame Nenner für alle Stühle? Wie könnte man möglichst kurz einen Stuhl so beschreiben, daß diese Beschreibung für alle Stühle der Welt, jedoch für keine anderen Gegenstände paßt?

Untersuche ich nun alle Stühle meines Hauses, finde ich, daß man auf allen Stühlen sitzen kann, daß manche von ihnen Rückenlehnen haben und daß ein Teil davon grün, andere wieder weiß angestrichen sind. Offenbar läßt sich von allen Stühlen behaupten, daß man auf ihnen sitzen kann und daß sie mindestens drei Beine haben. Die kürzeste allgemeingültige Beschreibung eines Stuhls wäre demnach "Möbel zum Daraufsitzen". Bei einer solchen Beschreibung geht man von der nächsthöheren Klasse aus, also von "Möbel" und fügt die Bestimmung hinzu, die die Klasse der Stühle von allen anderen unter der Bezeichnung Möbel zusammengefaßten Klassen unterscheidet, nämlich die Bestimmung "zum Daraufsitzen". Dadurch sondert man die Stühle von den Betten und Tischen ab.

PORPHYRIOS interessierte sich für diese sogenannten Allgemeinbegriffe, d. h. für zusammenfassende Benennungen einzelner, gleichartiger Gegenstände (wie Stühle, Möbel ... ). Den primären Sammelbegriff für eine Klasse von einzelnen Gegenständen ('individua', also unteilbare Dinge, dieser Stuhl) nannte er species oder "Art", (z. B. die Art "Stuhl"). Mehrere Arten führte er unter dem gemeinsamen Begriff genus oder "Gattung" zusammen, (z. B. die Gattung "Möbel"). Den kennzeichnenden artbildenden Unterschied, durch den sich die eine Art von den übrigen Arten innerhalb ein und derselben Gattung unterscheidet, nannte er 'differentia specifica', (z. B. "zum Draufsitzen" ). Wahrscheinlich besitzen die meisten Arten eine Eigenschaft, die nur ihnen zueigen ist. Eine derartige Eigenschaft bezeichnete PORPHYRIOS als 'proprium', also "Eigenart", (z. B. ist es die Eigenart des Stuhls, daß er im Unterschied zum Tisch oder Bett nur von jeweils einer Person benutzt werden kann). Weiterhin können natürlich innerhalb jeder Art eine Menge von Eigenschaften vorkommen, die keineswegs notwendige Bestandteile ihres Wesens ausmachen; und jede derartige, nur "vorliegende" Eigenschaft nannte er 'accidens', d. h. ein unwesentliches Merkmal (z. B. die eventuelle grüne Farbe des Stuhls, die ja nichts mit der Definition des Begriffs Stuhl zu tun hat).

Die Auseinandersetzung wegen der Allgemeinbegriffe, der sogenannte Universalienstreit, galt also der Frage, ob Gattung und Art eine eigene, von den Individuen, den Einzeldingen, freistehende Wirklichkeit bezeichnen. Gibt es beispielsweise eine objektive "Idee des Stuhls", eine frei schwebende "Stuhl- heit", ganz abgesehen davon, ob einzelne Stühle existieren? Haben alle Stühle der Welt teil an einer gemeinsamen Natur, die schon vorhanden ist, bevor wir uns den Begriff Stuhl vorstellen? Oder ist vielleicht die Vorstellung, die wir uns in unserem Gehirn vom Stuhlbegriff machen, das Einzige, was den einen Stuhl mit dem anderen verbindet? Womöglich verhält es sich sogar so, daß sie in jeder Sprache mit einer gewissen Serie von Lauten bezeichnet werden, einem "Mundhauch" (flatus vocis)? Dies behaupteten diejenigen Gegner, welche die objektive Realität der Allgemeinbegriffe am radikalsten verneinten.

Mit echter Leidenschaft wurde der philosophische Streit zwischen den sogenannten Realisten und Nominalisten erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts ausgefochten. Aber die fünf sogenannten Prädikabilien des PORPHYRIOS nämlich 'genus', 'species', 'differentia', 'proprium' und 'accidens', machten sich schon seit den Zeiten ABELARDs allenthalben bemerkbar und tauchten nicht nur dort auf, wo man sie vermuten konnte, sondern auch in den verschiedensten und überraschendsten Zusammenhängen.

Wir haben verschiedentlich erwähnt, welche Herausforderung der aristotelische Wissenschaftsbegriff bedeutete: Eine Wissenschaft muß beweisen können, daß sich etwas aufgrund von zwangsläufigen, allgemein und ewig gültigen Ursachen gerade so verhält, wie es wirklich der Fall ist. Wie ließ sich diese Forderung nun in der Grammatik erfüllen? Bekanntlich stellt die Grammatik Regeln auf, aber wenn diese Regeln in der lebenden Sprache zur Anwendung kommen, findet man Ausnahmen über Ausnahmen - ganz zu schweigen von den irrationalen Unterschieden innerhalb verschiedener Sprachen. Im Paris des 13. Jahrhunderts versuchte man, diesem Problem abzuhelfen. Unter den Namen 'modi significandi', "die Arten des Bezeichnens", begann um das Jahr 1270 eine spezielle Sprachtheorie Gestalt anzunehmen.

Dieser neuen Sprachphilosophie lag die Annahme zugrunde, daß die faktische Wirklichkeit eine bestimmte metaphysische Struktur besitze, sozusagen gewisse "Arten des Seins" (modi essendi), und daß diese 'modi' in den 'modi significandi' der Sprache adäquate Entsprechungen hätten. Verschiedene sprachliche Ausdrücke, wie "Schmerz, schmerzt, schmerzlich, schmerzend, au!" stehen alle in Verbindung mit ein und demselben Gegenstand. So wie die aufgezählten Ausdrücke alle aus einem kleinsten bedeutungshaltigen Kern hergeleitet werden können, nämlich der Wurzel "Schmerz-", genauso muß es in der Wirklichkeitsstruktur einen entsprechenden Kern geben. Jedes der verschiedenen Worte bezeichnet diesen metaphysischen Kern und darüber hinaus noch eine weitere Bestimmung.- Das Substantiv bezeichnet die Substanz, "Schmerz", das Verbum außerdem diese Substanz in Aktion und so weiter.

Der Zusammenhang von Wirklichkeit und sprachlichem Ausdruck existiert schon in der Wurzel, und obwohl die verschiedenen Sprachen den Zusammenhang unterschiedlich verwirklichen, gibt es dennoch eine ewig gültige und unveränderliche Verbindung zwischen "Seiens-weise" und "Ausdrucks-weise".

Immer feinmaschigere Begriffe wurden erfunden, um den Prozeß zu beschreiben, der die Wirklichkeit zum Gedanken werden läßt (modi cogitandi) und den Gedanken zum Ausdruck. Diese üppige, um nicht zu sagen wuchernde Flora von Termini stärkte die Skepsis der Nominalisten gegen die metaphysische Theorie. Je verfeinerter die Erklärungsmodelle der "Modisten" waren, desto mehr schienen sie an Überzeugungskraft einzubüßen. Die von OCKHAM und seinen Nachfolgern geforderte Gedankenökonomie (OCKHAMs sogenanntes Rasiermesser. "Man soll der denkbar einfachsten Erklärung den Vorzug geben") trug zur endgültigen Abschaffung dieses Genres bei. Auch die Humanisten bekämpften die 'modi significandi' mit ätzender Schärfe: Sie behaupteten, man könne sehr wohl ein klingendes Latein sprechen, ohne auch nur die ge- ringste Ahnung von den modistischen Theorien zu haben, aber die Modisten selber hätten einen absolut barbarischen Sprachge- brauch.

Offensichtlich kommen hier zwei unversöhnliche geistige Haltungen zum Ausdruck. Die Modisten wollten mit dem ganzen ihnen zu Gebote stehenden Scharfsinn das ewige Rätsel lösen, was die Sprache eigentlich ist und wie sie sich zur bezeichneten Wirklichkeit verhält. Das Ziel der Humanisten war bescheidener und leichter zu erreichen: Sie wollten durch literarische Übungen die Persönlichkeit allseitig ausbilden. Jedenfalls schilderten sie der Nachwelt die 'modi significandi' als die abscheulichste Entartung der Scholastik.

WILHELM von OCKHAM (gest. 1349) erhielt von der Nachwelt den Beinamen  venerabilis inceptor,  was häufig als "verehrungswürdiger Neudenker" mißdeutet worden ist, obwohl dieser Titel eigentlich eine durchaus prosaische Bedeutung hatte. WILHELM promovierte nie, weil er sich mit seinen Vorgesetzten überworfen hatte. Aber seine 'inceptio' (erste Vorlesung) hatte er immerhin gehalten. Ihn als Neudenker zu bezeichnen, hätte sowieso nicht ausgereicht, denn er forderte mit rücksichtsloser Konsequenz, daß die philosophische Sprache von allem gesäubert werden müsse, was nicht unumgänglich notwendig zur Erklärung diente. Bezüglich des Individuellen knüpfte er dort an, wo SCOTUS aufgehört hatte: Er verlegte den Schwerpunkt des Interesses endgültig auf die Einzeldinge und ging darin sogar so weit, daß er den Allgemeinbegriffen jegliche objektive Wirklichkeit aberkannte.

Bis dahin hatte man allgemein akzeptiert, daß die Welt der Begriffe ein Abbild der wirklichen Welt sein müsse. Wo die Denker früherer Zeiten sich eine faktische Hierarchie vorgestellt hatten, die sich von der höchsten Gattung bis hinunter zu den Individuen streckte, mit wirklichen, vom Gedanken unabhängigen Grenzen zwischen den Stufen (Gattung, Art, artbildender Unterschied usw.), da setzte OCKHAM kurzerhand voraus, daß Gattungen und Arten verschiedene Etikettierungssysteme darstellten, mit deren Hilfe man Ordnung im Wirrwarr der Individuen schaffen konnte. Nur die Individuen besitzen Wirklichkeit, während sich Gattungen und Arten auf einen psychologischen Prozeß gründen: Wir beobachten gewisse Ähnlichkeiten unter den Individuen und bündeln sie dementsprechend. Aber außerhalb des Gehirns besitzen die Begriffe keine Wirklichkeit. Diese Lehre, die eigentlich Konzeptualismus heißen sollte, trägt den Namen Nominalismus.

OCKHAM war davon überzeugt, daß eine gewisse Gleichförmigkeit in der Natur existiert; aber er fürchtete, den Beweis schuldig bleiben zu müssen. Dagegen lehnte er kategorisch die von SCOTUS vertretene Vorstellung ab, daß es irgendwelche natürlichen Hierarchien von "gemeinsamen Naturen" gebe, die dem sprachlichen Klassifizierungssystem entsprächen. Damit verwirft er auch den Gedanken, mit Hilfe der Wirklichkeit die Sprache zu erfassen. Die Metaphysik reduzierte er zu bloßem logischen Exerzieren, zu einer Methode für die Erprobung der Wahrheitsfunktionen von Sätzen. Er kritisierte die traditionellen metaphysischen Denkgepflogenheiten wegen ihrer Naivität. Das Interesse für das Ding an sich (Gott, das Seiende, den Kausalnexus und so weiter) wurde auf eine logische Analyse von sprachlichen Sätzen über diese Dinge übertragen. Unter solchen Voraussetzungen gestaltet sich die Theologie weniger selbstverständlich und spannungsfrei als sie es für einen Mann wie THOMAS gewesen war.

Alles Existierende ist individuell, und außer dem Individuellen gibt es nichts weiter. Fragen vom Typ "Wie manifestiert sich die Essenz der Art im Individuum?" sind nach OCKHAMs Ansicht völlig unangebracht. Genauso eigensinnig weist er alle "formalen" Distinktionen von sich als überflüssige Denkkonstruktionen, die sich nicht verifizieren lassen. OCKHAMs Prüfstein: Man sollte niemals mehr Entitäten voraussetzen als nötig sind). Hatte man früher die zehn Kategorien als eine Art Balkengerüst im Gebäude der Wirklichkeit aufgefaßt, so sprach ihnen OCKHAM jegliche wirkliche Existenz ab mit Ausnahme der Kategorien Substanz und Qualität. Beispielsweise "gibt es" die Relation nur im Zusammenhang von zwei Dingen und unter der Voraussetzung, daß jemand beachtet, wie sich diese Dinge zueinander verhalten. Es liegt an den Abstraktionen der Sprache, daß wir uns dazu verleiten lassen, die Universalien, Kategorien und "Formalitäten" als etwas Wirkliches zu betrachten, etwas, das außerhalb des denkenden Gehirns existiert.

Nach OCKHAMs Tod kam die Zeit des großen Sterbens. Die Pest soll nach letzten Schätzungen bis zu einem Drittel der europäischen Bevölkerung weggerafft haben. An der Kirche und den Universitäten gingen diese Ereignisse natürlich nicht spurlos vorbei. Die Zeitspanne zwischen 1350 und dem Ende des Mittelalters ist die Epoche der "Schulen". Sie verteilen sich auf zwei Lager, die man "Realisten" beziehungsweise "Nominalisten" nennt, obschon diese Bezeichnungen zumindest teilweise irreführend sind. Immerhin wurden sie von den betreffenden Schulen selbst akzeptiert wie auch von den Personen, die, ohne es zu wissen oder zu wollen, als Gallionsfiguren dieser Schulen galten. Der Schwarze Tod, der Hundertjährige Krieg, das große Kirchenschisma und das weitverbreitete Gefühl einer herannahenden Katastrophe bildeten keinen guten Nährboden für intellektuelle oder andere Fortschritte.

Auch in diesem Fall muß man zwischen dem Propheten und seiner Schule sorgfältig unterscheiden. OCKHAM selbst hätte sich wahrscheinlich geweigert, den Konsequenzen zuzustimmen, die einige nominalistische Philosophen im 14. Jahrhundert aus seinen Lehren ziehen. Adam WOODHAM (gest. 1358) verneint sogar jede Möglichkeit, die Existenz Gottes zu beweisen, und ROBERT HOLCOT (gest. 1349) hält es für ausgeschlossen, daß wir aus unsern Sinneswahmehmungen Schlüsse über die Existenz der immateriellen Dinge ziehen können. Nach Ansicht desselben Denkers steht die Lehre von der Dreieinigkeit im Widerspruch zur aristotelischen Logik, jedoch brauche sich der Gläubige deswegen keine Sorgen zu machen, weil sich eine Logik des Glaubens vorstellen liesse, die sich sowohl über das Identitätsprinzip wie auch über den Satz vom Widerspruch hinwegsetze. JEAN de MIRECOURT (gest. ca. 1350) behauptet, der einzig denkbare, absolut wahre Satz sei: "Ich existiere". NICOLAS d' AUTRECOURT (gest. ca. 1350) ist der große radikale Skeptiker des Mittelalters. Er will nicht einmal einsehen, daß sich überhaupt irgendwelche Schlußfolgerungen mit Hilfe der Sinneswahrnehmungen herleiten lassen, ganz davon zu schweigen, daß irgendein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Phänomenen bewiesen werden könne.

Die radikaleren dieser Thesen waren offensichtlich von Anfang an zum Nichterfolg verurteilt. Sie sägten sich selbst die Äste ab. Wenn auch OCKHAM mit wichtigen Anregungen zur Skepsis gegenüber den Autoritäten beigetragen hatte, so tat dies der Stellung des ARISTOTELES dennoch kaum Abbruch. Immerhin mußte sich der Philosoph in einem Punkt besiegen lassen: Seine Behauptung, ein geworfener Gegenstand setze die Bewegung fort, weil das Medium, also die Luft oder das Wasser, die Funktion der Hand übernehme und bis zur Erschöpfung der Kraft Druck ausübe, wurde von fast allen Denkern zurückgewiesen. Einem JEAN BURIDAN (gest. ca. 1358) oder einem NICOLAS ORESME (gest. 1388) fiel es nicht schwer, das Absurde dieser Theorie zu beweisen. Sie kamen mit einer anderen Erklärung: Die Hand des Werfers pflanzt dem Gegenstand einen "Stoß" ein, einen impetus, auch impetus violentus genannt (um hervorzuheben, daß die Bewegung nicht "natürlich", sondern "erzwungen" ist), und diese Kraft wird allmählich durch den Widerstand des Mediums und durch das Gewicht des Gegenstands neutralisiert. Nur an der erzkonservativen Universität Köln und in Uppsala, dem äußersten Vorposten der akademischen Welt, weigerte man sich, von diesem Punkt der wahren aristotelischen Lehre abzuweichen.

Die Impetus-Theorie der Nominalisten hatte weitgehende Konsequenzen für das christliche Weltbild. Falls sich die Himmelskörper aufgrund einer eingepflanzten Kraft bewegten, brauchte man ja keine Direktwirkung durch einen ersten Beweger vorauszusetzen. Es war ein Verstoß gegen die aristotelisch-christliche Vorstellung, daß sich das Universum aus Liebe zu Gott in Bewegung halte. Die Scholastiker des späten Mittelalters leiteten selber keine theoretischen Schlußfolgerungen aus der ImpetusLehre ab, aber die Idee von der Liebe als der dominierenden Kraft im Weltall begann schon damals einer seelenlos mechanischen Auffassung von den himmlischen Phänomenen Platz zu machen. Und diese Auffassung sollte sich später immer mehr verbreiten.

An den Universitäten des 15. Jahrhunderts existierten die beiden "Wege" nebeneinander, und man hielt sie im großen und ganzen für gleichberechtigt. Zwar wurde der Nominalismus 1475 in Paris verboten, aber schon 1481 hob man das Verbot wieder auf.

Das logische Interesse der Nominalisten machte sich auch dadurch bemerkbar, daß sie die quaestio-Form der lectio-Form vorzogen. In dieser Hinsicht standen die Realisten der Ausdruckswelt der Autoren viel näher. Wenn auch die Nominalisten den Boden für die humanistische Ausrichtung auf das Individuelle bereitet haben, so war die anbrechende Epoche mit ihrer philologischen Ehrfurcht für überlieferte Texte dennoch dem Wesen der Realisten stärker verpflichtet.
LITERATUR - Anders Piltz, Die gelehrte Welt des Mittelalters, Köln 1982