p-4 tb-1VolkeltElsenhansHorwiczSaxingerJ. Cohn    
 
HEINRICH MAIER
Psychologie des
emotionalen Denkens

[ 3 / 3 ]

"So kam es, daß vor allem die Begehrungsvorstellungen, die nach ihrer ganzen Natur den Phantasievorstellungen gleichartig sind, auf der anderen Seite aber, sofern sie eben Teilprozesse der Begehrungsvorgänge sind, nicht als Schöpfungen eines selbständigen Vorstellungsfunktionssystems betrachtet werden können, nicht als Phantasievorstellungen erkannt und gewürdigt wurden. Und nicht bloß das. Auch die Analyse selbst wurde sehr erheblich beeinträchtigt. Der Begriff der Phantasie war ein Universalerklärungsmittel, das eine gründliche Auseinanderlegung der in den Phantasievorstellungen zusammenwirkenden Faktoren überflüssig zu machen schien."

"Wir beschreiben unsere Empfindungserlebnisse, indem wir sagen: wir sehen Licht oder Farben, wir hören einen Orgelton, wir riechen Rosenduft. Licht, Farbe, Orgelton, Rosenduft sind aber nicht die ursprünglich gegebenen, sondern die aufgefaßten Empfindungsinhalte."

"Die heutige Psychologie geht von zwei Voraussetzungen aus, welche die ganze Lehre von den Vorstellungen beherrschen. Die eine ist die Theorie, daß jede Vorstellung ihre inhaltlichen Elemente entweder der Empfindung oder Reproduktion entnimmt, die andere die Annahme, daß jedes Vorstellungselement, das nicht Empfindung ist, durch eine gewisse Vorstellung geweckt werden muß, um ins Bewußtsein treten zu können, im Besonderen, daß nur durch eine vorhandene Vorstellung eine vorhandene Vorstellung eine andere reproduziert werden kann."


Zweiter Abschnitt
Das emotionale Vorstellen

Die emotionalen Vorstellungen sind Phantasiebetätigungen und verständlich wird uns das Wesen des emotionalen Vorstellens, indem wir die psychische Natur der Phantasievorstellungen überhaupt untersuchen. Nur wird die Analyse von vornherein den Punkt ins Auge fassen müssen, an dem sich die emotionalen von den andersgearteten Phantasievorstellungen scheiden.


Erstes Kapitel
Phantasie und
Phantasievorstellungen

So spärlich die Bemühungen sind, welche die bisherige Psychologie den Phantasievorstellungen zugewandt hat, so groß ist die Verwirrung, die schon in der Fassung des Begriffs der Phantasievorstellung herrscht.

Bezeichnend hierfür ist, daß auch in der heutigen Psychologie und zwar selbst bei Psychologen wie JAMES und RIBOT (1), die Unterscheidung einer reproduktiven und einer produktiven Phantasie noch nicht verschwunden ist. Danach müßte der Name "Phantasievorstellungen" für die sämtlichen Vorstellungen, die sich von den Wahrnehmungen abheben, in Anspruch genommen werden. Allein unser Sprachgefühl weiß nichts von einer reproduktiven Phantasie, und nichts von Phantasieerzeugnissen, zu denen auch die Erinnerungsvorstellungen zu zählen wären (2). MEINONG schlägt darum für diese allgemeine Gattung die Bezeichnung "Einbildungsvorstellungen" vor und reserviert den Terminus "Phantasievorstellungen" für die Gebilde der produktiven Phantasie. Ähnlich unterscheidet HÖFLER Phantasievorstellungen in einem weiteren und engeren Sinn (3).

Aber es sind nicht bloß Fragen terminologischer Zweckmäßigkeit, um die es sich hier handelt. Hinter der Unterscheidung einer reproduktiven und einer produktiven Phantasie verbergen sich Voraussetzungen, die, auch wo sie nicht in vollem Umfang festgehalten werden, einer unbefangenen und erschöpfenden Analyse der Phantasievorstellungen hindernd in den Weg treten müssen. Mit ihr berührt sich sehr nahe eine andere Anschauung, diejenige nämlich, die in den reproduktiven Vorstellungen die ursprünglichen Phantasievorstellungen sieht. Und beide Theorien sind nicht etwa Ergebnisse psychologischer Einsicht, die als berechtigte Korrekturen der vulgären Auffassung zu würdigen wären. Sie sind vielmehr Residuen vergangener, heute überwundener Entwicklungsstadien des Phantasiebegriffs, die mit den Gesichtspunkten, von denen die heutige Analyse der Phantasievorstellungen auszugehen hat, schlechterdings nicht in Einklang gebracht werden können.

In der Tat stellen die beiden Anschauungen die zwei Hauptetappen in der neueren Geschichte des Begriffs der Phantasie und der Phantasievorstellungen dar.

Die ältere, auch kausal frühere, ist die zweite, die historisch auf ARISTOTELES zurückgeht, aber sich bis ins 18. Jahrhundert herein erhalten, ja bis zur Gegenwart nachgewirkt hat. Als typische und einflußreichste Vertreter derselben können wir auf der einen Seite CHRISTIAN WOLFF, auf der anderen DAVID HUME nennen.

Die aristotelische Psychologie hatte die phantasia als Vorstellungen gedacht, die, als Nachwirkungen von Wahrnehmungen, abwesende Objekte zum Gegenstand haben und sie auf die phantasia, d. h. das Vermögen, solche Vorstellungen zu haben, zurückgeführt. Im Anschluß hieran charakterisiert WOLFF Phantasievorstellungen als reproduzierte Vorstellungen abwesender Sinnesobjekte und dieses Reproduzieren selbst als eine Produktionstätigkeit der Einbildungskraft. Von der Einbildungskraft aber (imaginatio, facultas imaginandi) wird ausdrücklich unterschieden das Erinnerungsvermögen (memoria), d. h. das "Vermögen, reproduzierte Vorstellungen wieder zu erkennen". Nun wird allerdings der Imaginationskraft noch das Erdichtungsvermögen (facultas fingendi), oder, wie sich GOTTSCHED ausdrückt, die kombinatorische Einbildungskraft (imaginatio combinatoria), d. h. die Fähigkeit, durch Teilung und Zusammensetzung neue Vorstellungen, Vorstellungen niemals wahrgenommener Dinge hervorzubringen, zur Seite gestellt. Aber dieses Vermögen wird ausdrücklich auf die Imagination zurückgeführt: die Teilung und Zusammensetzung von Vorstellungen sind "Operationen der Imagination". Tatsächlich treten einander also Erinnerungsvermögen, d. h. Gedächtnis und Einbildungskraft gegenüber (4). Im wesentlichen dieselbe Grundanschauung, nur aus der Sprache des Rationalismus in die der Assoziationspsychologie übertragen, begegnet uns bei HUME. Auch er stellt die Vorstellungen der Erinnerung und die der Einbildungskraft (imagination, fancy) einander gegenüber. Und die Leistung der Einbildungskraft ist die Reproduktion von Vorstellungen und deren freie, nur von den Gesetzen der Ideenassoziation beherrschte Umstellung, Abänderung, Trennung und Verbdingung. Auch bei HUME ist die Phantasie eine Kraft, ein Vermögen. Zwar haben bei ihm diese Begriffe, die er skeptisch zersetzt, nicht mehr dieselbe Stellung wie bei WOLFF. Aber tatsächlich hält er die Voraussetzung doch fest. Denn die verschiedenen Funktionen, die der Einbildungskraft zugeschrieben werden, haben ihre Einheit eben nur in diesem Vermögen. (5)

Ganz von selbst bietet sich als die dem Gedächtnis und der Einbildungskraft übergeordnete Gattung wieder der alte, aristotelische Begriff eines Vermögens, Vorstellungen auch ohne Gegenwart von Objekten zu haben. Hiervon geht der kantische Phantasiebegriff aus. In demselben kommt aber zugleich zur Geltung, daß Kunst und die ästhetische Theorie seit WOLFF und GOTTSCHED zu einer anderen Einschätzung der kombinatorischen Einbildungskraft gelangt waren. Man spricht nun in vollem Ernst von einer "schöpferischen" Einbildungskraft. Und ist diese auch nicht als Fähigkeit gedacht, den sinnlichen Stoff der Vorstellungen spontan hervorzubringen, so erscheint doch als ihre spezielle Funktion das freie Walten mit dem ihr dargebotenen Material. In diesem Sinn hat KANT die produktive Einbildungskraft der reproduktiven gegenübergestellt. Zwar bemerkt er ausdrücklich, daß die produktive nicht schöpferisch ist, "nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnesvermögen nie gegeben war, hervorzubringen". Er selbst aber trägt doch auch wieder kein Bedenken, sie schöpferisch zu nennen und ihr die Fähigkeit zuzuschreiben, frei vom "Assoziationsgesetz", an das die reproduktive Einbildungskraft gebunden ist, aus dem Stoff, den ihr die wirkliche Natur gibg, eine andere Natur zu schaffen. Dem entspricht dann auch ganz die Beziehung, in welche KANT die schöpferische Einbildungskraft zum Genie gesetzt hat. Einbildungskraft im allgemeinen aber ist "ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes", und sie ist "entweder produktiv, d. h. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren . . . , oder reproduktiv ..., (ein Vermögen) der abgeleiteten, welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt." (6)

Noch energischer als KANT hat nachher, offenbar unter dem Einfluß der Romantik, JOHANNES MÜLLER, der Physiologe, der zugleich ein scharfsinniger und umsichtiger Psychologe war, den spontanen Charakter der produktiven Phantasie betont. In seiner Schrift "Über die phantastischen Gesichtserscheinungen" wendet er sich scharf gegen die empirische Psychologie, die mit ihren "kläglichen Assoziationsgesetzen" das eigenartige Leben der "produktiven schaffenden Einbildungskraft" zu bewältigen strebt. Aber schließlich stellt auch er fest, "die Elemente aller Phantasiegebilde" sind stets "aus Vorstellungen genommen, die durch Erfahrung in uns gekommen sind", und nur "die Veränderung und Kombination dieser Elemente zu neuen Produkten" ist "vollkommen frei". Als die wesentliche Leistung der produktiven Phantasie erscheint ihm darum doch außer der Kombination des früher Vorgestellten dessen Veränderung, Erweiterung und Umgestaltung, und die Art, wie er von der produktiven Einbildungskraft wieder eine reproduktive, deren wesentliche Funktion die Erinnerung ist, unterscheidet, liegt ganz auf der kantischen Linie (7).

An den wesentlichen Voraussetzungen des ersten Phantasiebegriffs hat dieser zweite doch nichts geändert. Wieder erscheint die Phantasie als ein besonderes Vorstellungsvermögen. Nur die Funktionen dieses Vermögens haben sich verschoben und geändert. Indem die schöpferische Phantasie zu ihrem Recht kam, konnte die Reproduktionstätigkeit nicht mehr im gleichen Sinn wie früher als die schlechthin primäre Funktion in den Phantasieprozessen betrachtet werden. Ihr zur Seite stellte sich die Gestaltung. Damit aber verschob sich auch das Verhältnis zu dem, was man bisher als das Erinnerungsvermögen der Einbildungskraft entgegengesetzt hatte. Als das spezifische Kennzeichen der gestaltenden Phantasietätigkeit erschien die Freiheit vom Assoziationsgesetz. So mußte vieles, was früher seinen Platz im Bereich der Imagination hatte, auf die Gegenseite verlegt werden. Und der Produktion stellte man nicht mehr die Erinnerung, sondern die reproduktive Vorstellungstätigkeit entgegen, wenn auch die Scheidung zwischen den beiden Gebieten beim schwankenden und unbestimmten Charakter dessen, was man das Assoziationsgesetz oder die Assoziationsgesetze nannte, keineswegs eine klare war. Auf der anderen Seite aber galt die Phantasie immer noch als ein Vermögen, Vorstellungen hervorzubringen. Nun hielt man die alte Voraussetzung fest, daß der Stoff der Phantasievorstellungen nur der Erfahrung entstammen kann, also auf dem Weg der Reproduktion ins Bewußtsein gelangt. Folglich mußte auch diese Reproduktionsarbeit als eine Tätigkeit des Phantasievermögens angesehen werden. Damit wurde aber zugleich das Gebiet der reproduktiven Vorstellungstätigkeit in eine andere Beleuchtung gerückt. Auch sie mußte als eine Betätigung der Einbildungskraft betrachtet werden. So kam es zur Scheidung einer produktiven und einer reproduktiven Einbildungskraft. Der übergeordnete Begriff zu beidem aber, der Begriff der Einbildungskraft im allgemeinen, deckte sich nun immerhin nicht ganz mit dem Gattungsbegriff, der sich auf dem Boden des ersten Phantasiebegriffs als das Allgemeine zu Erinnerungs- und Einbildungsvermögen ergeben hatte. Denn dort war das Vermögen, Vorstellungen ohne Gegenwart der Objekte zu haben, tatsächlich nichts anderes als das Reproduktionsvermögen. Hier aber war zugleich der Einsicht Folge gegeben, daß zur Vorstellungstätigkeit auch die Verbindung und Trennung von Vorstellungselementen gehört, und daß diese Arbeit bei der reproduktiven Tätigkeit eine "gebundene", bei der produktiven eine "freie" ist. Und in der kantischen Definition der Einbildungskraft im allgemeinen als eines "Vermögens der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes" ist neben der Reproduktionstätigkeit auch diesem Moment Rechnung getragen.

Nun hat es nicht an neueren Versuchen gefehlt, den psychologischen Phantasiebegriff so umzubilden, daß er dem vulgären Sprachgebrauch mehr entsprach, so inbesondere, daß die befremdliche Annahme einer reproduktiven Phantasie in Wegfall kam. Wenigstens machte sich in der Psychologie eine Anschauung geltend, welche der Einbildungskraft nur die Funktion zuschrieb, reproduzierte Vorstellungen umzugestalten (8). Allein dieser Fassung des Phantasiebegriffs stand immer wieder die Voraussetzung entgegen, daß die Einbildungskraft ein Vermögen der Vorstellungserzeugung ist, dem darum auch die Kraft, den Stoff der Phantasievorstellungen, das heißt aber: die reproduzierten Vorstellungen, hervorzubringen, zukommen muß. Und bemerkenswert ist, daß hieran selbst solche Psychologen festhalten, die, wie MEINONG und HÖFLER, der Phantasie auch die Kraft absoluter Neubildung von Vorstellungselementen zuerkennen: auch sie nehmen doch an, daß ein Teil der Phantasieinhalte der Reproduktion entstammen. Dann aber scheint auch die Reproduktion eine Phantasietätigkeit zu sein, und deren Gebiet scheint mindestens so weit zu reichen, wie die Reproduktion selbst. Wieder wird darum eine Einbildungskraft im allgemeinen vorausgesetzt, die sich in eine produktive und eine reproduktive scheidet. Es ist also zuletzt der Begriff der Phantasie selbst, der Begriff der Einbildungskraft als eines Vorstellungsvermögens, was zu der Annahme einer reproduktiven Phantasie den Anlaß gab und - so können wir hinzufügen - die Einseitigkeit und Unzulänglichkeit der bisherigen Analyse der Phantasievorstellungen verschuldete. Und zwar lag nicht eigentlich an der Anwendung des Vermögensbegriffs die Schuld. Selbst wenn man denselben, wie MEINONG vorschlägt, durch den modernen Begriff der Disposition ersetzen könnte, wäre wenig gebessert. Der Hauptfehler war, daß man die Phantasie als ein einheitliches, in sich objektiv zusammenhängendes und abgeschlossenes Funktionssystem betrachtete und in der Untersuchung der Phantasievorstellungen von dieser Voraussetzung ausging. Ein Anfang hierzu liegt schon in der aristotelischen Lehre von der Phantasie und Phantasievorstellung vor. Sehr deutlich aber läßt sich der verderbliche Einfluß dieses Verfahrens in der Psychologie seit WOLFF verfolgen. Ist die Reproduktion neben der Vorstellungsverbindung und -trennung eine unumgänglich notwendige Teilfunktion der Phantasieprozesse, so war es, in allen Fällen, in denen die Phantasie als ein in sich einheitliches und geschlossenes Funktionssystem galt, zuletzt nicht zu umgehen, jene in allen ihren Erscheinungsformen als Betätigung der letzteren zu betrachten und so auch die Erinnerung in deren Gebiet einzubeziehen. Für die psychologische Analyse der Phantasievorstellungen aber bedeutete das zugleich von vornherein eine folgenschwere Einengung. Schon in der Abgrenzung des Untersuchungsmaterials war sie nicht durch die Natur der Tatsachen, d. h. der Vorstellungen, die sich als Phantasieerzeugnisse ankündigten, sondern durch den vorweg feststehenden Begriff der Phantasie geleitet. Zwar ließ sich dieser bis zu einem gewissen Grad umbilden und modifizieren. Aber diese Biegsamkeit und Dehnbarkeit hatte doch ihre Schranken. So kam es, daß vor allem die Begehrungsvorstellungen, die nach ihrer ganzen Natur den Phantasievorstellungen gleichartig sind, auf der anderen Seite aber, sofern sie eben Teilprozesse der Begehrungsvorgänge sind, nicht als Schöpfungen eines selbständigen Vorstellungsfunktionssystems betrachtet werden können, nicht als Phantasievorstellungen erkannt und gewürdigt wurden. Und nicht bloß das. Auch die Analyse selbst wurde sehr erheblich beeinträchtigt. Der Begriff der Phantasie war ein Universalerklärungsmittel, das eine gründliche Auseinanderlegung der in den Phantasievorstellungen zusammenwirkenden Faktoren überflüssig zu machen schien.

Immerhin scheinen die reproduzierten Vorstellungen nicht bloß so etwas wie Phantasievorstellungen zu sein, sondern auch auf ein besonderes Vorstellungsvermögen, ähnlich dem "Wahrnehmungsvermögen", auf ein besonderes Vorstellungssystem zurückzugehen. In der Tat ist es eine "Beobachtung" dieser Art, die, wie sie die Grundlage der ältesten Fassung des Phantasiebegriffs war, so auch der heutigen Psychologie als tatsächliche Bestätigung für die Annahme einer reproduktiven Phantasie und für ihre ganze Art, die Phantasievorstellungen aufzufassen, dient: die Reproduktion scheint eine eigenartige Vorstellungsweise, ein Vorstellen "ohne Gegenwart des Objekts", "ohne peripherische Reizung", und als solches die Grundbetätigung eines Systems von Vorstellungsfunktionen, das man als Einbildungskraft bezeichnen müßte, zu sein. Allein auch diese Erwägungen sind unhaltbar. Auch sie ruhen auf falschen Voraussetzungen.

Vergegenwärtigen wir uns jene Dämmerzustände wachen Träumens, in denen die Reproduktionstätigkeit ungestört, weder durch kognitive noch durch praktische Interessen bestimmt, ihren Weg zu gehen scheint. Bilder reihen sich an Bilder, Gestalten an Gestalten. Sie sind uns vertraut, und doch sind sie keine Erinnerungen. Sie sind, wie es scheint, Reproduktionserzeugnisse und doch andererseits wirkliche Schöpfungen bildlichen Vorstellens, wirkliche Phantasievorstellungen. Hat man sich aber einmal hiervon überzeugt, so fällt es nicht mehr schwer, einerseits die Erinnerungsvorstellungen, andererseits die Phantasievorstellungen im engeren Sinn als bloße Modifikationen jener Vorstellungen zu betrachten.

Nun ist es richtig: in den angeführten Fällen sind die Vorstellungen wirkliche Phantasievorstellungen. Aber - sie sind keine bloßen Reproduktionsgebilde. Das Vorstellungsmaterial allerdings besteht aus reproduzierten Elementen. Aber schon die Reproduktion selbst und weiterhin die Komplexion der reproduzierten Elemente ist bestimmt und geleitet von unwillkürlich wirkenden gemütlichen Interessen, die aus der augenblicklichen Gemütslage fließen; und aus den so kombinierten Elementen macht schließlich die logische Gestaltung wirkliche Vorstellungen, Phantasievorstellungen von Objekten. Wir haben also bereits typische Phantasievorstellungen im engeren, oder - sagen wir besser - im eigentlichen und ausschließlichen Sinn vor uns.

Die reproduzierten Vorstellungene sind in keinem Fall Phantasievorstellungen. Ja, sie sind an und für sich überhaupt keine psychisch selbständigen Bewußtseinsakte. Absolute Selbständigkeit kommt allerdings keinem psychischem Erlebnis zu. Jeder seelische Vorgang ist auf das Engste mit der momentanen Gesamtlag des Bewußtseins verwoben. Allein es ist ein wesentlicher Unterschied, ob auf die Bestände des jeweiligen Bewußtseinsinhalts als solche das Licht der unwillkürlichen oder willkürlichen Aufmerksamkeit fällt oder nicht: die beleuchteten, die eben hierdurch aus dem Bewußtseinshintergrund gewissermaßen hervorgezogen werden, betrachten wir als selbständige Erlebnisse. Den reproduzierten Vorstellungen nun ist auch die relative Selbständigkeit nicht zuzuschreiben. Wenn diese Tatsache meist verkannt wird, so hat dies darin seinen Grund, daß man die Analyse nicht weit genug führt, daß man Vorstellungen als reine Reproduktionsgebilde ansieht, die in Wirklichkeit bereits die Ergebnisse logischer Verarbeitung reproduzierter Elemente sind, oder, konkret gesprochen, darin, daß man da von Reproduktionsvorstellungen redet, wo bereits Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen vorliegen.

In jedem Augenblick werden durch gegenwärtige Vorstellungen eine Menge reproduzierter Elemente geweckt. Aber die meisten von diesen bringen es zu keinem eigenen psychischen Dasein. Sie treten aus dem unanalysierten Hintergrund des Bewußtseins überhaupt nicht hervor und verschmelzen ganz in die Bewußtseinstotalität. Die wenigen aber, die sich zur Geltung zu bringen vermögen, verdanken dies dem Einfluß der Aufmerksamkeit, durch die sie aus dem Bewußtseinsganzen ausgelöst werden. Auch sie jedoch werden keine selbständigen Vorstellungserlebnisse, gehen vielmehr nur als Bestandteile in solche ein.

Analoges gilt von den Empfindungen. Und gerade diese Parallele kann die Sachlage am besten beleuchten. Auch die Empfindungen sind keine selbständigen Bewußtseinsvorgänge. Psychisch wirklich sind sie entweder als Wahrnehmungen oder aber als verschmolzene Elemente der vom Gemeingefühl begleiteten Empfindungstotalität, die als solche isoliert nicht zur Geltung kommen. In jedem Moment unseres bewußten Lebens gehen von den vegetativen Organen und ebenso von den Muskeln, Sehnen und Gelenken Empfindungen aus, die, in die Aufmerksamkeitssphäre eingetreten, uns über die Vorgänge in den verschiedenen Teilen unseres Organismus unterrichten, in der Regel aber lediglich zu einem ungegliederten Ganzen verschmelzen. Und in dieses Ganze fügen sich noch eine Menge von Sinnesempfindungen ein, vor allem Hautempfindungen, aber auch Geruchs- und Geschmacks-, Gesichts- und Gehörsempfindungen. Alle diese Empfindungen scheinen "unbewußt" zu sein, und sie sind es insofern, als sie uns nicht in ihrem besonderen Bestand und Dasein zu Bewußtsein kommen. Bewußt im eigentlichen Sinn sind indessen auch sie, sofern sie Bestandteile des Bewußtseinsganzen sind, in das sie sich verschmolzen haben. Als Bewußtseinserregungen bringen sie sich in diesem Ganzen auch wirklich zur Geltung, und sie haben für mein psychisches Gesamtleben schon darum eine einschneidende Bedeutung, weil sie mit meiner jeweiligen Stimmung, meinem Lebensgefühl auf das Engste zusammenhängen (9). Anders geartet sind nun aber die durch die Aufmerksamkeit aus der Bewußtseinstotalität herausgehobenen Empfindungen, die "bemerkten", wie man sie auch nennen kann, im Gegensatz zu den "unbemerkten". Doch heißt "bemerkt" hier nicht "vorgestellt" und namentlich nicht "reflexionsmäßig vorgestellt". Aufmerksamkeit ist kein Vorstellen, sondern eine Bestimmtheit des den psychischen Erlebenissen immanenten Bewußtseins (10). Die Gradunterschiede der Aufmerksamkeit sind dann auch zunächst Gradunterschiede der Deutlichkeit dieses Bewußtseins, d. h. der den Erlebnissen eigenen Bewußtheit. Zuletzt aber begründen sie sich in Gradabstufungen des in den Erlebnissen wirksamen Interesses, des Interesses, das der Erlebende an den Erlebnissen hat, und das seinerseits in einem Begehren wurzelt. Sofern nun dieses Begehren ein willkürliches oder unwillkürliches sein kann, ist zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Die Aufmerksamkeit nun, welche die Empfindungen aus dem Bewußtseinszusammenhang aussondert, ist meist die unwillkürliche. An den Aussonderungsvorgang (11) aber knüpfen sich hier sofort weitere Akte. Jede Empfindung nämlich hat eine kognitive Natur. Und das im jeweilig auslösenden Aufmerksamkeitsakt wirdsame Interesse, das aus dem Begehren, die Empfindung zur Geltung zu bringen, fließt, ist in Wahrheit schon ein Erkenntnisinteresse, das, ob es nun durch theoretische oder durch praktische Anlässe geweckt ist, nur in der Empfindungsauffassung seine Befriedigung findet. In der Tat: jede Empfindung, auf welche die Aufmerksamkeit fällt, wird eben dadurch eine aufgefaßte Empfindung. Die Auslösung der Empfindung aus der Bewußtseinstotalität ist bereits der erste Akt der Auffassung. Aber es kann hierbei nicht sein Bewenden haben. Vollendet wird die Aussonderung, zu einem selbständigen psychischen Vorgang wird die Empfindung erst dadurch, daß diese vom empfindenden Subjekt dem Vorstellungszusammenhang, den wir Erfahrung nennen, an- oder eingefügt wird. Und das geschieht, indem der Empfindungsinhalt durch die Gleichsetzung mit dem Inhalt einer durch die Empfindung reproduzierten, dem Bewußtsein bereits vertrauten Vorstellung interpretiert, indem ferner auch der in der Empfindung liegende Hinweis auf das Dasein eines Wirklichen erfaßt wird. Diese Akte zusammen bilden den Auffassungsakt oder, wie sich später zeigen wird, das elementare Wahrnehmungsurteil, das aus der Empfindung eine Wahrnehmung macht. Der ganze Vorgang verläuft aber in der Regel unwillkürlich, und die Auffassungsakte können recht primitiver Natur sein. Jede Empfindung also, die von der Aufmerksamkeit beleuchtet wird, ist Wahrnehmung. Allerdings können wir in der Abstraktion den ersten Teil des Empfindungsvorgangs, das Auftreten der aus dem Bewußtseinszusammenhang ausgelösten Empfindung von den folgenden Stadien lostrennen. Und der Psychologe tut das in der Regel, wenn er die Empfindungen als psychische Funktionen untersucht. Aber das ist eben nur eine Abstraktion. Wirkliches Empfinden ist stets ein Empfinden von etwas. Wir beschreiben unsere Empfindungserlebnisse, indem wir sagen: wir sehen Licht oder Farben, wir hören einen Orgelton, wir riechen Rosenduft. Licht, Farbe, Orgelton, Rosenduft sind aber nicht die ursprünglich gegebenen, sondern die aufgefaßten Empfindungsinhalte. Und aufgefaßte Empfindungsinhalte sind Wahrnehmungsobjekte. Daraus folgt, daß die Empfindungserlebnisse, wenn sie, durch die Aufmerksamkeit herausgelöst, aus dem Bewußtseinszusammenhang wirklich hervortreten, bereits Wahrnehmungen sind, und daß die ursprünglich gegebenen sensitiven Bewußtseinserregungen nur als Bestandteile von Wahrnehmungen ein psychisches Dasein haben.

Nun ist die Stellung der reproduzierten Elemente einerseits zur Bewußtseinstotalität, andererseits zu den faktischen Vorstellungserlebnissen gleichgeartet. Empfindungen und reproduzierte Elemente stehen auf gleicher Stufe. Nur kann das Schicksal der "bemerkten" Reproduktionsvorstellungselemente ein mannigfaltigeres sein als das der bemerkten Empfindungen. Möglich ist zunächst, daß sich die Aufmerksamkeit primär der reproduzierenden Vorstellung zuwendet, die reproduzierte Vorstellung aber mit dieser verschmilzt und in ihr völlig aufgeht. Das ist in den Wahrnehmungsakten der Fall. Die reproduzierenden Faktoren sind hier Empfindungen. Mit diesen verschmelzen nun die durch sie reproduzierten Vorstellungen derart, daß reproduzierte und empfundene Elemente nur durch eine mühsame Analyse voneinander geschieden werden können. In anderen Fällen konzentriert sich die Aufmerkamkeit ganz auf die reproduzierte Vorstellung, auf die reproduzierten Elemente, und löst diese vom reproduzierenden Faktor los, sei es nun daß der letztere ganz zurückgedrängt wird oder aber partiell in die reproduzierten Daten eingeht und mit denselben verschmilzt. So z. B. in den Erinnerungsvorstellungen, in denen die Inhalte der reproduzierten Elemente als einst dagewesene (empfundene oder erlebte) Wirklichkeitsinhalte aufgefaßt werde. Welches im einzelnen Fall das Schicksal der reproduzierten Elemente wirklich ist, hängt durchaus von der jeweiligen Richtung des in der Aufmerksamkeitsleistung sich betätigenden Interesses. Letzteres ist aber bereits in der Reproduktionstätigkeit selbst wirksam und bestimmt darum schon den Charakter der reproduzierten Vorstellungen. Offenbar sind die reproduzierten Elemente, die in Wahrnehmungsvorstellungen eingehen, anders geartet als diejenigen, aus denen z. B. Erinnerungsvorstellungen sich entwickeln. Und dies nicht bloß deshalb, weil die Wahl zwischen verschiedenen Reproduktionsmöglichkeiten hier durch ein anderes Interesse geleitet ist als dort, sondern vor allem auch deshalb, weil diese verschiedenartigen Interessen zugleich an den tatsächlich reproduzierten Vorstellungen ganz verschiedene Seiten betonen und zur Geltung bringen.

Aus all dem geht hervor, daß die sogenannten "reproduzierten Vorstellungen" als solche nicht allein keine selbständigen psychischen Erlebnisse, daß sie vielmehr rein fiktive Durchschnittsgrößen sind, die überhaupt in keiner Weise wirklich sind. Phantasievorstellungen sind sie darum so wenig wie Vorstellungen ohne Gegenwart des Objekts oder ohne peripherische Reizung. Sie sind überhaupt keine eigentlichen Vorstellungen. Gewiß sind Empfindung und Reproduktion sehr wichtige, und, wie wir später sehen werden, die alleinigen Quellen für die Vorstellungsinhalte. Aber Empfindungen und reproduzierte Elemente sind zwar Bestandteile von Vorstellungen, Vorstellungsdaten, aber nicht selbst Vorstellungserlebnisse. Wirkliche Vorstellungen sind nur die Wahrnehmungs-, die Erinnerungs- und - die Phantasievorstellungen.

Ob bzw. in welchem Umfang die Reproduktion an den Vorgängen, die zu den Phantasievorstellungen führen, wirklich Anteil hat, kann erst die folgende Untersuchung lehren, die überhaupt festzustellen hat, aus welchen Teilprozessen sich diese Vorgänge zusammensetzen und welche Faktoren in ihnen wirksam sind. Dabei ist nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die Analyse hier auf Teilfunktionen, die den übrigen Vorstellungsprozessen gänzlich fremd wären, auf eine völlig neue Quelle von Vorstellungsdaten treffen wird. Jedenfalls aber darf sie keine Voraussetzungen dieser Art machen. Und insbesondere muß sie vom Begriff der Phantasie gänzlich absehen (12). Sie hat auszugehen von den Phantasievorstellungen, die sich tatsächlich als solche unmittelbar oder mittelbar feststellen lassen, und ihnen auf den Grund zu gehen.


Zweites Kapitel
Die Merkmale der
Phantasievorstellungen

Die vulgäre Psychologie pflegt die Phantasievorstellungen durch drei Merkmale zu charakterisieren: die Anschaulichkeit, die Neuheit und die Spontaneität.

Von diesen kann die Anschaulichkeit nicht ernsthaft in Betracht kommen. Denn einerseits ist sie eine Eigenschaft aller Vorstellungen. Wenn in vielen Fällen die Erinnerungsvorstellungen blasser, unbestimmter, unvollständiger, kurz unanschaulicher sind als die Phantasievorstellungen, so ist das ein bloßer Gradunterschied, der darin seinen Grund hat, daß die Erinnerung in den ihrem Reproduktionsmaterial anhaftenden Erinnerungszeichen eine kritische Richtschnur hat, während die Phantasie ungehindert walten kann. Indessen ist diese Verschiedenheit nicht einmal die Regel. Nicht selten sind die Erinnerungsbilder so frisch, lebendig, "ausgeführt", so anschaulich, wie nur irgendein Phantasiegebilde. In keinem Fall ist die Anschaulichkeit ein Vorzug, den die Phantasievorstellungen vor den Wahrnehmungsvorstellungen voraus hätten oder zumindest in höherem Maße als diese besitzen. Umgekehrt bedeutet Anschaulichkeit zunächst vielmehr gar nichts anderes als Ähnlichkeit mit den Wahrnehmungsbildern. Die Wahrnehmungsvorstellungen gelten der vulgären Psychologie als Objektanschauungen, und wer die Phantasievorstellungen anschaulich nennt, will ihnen eine sinnliche Sättigung zuschreiben, ähnlich derjenigen, die der Objektanschauung in der Wahrnehmung eigen ist.

Andererseits besteht der Gegensatz, auf den das Prädikat der Anschaulichkeit hindeutet, für das Phantasievorstellen gar nicht. Diese Prädizierung ist eine Nachwirkung der Psychologie, die die reproduzierten Vorstellungen als die eigentlichen und ursprünglichen Phantasievorstellungen ansah und diese ebenso wie die Empfindungen in die Sphäre des niederen, sinnlichen oder anschaulichen Erkenntnisvermögens einbezog. Den Empfindungen und Einbildungsvorstellungen wurden die unanschaulichen Verstandes- oder Vernunftbegriffe entgegengestellt, die Noumena, die Erzeugnisse des "reinen Intellekts", ob diese nun auf dem Weg der Abstraktion, der Kombination, der syllogistischen Entwicklung, der intuitiven Erfassun oder sonstwie entstanden gedacht wurden. Heute werden die Psychologen darüber einig sein, daß ein "rein" begriffliches Denken ohne anschauliche Elemente psychologisch unmöglich ist. Immerhin sind ja die aus der sinnlichen oder psychischen Erfahrung abstrahierten und ebenso die erschlossenen oder konstruierten Begriffe von den konkreten Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellungen zu unterscheiden. Aber dieser Gegensatz ist kein schroffer. Denn einmal werden aus den Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellungen die abstrakten Begriffe gewonnen, und sodann ist, wie später zu zeigen sein wird, in jeder Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellung bereits auch das begriffliche Denken an der Arbeit, derart, daß die Abstraktion durchweg an diese begrifflichen Elemente der Wahrnehmungen und Erinnerungen anknüpft. Gibt es nun für die Phantasievorstellungen keinen solchen Übergang vom Konkreten zum Abstrakten? Auch in ihnen ist die begriffliche Funktion wirksam. Auch aus ihnen lassen sich deshalb abstrakte Begriffe ableiten. Die Phantasievorstellungen stehen darum zum Unanschaulichen zumindest in keinem anderen Verhältnis als die Wahrnehmungs- und Erinnerungsvorstellungen.

Richtig ist jedoch, daß Wahrnehmung und Erinnerung primär stets konkrete Wirklichkeitsinhalte zu Objekten haben. Und man könnte nun sagen, daß auch die Phantasietätigkeit ursprünglich eine "Bildung freier konkreter Individualvorstellungen" ist (13). Letzteres trifft jedoch nicht zu. Die meisten der Operationen, welche die rationalistische Psychologie dem reinen Intellekt zugeschrieben hat, sind, soweit sie überhaupt wirkliche psychische Funktionen sind, spezifische Phantasiebetätigungen. Und besonders die kognitive Phantasie liefert zahlreiche Beispiele, wie das Phantasievorstellen sich unmittelbar auf das abstrakte, unanschauliche Allgemeine richten kann. Gibt es überhaupt, z. B. in der Mathematik, konstruierte Begriffe, so sind dieselben Erzeugnisse der Phantasie. Wenn ferner der wissenschaftliche Forscher auf dem Weg der Analogie zu einer allgemeinen Annahme kommt oder zur Erklärung einer Tatsachengruppe eine Hypothese aufstellt, eine Theorie ersinnt, so sind das Phantasietätigkeiten, die ein Allgemeines zu ihrem unmittelbaren Objekt haben. Zwar wird sich das Allgemeine stets inmitten einer Fülle von konkreten Phantasiebildern darstellen, aber die Aufmerksamkeit ist primär auf das Allgemeine gerichtet, und man kann nicht sagen, daß die konkreten Bilder logisch früher sind, als die allgemeinen Annahmen. Jeder Schluß auf einen allgemeinen Satz ist eine Phantasiebetätigung der gleichen Art. Phantasievorstellungen können wir auch diese Phantasiebegriffe - die allgemeinen Sätze, von denen wir sprachen, sind in ihrer elementaren Form Begriffe - nennen, so gewiß die Begriffe nur in Vorstellungen gedacht werden. In keiner Weise also kann Anschaulichkeit als ein auszeichnendes Merkmal der Phantasievorstellungen betrachtet werden - man müßte denn mit dem Wort Anschaulichkeit einen anderen Sinn verbinden.

In der Tat könnte man Anschaulichkeit etwa als Vorstellbarkeit definieren, und sagen: die Phantasievorstellung muß vollziehbar, ihr Objekt muß wirklich vorstellbar sein. Darauf scheint eine Definition MEINONGs hinaus zu laufen: "Anschaulich ist eine komplexe Vorstellung, sofern sie nach jeder Richtung frei von Unverträglichkeit ist". (14) Allein, soweit das Merkmal der Vorstellbarkeit auf die Phantasievorstellungen wirklich anwendbar ist, drückt es etwas Selbstverständliches aus, das wiederum von allen Vorstellungen gilt. Eine Vorstellung, die unvorstellbar ist, weil sie unverträgliche, d. h. nicht zusammen vorstellbare Vorstellungselemente verbinden will, ist gar keine Vorstellung. Aber es gibt noch eine andere Unvorstellbarkeit, diejenige nämlich, die in der "Unvollkommenheit oder Beschränktheit der menschlichen Fähigkeiten" ihren Grund hat. (15) Und diese ist für die Phantasieobjekte nicht ohne weiteres ausgeschlossen. Es gibt Begriffe, in denen ein Merkmal ausdrücklich besagt, daß die Aufgabe, die sie an das Denken stellen, nicht völlig lösbar ist. Das sind Grenzbegriffe, wie sie der Metaphysik geläufig genug sind. Ich brauche nur an Begriffe wie das Unendliche, das Unbedingte zu erinnern. Ja, alle metaphysischen Begriffe sind von dieser Art. Und sie sind, wie die Hypothesen der Naturwissenschaft, überhaupt der empirischen Forschung, Leistungen der kognitiven Phantasie. Allerdings: was in keiner Weise mehr Gegenstand des Denkens ist, ist auch nicht Objekt von Phantasievorstellungen. Die kognitive Phantasie reicht nach oben so weit wie das begriffliche Denken. Aber auch nicht weiter. Wie dem auch sei: wir werden gut tun, das Merkmal der Anschaulichkeit in jeder Form für die Phantasievorstellungen fallen zu lassen.

Es bleiben also die beiden Merkmale der Neuheit (Originalität) und Spontaneität. Und an sie wird die psychologische Analyse der Phantasievorstellungen in der Tat anknüpfen müssen.

Freilich schon wie die beiden Merkmale zu verstehen sind, ist strittig. Darüber ist man zwar im Ganzen einig, daß Neuheit oder Originalität die Phantasievorstellungen als Erzeugnisse einer produktiven Vorstellungstätigkeit bezeichnen will, verschieden bestimmt wird aber die Spontaneität und ihr Verhältnis zur Originalität. WUNDT z. B. meint, die Spontaneität bedeutet die Unwillkürlichkeit des Wirkens der Einbildungskraft. Eine Interpretation übrigens, die schon durch die Tatsache ausgeschlossen wird, daß der Vulgärpsychologie auch willkürliche Phantasievorstellungen vertraut sind. Demgegenüber identifiziert MEINONG im wesentlichen Originalität und Spontaneität. Spontaneität ist die spezifische Eigenschaft derjenigen Vorstellungstätigkeit, die neue Vorstellungsgebilde produziert. Indessen faßt er in dieser Eigenschaft zwei Merkmale zusammen, die sich deutlich voneinander abheben und in denen man leicht die beiden Attribute der vulgären Theorie, in die psychologische Sprache übersetzt, wiedererkennen kann (16). Wer von Originalität, von einem produktiven Erzeugtsein der Phantasievorstellungen spricht, will offenbar zugleich negativ sagen, daß sie nicht reproduziert sind, d. h. daß sie nicht der auf Assoziation gegründeten Reproduktion entstammen. Originalität bedeutet also nach dieser Seite "außerassoziative" Herkunft, "außerreproduktiven" Ursprung. Spontaneität dagegen deutet auf eine besondere Art und Weise des Hervortretens, des Hervorgerufen-, Veranlaßtseins. Spontaneität ist spontanes, d. h. nicht durch eine wachrufende Vorstellung veranlaßtes, kurz "außerassoziatives" Auftreten einer Vorstellung. Die beiden Bestimmungen hängen nicht notwendig zusammen. An und für sich wäre es nicht undenkbar, daß auch reproduzierte Vorstellungen außerassoziativ, d. h. ohne durch eine reproduzierende Vorstellung geweckt zu sein, ins Bewußtsein treten können. Andererseits lassen sich Fälle denken, in denen neue, im eigentlichen Sinn produzierte Vorstellungen durch veranlassende, weckende Vorstellungen ausgelöst werden. Die vulgäre Anschauung nimmt nun aber offenbar für die echten Phantasievorstellungen beide Merkmale zugleich in Anspruch. Eine Phantasievorstellung ist danach einerseits ein Erzeugnis einer produktiven Vorstellungstätigkeit; und andererseits tritt sie frei, ohne durch eine veranlassende Vorstellung, einen präsentativen Reiz hierzu bestimmt zu werden, ins Bewußtsein. (17) Auch die willkürliche Phantasietätigkeit gilt als frei und spontan in diesem Sinn: auch ihr strömen die Ideen, die Bilder, wenn auch nicht ungesucht, so doch ohne vermittelnde Vorstellungen zu.

Ist das der Sinn der vulgären Ansicht, so fragt es sich, ob sie sich psychologisch halten läßt? Einen beachtenswerten Versucht, sie zu rechtfertigen, hat MEINONG gemacht. Die nächste Frage ist, so führt er aus,
    "das Verhalten der Produktion gegenüber zwei wohl beglaubigten Vorstellungsgesetzen: dem Gesetz der inhaltlichen Abhängigkeit der Einbildungs- von der Wahrnehmungsvorstellung und dem Assoziationsgesetz."
Das eigentliche Gebiet der Vorstellungsproduktion sind die komplexen Vorstellungen, und hier gilt, daß zwar die "vorfindlichen" Komplexionen der Einbildung ganz von einseitiger Wahrnehmung abhängen, nicht aber die erzeugbaren. In der Bildung "erzeugbarer Komplexionen" ist also die Vorstellungsproduktion von der Wahrnehmung bis zu einem gewissen Grad unabhängig. Bedeutsamer aber ist, daß ich auch die Fähigkeit zugeschrieben werden muß, freim vom Assoziationsgesetz Vorstellungselemente hervorzubringen. Die Tatsachen berechtigen uns zu der Verallgemeinerung, daß der Assoziation am Zustandekommen von Einbildungsvorstellungen ein erheblicher Anteil zukommt, und den "assoziativ erregten Einbildungsvorstellungen" müssen "außerassoziativ erregte" zur Seite gestellt werden - im Gegensatz zu jenem "hyperrationalistischen" Glauben an die "Allmacht der Veranlassungen und Gründe." Die außerassoziative Vorstellungsentstehung selbst wurzelt in der Spontaneität. "Appell an die Spontaneität" aber ist "zunächst eine Berufung auf die ansich unbekannte, nur in der betreffenden psychischen Lebensäußerung sich enthüllende Natur des Subjekts". Und der eigentliche Entstehungsgrund für die außerassoziativ erregten Vorstellungen ist eine im vorstellenden Subjekt liegende "inklinatorische Disposition" [Neigung - wp]. In doppelter Weise also äußert sich die Spontaneität der Vorstellungsproduktion: sie ist schöpferische Tätigkeit einerseits in der Erzeugung der einzelnen Bestandstücke der Vorstellungen und andererseits in der Schaffung des Gebildes, in der Hervorbringung der Komplexion. Die Spontaneität in diesem Sinn nun kommt im Besonderen den Phantasievorstellungen zu. Und entsprechend den beiden Richtungen der Spontaneität unterscheidet MEINONG zwei wesentliche Betätigungen der Phantasie, eine "generative" und eine "konstruktive, die zwar auch isoliert vorkommen können, aber nur in Verbindung miteinander die eigentlichen Phantasievorstellungen ergeben (18).

Diese Ausführungen haben, wie es scheint, wenig Anklang gefunden. Die heutige Psychologie sträubt sich noch mehr als die frühere gegen die Annahme einer generatio aeqivoca [Urzeugung - wp] von Vorstellungen. Sie geht von zwei Voraussetzungen aus, welche die ganze Lehre von den Vorstellungen beherrschen. Die eine ist die Theorie, daß jede Vorstellung ihre inhaltlichen Elemente entweder der Empfindung oder Reproduktion entnimmt, die andere die Annahme, daß jedes Vorstellungselement, das nicht Empfindung ist, durch eine gewisse Vorstellung "geweckt" werden muß, um ins Bewußtsein treten zu können, im Besonderen, daß nur durch eine vorhandene Vorstellung eine vorhandene Vorstellung eine andere reproduziert werden kann. Danach wäre ebensowohl die Möglichkeit eines außerassoziativen oder, sagen wir besser, eines außerreproduktien Ursprungs wie diejenige eines außerassoziativen, nicht durch eine reproduzierte Vorstellung vermittelten Auftretens von Vorstellungselementen ausgeschlossen.

Es ist nicht ohne Wert, die Grundlagen der beiden gerade für die emotionalen Vorstellungen so folgenschweren Voraussetzungen zu prüfen (19).

Der Satz, daß jede Vorstellung ihren Stoff aus der Empfindung oder aus der Reproduktion schöpft, geht auf eine erkenntnistheoretische Annahme zurück und gilt als ursprünglich von den Erkenntnisvorstellungen. Auch für dieses Gebiet hat er sich bekanntlich nach langen Irrgängen durchgesetzt, und ist er auch heute im ganzen rezipiert, so ist es nicht allzu lange her, daß der Vernunft die Fähigkeit zugetraut wurde, Erkenntnisideen aus sich selbst spontan zu erzeugen. Nun wird der Satz insofern Bedenken erregen, als er die Reproduktion neben die Empfindung stellt, während jene doch gleichfalls auf diese zurückzuweisen scheint. Allein der alte Grundsatz "nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu [Nichts ist im Verstanden, was nicht zuerst in den Sinnen war. - wp], ist nur die Hälfte der Wahrheit. Mit Recht hat LOCKE der Sensation die Reflexion, der äußeren die innere Erfahrung zur Seite gestellt. Oder psychologisch korrekt ausgedrückt: auf Empfindungen gründen sich nur die Erkenntnisvorstellungen von physisch Wirklichem, während die Vorstellungen psychischer Tatsachen auf Reproduktionsdaten beruhen, die auf Residuen seelischer Erlebnisse zurückgehen. Die sogenannte innere Erfahrung verfügt nämlich nicht über Daten, die den Empfindungen parallel wären. Das immanente Bewußtsein, die Bewußtheit der psychischen Erlebnisse ist ja kein Vorstellen derselben. Nur die Reproduktion der Erlebnisse liefert für die psychischen Vorstellungen die Daten: an diese Daten aber knüpft sich eine Hindeutung auf die Erlebnisse, die eine Verwechslung der Reproduktion mit dem Erlebnisbewußtsein immerhin begreiflich macht und jedenfalls die reproduzierten Elemente als den Empfindungen gleichartig erscheinen läßt. Im Hinblick auf die Daten der Vorstellungen von psychischen Tatsachen sind also wirklich Empfindung und Reproduktion als Quellen der inhaltlichen Elemente der Erkennnisvorstellungen einander zu koordinieren. Und nur das läßt sich sagen, daß die Daten der Erkenntnisvorstellungen durchweg zuletzt der Erfahrung entstammen müssen. In dieser Fassung hat sich der Satz zweifellos für die Erkenntnisvorstellungen hinreichende bewährt. An das den Empfindungen und reproduzierten Erlebnisdaten innewohnende Bewußtsein der Rezeptivität, des Gegebenseins der vorgestellten Inhalte ist das gebunden, was wir das unmittelbare Objektivierungszeichen zu nennen haben werden, und dieses Merkmal hat sich auch in der Praxis des tatsächlichen Erkennens als ein im Wesentlichen sicheres Kriterium für die objektive Gültigkeit der Erkenntnisvorstellungen erwiesen. Schon darum ist es ein psychologisches Gesetz, daß alle Erkenntnisvorstellungen ihre Elemente zuletzt aus der Empfindung und den Erlebnisreproduktionen schöpfen, und eine Erkenntnisnorm, daß sie das tun müssen - wenn sie objektiv gültig sein wollen.

Wie kommt es aber, daß man ganz andersgeartete Vorstellungselemente aus derselben Quelle ableiten will, Elemente von Vorstellungen insbesondere, bei denen wir ausdrücklich das Bewußtsein haben, daß sie von uns erzeugt oder doch aus unserer Vorstellungstätigkeit, unabhängig von "gegebenen" Elementen, hervorgegangen sind? Ist das nicht am Ende nur eine Nachwirkung jener auch sonst so verhängnisvoll gewordenen Einseitigkeit, welche die Psychologie veranlaßt hat, die Lehre von den Vorstellungen fast ganz unter dem Gesichtswinkel der Erkenntnisvorstellungen zu behandeln? Wir können die Erwägungen erraten, die zu der Annahme geführt haben, daß die "Elemente der Phantasiegebilde aus Vorstellungen genommen sind, die durch Erfahrung in uns gekommen sind." In die Augen springt sofort die inhaltliche Gleichartigkeit der Phantasievorstellungen mit den Erinnerungsvorstellungen. Die letzteren aber gehen, wie schon gewisse in ihnen selbst liegende Hindeutungen zeigen, auf Empfindungen oder Erlebnisse zurück. Da liegt der Schluß nahe, daß die gleichartigen Elemente der Phantasievorstellungen schließlich aus derselben Quelle abzuleiten sind. Dazu kommt, daß sich an die Elemente zahlreicher Phantasievorstellungen ausdrücklich jenes Bekanntheitsgefühl knüpft, das unverkennbar auf ihren reproduktiven Ursprung hinweist. In anderen Fällen läßt sich ein solcher Zusammenhang zwischen Phantasie- und Erfahrungselementen zumindest leicht nachweisen. So ist in der Tat die Verallgemeinerung nicht allzu kühn, daß alle Vorstellungselemente aus der Erfahrung stammen.

Allein ist nun die entgegengesetzte Annahme, daß Vorstellungselemente neu produziert werden, undenkbar? Man kann mit der Gegenfrage antworten: ist denn die Möglichkeit der Reproduktion von Vorstellungen so sehr "denkbar"?

Rein psychologisch betrachtet, ist das Gedächtnis schlechthin ein Rätsel. Wie geht es zu, daß einmal dagewesene Vorstellungen wieder auftauchen, "nachgeschaffen" werden können? Ein gewisser psychischer Zusammenhang besteht offenkundig zwischen der reproduktiven Vorstellung und ihrem Urbild. Wie ist dieser Zusammenhang zu denken? Auf die Ratlosigkeit, in der sich die Psychologie hier befindet, wirft die Theorie ein charakteristisches Licht, daß die einstigen Vorstellungen, nachdem sie durch andere Erlebnisse aus dem Bewußtsein verdrängt waren, in einem unbewußten Zustand weiterexistiert haben und nun in der Reproduktion wieder ins Bewußtsein eintreten - eine Annahme, deren Verteidiger bekanntlich nicht bloß in den Reihen der Herbartianer gesucht werden dürfen. (20) Nun setzt man heute freilich in der Regel an die Stelle der unbewußten [heidebreck] Vorstellungen Vorstellungsdispositionen, die durch die neuen Vorstellungen gebildet werden und aus denen sich unter der Voraussetzung gewisser Reizungen reproduzierte Vorstellungen entwickeln können. In der Tat ist dieser Notbehelf nicht wohl zu entbehren. Und doch läßt sich unter den Dispositionen psychologisch nicht viel vorstellen. Sie können, streng genommen, nicht als eine Art psychischer Spannkräfte gedacht werden, die nur eines auslösenden Reizes harren würden, um in Aktualität überzutreten. Sie müßten ja dann als unbewußt psychischen Zustände betrachtet werden, und "unbewußt-psychisch" ist und bleibt ein in sich widerspruchsvoller Begriffe, so häufig auch in der neueren Psychologie noch mit ihm operiert wird. Die Bewußtheit ist ein oder vielmehr das konstitutive Merkmal des Psychischen, sie ist seine spezifische Daseinsform, ebenso wie die Räumlichkeit diejenige der visuellen und taktilen Empfindungsinhalte ist. Das Unbewußte ist in der Psychologie nur als Grenzbegriff methodisch zuulässig, als Ausdruck für empirisch festgestellte Schranken des psychologischen Begreifens, für das Vorhandensein psychologisch unausfüllbarer Lücken in einem psychischen Erklärungszusammenhang. In diesem Sinn können gewiß auch die Reproduktionsdispositionen als unbewußt psychische Zustände bezeichnet werden. Positiv aber kann die rein psychologische Erklärung, wenn sie von Vorstellungsdispositionen spricht, nur der auf eine vergangene Erfahrung gegründeten Erwartung Ausdruck geben wollen, daß unter gewissen Bedingungen gewisse "reproduzierte" Vorstellungen ins Bewußtsein eintreten werden oder zumindest eintreten können. Dispositionen sind also für die Psychologie an und für sich nur Formeln für konstante Möglichkeiten, die sich unter günstingen Bedingungen in Wirklichkeit umsetzen können. Was wir in der Regel sonst noch in die Dispositionen hineinlegen, sind bereits Anleihen, die wir bei der Physiologie nehmen. Wenn jedoch die Psychologie ihre Zuflucht zu einer physiologischen Erklärung nimmt, wenn sie also nicht etwa bloß das physische Korrelat zu einem psychischen Tatbestand sucht, sondern eine fehlende psychologische Erklärung durch eine physiologische zu ersetzen bemüht ist, so schließt das wieder die ausdrückliche Anerkennung einer Schranke der psychologischen Interpretation ein: der Übergang von Bewußtseinstatsachen zu den mit ihnen gänzlich unvergleichbaren Gehirnprozessen oder - zuständen ist in jedem Fall ein absoluter Sprung. Diesen Sprung machen wir in der Tat meist, wenn wir die Reproduktion mit Hilfe von Vorstellungsdispositionen erklären wollen: wir denken diese zuletzt als irgendwelche physiologische Angelegtheiten. Aber wenn wir so ins physiologische Gebiet übergetreten sind, sehen wir zumindest hier klar? An Hypothesen fehlt es nicht. Keine aber ist empirisch irgendwie gesichert, und keine vermag auch nur ein einigermaßen befriedigenes Bild vom anzunehmenden Tatbestand zu entwerfen. Man spricht von physiologischen Dispositionen, welche durch die mit den neu auftretenden Empfindungen verknüpften physiologischen Erregungen erzeugt sein, von Spuren, Residuen, welche von diesen in der Nervensubstanz zurückbleiben. Aber wie haben wir uns dieselben zu denken? Sind sie rein funktionelle Dispositionen, oder sind sie materielle Veränderungen? Wenn das letztere zutrifft, haben wir es mit anatomischen oder mit chemischen Änderungen zu tun? Und ferner: welches ist der "Sitz" der Spuren? Die Ganglienzellen oder die Fasern in der Großhirnrinde? Sodann: in welche Rindenpartien sind sie zu verlegen? Charakteristisch ist der Streit, ob sie in den Sinneszentren selbst zu suchen, oder ob für sie eigene Zentren anzunehmen, ob sie in die Empfindungs- oder in besondere Erinnerungszellen zu verlegen sind. Daß es reproduzierte Vorstellungen nicht bloß von den einstigen Empfindungsinhalten, sondern auch von psychischen Erlebnissen gibt, übersieht man dabei in der Regel. Den Höhepunkt erreicht die geistreiche Vermutung, daß die "Assoziationsfasern" des Großhirns das physiologisch-anatomische Korrelat zur Vorstellungsassoziation sind. In der Tat, was wir heute mit Sicherheit feststellen können, ist nicht viel mehr als der Satz, daß die Möglichkeit der Vorstellungsreproduktion in gewissen Eigenschaften der Nervensubstanz ihren Grund haben muß, daß die Vorstellungsdispositionen nach ihrer physiologischen Seite Bestimmtheiten irgendwelcher Rindenelemente sind. Nun wird gewiß unere Erkenntnis auch auf diesem Gebiet fortschreiten. Aber über mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen werden wir wohl nie hinauskommen.

So steht es mit der Denkbarkeit, d. h. mit der Erklärbarkeit der Vorstellungsreproduktion. Wäre eine etwaige Vorstellungsproduktion wesentlich weniger erklärbar und vorstellbar? Rein psychologisch ist das "Wiederauftauchen" von Vorstellungen nicht viel verständlicher, als ein neues Hervortreten. Jenes ist in demselben Maß wie dieses sozusagen ein Entstehen aus dem Nichts heraus. Andererseits läßt sich die Möglichkeit einer Neuschaffung von Vorstellungen recht wohl plausibel machen. Erkenntnisvorstellungen allerdings, so könnte man sagen, beruhen durchwegs, da ihre Objekte irgendwie gegeben sein müssen, entweder auf Empfindungen oder auf reproduzierten Vorstellungen, die unmittelbar oder mittelbar auf Empfindungen oder Bewußtseinserlebnisse zurückgehen. Immerhin liefert auch zu diesen Vorstellungen die aktive Vorstellungsarbeit des vorstellenden Subjekts einen recht erheblichen Beitrag. Das ausschließliche Werk dieser Tätigkeit aber sind diejenigen Vorstellungen, die nicht gegebene, sondern geschaffene Objekte zum Gegenstand haben. In der Tat läßt sich der Seele, dem Ich, oder wie wir sonst das vorstellende Subjekt nennen wollen, nicht von vornherein die Fähigkeit absprechen, Vorstellungsbilder, die nicht wirkliche Objekte "nachbilden", "wiedergeben" wollen und keinen Erkenntniswert beanspruchen, aus sich selbst heraus erzeugen. Auch auf physiologischer Seite stehen einer solchen Annahme keine grundsätzlichen Bedenken entgegen. Zwar gilt der Satz heute als rezipiert, daß Vorstellungen, die nicht Empfindungen oder unmittelbare Nachwirkungen von Empfindungen oder von Bewußtseinserlebnissen sind, die durch einseitige sensible Erregungen gebildet sind. Aber die Spuren sind, wie wir wissen, äußerst hypothetische Gebilde. Und wer wollte aufgrund unserer bisherigen psychologischen Einsichten es für völlig ausgeschlossen halten, daß irgendwelche Rindenelemente auch ohne solche Spuren aus einer zentralen Reizung Vorstellungen hervorbringen können? An Gründen oder doch empfehlenden Erwägungen und Analogien würde es auch für diese Hypothese nicht fehlen. So könnte man z. B. als das physiologische Korrelat des "Gegebenseins" der Empfindungen die peripherische Reizung betrachten und nun weiterhin deduzieren: wie aus den Sinneszentren aus Anlaß peripherischer Reizungen sinnliche Vorstellungen von gegebenen Objekten hervorgehen, so können sich aus anderen Rindenparteien bei zentraler Reizung Vorstellungen geschaffener Objekte entwickeln. Wer der Lehre von der spezifischen Sinnesenergie in der Fassung, in der sie die Eigentümlichkeit der Empfindungen aus Funktionen der den Sinnesnerven zugeordneten zentralen Rindenpartien herleitet, sei es ganz, sei es teilweise, zustimmt, dem wird diese Gedankenreihe nicht allzu fern liegen. Zu ähnlichen Anschauungen kann man durch die Tatsache der Halluzinationen geleitet werden, wenn man diese Erscheinungen mit einer bekannten Theorie aus zentralen Reizungen pathologischer Art in den Sinneszentren entstehen läßt - und für empirisch unmöglich wird man diese Deutung zumindest nicht halten können. Das alles sind nun freilich vage Vermutungen. Aber aus dem Stadium der Vermutung ist ja auch die physiologische Interpretation der Reproduktionen noch nicht herausgekommen. Offenbar kommt alles darauf an, ob es psychische Tatsachen gibt, die eine physiologische Deutung von der geschilderten Art fordern. Auch die bisherigen Hypothesen über die physiologischen Korrelate der Reproduktion beruhen in der Hauptsache auf Schlüssen aus psychischen Tatbeständen und nur zu einem kleinen Teil auf klinischen und pathologisch-anatomischen Beobachtungen. Und andererseits wäre für die Annahme einer produktiven Entstehung von Phantasievorstellungen auf irgendwelchen Rindenelementen eine künftige positive Widerlegung durch klinisch-pathologische Befunde oder gar durch experimentelle Untersuchungen umso weniger zu befürchten, als jene Vorstellungen sehr komplexe Funktionen sind, die eben darum jedem Lokalisationsversuch beträchtliche Schwierigkeiten entgegensetzen. Die physiologische und anatomische Forschung übt ja zudem heute in der Frage der Lokalisation psychischer Vorgänge auch insofern eine vorsichtige Zurückhaltung, als sie meist nicht mehr in einem absoluten, sondern nur noch in einem relativen Sinn zu lokalisieren sucht; wenn sie bemüht ist, für die einzelnen psychischen Funktionen in bestimmten Teilen des Großhirns die zerebralen Zentren nachzuweisen, so gelten ihr diese nicht mehr als die ausschließlichen Entstehungsherde der betreffenden Seelentätigkeiten, sondern lediglich als die am Zustandekommen derselben vorwiegend beteiligten Faktoren. Auch darum wird sie nicht leicht in die Lage kommen, gegen rein psychologische Hypothesen, die sich der Analyse aufgrund eines umfangreichen, dem gesunden und womöglich auch dem kranken Seelenleben entnommenen Materials ergeben, Einspruch zu erheben.

Gibt es nun aber wirklich Tatsachen, die die Annahme einer produktiven Vorstellungstätigkeit fordern? Die vulgäre Psychologie verweist auf die übergroße Zahl von Phantasievorstellungen, die sich der Selbstreflexion unverkennbar als Erzeugnisse eines produktiven Vorstellens ankündigen, auf die Intuitionen und Einfälle des wissenschaftlichen und künstlerischen Genies, auf die originalen Kombinationen des "geborenen" Technikers, auf die praktischen Ideale, die unserem Leben voranleuchten, auf die religiös-mythologischen Glaubensgebilde, von deren bunter Mannigfaltigkeit die Religionsgeschichte Kunde gibt, auf die phantastischen Träume, in denen die Mystiker und Theosophen aller Zeiten gelebt und nicht weniger auf die großen schöpferischen Gedanken, die in den Gang der Weltgeschichte richtunggebend eingegriffen haben. Diesen Vorstellungen sträubt sich die unbefangene Beurteilung einem rein reproduktiven Ursprung zuzuschreiben, und sie scheinen zu beweisen, daß die Phantasievorstellungen oder doch ihre inhaltlichen Elemente einer produktiven Vorstellungstätigkeit entstammen. Ist das richtig, fordern die Phantasievorstellungen wirklich eine solche Deutung, so ist die erste jener beiden Voraussetzungen der Vorstellungspsychologie, der Satz, daß alle Vorstellungen ihre inhaltlichen Elemente der Empfindung oder der Reproduktion, das heißt aber zuletzt: der Erfahrung entnehmen, falsch.

Ganz ähnlich liegen die Dinge bei der zweiten Voraussetzung. Der Satz, daß Vorstellungen, die nicht Empfindungen sind, nur durch eine auslösende Vorstellung ins Bewußtsein gerufen werden können, hat zweifellos fast den Charakter und Geltungswert eines empirischen Gesetzes. Daß für reproduzierte Vorstellungen der Eintritt ins Bewußtsein stets an das Vorhandensein reproduzierender Vorstellungen gebunden ist, ist, wie es scheint, eine induktiv erwiesene These. Jedenfalls hat sie das Verständnis des Vorstellungsablaufs ganz wesentlich erleichter. Aber auch solche Vorstellungselemente, die der nächsten Betrachtung nicht als reproduziert erscheinen und doch andererseits auch keine Empfindungen sind, scheinen, wo immer sie uns begegnen, durch vorher dagewesene Vorstellungen ausgelöst zu sein.

Indessen bedarf wieder die logische Leistung unseres Satzes einer kritischen Prüfung. Zu erklären vermag derselbe den Eintritt einer Vorstellung ins Bewußtsein in keinem Fall. Hinsichtlich der produzierten Vorstellungen - wenn es überhaupt solche gibt - wird das unmittelbar einleuchten. Aber für das spezifische Reproduktionsgesetz gilt dasselbe. Es ist verlockend, aber auch gründlich verfehlt, in diesem Gesetz ein Seitenstück zum Kausalitätsprinzip zu sehen - das Kausalprinzip in seiner Anwendung auf den Vorstellungsablauf. Aufgrund des Kausalprinzips pflegen wir Veränderungen, die wir an physischen Dingen wahrnehmen, zu erklären, indem wir sie als Betätigungen anderer Dinge betrachten. Das Verhältnis von reproduzierender und reproduzierter Vorstellung aber ist kein Kausalzusammenhang dieser Art. Ich sehe hier zunächst ab, daß es in dem ganzen weiten Reich der Vorstellungen keine zwei gibt, von denen wir sagen könnten, die eine sei die notwendige Folge der anderen, derart, daß das Auftreten der einen dasjenige der anderen notwendig nach sich zieht. Aber die reproduzierte Vorstellung kann rein psychologisch durchaus nicht als eigentliche Wirkung der reproduzierenden betrachtet werden. Auch nach der gangbaren Theorie beschränkt sich ja die Leistung des reproduzierenden Faktors auf die Aktualisierung einer Vorstellungsdisposition, deren Vorhandensein also als die Voraussetzung für die Möglichkeit der Reproduktion gilt. Damit aber treffen wir wieder auf die Stelle, wo die psychologische Erklärung überhaupt ihr Ende hat. In der Tat: für die psychologische Erklärung der Reproduktion selbst macht es keinen allzu großen Unterschied aus, ob man eine reproduzierte Vorstellung auf Veranlassung einer reproduzierenden oder ohne eine solche ins Bewußtsein treten läßt. Psychologisch unmöglich ist die letztere Annahme in keinem Fall. Kurz: die Frage ist wieder nur, ob psychische Tatsachen vorliegen, die beweisen, daß Vorstellungen, reproduzierte oder produzierte, auch ohne die Vermittlung einer auslösenden Vorstellung ins Bewußtsein treten können. Bejaht wird diese Frage zunächst von denjenigen, die an die Möglichkeit einer Vorstellungsproduktion glauben. Einfälle, Phantasiebilder, "Ideen" pflegen häufig ganz unvermittelt aufzusteigen. Und der psychologischen Analyse setzt ja das Genie auch insofern Schranken, als meist keine Veranlassungen, keine auslösenden Vorstellungsreize aufzufinden sind, durch welche die genialen Gedanken geweckt worden wären. Indessen auch die Erinnerungsbilder tauchen oft genug plötzlich, unerwartet, ohne daß man irgendwie zu sagen wüßte, wie man "auf sie gekommen" ist, auf. Immerhin liegt die Vermutung nahe, daß da, wo keine auslösenden Vorstellungen vorliegen, zumindest emotionale Faktoren, Gefühle, Stimmungen, Affekte, Begehrungen - nach ihrer emotionalen Seite - den Anlaß zum Hervortreten reproduzierter oder produzierter Vorstellungen geben werden. An die Stelle unseres Satzes müßte dann der andere gesetzt werden, daß reproduzierte oder produzierte Vorstellungen nur durch auslösende psychische Faktoren ins Bewußtsein gerufen werden können. Allein auch dagegen lassen sich wie es scheint tatsächliche Instanzen anführen: in zahlreichen Fällen von Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen können wir für deren inhaltliche Elemente keinerlei Anknüpfungspunkte im Bewußtsein ausfindig machen. Psychologisch auch die Annahme, daß reproduzierte oder produzierte Vorstellungen überhaupt ohne Vermittlung eines psychischen Faktors ins Bewußtsein eintreten können. Physiologische Bedenken bestehen ebensowenig. Der Physiologie kann ein rein physischer Reizvorgang, eine zentrale Reizung ausschließlich physiologischer Natur genügen, und nur einen Reiz dieser Art muß sie voraussetzen - als Ursache für den Gehirnprozeß, der, wie sie annehmen muß, dem Auftreten der reproduzierten oder produzierten Vorstellung zur Seite geht.

Wir sehen auch: auch die zweite Voraussetzung kann und muß fallen gelassen werden, wenn die psychischen Tatsachen, auf die man sich hierfür berufen kann, das wirklich erfordern.

So wenig also die beiden Voraussetzungen, von denen aus die Vorstellungspsychologie auch die Phantasievorstellungen zu bewältigen sucht, in ihrem Geltungswert überschätzt werden dürfen, so wenig ist doch andererseits ihre große methodische Bedeutung für die Psychologie zu verkennen. Es ist ein berechtigter Forschungsgrundsatz auch für diese, mit einer möglichst kleinen Zahl von Erklärungsprinzipien hauszuhalten. Sie wird darum die Elemente der Phantasievorstellungen, denen sie inhaltlich gleichen, herleiten, und nicht ohne Not eine neuen Vorstellungsquelle statuieren. Empfindung und Reproduktion ergänzen einander und gehören zusammen, sofern sie die Arten und Weisen sind, wie die Vorstellungselemente zuletzt aus der Erfahrung fließen. Produktive Vorstellungstätigkeit dagegen wäre eine Entstehungsart für Vorstellungselemente, die jenen beiden gänzlich ungleichartig wäre. Und für die Vorstellungspsychologie hätte eine solche Annahme offenbar schwere Nachteile. An die Stelle der einheitlichen, empirisch wohl bewährten Ableitung der Vorstellungselemente würden zwei ganz verschieden geartete Ableitungsweisen treten, zwischen denen zudem die Deutung häufig genug unsicher hin- und herschwanken würde. Schon aus methodischen Gründen wird die Psychologie also, wenn irgend möglich, an der ersten Voraussetzung festhalten und auf die Hypothese einer produktiven Vorstellungstätigkeit verzichten. Von ganz besonderem methodischem Wert aber ist die zweite Voraussetzung. Die Psychologie sucht die Methode des individuellen Seelenlebens, soweit es ihr irgendwie gelingt, in einen genetischen Zusammenhang zu bringen. Und hierzu ist der Satz, daß reproduzierte und, wenn es solche gibt, produzierte Vorstellungen nur durch vorhandene auslösende Vorstellungen ins Bewußtsein gerufen werden können, ein ganz hervorragend wertvolles Hilfsmitte. Zwar war es ein verhängnisvoller Irrtum, wenn die Assoziationspsychologie in einem durch dieses "Gesetz" hergestellten Vorstellungszusammenhang das Wesentlich und den Grund des psychischen Strukturzusammenhangs selbst erblickte. Wir werden sehen, daß die subjektive Einheit des Seelenlebens einen tiefer liegenden Grund hat, einen Grund, auf dem zuletzt der Vorstellungsablauf seinerseits beruth. Aber für die präsentative Seite des Bewußtseinskomplexest unser Satz doch kaum entbehrlich - wenn man nicht überhaupt auf die Herstellung eines psychischen Zusammenhangs und damit auf eine genetische Psychologie verzichten will. Lückenlos und vollständig freilich ist der Psychologie erreichbare Zusammenschluß in keinem Fall, und ein Kausalzusammenhang ist er, ich wiederhole das, erst recht nicht. Aber innerhalb der Grenzen, die der psychologischen Deutung nun einmal gesteckt sind, ist der Satz, der den Vorstellungsablauf regelt, von großer Tragweite. Die Psychologie wird darum die Möglichkeit eines spontanen Hervortretens von Vorstellungselementen nur dann zugegeben, wenn zwingende Gründe tatsächlicher Natur dies nahelegen.

Als deskriptische Merkmale der Phantasievorstellungen haben die Eigenschaften der Originalität und Spontaneität jedenfalls zu gelten. Man kann in der Tat die Eigenart dieser Vorstellungen nicht besser charakterisieren, als indem man sagt, sie machen den Eindruck, als seien sie produktiv erzeugte und spontan hervorgetretene Vorstellungsgebilde. Sehr zu prüfen aber ist, ob die beiden Merkmale auch in einem genetischen Sinn berechtigt sind. Die Frage betrifft unmittelbar nur die Herkunft der inhaltlichen Elemente der Phantasievorstellungen und die Art und Weise, wie diese ins Bewußtsein eintreten. Aber es ist doch von vornherein zweifelhaft, ob die "generative" und die "konstruktive" Funtion so scharf voneinander getrennt werden können, ob nicht vielleicht beide auf ein und dieselbe Betätigungsweise zurückgehen. In jedem Fall ist die erste Aufgabe der Untersuchung, den Charakter der Reproduktionsfähigkeit festzustellen. Das ist auch darum nicht überflüssig, weil in der Psychologie der Gegenwart gegen die bisherige Lehre von der Reproduktion und Assoziation sich mancherlei Widersprüche erhoben haben und recht beachtenswerte Versuche zu ihrer Umbildung gemacht worden sind. Lassen sich dann wirklich Wege aufzeigen, auf denen sich aus reproduzierten Vorstellungen Phantasievorstellungen entwickeln, Vorstellungen, die den Eindruck der Originalität und Spontaneität machen, so ist das Problem, das uns zunächst in den Weg getreten ist, gelöst.
LITERATUR: Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908
    Anmerkungen
    1) WILLIAM JAMES, The Principles of Psychology II, Seite 4. THEODULÉ RIBOT, L'îmagination créartrice, Vorwort und öfter.
    2) Vgl. FRIEDRICH JODL, Lehrbuch der Psychologie I, 1903, Seite 171, Anm.
    3) ALEXIUS MEINONG, Über Begriff und Eigenschaften der Empfindung II, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 12, Seite 479f; ferner Phantasievorstellung und Phantasie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 95, Seite 161f (vgl. aber: "Über Annahmen", Seite 286). HÖFLER, Psychologie, 1897, Seite 154f.
    4) CHRISTIAN WOLFF, Psychologia empirica, §§ 91f, 138f. GOTTSCHED, Erste Gründe der gesamten Weltweisheit, zweite Auflage, 1736, Seite 471f.
    5) DAVID HUME, Treatise on human nature, siehe besonders Bd. 1, III. 5. Abschnitt, ed. Green and Grose I, Seite 317f und 385f.
    6) KANT, Anthropologie, §§ 26, 29 A. B. 32 A., Kritik der Urteilskraft §§ 49 und 48. Gelegentlich nennt KANT auch die schöpferische Einbildungskraft Phantasie (Anthropologie, § 32 A).
    7) JOHANNES MÜLLER, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen, 1826, Seite 95f, Handbuch der Physiologie des Menschen, 2. Bd. 1840, Seite 534. - Vgl. z. B. die Ausführungen des Hegelianers ROSENKRANZ, Psychologie, Seite 267f, zitiert bei HORWICZ, Psychologische Analysen I, Seite 269f.
    8) So z. B. VOLKMANN, Grundriß der Psychologie, 1856, (ich zitiere hier nach der ersten Auflage), Seite 240.
    9) Sie können auch als Bestandteil z. B. in Erinnerungsvorstellungen oder in Phantasievorstellungen eingehen. Dann aber verlieren sie ihren spezifischen Empfindungscharakter.
    10) Unbewußt und unbemerkt sind nach dem Obigen nicht identisch - gegen LIPPS, "Der Begriff des Unbewußten in der Psychologie", 1896, ferner "Leitfaden der Psychologie", erste Auflage 1903, Seite 38. In der zweiten Auflage, Seite 64, unterscheidet LIPPS "unbewußt" und "unbemerkt" scharf voneinander. Unbemerkt sind danach die Inhalte, deren Dasein im Bewußtsein nicht zum Gegenstand einer rückschauenden Betrachtung und "inneren Wahrnehmung" geworden sind. Demgegenüber konstatiere ich, daß oben im Text "unbemerkt" lediglich = "nicht in die Aufmerksamkeitssphäre eingetreten" ist, gestehe aber zu, daß dieser Ausdruck, der nur seiner Kürze halber gewählt ist, nicht ganz adäquat ist. Vgl. auch CORNELIUS, "Psychologie" 1897, Seite 35 und 128f.
    11) Vgl. hierzu besonders LIPPS' Theorie von der apperzeptiven Heraussonderung, "Leitfaden der Psychologie", zweite Auflage, Seite 113f, ferner: "Einheiten und Relationen", 1902, Seite 31f.
    12) Eine unnötige Pedanterie wäre es, auch das Wort "Phantasie" zu verbannen.
    13) HÖFFDING, Psychologie, Seite 248.
    14) MEINONG, Phantasievorstellung und Phantasie, a. a. O., Seite 213.
    15) MEINONG, a. a. O., Seite 212
    16) WUNDT, Völkerpsychologie, Bd. 2, 1. Teil, Seite 10 - MEINONG, a. a. O., Seite 164f, 228, 232f.
    17) Zum Terminus "Einbildungsvorstellung" vgl. weiter oben.
    18) MEINONG, die zitierte Abhandlung. Vgl. Höfler, Psychologie, Seite 198f. und ÖLZELT-NEWIN, Über Phantasievorstellungen.
    19) Vgl. LIEBMANN, Gedanken und Tatsachen, Bd. 1, Seite 307.
    20) LIPPS, Leitfaden der Psychologie, Seite 65, nennt die "unbewußten Empfindungen und Vorstellungen" einen, "obgleich notwendigen, Hilfsbegriff". Er präzisiert überhaupt den methodischen Charakter dieser Annahme richtig. Aber der Hilfsbegriff ist hier vom psychologischen Standpunkt ein Grenzbegriff (vgl. Seite 56).