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ALOIS RIEHL
Realistische Grundzüge
[Eine philosophische Abhandlung der
allgemeinen und notwendigen Erfahrungsbegriffe]

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"Wer es unternimmt aus Begriffen, gleich wissenschaftlichen Bausteinen, den Weltbegriff zu konstruieren, setzt sich der Gefahr aus, von der  Kritik der Begriffe, dieser wissenschaftlichen Baupolizei, gezwungen zu werden, sein ganzes Gebäude wieder abzutragen."

"In der Natur herrscht überall das Einzelne, Diskrete, Individuelle, das nur im Denken die Form des Allgemeinen, Zusammenhängenden, der Gattung annimmt."

Vorwort

Nur in einigen, aber vielleicht nicht unwichtigen Punkten kann diese Abhandlung der Grundbegriffe der Erfahrung den Anspruch auf Selbständigkeit erheben. Diese Punkte sind: die Bestimmung des Verhältnisses der Begriffe Sein und Kraft, die Ansicht, welche von der Materie zu geben versucht wird, und die Erklärung des Kontinuums in Raum und Zeit.

Das wirkliche Geschehen, dessen in die Vorstellung fallende Außenseite die Bewegung ist, wird im Anschluß an LEIBNIZ als innerer Vorgang aufgefaßt, und dieses Prinzip zur Erklärung der Wechselwirkung angewendet. Wäre nicht in allen Vorgängen der Natur ein innerlicher Zug nach Bewußtwerden nachweisbar, so könnte das Bewußtsein nicht erklärt werden. Die Auffassung des Zweckes ist eine Anwendung des einfachen, aber höchst folgenreichen Naturgesetzes der Summierung und Erhaltung oder (im Organischen) Fortpflanzung der Einzelwirkung.

Der Fortschritt der Philosophie scheint mir, in genauer Übereinstimmung mit TRENDELENBURG, davon meist abzuhängen; daß die Sucht nach Originalität im Systemmachen mit der sorgfältigen Aneignung und Fortbildung des schon Geleisteten vertauscht wird.

Das Sektenwesen und die Gefolgschaften in der Philosophie sind für den unbefangenen Beobachter auffallende Erscheinungen, welche wenig zur Befestigung und Erhöhung des Ansehens dieser Wissenschaft beitragen. Nicht in einem Kopf, auch nicht in dem des größten Denkers, läßt sich die ganze, absolute Wahrheit abfangen und aufsammeln!

Philosophische Theorien sind keine Dichtungen und hängen nicht wie diese vom Genie ihres Schöpfers allein ab! Der Vorwurf synkretisch zu verfahren zu sein, geilt sonach dem Verfasser als keiner. Er will vielmehr gerne selbst darauf hinweisen, daß die Gesichtspunkte seiner Schrift durch Studien an HERBART, KANT und LEIBNIZ gewonnen sind.

Schon der echt wissenschaftliche Geist, an dem die drei größten deutschen Philosophen in gleichem Maße teil hatten, zwingt zur Voraussetzung; daß sich ihre Lehren, so unvereinbar sie auch zunächst scheinen mögen, doch nicht völlig widersprechen werden.

HERBART, in dem die ganze Kraft des eleatischen Untersuchungsgeistes wiedergeboren erscheint, hat den Begriff Sein in reinster Form zum Ausdruck gebracht, indem er dessen Entstehung als absolute Position, unbefangen darstellte. KANTs Raum- und Zeitlehre, so sehr ihre Konsequenzen zum Teil schon durch den Urheber selbst, weit mehr aber durch seine Nachfolger in die Irre gerieten, enthält Keime unvergänglicher Wahrheit, die am rechten Punkt mit HERBARTs Ontologie zusammengebracht, sich fruchtbar erschließen können. LEIBNIZ' pluralistische Theorie bildet die notwendige Ergänzung zur Lehre KANTs, da die Möglichkeit des Raumes, auch nur als psychischer Auffassungsform, ohne die Voraussetzung der Mehrheit realer Wesen nicht gedacht werden könnte. Auch ist die Monadologie durch HERBARTs Reale nicht an allen Punkten übertroffen und überwunden worden. Überdies scheinen manche Gesichtspunkte des LEIBNIZ den modernen durch naturwissenschaftliche und insbesondere durch psychophysische Theorien näher gerückt zu sein.

So ergänzen sich die Gedanken der Einzelnen zu einem System des Wissens; und auch auf geistigem Gebiet erreicht die Natur durch eine Anhäufung und Erhaltung der Einzelwirkungen ihre großen Zwecke.



Einleitung
1. Philosophie und Erfahrungswissenschaft

Die Verschiedenheit der Methoden, auf denen Philosophie und Erfahrungswissenschaft zustande kommen, vielleicht auch die Übereilung in den Resultaten, zu welcher die Methode der ersteren nur zu oft verleitet hat, scheint die beiden Wissensgebiete und ihre Bearbeiter selbst verfeindet zu haben. Die Mathematik, auch eine deduktive oder reine Wissenschaft, bliebt Angesichts der Evidenz ihrer Grundsätze und der Unfehlbarkeit ihrer Schlüsse, von dieser Feindschaft verschont. Nur die Philosophie traf das Schicksal, daß sie herabzusetzen noch immer, wenn auch schon weniger, als Zeitton gilt. Doch kann die Opposition der empirischen Wissenschaften gegen sie keine dauernde sein, weil sie keine begründete ist. In dem Maße, wie die einseitige Richtung der geistigen Kräfte des Zeitalters auf den Empirismus nachzulassen beginnt, muß die Wissenschaft durch reines Denken wieder Stellung und Ansehen gewinnen.

Aber auch abgesehen von dieser Erwartung läßt sich zeigen, daß empirische und deduktive Wissenschaft sogar in dem Punkt noch im Zusammenhang stehen, wo sie am meisten sich zu unterscheiden scheinn, in ihrem Verfahren. Bloßes Wahrnehmen ist keine Induktion. Aber schon das bloße Summieren von Wahrnehmungen zu einem wissenschaftlichen Zweck enthält eine, wenn auch höchst einfache Deduktion, welche das induktive Verfahren unterstützt und in der Überlegung, was zu summieren ist, besteht. Alle Induktion bedarf des reinen Denkens, weil sie durch dasselbe den Antrieb und ihr Ziel empfängt. Das reine Denken ist der Wegweiser auch der Erfahrungswissenschaft. Kein Experiment ist ohne die Vermittlung eines deduktiven Denkaktes möglich. Denn das Experiment ist eine beabsichtigte Beobachtung. Die Absicht oder der wissenschaftliche Zweck desselben beruth auf einem Vorausdenken des Erfolges. Der Naturforscher denkt das Gesetz, indem er es sucht. Jede rein wissenschaftliche Entdeckung geschah durch ein Vorausdenken. Denn "die Vernunft sieht nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurf hervorbringt." (1). Jede Wissenschaft ist in umso höherem Grad wissenschaftlich, je mehr Mathematik in ihr enthalten ist. Mathematik aber ist reine, deduktive Wissenschaft. Überdies ist die Deduktion das Endziel auch der induktiven Methode. Denn die empirische Wissenschaft will durch methodisch fortgesetzte Verallgemeinerung aus einzelnen Beobachtungen die beständigen Gesetze darstellen, um daraus rückwärts die einzelnen Vorgänge ableiten und vorherbestimmen zu können. Die induktive Wissenschaft ist erst vollendet, sobald sie eine deduktive Anwendung gestattet. Da demnach die empirische Wissenschaft, auch ohne es eingestehen zu wollen, deduktiver Antriebe und Prinzipien nicht entbehren kann, und nach ihrem Ausbau selbst wieder zur Deduktion verhilft: so kann der Unterschied der Methoden kein Grund sein, warum sie sich gegen die Philosophie in Opposition setzt. Sind vielleicht Aufgabe und Tendenz der Philosophie Gründe dafür?

Damit die Wahrnehmung sich in wissenschaftliche Erkenntnis verwandle, muß sie erst in die Form des Gedankens umgesetzt werden. Erfahrungswissenschaft, ja Erfahrung selbst entstehen und vollenden sich nur durch Anwendung vermittelnder Grundbegriffe. Dabei werden Gültigkeit und Denkbarkeit dieser Begriffe unbesehens vorausgesetzt; ihre Anwendung geschieht sogar meist ohne deutliches Bewußtsein. Nun fordern aber die Gewißheit und Notwendigkeit, wonach alles menschliche Denken strebt, daß der "Ursprung und die Bedeutung der formellen Begriffe, welche die Erfahrung vermitteln, einer besonderen Prüfung unterzogen werden.

Diese Untersuchung darf nicht als eine überflüssige oder grüblerische angesehen werden; denn der Antrieb zu ihr würde selbst dann seine Berechtigung behalten, sollten sich auch die zu untersuchenden Begriffe hinterher als schlechthin gültig, und keiner Ergänzung oder Umformung bedürftig erweisen. Vorurteil und Voreiligkeit haben in der Wissenschaft von je am meisten geschadet. Vielleicht aber entziehen sich diese problematischen Begriffe nur um so mehr der Denkbarkeit, je schärfer man sie denken will; und verwickeln in ähnliche Ungereimtheiten, wie die Unendlichkeitsgrößen und irrationalen Zahlen in der Mathematik. In der Tat hat HERBART versucht, in den Grundbegriffen der Erfahrung Widersprüche nachzuweisen.

Sollten freilich diese Widersprüche, wie HERBART will, ursprüngliche, unvermeidliche und förmliche im strengen Sinn des Wortes sein, so müßte die natürliche Logik selbst mit der unheilbaren Krankheit behaftet sein, Unlogisches zu erzeugen. Soviel darf aber zugegeben werden, daß die funktionellen Begriffe, diese Organe des Denkens, in der Form, in welcher sie gewöhnlich ausgebildet werden, zu Widersprüchen führen, und daher einer Erläuterung und Ergänzung bedürfen. Zu ihnen zählen gerade die landläufigsten, von denen in populären Schriften die meiste Anwendung geschieht als: Stoff, Kraft, Ursache, Veränderung, Bewegung.

Wer diese Begriffe als selbstverständlich betrachtet, und es unternimmt aus ihnen, gleich wissenschaftlichen Bausteinen, den Weltbegriff zu konstruieren, verfährt zum mindesten voreilig, und setzt sich der Gefahr aus, von der Kritik der Begriffe, dieser wissenschaftlichen Baupolizei, gezwungen zu werden, sein ganzes Gebäude wieder abzutragen.

Da jene Begriffe die allgemeinsten und gleichsam grundlegenden sind, kraft welcher überall zusammenhängende Erfahrung und wissenschaftliche Erkenntnis hervorgebracht werden, so entsteht aus dem Antriebe zu ihrer Untersuchung die Idee einer "Fundamentalwissenschaft, deren Ziel die Denkbarkeit der Grundbegriffe der Erfahrung", und eben dadurch die "denkende Vollendung der empirischen Wissenschaft" selbst ist. Diese Wissenschaft heißt "theoretische Philosophie", und ist so alt, wie das wissenschaftliche Denken überhaupt.


Das reine Denken und die Methode der Philosophie

Aus der Anschauung entwickelt sich, und von ihr hebt sich ab - das reine Denken.

Wie im einzelnen Subjekt, so hat das Denken auch in der menschlichen Gattung seine Entwicklungsgeschichte. Es entsteht zufolge innern Geschehens durch einen Prozeß, den man mit zutreffender Analogie "psychischen Mechanismus" genannt hat. Denn unwillkürlich und unaufhaltsam, wie aus mechanischen Kräftebeziehungen sich höhere Formen des Geschehens bilden, so entstehen aus Anschauungen durch gegenseitige Verknüpfung und Verschmelzung Begriffe.

Auf dieser höheren Stufe der geistigen Entwicklung angelangt, setzt der psychische Prozeß sein Werk fort, und wie zuvor Anschauungen, so werden jetzt "Begriffe" in wirkende Verbindung gesetzt. Von Stufe zu Stufe steigert sich der durch alle diese Vorgänge durchgreifende Prozeß des Vorstellens. Das Denken, in seinem Ursprung noch mit dem Anschauen verwachsen, löst sich von dem Boden seiner Entstehung ab, und gewinnt die Macht eigener Wirksamkeit.

Wie die höheren Stufen der äußeren Naturvorgänge zwar nicht aus dem Zusammenhang mit den niederen und gleichsam überwundenen treten (so daß z.B. elektrische, chemische und optische Erscheinungen immer auch zugleich mechanische Formen zeigen), dabei aber doch ihre eigene Gesetzmäßigkeit und besondere Erscheinungsform gewinnen: so hat das Denken einen durchgreifenden Zusammenhang mit den primitiven Formen des Vorstellens bewahrt, aber auch sein eigenes Gesetz und eine freiere Form des Wirkens erlangt. Mit eigener Leuchtkraft durchdringt es seinen Weg, den es von der Anschauung aus zurückgelegt hat. Begriffe treten mit Begriffen zu erweiternden, synthetischen Urteilen zusammen, wie Dinge mit Dingen zu neuen Komplexionen sich verbinden.

So wird das Denken, das ja selbst ein natürlicher (wenngleich der höchste natürliche) Prozeß ist, zum Abbild des natürlichen Geschehens überhaupt; und es entsteht die Möglichkeit, das Wirkliche in Begriffen nachzubilden. Diese Selbstständigkeit und freie Wirksamkeit des reinen Denkens befähigt es auch solche Beziehungen der Dinge zu erkennen, die nicht in die Erscheinung treten.

Philosophie, als allgemeine Begriffswissenschaft, ist das höchste Erzeugnis des reinen Denkens. In seinen Formen ihren Weg und ihr Gesetz findend, soll die Philosophie das empirische Denken ergänzen, und zu durchgängiger Übereinstimmung bringen. Doch nähert sich diese "erste Wissenschaft", wie jede andere, nur durch zeitliche Entwicklung der Lösung ihrer Aufgabe. Die Geschichte der Philosohie ist keine Instanz gegen das Recht ihres Bestehens; obschon die Bewegung im reinen Äther notwendig schwankender sein muß, als in irdischer Luft und auf starrem Grunde.

Aus einzelnen Anschauungen hervorgegangen, können Begriffe, die nur einzelne, oder abgerissene Seiten der empirischen Wirklichkeit bezeichnen, in ihrer ursprünglichen Form denkbar und gültig erscheinen. An anderen Begriffen aber gemessen, und mit ihnen in notwendige Verbindung tretend, muß ihr anfänglicher Inhalt eine Veränderung erfahren. Begriffe äußern auf Begriffe einen gegenseitigen Einfluß. Doch darf diese Beziehung keine zufällige sein, sondern muß durch die Natur des Gedachten selbst herbeigeführt werden.

In der wirkenden Beziehung der Begriffe liegt die Macht und der Fortschritt des reinen Denkens. So ist z.B. die Beziehung der Begriffe: Sein und Veränderung, eine von der Natur der Dinge selbst gestellte Aufgabe, welche seit HERAKLIT und den Eleaten ein Grundproblem der Philosophie bildet. Für sich und losgebunden sind beide Begriffe in der ursprünglichen Form ihrer Ausbildung denkbar. Wie aber läßt sich die Veränderung mit dem Sein zusammendenken? In notwendige Verbindung gebracht, können die beiden Begriffe nicht mehr so, wie sie anfänglich konzipiert wurden, festgehalten werden. Der schlechthin prädikatlose, einfache Begriff Sein übt seine Funktion auf den Begriff der Veränderung aus. Am Sein gemessen, muß die Veränderung im Denken umgestaltet werden.

So erweist sich die Beziehung der Begriffe wirkend, und unser Denken erweiternd. Ihre Frucht ist die Ergänzung der Begriffe, und deren Verknüpfung zur Einheit des Systems des Wissens. Dieses System des Wissens ist die Philosophie, und ihre Methode ist das beziehende Denken.


Das Grundproblem der Philosophie

Die Bearbeitung der allgemeinen Erfahrungsbegriffe, die sich als die nächste Aufgabe der Philosophie zeigt, hat den einzigen Zweck, das Reale durch seine sinnliche Erscheinung und Verhüllung hindurch denkend zu erreichen und in abstrakter Form darzustellen.

Das Wissen um das Reale ist die Absicht der Forschung überhaupt, und auch die Philosophie sucht im Realismus ihren Abschluß zu gewinnen. Ausgehend von der empirischen Auffassung der Dinge, die ihr nicht genügen kann; hindurchgehend durch skeptische und idealistische Annahmen, von denen sie mehr angetrieben, als befriedigt wird: sucht die Philosophie zu einem realistisch ausgebildeten Weltbegriff zu gelangen. Wie weit dieselbe auch von diesem Ziel noch entfernt sein mag, ihren Durchgang durch den Idealismus scheint sie wenigsten hinter sich zu haben.

Die dauernde Welt der realen Dinge ließ sich nicht im Fokus des hinfälligen Ich sammeln, und konnte weder aus dessen Bewußtseinsformen, noch aus seinem blinden Willen erklärt werden. Zu deutlich zeigte sich jene enge Ich selber als Produkt realer, innerer und äußerer Voraussetzungen; um sich auf die Dauer in die Rolle des Weltproduzenten, oder auch nur in die bescheidenere eines Weltformers zu schicken.

Vom "ersten Augenöffnen eines Insektes" läßt sich wohl das dumpfe Bewußtwerden einer Welt in ihm herleiten; nimmer aber, wie SCHOPENHAUER wollte, die ganze Reihe der bis dahin unausgesetzten Veränderungen, das Dasein dieser ganzen Welt wirklicher Vorgänge. Die wirkenden Gestalten der Dinge können nicht ohne Rest in bloße Vorstellungen aufgelöst werden; und wenig mehr als eine Metapher war in jener kühnen Willenslehre enthalten, die sich für das Endziel menschlicher Weisheit ausgab. Die hochgehende Flut welterzeugender und weltverneinender Theorien hat sich verlaufen. An die Philosophie ergeht die nicht so hoch tönende, aber schwieriger zu erfüllende Forderung: das Reale, von dem die übrigen Wissenschaften zerstreute Glieder sammeln, denkend zu erfassen.

Seit KANT den Dogmatismus zerbrach, ist die Frage nach der Realität der Außenwelt das wichtigste, ja das eigentliche Grundproblem der Philosophie. Zwar ist der Empirismus mit der Entscheidung dieser Frage schnell zur Hand. Ohne Untersuchung der Grundbegriffe der Erfahrung, dieser Auffassungsnormen des Wirklichen, weist er auf die Dinge hin, die gerade so sind, wie sie eben sind.

Aber zwischen jener Frage, und dieser eilfertigen, naiv gläubigen Entscheidung liegt der Kritizismus, dessen Entdeckung wohl berichtigt und ergänzt, doch nicht beseitigt, oder umgangen werden können. Doch sind in der kritischen Philosophie mehr realistische Elemente verborgen, als ihre nächste Konsequenz wohl vermuten ließe. Die empirische Wissenschaft sucht die Verhältnisse der Dinge aus der Gesetzmäßigkeit ihrer Erscheinungen immer eingehender zu erkennen: der Realismus will das Erscheinende selbst in Begriffen darstellen, und so die Erfahrung denkend vollenden. Mit dem Gegebenen in genauem Zusammenhange bleibend, ist der Realismus die mit der Erfahrungswissenschaft fortschreitende Philosophie.

Die Beantwortung der Frage: "Wie das Reale zu denken sei?" ist nicht bloß von höchster, theoretischer Bedeutung, als Befriedigung des Wissenstriebes, sondern überdies von den wichtigsten praktischen Folgen. Wenn die Vernunft, das an sich Seiende in die Form des Gedankens zu bringen vermag, wenn demnach das System der Begriffe und Bewußtseinsmodifikationen dem Systeme der Dinge und ihrer Veränderungen in geregelter Weise entspricht, so verliert die dualistische Hypothese von einer der ganzen Art nach verschiedenen Ordnung der Dinge, von einer zweiten Welt außer der Welt, jede Scheinbarkeit. Diese Hypothese aber ist es, welche den Zug des Denkens aufhält, und den Antrieb zum sittlichen Handeln hemmt.

Die realistische Philosophie überwindet also den vagen Traumidealismus und seinen Verbündeten, den schlaffen Quietismus, zugleich.


Sein, Kraft und Materie

§ 1. Dasein schreibt der Mensch den Gegenständen seiner Wahrnehmung zu, an welche er seine Empfindungen heftet. In der unwillkürlichen, durch psychischen Mechanismus vollzogenen Entäußerung der Sinnestätigkeit in ihrer Zurückbeziehung zum Quellpunkt des Reizes hin, ist der erste Akt der Anerkennung des unabhängig vom wahrnehmenden Subjekte vorhandenen enthalten, das im Verhältnis zu ihm Objekt ist. Die Projektion der Empfindung nach außen ist der Ansatz zur Entwicklung des Seinsbegriffes.

Die Empfindung ist gegeben. Die Bestimmtheit, in der sie gegeben ist, hängt nicht am Belieben des empfindenden Subjektes; sie kein freies Spiel seiner Sinnesorgane. Der Zwang ihres Ein- und Austrittes kündet die objektve Einwirkung an, und erzeugt zuerst das Gefühl des Unterschiedes des eigenen vom fremden Dasein. So wird die Empfindung der erste Anlaß, den Begriff Sein auszubilden. Ihre ganze Relativität verwehrt aber, bei ihr stehen zu bleiben. Denn die Empfindung ist von der Form und Einrichtung des Sinnesorganes, der spezifischen Energie des Sinnesnerven und dessen Beziehung zu einem psychischen Träger, und von der Form des äußern Impulses selbst abhängig.

Sie wird in gleichem Maße durch Einwirkung von außen und Gegenwirkung von subjektiver Seite her bestimmt, und bildet gleichsam die Grenze des Objektiven und Subjektiven, durch deren Zusammentreffen sie zustande kommt. Die Frage nach dem Sein der Empfindung spaltet sich somit nach zwei Seiten, und nach beiden hin beginnt der Begriff Sein "zu wandern". Das Objektive an der Empfindung kann als bestimmte Bewegungsform gedacht werden, und nach dieser Seite ergeht die Frage nach dem: was bewegt, und nach dem: was bewegt wird.

Das Subjektive der Empfindung ist die Perzeption eines Reizzustandes; daher wird hier nach dem Sein des perzipierenden Subjekts gefragt. Doch kann die doppelte Reihe dieser Fragen keine unendliche sein; denn die Erfahrung ist kein leeres Traumgebilde. Wenn wir daher eine unaufhebbare Grundlage derselben voraussetzen, so liegt dies nicht an der Ermüdung unserer Vorstellungskraft. Der Begriff Sein muß irgendwo einen festen Halt gewinnen; sonst könnte er nicht einmal im Denken erzeugt werden.

Wie jeder Begriff kann auch dieser abstrakteste aller nur in seiner Beziehung zum vorstellenden Subjekte dargestellt werden. Für dasselbe bedeutet er die Anerkennung eines Absoluten, unabhängig Vorhandenen, Freien, für sich Bestehenden und Beständigen. Sein ist die Voraussetzung eines Ersten und Ursprünglichen, rein Tatsächlichen, nicht aus Gründen Ableitbaren, nicht Aufzuhebenden; mithin die unbedingte Verzichtleistung des weitern Aufhebens.

Dieser Begriff spricht daher die Erkenntnistätigkeit aus, durch welch über die Vorstellung zur Existenz der Sache hinausgegangen wird. Die Überzeugung, daß beides nicht zusammenfalle, gibt ihm seine objektive Bedeutung. Aus seinem Umfange ist zunächst alles Relative und Negative schlechthin ausgeschlossen. Daß Relatives nicht an sich sei, versteht sich von selbst; es können wohl die Glieder der Relation einzeln genommen absolut gesetzt sein, ihre gegenseitige Beziehung ist stets nur mitgesetzt. Dieser analytische Satz erleidet eine wichtige Anwendung auf den Kraftbegriff, welcher seinem Wesen nach relativ ist. Auch das Negative ist nicht wirklich, sondern bloß gedacht. Entgegengesetzte Bewegungsrichtungen sind beide positiv; absolut leerer Raum existiert nicht.

Dasjenige, dessen Qualität einer Zergliederung in Bedingungen, oder elementare Beziehungen fähig ist (wie die Empfindung), widerspricht der Position als an sich Seiendes. Das Seiende an sich ist ein einfach Beschaffenes: die reale Einheit. Die Einfachheit des Seienden bedeutet nichts anderes, als seine absolute Einheit, das reine Für sich Sein - und schließt eine Mehrheit von Bestimmungen des einigen Wesens in seinen Verhältnissen zu andern nicht aus.

Da jeder Größenbegriff eine Relation enthält, und erst aus Vergleichung und Zusammenfassung sich ergibt, so hat das Seiende für sich betrachtet keine Größe. Es wäre widersinnig etwa dem Menschen mehr Sein an sich zuzuschreiben, als dem Sauerstoffatom. Der Begriff Sein erweist sich überall, wo er anwendbar ist, identisch, und gestattet keine Spaltung, noch Vermehrung oder Verminderung; er bezieht sich nur auf Absolutes, Positives und Einfaches.

Doch fehlt viel daran, daß dieser Begriff in so strenger Reinheit, wie er sich im Fortschritt des Denkens zu dessen abstraktester Stufe ausbildet und befestigt, auch schon ursrünglich auf den Anlaß der Erfahrung hin sich entwickle, und überall in der denkenden Betrachtung derselben festgehalten werde. Gewöhnlich sprach man auch dem Werden ein Sein zu; ohne den Widerspruch, der darin liegt, gewahr zu werden. Ja, der Begriff Sein verwandelt sich zu einem bloßen Bindegliede von Wahrnehmungen und Gedanken, in welcher Bedeutung er die logische Kopula darstellt.

Die Erscheinung des Werdens und alle Formen des Wirkens sind an den Gegensatz und die Übereinstimmung der Qualitäten der an sich seienden Wesen gebunden. Daher kann wohl im populären, nicht aber im metaphysischen Verstande vom Sein des Werdens und Wirkens geredet werden.

In der Erfahrung, d.i. der erscheinenden Wirklichkeit, kann das an sich Seiende nicht aufgezeigt werden, um dadurch den Begriff Sein gleichsam zu illustrieren; es wird vielmehr dem Wirkenden und Werdenden, das allein Gegenstand der Erfahrung ist, notwendig vorausgesetzt. Diese Voraussetzung muß sich streng nach dem Gegebenen richten, da sie zu dessen Erklärung geschieht. Die Vielheit der gegebenen Erscheinungen nötigt demnach, auch die Voraussetzung eines an sich Seienden zu wiederholen.

Selbst jene idealistischen Systeme, welche die Erfahrungswirklichkeit dem Traume gleichsetzen, und den Dingen ein Sein nur in der Vorstellung zuerkennen, können sich nicht der Nötigung entziehen: wenigsten die Träumenden ihres Traumes, die Urheber ihrer Welt als bloßer Vorstellung mehrfach zu setzen. Denn ihr Gegebenes ist die Mehrheit vorstellender Wesen, und nicht ein erschlichenes Subjekt an sich. Soll, wie die Erfahrung will, nicht eine Vielheit bloß der Zahl, sondern muß eine solche auch dem Wesen nach sein. Denn die Erfahrung zeigt nicht bloße Wiederholungen gleichartiger, sondern eine Mannigfaltigkeit verschiedener Dinge.

Zu deren denkender Erklärung ist somit eine Mehrheit unter sich verschiedener, und in diesem Sinne entgegengesetzter Wesen vorauszusetzen, welche der Erscheinungswirklichkeit als ihre konstitutiven Elemente zugrunde liegen. Als oberster Grundbegriff der Erfahrung erweist der Begriff Sein seine logische Macht im beziehenden Denken durch die Umgestaltung und Ergänzung der übrigen Grundbegriffe. Als Denkform ausgesprochen ist er der Satz der Identität.

§ 1. Am Sein gemessen verliert der Kraftbegriff die Ursprünglichkeit. Das Sein an sich wird nicht den Kräften, sondern den krafthabenden Subjekten, den Trägern und Aussendern der Kräfte zuerkannt. Die Empfindung des Widerstandes bei äußerer Einwirkung, und die der Anstrengung in der Gegenwirkung nach außen geben die Veranlassung zur Ausbildung des Kraftbegriffes.

Die Vorstellung: Kraft und Arbeit oder Leistung, Arbeit und Anstrengung verschmelzen; und selbst das Verhältnis des Grundes und der Folge schwankt zwischen ihnen, so daß bald die Kraft als Wirkung der Anstrengung, bald die Anstrengung als Folge der Kraft angesehen wird.

In dieser Form enthält der Kraftbegriff noch eine psychologische Beimischung von seinem Ursprung und hat zum Teil bloß metaphorische Bedeutung, welche er ablegen muß, um in logischer Reinheit zu erscheinen.

Solange in die mechanischen Vorgänge die Empfindung einer Anstrengung hineinverlegt wird, oder diese als Leistung und Arbeit im eigentlichen Sinne des Wortes gelten, ist von klarer Auffassung nicht die Rede. Ebensowenig hieße es die Natur erklären, wollte man den auf Vorstellungskraft allein beruhenden Willen zuerst von dieser gewaltsam isolieren, und sodann überall in die natürlichen Vorgänge und Intensitäten hineindenken, oder gar als absoluten Willen hinter dieselben versetzen.

Von Vorstellungskraft und Wille darf überhaupt nicht im Sinne von fertigen, für sich bestehenden Mächten, oder Wesenheiten geredet werden, denn es sind Verallgemeinerungen psychischer Verhältnisse, aber keine Kräfte. Vielmehr hat jede Sensation und Vorstellung ihre eigene Kraft, d.i. ihren besonderen Grad der Wirksamkeit, und die Willensakte sind als einzelne Erscheinungen des inneren Geschehens an die Form des Zusammenwirkens der Vorstellungen gebunden.

Die Wirkung einer Naturkraft erscheint gewöhnlich als Veränderung des räumlichen Verhältnisses der Dinge in kürzerer oder längerer Zeit. Bewegung ist die häufigste Erscheinungsform der Kraft. Durch Verallgemeinerung wird die Tätigkeit der Kräft überhaupt als Bewegung erzeugend gedacht, ja Bewegung und Kraft werden sogar gleichgesetzt. Demnach müßte das Wesen jeder Kraft bloß aus der Form ihrer Erscheinung bestehen. Von den psychischen Kräften kann nur in sehr kühner Umschreibung als einer Art Bewegung geredet werden. Die Gleichung: Kraft = Bewegung gilt nur, soweit Kräftewirkungen in die Sinne fallen. Die Verschiedenheit der Kräfte tritt in die Erscheinung als eine Verschiedenheit von Bewegungen.

Nun können aber diese, wie die Beobachtung lehrt, ineinander übergeführt werden, wobei eine gewisse Größe der einen Bewegungsform einer bestimmten Quantität Bewegung der anderen Form entspricht, so daß ihre Werte vertauscht, und ihre Wirkungen verwandelt werden können. Daraus wird mit Recht auf die Einheit und den Zusammenhang der Kräfte geschlossen, doch darf ihre Einheit nicht als Einzigkeit der Kraft aufgefaßt werden.
"Es kann nicht eine einzige unendliche Kraft gleichsam als Urkraft geben, denn diese könnte keinen wirklichen Widerstand leisten, sie könnte nicht tatsächlich gehemmt werden, sondern sich nur selbst hemmen, sie könnte daher nur retardieren [verzögern - wp]." (2)
Der Umtausch von Kräftewirkungen nötigt uns, aus der Vorstellung der Kräfte selbst jede starre Grenze, durch welche die eine Kraft von der andern geschieden sei, zu entfernen, und dagegen einen durchgreifenden Zusammenhang zwischen ihnen anzunehmen.

Zu dieser Verbesserung des Kraftbegriffes bestimmt uns auch rein logische Erwägung. Alle natürlichen Vorgänge sind individuell. Unter denselben Umständen entstehen sowohl ähnliche, aber nie absolut gleiche Wirkungen, weil sich die Umstände selbst nicht absolut identisch wiederholen. Die Regelmäßigkeit in der Natur reicht nicht bis ins Kleinste.

Die Naturgesetze, als Ausdrücke der wiederkehrenden Formen des Geschehens, sind zunächst Gebilde des zusammenfassenden Denkens. In der Natur herrscht überall das Einzelne, Diskrete, Individuelle, das nur im Denken die Form des Allgemeinen, Zusammenhängenden, der Gattung annimmt. Den ähnlichen Wirkungen werden gleiche Gesetze als Ursachen supponiert [untergeschoben - wp]. Nach ihrer logischen Bedeutung ist die Kraft ein Hilfsbegriff, das wirkliche Geschehen denkbar zu machen, und zeigt mithin einen formellen Charakter. Es heißt aus Gedanken Dinge zu machen, wenn die Kräfte als physische, oder metaphysische Wesenheiten angesehen und absolut gesetzt werden, so daß die Wirklichkeit ein bloßes Spiel derselben bildet.

Dieses Spiel wechselt beständig, und setzt hier und dort aus; daher muß in weiterer Folge jener Voraussetzung von ruhenden, abwartenden Kräften geredet werden; von Kräften, die nichts tun, aber doch zur Tätigkeit immer bereit seien; von Kräften als Vermögen, die im rechten Moment aus der peinlichen Spannung der Möglichkeit in die volle Wirklichkeit überspringen.
"Alle Tatsachen sind etwas Individuelles, sie sind weder Gattung, noch Arten." (3)
Die organischen Gattungen und Arten gelten seit DARWIN nicht mehr als Wesenheiten: von einer Seite bloße Gedankengebilde, haben sie aufgehört als erzeugende Gründe hinter den Individuen zu stehen. Dagegen ist nur noch zu viel von den anorganischen Gattungen die Rede. Und doch brauchen die komplizierten Erscheinungsweisen der unorganischen Natur ebensowenig aus besonderen, fertig vorhandenen Kräften erklärt zu werden, die auf ihre Wirkung gleichsam lauern, als dies bei den höheren Lebensformen, oder dem Leben selbst zu geschehen braucht.

Aus dem Zusammentreffen und der Erhaltung einfacher Wirkungen müssen sich die zusammengesetzten und deshalb auffallenderen Erscheinungen erklären lassen. Es kann keine Elektrizität an sich geben. Je nach der Modifikation der Anordnung und infolge davon der Wirkung der kleinsten Teile gehen bald mechanische bald elektrische Phänomene hervor. Zwar fehlt noch vieles an der Durchführung einer konsequenten Naturbetrachtung, doch sind manche bedeutende Vorarbeiten dazu geleistet.

Neben der logischen hat der Begriff Kraft, wie jeder auf Veranlassung der Erfahrung notwendig erzeugte, unleugbar auch seine reale Bedeutung. Sie läßt sich zeigen, wenn die Begriffe Kraft und Sein in Beziehung gesetzt werden. Den Kräften kann kein Sein ansich zugesprochen werden, Repulsion ansich, Attraktion ansich, Bewegung ansich sind widersprechend, und versucht man es dennoch Bewegungsformen absolut zu setzen; so wird bald die Nötigung fühlbar, diese absolute Position wieder aufzuheben.

Der Bewegung muß ein Bewegendes und ein Bewegliches, den Kräften müssen krafthabende Träger vorausgesetzt werden, auf daß diese Begriffe nicht dem Denken entschlüpfen. Aus der Unmöglichkeit, die Kraft ohne die Voraussetzung des Seienden zu denken, folgt die Notwendigkeit, die Begriffe Sein und Kraft zusammenzudenken, da dieser an jenem allererst Halt und reale Bedeutung gewinnt. Denn sollen die Kräfte nicht bloße Gedankendinge sein, und dürfen sie andererseits auch nicht unbedingt gesetzt werden, so bleibt nur übrig, sie als Bestimmungen des Seienden zu setzen.

Das Seiende verträgt aber für sich keinerlei Bestimmung, daher können die Kräfte nur Bestimmungen desselben sein durch seine Beziehung auf anderes Seiendes. In seinem Verhältnis zu andern Realen ist das Seiende Kraft. Die Kräfte sind als die Beziehungen der realen Wesen zu denken. Aus dem Gegensatz oder der Übereinstimmung ihrer Beschaffenheit gehen die wirkenden Beziehungen oder Kräfte der Dinge hervor.


Kräfte sind demnach weder selbst Dinge, noch die erzeugenden Mächte der Dinge, welche vor diesen, unabhängig von ihnen, vorhanden wären, sondern Verhältnisse der Dinge ansich, Verhältnisse, deren Zahl und Form durch die mögliche Verbindung der Dinge bestimmt sind. Da nämlich die Zahl der Wesen weder vermehrt noch vermindert werden kann, so können ihre wirkenden Beziehungen zwar abgeändert oder vertauscht, aber ebenfalls nicht vermehrt oder vermindert werden.

Die Summe aller Kräfteäußerungen ist daher eine konstante endliche Größe, und Bewegungsformen können wohl ineinander übergeführt, aber nicht annulliert werden. Die Bewegung ist gleichsam die Außenseite und Versinnlichung der Kräfte; die Beziehung der realen Elemente zueinander ihre Innenseite und ihr gemeinsames Wesen. Insofern die Bewegung allgemeine Erscheinungsform der Kräfte ist, sind alle Kräfte mechanisch; insofern aber der Ursprung aller Bewegung in der eigenen Tätigkeit oder Erregung der Wesen zu suchen ist, ist keine Kraft bloß mechanisch oder formell.

Davon bildet selbst die Massenbewegung, welche durch äußeren Anstoß hervorgebracht ist, und durch die räumliche Gestalt der Körper wirkt, nur scheinbar ein Ausnahme. Denn der Grund jenes Anstoßes und die Mitteilung der Bewegung durch momentane Erregung eines Schwingungszustandes der Teile des Körpers sind auf innere Vorgänge seiner Atome zurückzuführen.

§ 3. Als kraftfaussendend ist das Reale Substanz. Die Substantialität ist nicht anderes als Wirksamkeit; und da jedes Wesen als wirkend  Substanz  ist, so folgt aus der Vielheit der Wesen auch die Vielheit von Substanzen.

Oder liegt vielleicht den realen Wesen ein gemeinsames Substrat zugrunde, und sind die Substanzen in der Einheit einer allgemeinen, unendlichen Substanz begriffen? Ist die Materie ein Ding, oder entspricht ihrem Begriffe bloß ein adjektives Verhältnis zwischen den Dingen? Gegeben ist - nicht die Materie, sondern eine unabsehbare Menge von Dingen, verknüpft durch ein vielfach verschlungenes Band des Wirkens und Geschehens. Die Materie selbst wird nirgends wahrgenommen; sie gleicht vielmehr einem dunklen Rest, der sich jeder Beobachtung und Auflösung entzieht, und den Gegenständen der Sinne und den wirklichen Vorgängen ihre Durchsichtigkeit nimmt.

Gewöhnlich wird für  Materie  der Ausdruck  Stoff  substituiert. Der Stoff scheint ein höchst einfacher, über jede Erklärung erhabener Begriff zu sein, dessen Gegenstand vorliegt, und sich stets aufzeigen läßt. Ist er nicht das Handgreifliche, sinnlich Gegenwärtige, das den Raum erfüllt? - das Körperliche, woraus die Dinge bestehen, wovon ihr Wirken ausgeht, und woran ds Geschehen vorgeht? - das Beharrlich im Wechsel, das Identische bei aller Veränderung?

Trotz dieser scheinbaren Evidenz und Klarheit erweist sich der Stoff dennoch als der vergebliche Versuch, die Materie, die nur gedacht werden kann, zu versinnlichen. Überdies ist der Stoff in dialektische Schwierigkeiten mit der Form verwickelt. Als das bloß Passive und Bildsame, wie er gedacht werden soll, kommt er nirgends in der Erfahrung vor, sondern wird als solcher zu ihrer Erklärung bloß angenommen. Von dieser Seite zeigt er sich daher als ein notwendiger Begriff, dessen Gegenstan wir nie finden, den wir aber doch nicht los werden können, weil er als Zusammenfassungsform des Denkens nur in uns ist.

Nicht das sinnlich Wahrgenommene in der Bestimmtheit seiner Form, und der gänzlichen Relativität seiner Beschaffenheit ist der Stoff, sondern das jenem zugrunde Liegende, welches bloß vorausgesetzt, nicht aufgewiesen werden kann. Was ist diese Voraussetzung anderes, als der uns bekannte Begriff  Sein?  Denn soll dieselbe nicht ins Bodenlose sinken, so muß der Stoff in den Begriff  Sein  münden, wodurch er allein einen Inhalt empfängt, aber die Anschaulichkeit verliert, die er anfänglich zu haben schien.

Das Seiende aber muß wohl als solches erkannt, seine Beschaffenheit kann jedoch nicht unmittelbar erkannt werden, da wir bloß die Einwirkungen derselben erfahren. Für uns ist das Seiende wirkend; eben deswegen sind  Kraft  und  Stoff  unzertrennlich, und unser Begriff der Materie, weit entfernt einfach zu sein, besteht in der Verschmelzung der Begriffe  Sein  und  Kraft.  Diese Zusammensetzung ergibt sich aus der Betrachtung der Grundeigenschaften des Materiellen. Als solche gelten dessen Tastbarkeit, Undurchdringlichkeit, Schwere und Raumerfüllung.

Diese Prädikate der materiellen Dinge bezeichnen Tatsachen, deren Bedingungen zu ermitteln sind. Die Tastbarkeit besteht in einer bestimmten Wirkungsart und Beziehung der Dinge auf eine Seite unserer Empfindungsfähigkeit. Dasselbe gilt von der Sichtbarkeit. Da beides erst durch den Empfindungsmechanismus vorstellender Wesen zustande kommt, so darf darin keine allgemeine oder ursprüngliche Eigenschaft der Materie überhaupt gesehen werden.

Die Beziehung materieller Dinge zur Sinnlichkeit ist vielmehr als spezieller Fall ihrer Undurchdringlichkeit zu betrachten. Doch ist auch diese Eigenschaft der Materie nicht in der Form, wie sie der Erfahrung erscheint, einfach und allgemein. Denn fürs erste ist sie nicht mit dem bloßen Sein der Materie schon gegeben, sondern kann nur aus dem Widerstand der materiellen Teile gegeneinander, also aus einer Kräftebeziehung derselben, verstanden werden.

Ferner ist das, was man gewöhnlich unter Undurchdringlichkeit begreift, nicht aller Materie überhaupt, sondern nur gewissen Verbindungsformen materieller Elemente eigen. Es gibt eine Auflösung und Durchdringung des Zusammenhanges materieller Verbindungen, wovon die Chemie zu lehren hat. Wahre Impenetrabilität [Undurchdringlichkeit - wp] kommt nur den einfachen Elementen der Materie zu. Für diese aber bedeutet sie die Unauflöslichkeit ihres Wesens, also ihr Sein, und die Behauptung ihrer Beschaffenheit in der kausalen Beziehung zu anderen Elementen, d.h. ihre Kraft.

So ist die Undurchdringlichkeit der Materie auf Sein und Kraft ihrer Urbestandteile zurückzuführen. Daß die Schwere keine allgemeine Eigenschaft der Materie sein könne, geht daraus hervor, daß sie nur als Zusammenhang und Zusammenwirken der körperlichen Masse besteht. Oder sind die Ätheratome immateriell, weil sie imponderabel [unwägbar - wp] sind?

Jeder Versuch, die physikalischen Erscheinungen zu erklären, führt notwendig zur Annahme einer diskreten, atomistischen Ordnung der Materie. Die Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft beruht ganz auf dieser Hypothese, und rein metaphysische Erwägungen unterstützen sie mit der Voraussetzung der Vielheit realer Wesen. Nur über die Art, wie diese diskreten Existenzen und ihre räumliche Ordnung zu denken seien, sind Naturwissenschaft und Metaphysik noch im Streite.

Da aber das menschliche Denken, gleichviel ob es nach der Beobachtung verfährt, oder von seiner eigenen Gesetzmäßigkeit erfüllt und geleitet wird, in dem einen System des Wissens zusammentreffen muß, so kann jene Verschiedenheit der Auffassung nicht unvereinbar sein. Wird die atomistische Theorie konsequent zu Ende gedacht, so darf sie nicht abbrechen, bevor sie zu einfachen, an sich unkörperlichen und unräumlichen Wesen gelangt.

Nicht den Atomen selbst, sondern einer bestimmten Form ihres Zusammenseins ist die Körperlichkeit eigen. Das Atom hat für sich weder Schwere, noch Gestalt; es nimmt keinen Raum ein, sondern hat erst in Beziehung zu anderen Atomen einen Ort. Die diskrete Anordnung ist ganz allein die Folge der Selbständigkeit und Undurchdringlichkeit der Atome und wird keineswegs durch leere Räume bewirkt. Diese sind bloße Hilfsvorstellungen um die reale Unterscheidung der Atome, d.i. ihr Fürsichsein, anschaulich zu machen, haben aber keine Existenz zwischen denselben.

Das Atom ist kein bloßes, zum Punkte zusammengedrängtes, totes Staubkorn, sondern ein Subjekt der Kraft, ein irgendwie Beschaffenes. Alles Geschehen ist das eigene Wirken oder Mitwirken der Atome; sie sind nicht "starre Würfel", mit denen die Kräfte ihr Spiel treiben. Denn dies würde wieder andere Wesen als Aussender und Träger der Kraft voraussetzen; - und außerdem könnten die Atome als bloße, tote Punkte keinen Ort haben, den sie durch eigene Kraft in der Selbsterhaltung ihres Wesens gegen andere Atome einnehmen.

Die Annahme der Atome ist negativ, insofern sie die "Dinge mit mehreren Merkmalen", wie sie aus der Zusammenfassung durch die Vorstellung hervorgehen, außer derselben verwirft; und positiv, indem sie die Erscheinung in ihre an sich seienden Elemente auflöst. Sie bestimmt diese Elemente als innerlich bildsame, nach außen Kraft sendende Individuen.

Der Zusammenhang oder die Trennung der Atome hängt von der Übereinstimmung oder dem Gegensatz ihres Wesens ab. Da die Atome an sich  unräumlich  sind, so hindert kein Atom das andere an seiner Bewegung, sobald es zu diesem nicht in Gegensatz oder Übereinstimmung steht, oder wenn sein Verhältnis zu ihm durch eine Kraftbeziehung von anderen Atomen her unwirksam ist. - Physikalisch kann der Unterschied der ponderablen [wägbaren - wp], von der imponderablen Materie, als Verschiedenheit der Bewegungsrichtung der Atome aufgefaßt, und daraus die Repulsion [Abstoßung - wp] und Attraktion [Anziehung] abgeleitet werden.

Da sich die Atome der einen Richtung zueinander hin bewegen, so gehen sie in Gruppen von mehr oder weniger starrer Masse zusammen. Die Systeme ihrer Kräftebeziehungen sind Körper. Die Ätheratome dagegen sind in der entgegengesetzten Richtung der Bewegung begriffen, und scheinen daher von den Körperatomen abgestoßen zu werden. Aus dem Verhältnis der Kraftsysteme der ersten Art zueinander und ihrem Zusammentreffen mit den Atomsystemen der entgegengesetzten Bewegungsform, geht die  Schwere,  als Zusammenwirken der Körper und ihr Gegenwirken gegen die imponderable Materie hervor.

Das Atom ist der Gegenstand der Begriffe  Sein  und  Kraft,  und daher materiell. Die Materie ist die Zusammenfassung der Atome zur Einheit eines Systems. Demnach ist sie der die Atome verbindende Begriff und zunächst ein bloßer Gedanke. Doch weist schon die Notwendigkeit dieses Begriffs auf einen in der Natur der Dinge liegenden Grund zu seiner Bildung hin. Dieser Grund ist die allgemeine, durchgängige Beziehung der realen Wesen.

Die Materie ist das logische Abbild dieses durchgreifenden realen Zusammenhangs der absoluten Wesen. Weil die Beziehungen derselben  Kräfte  sind, so schließt die Materie in ihren Begriff die Kraft ein, und bedeutet die Allgemeinheit der Kraft. Als Auffassung des objektiven, tatsächlichen Verhältnisses der Wesen darf die Materie nicht zu einer  Sache  gemacht werden; es geht nicht an, sie unter dem Namen  Stoff  zu verdinglichen, und aus ihr das Reale abzuleiten. Es gibt daher keine Materie an sich, sondern nur materielle Dinge und Vorgänge.

Durch diese Erklärung des Begriffes der Materie wird der Unterschied des Physischen und Psychischen, als ursprünglicher, verneint. Denn ist das Körperlich als eine besondere Form des Zusammenhangs der Atome zu denken, so sind die einfachen Urwesen selbst noch nicht in jenem Gegensatze begriffen. Zur Aufhebung dieses Gegensatzes, als eines elementaren, nötigt uns außerdem der Versuch, das wirkliche Geschehen und die Phänomene des Bewußtseins zu erklären.

An den Atomen haftet so wenig der Unterschied des Physischen und Psychischen; daß sie vielmehr ingesamt nach Analogie psychischer Wesen gedacht werden müssen. Nichts Materielles ist daher eigenschaftslos - oder roher Stoff.
LITERATUR - Alois Riehl, Realistische Grundzüge , Graz 1870