cr-2Erkenntnis - die Zeitschrift    
 
HANS REICHENBACH
Die Suche nach Allgemeinheit
[2/3]

"Eine Untersuchung über Irrtum fängt mit Sprachanalyse an."

Erster Teil
DIE WURZELN DER SPEKULATIVEN PHILOSOPHIE

1
DIE FRAGE

In den Schriften eines berühmten Philosophen findet sich folgende Stelle:
    "Die Vernunft ist die Substanz wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens, wie die unendliche Form, die Betätigung dieses ihres Inhalts. Die Substanz ist sie, nämlich das, wodurch und worin alle Wirklichkeit ihr Sein und Bestehen hat."
Solche sprachlichen Erzeugnisse machen manchen Leser ungeduldig, und er würde wahrscheinlich das Buch am liebsten ins Feuer werfen, da er kein Wort davon versteht. Aber eine rein gefühlsmäßige Reaktion ist noch keine logische Kritik; ich möchte deshalb dem Leser vorschlagen, sich auf die sogenannte philosophische Sprache einmal wie ein neutraler Beobachter einzustellen, so, wie der Zoologe sich eine seltene Art Käfer ansieht.

Eine Untersuchung über Irrtum fängt mit Sprachanalyse an. Ein Philosophiestudent wird allerdings nicht so leicht aufgebracht durch unklare Formulierungen. Im Gegenteil, wenn er das obige Zitat läse, würde er wahrscheinlich zu der Überzeugung kommen, daß es seine eigene Schuld ist, wenn er es nicht versteht. Er würde daher immer wieder und wieder lesen und irgendwann einen Zustand erreichen, wo er denkt, er habe es verstanden. Es würde ihm dann völlig klar erscheinen, daß Vernunft eine unendliche Macht ist, die die Grundlage für alles natürliche und geistige Leben bildet und deswegen die Substanz aller Dinge ist. Er hat sich so an solche Redeweisen gewöhnt, daß er jede Kritik ausschaltet, die ein "weniger gebildeter" Mensch gar nicht unterlassen kann.

Stellen wir uns einmal einen Naturwissenschaftler vor, der gewöhnt ist, seine Worte so zu gebrauchen, daß jeder Satz einen Sinn hat. Seine Behauptungen sind so formuliert, daß er immer in der Lage ist, ihre Wahrheit zu beweisen. Er hat nichts dagegen, wenn sich in diesem Beweis lange und komplizierte Gedankengänge finden, und er hat keine Angs vor abstrakter Logik. Aber er verlangt, daß die abstrakten Gedankengänge in Verbindung stehen mit dem, was seine Augen sehen und seine Ohren fühlen. Was würde ein geschulter Naturwissenschaftler zu dem obigen Zitat sagen?

Die Worte "Stoff" und "Substanz" sind ihm nicht unbekannt. Er hat sie oft in Beschreibungen von Experimenten benutzt; er hat gelernt, das Gewicht und die Masse einer Substanz zu bestimmen. Er weiß, daß ein Stück Materie aus verschiedenen Substanzen bestehen und daß jede ganz anders als der betrachtete Körper aussehen kann. Diese Begriffe enthalten also an sich keine Schwierigkeiten für ihn.

Aber was für eine Art Stoff ist nun die Basis für alles natürliche und geistige Leben? Man möchte annehmen, daß es die organische Substanz ist, aus der unser Körper besteht. Wie kann diese mit Vernunft identisch sein? Vernunft ist eine abstrakte Eigenschaft von Menschen, die sich in ihrem Verhalten ausdrückt, oder sagen wir vorsichtigerweise, die sich wenigstens manchmal in ihrem Verhalten ausdrückt. Will der zitierte Philosoph behaupten, daß unser Körper aus einer abstrakten Eigenschaft seiner selbst aufgebaut ist?

Selbst ein Philosoph wird sich zu einem solchem Widersinn versteigen. Was meint er also? Wahrscheinlich will er sagen, daß sich alle Geschehnisse in der Welt so vollziehen, daß sie einem vernünftigen Zweck dienen. Das ist wenigstens eine verständliche Annahme, wenn ihre Wahrheit auch fragwürdig ist. Wenn das aber alles ist, was der Philosoph sagen will, warum muß er es auf so dunkle Weise ausdrücken?

Dies ist die Frage, die ich beantworten möchte, bevor ich sagen kann, was Philosophie ist und was sie sein sollte.


2
DIE SUCHE NACH ALLGEMEINHEIT
UND DIE PSEUDO-ERKLÄRUNG

Der Wunsch zu wissen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Gleichzeitig mit den Anfängen gesellschaftlicher Gruppen und dem Gebrauch von Werkzeugen zum Zwecke einer vollkommeneren Befriedigung der täglichen Bedürfnisse hat sich der Wunsch nach Wissen eingestellt, denn Wissen ist unentbehrlich für eine Beherrschung der Dinge unserer Umwelt, die wir für unsere Zwecke ausnutzen möchten.

Die Grundlage der Erkenntnis ist  Verallgemeinerung.  Aus einer Verallgemeinerung einzelner Erfahrungen stammt die Erkenntnis, daß man Feuer hervorbringen kann, wenn man zwei Stücke Holz auf eine bestimmte Weise aneinander reibt. Der Sinn der Aussage ist, daß das Reiben des Holzes  immer  Feuer hervorbringt. Das Geheimnis der Entdeckung ist das Geheimnis der richtigen Verallgemeinerung.

Unwesentliche Eigenschaften, wie z.B. die Form oder die Größe eines bestimmten Holzstückes, werden bei den Verallgemeinerungen außer acht gelassen; aber wesentliche Eigenschaften, wie die Trockenheit des Holzes, sind einzuschließen. Auf diese Weise kann man den Ausdruck "wesentlich" definieren: wesentlich ist, was in einer gültigen Verallgemeinerung genannt werden muß. Die Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Faktoren ist der Anfang der Erkenntnis.

Verallgemeinerung ist daher der Beginn der Wissenschaft. Die Wissenschaft der Alten drückt sich in dem Umfang der Technik aus, die sie ihr eigen nannten: im Hausbau, im Tuchweben, im Waffenschmieden, im Bau von Segelbooten, in ihrer Landwirtschaft. Sie ist noch augenscheinlicher in ihrer Physik, Astronomie und Mathematik.

Die alten Griechen kannten schon eine ganze Menge allgemeiner Gesetze von umfassender Bedeutung, und daher kann man von griechischer Wissenschaft sprechen: sie kannten Gesetze der Geometrie, die für alle Teile des Raumes ohne Ausnahme gelten; astronomische Gesetze, die die Zeit beherrschen; eine Anzahl physikalischer und chemischer Gesetze, wie z.B. das Hebelgesetz und die Beziehung zwischen Wärme und Schmelzpunkt.

Alle diese Gesetze sind Verallgemeinerungen, denn sie behaupten, daß eine bestimmte Folgebeziehung oder  Implikation  für alle Dinge einer bestimmten Art besteht. Mit anderen Worten: sie sind  wenn - dann - immer  - Aussagen. Das Beispiel, "wenn ein Metall genügend erhitzt wird, dann schmilzt es immer" ist von dieser Art.

Verallgemeinerung ist daher die Grundlage jeder Erklärung. Unter Erklärung einer beobachteten Tatsache verstehen wir, daß man sie in ein allgemeines Gesetz einordnen, daß sich erhitzte Körper ausdehnen und, auf gleiche Volumina bezogen, leichter werden. Dieses Gesetz hilft uns, unser Beispiel zu erklären:
    die Sonne erhitzt das Land stärker als das Wasser, die Luft über dem Land wird warm und steigt empor; auf diese Weise macht sie einer Luftströmung vom Wasser her Platz. Oder:

    wir haben beobachtet, daß Lebewesen zur Existenz Nahrung brauchen, und erklären diese Tatsache, indem wir sie in das allgemeine Gesetz der Erhaltung der Energie einordnen. Die Energie, die von einem Organismus im täglichen Leben aufgewendet wird, muß durch Kalorien in der Nahrung ersetzt werden. Oder:

    wir haben die Erfahrung gemacht, daß frei schwebende Körper herunterfallen, und erklären diese Tatsache dadurch, daß wir sie in das allgemeine Gesetz der Massenanziehung einordnen. Die große Erdmasse zieht die kleinen Massen in der Richtung auf ihren Mittelpunkt an.
Das Wort "Anziehung", welches wir in unserem letzten Beispiel gebraucht haben, ist nicht ganz ungefährlich, da es an psychologische Erfahrungen erinnert. Dinge, die wir begehren, ziehen uns an, wie gutes Essen oder das neueste Automodell, und wir stellen uns die Anziehung der Körper durch die Erde als eine Art Wunscherfüllung vor, wenigstens von der Erde aus gesehen. Eine solche Interpretation nennt der Logiker einen  Anthropomorphismus,  d.h. eine Beschreibung physikalischer Dinge durch einen Vergleich mit menschlichen Eigenschaften.

Es ist klar, daß eine Analogie zwischen Naturereignissen und menschlicher Psychologie keine Erklärung darstellt. Wenn wir sagen, daß NEWTONs Gesetz der Anziehungskraft das Fallen von Körpern erklärt, dann meinen wir damit, daß die Bewegung der Körper in Richtung auf die Erde in ein allgemeines Gesetz einbezogen werden kann, demzufolge sich alle Körper aufeinander zu bewegen. Wenn NEWTON "Anziehung" sagt,d ann heißt das nichts anderes als eine Bewegung der Körper zueinander.

Der Erklärungswert des Gravitationsgesetzes besteht in seiner Verallgemeinerung. Manchmal wird eine Erklärung dadurch gegeben, daß eine Tatsache hypothetisch angenommen wird, die entweder nicht beobachtet worden ist oder nicht beobachtet werden kann. Das Bellen eines Hundes könnte z.B. durch die Annahme erklärt werden, daß sich ein Fremder dem Hause nähert; und das Vorkommen von Seewasserfossilien auf Bergen wird durch die Annahme erklärt, daß der Boden früher einmal auf tieferem Niveau gelegen hat und vom Meere bedeckt war.

Aber die unbeobachtete Tatsache hat nur deshalt einen Erklärungswert, weil die beobachtete Tatsache als Auswirkung eines allgemeinen Gesetzes aufgezeigt wird: Hunde bellen, wenn sich Fremde nähern; Meerestiere leben nicht auf dem Land. Mit Hilfe allgemeiner Gesetze kann man daher auf neue Tatsachen schließen, und die Erklärung wird ein Mittel, die Welt der direkten Erfahrung durch Schlüsse auf unbeobachtete Dinge und Ereignisse zu vervollständigen.

Es ist darum nicht verwunderlich, wenn die erfolgreiche Erklärung einer großen Anzahl von Naturereignissen das Verlangen im Menschen nach immer größerer Verallgemeinerung erzeugt hat. Die Fülle der Beobachtungen konnte das Verlangen nach Erkenntnis nicht befriedigen; der Wissensdrang ging über die Beobachtung hinaus und suchte nach Verallgemeinerung.

Unglücklicherweise wind aber die Menschen dazu geneigt, auch dann Antworten zu geben, wenn sie noch gar nicht die Mittel zu einer richtigen Antwort besitzen. Eine wissenschaftliche Erklärung setzt weitreichende Beobachtung und Kritik voraus. Je umfassender die Verallgemeinerung, desto größer muß das Beobachtungsmaterial und desto kritischer der gedankliche Aufbau sein. Wo die wissenschaftliche Erklärung versagte, weil der Wissensschatz der Zeit nicht hinreichte, um die richtige Verallgemeinerung zu erfassen, trat die Phantasie an ihre Stelle und erfand eine Art von Erklärung, die den Drang nach Verallgemeinerung mit primitiven Analogien befriedigte.

Oberflächliche Vergleiche, insbesondere mit menschlichen Erfahrungen, verwechselte man mit Verallgemeinerungen und hielt sie für Erklärungen. Die Suche nach Allgemeinheit wurde durch  Pseudo-Erklärung  befriedigt, und auf diesem Boden erwuchs die Philosophie.

Ein solcher Ursprung verspricht keine guten Resultate; aber ich habe auch nicht gerade die Absicht, der Philosophie einen Empfehlungsbrief zu schreiben, sondern möchte ihr Vorhandensein und ihre Wesen erklären. Tatsächlich kann man sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke aus ihrer Entstehung auf einer so fragwürdigen Grundlage ableiten.

Ein Beispiel möge verdeutlichen, was ich unter einer Pseudo-Erklärung verstehe. Zu allen Zeiten hat das Bedürfnis, die physikalische Welt zu begreifen, zur Frage nach dem Ursprung der Welt geführt: die Mythologien aller Völker enthalten primitive Berichte über die Erschaffung des Weltalls. Die bekannteste Schöpfungsgeschichte, ein Werk jüdischer Dichtkunst, findet sich in der Bibel und stammt ungefähr aus dem 9. Jahrhundert vor Christus.

Hier wird die Welt als Gottes Schöpfung dargestellt, eine naive Erklärung, die einen primitiven oder kindlichen Geist durch anthropomorphe Analogien befriedigt: So wie die Menschen Häuser, Werkzeuge und Gärten machen, so hat Gott die Welt gemacht. Eine der allgemeinsten und grundlegendsten Fragen, nämlich die nach dem Ursprung der Welt, wird mit Hilfe einer Analogie mit Erfahrungen des täglichen Lebens beantwortet.

Es ist schon oft richtig betont worden, daß derartige Bilder keine Erklärung darstellen, und daß sie das Problem einer Erklärung der Welt nur noch schwieriger gestalten würden, wenn sie wahr wären. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel ist deshalb eine Pseudo-Erklärung.

Trotzdem - was für eine Überzeugungskraft atmet dieses Werk! Das jüdische Volk, das damals noch ein primitives Dasein führte, hat der Welt eine Dichtung geschenkt, die mit ihrer Lebenswärme den Leser bis auf den heutigen Tag in Bann gehalten hat. Unsere Phantasie wird von dem ehrwürdigen Bild eines Gottes gefesselt, dessen Geist über den Wassern schwebt und der die ganze Welt durch ein paar Geboten erschafft. Der tiefe, unbewußte Wunsch nach dem mächtigen Vater wird in diesem uralten Märchen erfüllt.

Doch die Erfüllung unserer Wünsche ist keine Erklärung, obgleich die Philosophie durch alle Zeiten hindurch unter der Verwechslung von Logik mit Dichtung, von wissenschaftlicher Erklärung mit Phantasiebildern, von Gesetzen mit Analogien gelitten hat. Viele philosophische Systeme gleichen der Bibel und sind wie sie ein Meisterwerk der Dichtkunst, unerschöpflich an Bildern, die unsere Phantasie anregen, während ihnen jegliches Erklärungsvermögen im wissenschaftlichen Sinne abgeht.

Gewisse griechische Kosmogonien unterscheiden sich von der jüdischen Schöpfungsgeschichte dadurch, daß sie eine allmählich Entwicklung, also eine Evolution, und keinen Schöpfungsakt annehmen. In dieser Hinsicht sind sie besser, aber auch sie bieten keine wissenschaftliche Erklärung im modernen Sinne dar, denn sie sind ebenfalls auf primitiven Verallgemeinerungen täglicher Lebenserfahrungen aufgebaut.

ANAXIMANDER, um 600 vor Christus, glaubte, daß die Welt sich aus einer unendlichen Substanz, die er  apeiron  nannte, entwickelt habe. Erst hat sich das Warme von dem Kalten getrennt. Das Kalte wurde die Erde, und das warme Feuer umgibt die Erde in räderartigen, mit Luft gefüllten Schläuchen. Das Feuer ist immer noch da, man kann es nämlich durch Löcher in den Schläuchen sehen, und so erscheint es uns als Sonne, Mond und Sterne. Aus der die Erde umgebenden Feuchtigkeit entwickelten sich die Lebewesen, zuerst in niedrigen Formen; auch die Menschen gehen auf die Fische zurück.

Der Philosoph, von dem dieser phantastische Bericht über den Ursprung der Welt stammt, hat ebenfalls Analogie mit Erklärung verwechselt. Aber seine Pseudo-Erklärungen sind nicht gänzlich hinfällig, denn sie sind wenigstens ein Schritt in der richtigen Richtung. Sie enthalten primitive wissenschaftliche Theorien, und wenn man sie als Wegweiser für weitere Beobachtungen und Untersuchungen benutzt hätte, würden sie unter Umständen zu einer besseren Erklärung geführt haben. ANAXIMANDERs räderartige Schläuche sind zum Beispiel Versuche, die kreisartigen Bahnen der Sterne zu erklären.

Es gibt zwei Arten von falschen Verallgemeinerungen, die man als harmlose oder bösartige Formen des Irrtums unterscheiden kann. Die erste, die man oft bei wissenschaftlich eingestellten Philosophen findet, läßt sich relativ leicht berichtigen und angesichts weiterer Erfahrungen verbessern. Die zweite, die in Analogien und Pseudo-Erklärungen besteht, führt zu leeren Wortklaubereien und gefährlicher Dogmatik. Verallgemeinerungen dieser Art spielen in den Werken der spekulativen Philosophen eine große Rolle.

Das philosophische Zitat in der Einleitung kann als ein Beispiel einer bösartigen Verallgemeinerung angesehen werden, da es eine oberflächlich Analogie benutzt, um eines allgemeines Gesetz aufzustellen. Die Beobachtung, auf die sich die Aussage stützt, ist die Tatsache, daß die Vernunft in großem Ausmaße menschliche Handlungen beherrscht und auf diese Weise zum Teil wenigstens soziale Entwicklungen bestimmt. Auf der Suche nach einer Erklärung sieht unser Philosoph nun die Vernunft als gleichbedeutend mit einer Substanz an, welche die Eigenschaft der Dinge, die aus ihre bestehen, bestimmt.

Die Substanz  Eisen  bestimmt z.B. die Eigenschaften einer eisernen Brücke. Dies ist offensichtlich eine sehr schlechte Analogie.  Eisen  ist dieselbe Art Stoff wie die Brücke; aber  Vernunft  ist kein Stof von der Art menschlicher Körper und kann daher nicht der materielle Träger menschlicher Handlungen sein. Als THALES, der um 600 v. Chr. großen Ruhm als der "Weise von Milet" erlangte, seine Theorie, daß das Wasser der Ursprung aller Dinge sei, verkündete, machte er sich auch einer falschen Verallgemeinerung schuldig, denn die Beobachtung, daß Wasser in vielen Stoffen, wie z.B. im Boden oder in den Lebewesen enhalten ist, verführte ihn zu der Behauptung, daß alle Dinge Wasser enthalten.

Seine Theorie ist aber insofern vernünftig, als sie einen physikalischen Stoff zum Element aller anderen macht; und deshalb ist sie wenigsten eine Verallgemeinerung, wenn auch eine falsche, und keine bloße Analogie. Wie überlegen ist THALES Sprache der des angeführten Zitates!

Die Folge einer unklaren Sprache ist die Erweckung falscher Ideen für die der Vergleich der Vernunft mit einem Stoff ein gutes Beispiel bildet. Natürlich würde sich der Verfasser des Zitates sehr nachdrücklich gegen unsere Interpretation wenden, daß es sich nur um eine Analogie handelt. Er würde behaupten, daß er die wahre Substanz aller Dinge gefunden habe, und würde es lächerlich finden, wenn wir nur physikalische Substanzen anerkennen. Und würde er sagen, es gäbe eine "tiefere" Bedeutung von Substanz, und die physikalische Substanz wäre nur ein Spezialfall.

Wenn man solche Aussagen in verständliche Sprache übersetzt, dann würde es bedeuten, daß zwischen den Ereignissen in der Welt und der Vernunft dieselbe Beziehung bestünde wie zwischen der Brücke und dem Eisen, aus dem sie besteht. Ein solcher Vergleich ist selbstverständlich unhaltbar, und die Übersetzung zeigt ganz klar, daß eine ernsthafte Interpretation dieser Analogie zu logischem Unsinn führen würde.

Die Bezeichnung der Vernunft als einer Substanz mag im Leser gewisse Bilder hervorrufen; aber in der weiteren Anwendung solcher Wortverbindungen läßt sich der Philosoph zu Schlüssen, die logisch unhaltbar sind, verführen. Bösartige Irrtümer, die aus falschen Analogien stammen, sind von alters her die Krankheit der Philosophen gewesen.

Der Trugschluß, der aus dieser Analogie gezogen wird, ist ein Beispiel für den Fehler, den man  Substantivierung der Abstrakta  genannt hat. Ein Abstraktum wie "Vernunft" wird behandelt, als ob es sich auf etwas Dingartiges bezieht. Ein klassisches Beispiel eines solchen Trugschlussen, das viel Verwirrung angerichtet hat, findet sich bei ARISTOTELES (384-322 v.Chr.) in seiner Behandlung von Form und Materie.

Bei einem körperlichen Ding kann man die Form von dem Stoff, aus dem es besteht, unterscheiden; die Form kann sich ändern, während der Stoff derselbe bleibt. Diese einfache, alltägliche Erfahrung ist zur Quelle eines Kapitels in der Philosophie geworden, das ebenso dunkel wie einflußreich und nur durch den Mißbrauch einer Analogie überhaupt möglich geworden ist. ARISTOTELES behauptet, daß die Form einer zukünftigen Statue schon in dem Holzblock vorhanden sein muß, ehe sie geschnitzt wird, sonst könnte sie später auch nicht da sein.

Alles Werden besteht gleichfalls darin, daß ein Stoff Form annimmt. Form muß darum ein Etwas sein. Man sieht deutlich, daß man einen solchen Schluß nur mit Hilfe eines unklaren Sprachgebrauches ziehen kann. Wenn man sagt, daß die Form der Statue im Holz ist, ehe der Bildhauer sie geschaffen hat, so heißt das, daß es möglich ist, in den Holzblock eine Oberfläche hinein zu definieren oder hinein "zu sehen", welche mit der späteren Oberfläche der Statue übereinstimmt.

Wenn man ARISTOTELES liest, hat man manchmal das Gefühl, daß er nur diese triviale Tatsache meint. Aber in seinen Schriften wechseln sich klare und vernünftige Stellen mit unverständlichen ab. Er sagt z.B., daß man eine Bronzekugel aus Bronze und Kugel macht, indem man die Form in den Stoff tut, und kommt dann dazu, Form als eine Substanz anzusehen, die ewig und unveränderlich besteht.

Ein bildlich gebrauchter Ausdruck ist auf diese Weise zur Wurzel einer philosophischen Lehre, der sogenannten  Ontologie,  geworden, die sich angeblich mit den Grundlagen des Seins befaßt. Der Ausdruck "Grundlagen des Seins" ist natürlich auch eine Metapher, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich hier ohne weitere Erklärung eine metaphysische Sprache gebrauche. Ich möchte nur noch hinzufügen, daß Form und Materie für ARISTOTELES solche Grundlagen des Seins sind. Form ist die aktuelle, Materie die potentielle Wirklichkeit, denn die Materie kann viele verschiedene Formen annehmen.

Ferner glaubt er, daß die Beziehung zwischen Form und Materie grundlegend für viele andere Beziehungen ist. In seiner Auffassung des Weltalls stehen die oberen und die unteren  Sphären  und  Elemente, Seele  und  Körper,  das  Männliche  und das  Weibliche  in der gleichen Beziehung zueinander wie  Form  und  Materie.  Die wörtliche Deutung einer Analogie hat so zu einer Pseudo-Erklärung geführt, die mit Hilfe eines naiven Bildes ganz verschiedene Dinge unter einen Hut bringt.

Ich will wohl zugeben, daß man ARISTOTELES historische Bedeutung nicht mit modernem Maßstab messen darf. Aber selbst verglichen mit dem Stand der Wissenschaft seiner Zeit oder seinen eigenen Leistungen auf dem Gebiet der Biologie und der Logik, ist seine Metaphysik weder Erkenntnis noch Erklärung, sondern Analogismus, d.h. Flucht in die Bildersprache. Der Drang, Naturgesetze zu entdecken, läßt den Philosophen gerade die Prinzipien vergessen, die er auf einem engeren Gebiet erfolgreich anwendet, so daß er sich mit leeren Worten berauscht, wo Erkenntnis noch nicht möglich ist.

Hier ist die psychologische Wurzel dieser seltsamen Mischung von Beobachtung und Metaphysik, die aus dem hervorragenden Sammler wissenschaftlichen Materials einen dogmatischen Theoretiker macht, der sein Bedürfnis nach Erklärung dadurch befriedigt, daß er neue Worte prägt und Prinzipien aufstellt, die sich nicht in verifizierbare Erfahrungen übersetzen lassen.

Was ARISTOTELES über die Strukur der Welt oder über die biologische Struktur des Männlichen und des Weiblichen wußte, reichte nicht dazu aus, allgemeine Gesetze zu formulieren. Seine Astronomie hielt sich an das geozentrische System, für welches die Erde der Mittelpunkt des Weltalls ist. Seine Kenntnis des menschlichen Zeugungsapparates entbehrte einer für die moderne Biologie grundlegenden Tatsache: er wußte nicht, daß das neue Lebewesen aus der Vereinigung der männlichen Keimzelle mit der weiblichen Eizelle entsteht.

Niemand verdenkt es ihm, daß er noch nichts über Dinge wußte, die erst mit Hilfe des Fernrohrs oder Mikroskops entdeckt werden konnten. Aber da er diese Dinge noch nicht wissen konnte, war es ein Fehler von ihm, Erklärungen durch schlechte Analogien zu ersetzen. An einer Stelle, wo er über den menschlichen Zeugungsvorgang sprichte, sagt er z.B., daß das männliche Wesen der biologischen Substanz des weiblichen Wesens lediglich seine Form aufpreßt. Abgesehen davon, daß sie sogar als Metapher völlig danebenzielt, kann diese unbestimmte Behauptung noch nicht einmal als ein erster Schritt auf dem Wege zu einer wissenschaftlichen Denkweise angesehen werden.

Die Folge eines solchen Analogismus war, daß die philosophischen Systeme, statt allmählich einer wissenschaftlichen Philosophie näher zu kommen, in Wirklichkeit eine solche Entwicklung verhindert haben. ARISTOTELES Metaphysik hat das Denken 2000 Jahre lang beherrscht und wird noch heute von vielen Philosophen bewundert.

Zwar erlauben sich moderne Historiker ab und zu eine gewisse Kritik, soweit sie mit der üblichen Verehrung von ARISTOTELES vereinbar ist, indem sie so tun, als ob sie zwischen seinen philosophischen Einsichten und den Teilen seines Systems unterscheiden, die sie als das Produkt der Unvollkommenheit seiner Zeit betrachteten. Was uns aber als philosophische Erkenntnis dargeboten wird, ist allzuoft leeres Wortgeklingel, dem alle möglichen Bedeutungen zugeschoben werden, die sich der Autor nie hat träumen lassen.

Die Beziehung zwischen Form und Materie kann man für viele Analogien gebrauchen, ohne daß man damit eine Erklärung gibt. Eine allzu rücksichtsvolle und nachsichtige Interpretation hilft uns nicht, über tiefeingewurzelte Fehler in der Philosophie hinwegzukommen. Philosophische Erkenntnis wird nicht dadurch gefördert, wenn man den Irrtümern großer Männer derart eingestellte Bedeutungen beilegt, daß sie wie geniale Prophezeiungen von Gesetzen aussehen, die erst in viel späterer Zeit mit Hilfe der modernen Wissenschaft bewiesen werden konnten.

Die Geschichte der Philosophie hätte sich viel schneller entwickelt, wenn sie nicht immer von Männern aufgehalten worden wäre, die sich gerade die Geschichte der Philosophie zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht haben.

Ich habe ARISTOTELES Lehre von Form und Materie als ein Beispiel für den Irrtum benutzt, den ich Pseudo-Erklärung genannt habe. In der Geschichte der antiken Philosophie findet sich noch ein anderer Fall dieses typischen Trugschlusses. Es ist die Philosophie PLATOs, die dieses Beispiel liefert. Da ARISTOTELES in seiner Jugend PLATOs Schüler war, könnte man sich vorstellen, daß seine Denkweise unter dem Einfluß der Bildersprache und des Analogismus stand, von denen sein Lehrer so häufig Gebrauch machte.

Wir wollen uns PLATOs Philosophie hier aber ohne Bezugnahme auf ihre Wirkung auf ARISTOTELES, die schon oft behandelt worden ist, ansehen. Der Einfluß der platonischen Philosophie ist in einer großen Anzahl philosophischer Systeme zu spüren, und das ist Grund genug, ihrem logischen Ursprung im einzelnen nachzuforschen.

PLATOs (427-347 v.Chr.) Philosophie ist auf eine der merkwürdigsten und zugleich einflußreichsten philosophischen Lehren aufgebaut - seine Ideenlehre. Die Ideenlehre, so tief bewundert als tiefste Logik und doch im Grunde aller Logik feindlich, war ein Versuch, sowohl die Möglichkeit mathematischer Erkenntnis als auch die Rechtmäßigkeit ethischen Verhaltens logisch zu begründen. Vorläufig will ich nur ihre mathematische Wurzel diskutieren, ihre ethische Wurzel erst später.

Man hat den mathematischen Beweis stets als eine Erkenntnismethode angesehen, die auch den höchsten Wahrheitsansprüchen genügt, und PLATO hat immer die Überlegenheit der Mathematik allen anderen Formen der Erkenntnis gegenüber betont. Wenn man aber an das Studium der Mathematik mit der kritischen Einstellung des Philosophen herangeht, findet man sich in gewisse Schwierigkeiten verwickelt.

Es handelt sich hauptsächlich um die Geometrie, die für die Griechen im Vordergrund des Interesses stand. Ich möchte diese Schwierigkeiten in moderner logischer Form und Terminologie darstellen und dann die Lösung besprechen, die PLATO vorgeschlagen hat.

Eine kurze Darstellung eines Kapitels der Logik möge uns helfen, das Problem klar zu formulieren. Der Logiker unterscheidet zwischen 'All-Aussagen' und 'Einzel-Aussagen'. All-Aussagen haben die Form "Alle Dinge einer gewissen Art haben eine gewisse Eigenschaft". Sie heißen auch 'allgemeine Implikationen', denn sie sagen, daß eine bestimmte Bedingung eine bestimmte Eigenschaft impliziert.

Nehmen wir folgendes Beispiel: "Alle erhitzten Metalle dehnen sich aus". Das kann man auch in der Form ausdrücken: "Wenn ein Metall erhitzt wird, dann dehnt es sich aus". Wenn man eine solche Implikation auf ein bestimmtes Ding anwenden will, muß man sich erst vergewissern, daß es die angeführte Bedingung erfüllt; dann kann man daraus schließen, daß es auch die genannte Eigenschaft besitzt. Wir beobachten z.B., daß ein gewisses Metall erhitzt wird, und sagen dann, es dehnt sich aus. Der Satz "Dieses erhitzte Metall dehnt sich aus" ist eine Einzel-Aussage.

Die geometrischen Lehrsätze haben die Form von All-Aussagen oder allgemeinen Implikationen, wie z.B. der Lehrsatz: "Alle Dreiecke haben eine Winkelsumme von 180°", oder der pythagoreische Lehrsatz "In allen rechtwinkligen Dreiecken ist das Quadrat über der Hypotenuse gleich der Summe der beiden Kathetenquadrate". Wenn wir diese Lehrsätze anwenden wollen, müssen wir nachsehen, ob die genannte Bedingung erfüllt ist.

Wenn wir z.B. auf dem Erdboden ein Dreieck gezeichnet haben, dann müssen wir mit Hilfe von gespannten Schnüren feststellen, ob seine Seiten auch gerade sind; erst dann können wir die Behauptung aufstellen, daß seine Winkelsumme 180° ist.

Allgemeine Implikationen dieser Art sind sehr nützlich, denn sie erlauben uns, Voraussagen zu machen. Die Implikation bezüglich erhitzter Körper ermöglicht uns die Voraussage, daß Eisenbahnschienen sich in der Sonne ausdehnen. Die Implikation, die sich auf die Dreiecke bezieht, sagt uns, was für Resultate wir finden werden, wenn wir die Winkel eines Dreiecks messen, dessen Ecken durch drei Kirchtürme gegeben sind. Solche Aussagen heißen 'synthetische' Aussagen, was so viel heißt wie 'informierend', d.h. neues Wissen hinzufügend.

Es gibt noch allgemeine Implikationen einer anderen Art, die man etwa durch den Satz "Alle Junggesellen sind unverheiratet" veranschaulichen kann. Eine solche Aussage hat keinen großen praktischen Wert, denn wenn wir wissen wollen, ob jemand ein Junggeselle ist, müssen wir erst feststellen, ob er unverheiratet ist, und wenn wir das wissen, sagt uns der Satz nichts Neues mehr. Die Implikation fügt zu der genannten Bedingung nichts hinzu. Solche Aussagen sind leer und heißen 'analytische' Aussagen, was man mit 'selbstverständlich' übersetzen kann.

Nun erhebt sich die Frage, woher weiß man, ob eine allgemeine Implikation wahr ist. Für analytische Implikationen ist das sehr leicht zu beantworten, denn die Implikation "Alle Junggesellen sind unverheiratet" folgt einfach aus dem Sinn des Wortes "Junggeselle". Anders ist es mit synthetischen Implikationen. Die Bedeutung der Worte "Metall" und "erhitzen" schließt die Bedeutung des Wortes "Ausdehnung" in keiner Weise ein. Darum kann diese Implikation nur aus Beobachtungen abgeleitet werden, d.h., alle unsere vergangenen Erfahrungen haben gezeigt, daß sich erhitzte Metalle ausdehnen, und deshalb glauben wir uns berechtigt, die allgemeine Implikation aufzustellen.

Diese Erklärung scheint jedoch auf mathematische Implikationen nicht zu passen. Wissen wir denn aus früherer Erfahrung, daß die Winkelsumme im Dreieck 180° ist? Wenn man einen Augenblick über die Methoden der Geometrie nachdenkt, sieht man, daß dies nicht wahr ist. Wir wissen vielmehr, daß der Mathematiker einen Beweis für die Winkelsumme im Dreieck hat. Zu diesem Zweck zeichnet er gewisse Linien auf das Papier und erklärt uns bestimmte Beziehungen in der Zeichnung; aber er mißt keine Winkel.

Er macht gewisse allgemeine Voraussetzungen, die er Axiome nennt, von denen er den Lehrsatz logisch ableitet. Er bezieht sich z.B. auf das Axiom, daß es nur eine Gerade durch einen gegebenen Punkt gibt, die einer anderen gegebenen Geraden parallel ist. Seine Zeichnung ist eine Illustration dieses Axioms, aber er beweist es nicht mit Hilfe von Messungen; er mißt nicht die Entfernungen zwischen den Geraden, um zu zeigen, daß sie parallel sind.

Er wird sogar zugeben, daß er eine sehr ungenaue Zeichnung gemacht hat und daß sie eigentlich kein gutes Beispiel für ein Dreieck und für Parallelen ist. Und trotzdem würde er darauf bestehen, daß er einen ganz strengen Beweis geliefert hat, denn er würde behaupten, daß geometrische Erkenntnis aus dem Verstand und nicht aus der Erfahrung stammt.

Zwar können Dreiecke auf dem Papier nützlich sein, uns unser Problem klarzumachen; aber die Zeichnung ist nicht die Grundlage des Beweises. Ein Beweis ist eine Angelegenheit der Logik, nicht der Beobachtung. Um logisch zu denken, stellen wir uns geometrische Beziehungen vor und "sehen" in einem "höheren" Sinne dieses Wortes, daß die geometrische Schlußfolgerung logisch zwingend und daher streng wahr ist. Geometrische Wahrheit ist ein Produkt des Verstandes und ist daher der empirischen Wahrheit, die mit Hilfe der Verallgemeinerung einer Anzahl beobachteter Tatsachen gefunden wird, grundsätzlich überlegen.

Das Resultat dieser Untersuchung ist, daß der Verstand anscheinend allgemeine Eigenschaften physikalischer Dinge entdecken kann, und das ist eine sehr erstaunliche Folgerung. Wenn die Wahrheit, die aus dem Verstande stammt, sich auf analytische Wahrheiten beschränken würde, wäre das kein Problem. Daß Junggesellen unverheiratet sind, kann man mit dem Verstand allein herausbekommen; da die Aussage aber leer ist, enthält sie kein philosophisches Problem. Anders ist es mit synthetischen Aussagen. Wie kann der Verstand synthetische Wahrheiten finden?

In dieser Form hat KANT, mehr als 2000 Jahre nach PLATO das Problem ausgesprochen. PLATO hat die Frage nie so klar gestellt, aber er muß das Problem ähnlich gesehen haben. Das können wir aus seiner Lösung dieses Problems sehen, die er andeutet, wenn er über den Ursprung geometrischer Erkenntnis spricht.

Von PLATO hören wir, daß es außer den physikalischen Dingen noch eine andere Art Dinge gibt, die er 'Ideen' nennt. Es gibt die Idee eines Dreiecks, oder die Idee von Parallelen, oder die Idee eines Kreises, abgesehen von entsprechenden Zeichnungen auf dem Papier. Die Ideen sind den körperlichen Dingen überlegen; sie weisen die Eigenschaften dieser Dinge in vollkommener Weise auf, und wir können daher mehr über die physikalischen Dinge lernen, wenn wir die Ideen betrachten, als wenn wir uns die Dinge selbst ansehen.

Was PLATO damit meint, wird mit Hilfe geometrischer Figuren klargemacht: die Geraden, die wir ziehen, haben eine gewisse Dicke und sind daher im Sinnes des Geometers keine Geraden, denn diese haben keine Dicke; die Ecken eines Dreiecks im Sand sind in Wirklichkeit kleine Flächen und deshalb nicht ideale Punkte. Der Unterschied zwischen der Bedeutung geometrischer Begriffe und ihrer Verwirklichung durch physikalische Dinge läßt PLATO glauben, daß ideale Dinge oder ideale Vertreter dieser Bedeutungen existieren müssen.

Auf diese Weise kommt PLATO zu einer Welt der physikalischen Dinge. Über die letzteren sagt er, daß sie an den idealen Dingen derart teilnehmen, daß sie deren Eigenschaften in unvollkommener Weise aufweisen.

Die mathematischen Figuern sind nicht die einzigen Dinge, die in idealer Forme existieren. PLATO behauptet, daß es alle möglichen Arten von Ideen gibt, wie z.B. die Idee einer Katze oder eines Menschen oder eines Hauses. Kurz, der Name jeder Klasse (der Name einer bestimmten Sorte von Dingen) bedeutet die Existenz einer bestimmten Idee.

So wie die mathematischen Ideen sind auch die Ideen anderer Objekte vollkommen im Vergleich zu ihren unvollkommenen Abbildern in der physikalischen Welt. Die ideale Katze besitzt alle Eigenschaften von "Katzigkeit" in vollkommener Form, und der ideale Athlet ist jedem wirklichen Athleten in jeglicher Beziehung überlegen: er hat z.B. die ideale Körperform. Übrigens stammt unser heutiges Wort "Ideal" aus PLATOs Gebrauch des Wortes.

So seltsam uns auch die Ideenlehre heute erscheinen mag, so muß sie doch im Rahmen der antiken Erkenntnis als ein Erklärungsversuch der anscheinend synthetischen Natur der mathematischen Wahrheit angesehen werden. Wir sehen die Eigenschaften idealer Dinge in einer Art Vision und erwerben uns dadurch ein Wissen über die körperlichen Dinge. Die Ideenvision wird als eine Erkenntnisquelle angesehen, die man zwar mit der Beobachtung der physikalischen Dinge vergleichen kann, die ihr aber insofern überlegen ist, als sie die 'notwendigen' Eigenschaften ihrer Anschauungsobjekte enthüllt.

Beobachtung mit Hilfe unserer Sinne kann uns keine unfehlbare Wahrheit geben; die reine Anschauung kann das aber. Wir sehen mit dem "geistigen Auge", daß es durch einen gegebenen Punkt zu einer gegebenen Geraden nur einen Parallele gibt. Da dieser Lehrsatz uns als unvermeidliche Wahrheit erscheint, kann er nicht aus empirischer Beobachtung abgeleitet sein. Er wird uns sozusagen in einem visionären Akt aufgezwungen, den wir auch ausführen können, wenn unsere körperlichen Augen geschlossen sind.

In dieser Form können wir PLATOs Auffassung der geometrischen Erkenntnis ausdrücken. Was man auch darüber denken mag, man muß zugeben, daß sich hier eine tiefe Einsicht in das logische Problem der Geometrie offenbart. KANT hat diese Lösung in etwas verbesserter Weise wieder aufgenommen, und tatsächlich konnte sie erst durch eine weniger mysteriöse Auffassung ersetzt werden, als im 19. Jahrhundert neue mathematische Entdeckungen gemacht wurden, die sowohl PLATOs als auch KANTs Interpretation der Geometrie hinfällig machten.

Man muß sich darüber im Klaren sein, daß für PLATO ein Akt der reinen Anschauung Erkenntnis nur liefern kann, weil die idealen Dinge existieren. Die Erweiterung des Begriffes 'Existenz' ist für ihn unerläßlich. Da physikalische Dinge existieren, kann man sie sehen; da ideale Dinge existieren, kann man sie mit dem geistigen Auge sehen. Jedenfalls muß PLATO durch solche Überlegungen zu seiner Auffassung gekommen sein, obgleich er sich nie klar darüber ausgedrückt hat.

Mathematische Anschauung wird von PLATO als ein Analogon der Sinnesanschauung behandelt. Hier kommen wir nun aber zu dem Punkt, wo die Logik seiner Theorie unvernünftig wird, selbst wenn man den Wissensmaßstab seiner eigenen Zeit anlegt. Wieder tritt eine Analogie an die Stelle einer Erklärung; und dabei ist die Analogie nicht einmal besonders gut. Der grundlegende Unterschied zwischen mathematischer und empirischer Erkenntnis wird dadurch verwischt, und es wird übersehen, daß das "Sehen" von notwendigen Beziehung wesentlich verschieden ist vom Sehen körperlicher Dinge. Wieder tritt ein Bild an Stelle einer Erklärung, und es wird eine Welt unabhängiger und "höherer" Wirklichkeit erfunden, weil der Philosoph mit Hilfe von Analogien statt mit logischer Analyse vorgeht.

Wie wir schon an Beispielen aus anderen philosophischen Systemen gesehen haben, wird die wörtliche Interpretation einer Analogie zur Wurzel eines philosophischen Mißverständnisses. Und so ist das endgültige Resultat der Ideenlehre mit ihrer Verallgemeinerung des Existenzbegriffes nichts als eine Pseudo-Erklärung.

Ein Platoniker könnte sich vielleicht auf folgende Weise verteidigen. Er würde sagen, man dürfe die Existenz der Ideen nicht mißverstehen, denn diese Existenz braucht nicht genau dieselbe wie die der empirischen Dinge zu sein. Gehört es nicht zur philosophischen Freiheit, gewisse Worte der Umgangssprache wenn nötig in weiterer Bedeutung zu gebrauchen?

Ich glaube nicht, daß sich dieses Argument für eine gute Verteidigung des Platonismus eignet. Es stimmt natürlich, daß Ausdrücke der Umgangssprache oft in die Sprache der Wissenschaft übernommen werden, weil sie eine gewisse Analogie zu Begriffen haben, die der Wissenschaftler gerade braucht. So wird z.B. das Wort "Energie" in der Physik in einer abstrakten Bedeutung gebraucht, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bedeutung im täglichen Leben hat. Eine solche Anwendung von Worten ist aber nur zulässig, wenn die neue Bedeutung genau definiert ist und der weitere Gebrauch des Wortes sich streng an diese neue Bedeutung und nicht an die Analogie mit der alten Bedeutung hält.

Der Physiker, der von der Strahlungsenergie der Sonne spricht, würde nie sagen, daß die Sonne energisch ist; denn eine solche Ausdrucksweise wäre ein Rückfall in die frühere Bedeutung. PLATO gebraucht das Wort "Existenz" aber nicht im wissenschaftlichen Sinne, denn sonst hätte er die Aussage, daß ideale Dinge existieren, mit Hilfe anderer Aussagen, die den fragwürdigen Ausdruck nicht enthalten, definiert und hätte die Aussage nicht selbständig benutzt, als ob sie die gleiche Bedeutung hätte wie die physikalische Existenz.

Wir könnten die Existenz idealer Dreiecke definieren, indem wir sagen, dies heiße soviel, wie über wirkliche Dreiecke mit Hilfe von Implikationen zu sprechen. Oder wir können die Algebra als Beispiel nehmen und sagen, daß für jede algebraische Gleichung mit einer Unbekannten eine Lösung existiert, wenn die Gleichung gewisse Bedingungen erfüllt. In diesem Fall bedeutet das Wort "existiert", daß wir wissen, wie man die Lösung finden kann. Hier wird das Wort "Existenz" völlig harmlos benutzt, und der Mathematiker macht häufigen Gebrauch von dieser Ausdrucksweise; wenn aber PLATO von der Existenz der Ideen spricht, dann bedeutet dieser Ausdruck viel mehr als eine Redeweise, die sich in wohlbekannte Bedeutungen übersetzen läßt.

PLATO sucht nach einer Erklärung dafür, wie es überhaupt möglich ist, daß wir mathematische Erkenntnis haben, und er hat seine Ideenlehre als Erklärung solcher Erkenntnis angesehen. Das heißt er hat geglaubt, daß die Existenz von Ideen unser mathematisches Wissen erklären kann, weil sie eine Art Anschauung mathematischer Wahrheit ermöglicht, so wie die Existenz eines Baumes die Anschauung des Baumes möglich macht.

Es ist klar, daß es ihm nichts helfen würde, wenn er die ideale Existenz einfach als eine Redeweise interpretieren würde; denn dann würde dabei nicht eine Art Sinnesanschauung der mathematischen Figuren herauskommen. Statt dessen kommt er zu einer Auffassung von idealer Existenz als auch die der mathematischen Erkenntnis in sich trägt, eine merkwürdige Mischung von zwei Bestandteilen, die nicht zusammen passen, und die seitdem in der Philosophensprache ihr Unheil getrieben hat.

Ich habe schon früher betont, daß es das Ende der Wissenschaft ist, wenn der Durst nach Erkenntnis mit Pseudo-Erklärungen gestillt wird, wenn Analogie mit Verallgemeinerung verwechselt wird und der Gebrauch von Bildern an Stelle wohldefinierter Begriffe tritt. Ebenso wie die Kosmologien seiner Zeit ist PLATOs Ideenlehre keine Wissenschaft, sondern Dichtung, ein Produkt der Phantasie und nicht der logischen Analyse. Im weiteren Verlauf seiner Theorie zögert PLATO auch nicht, den mystischen Gedankengang dem logischen gegenüber ganz offen zu betonen, denn er verbindet die Ideenlehre mit dem Glauben an die Seelenwanderung.

Diesen Weg schlägt er im Dialog "MENO" ein. SOKRATES will die Natur der Geometrie erklären und veranschaulicht dies durch ein Experiment mit einem jungen Sklaven, der, wenngleich ohne mathematische Vorbildung, einen geometrischen Beweis führt. SOKRATES erklärt dem Knaben nicht die geometrischen Beziehungen, die in der Lösung benutzt werden, sondern er veranlaßt ihn durch Fragen, sie zu "sehen"; die reizende Szene wird von PLATO benutzt, um zu zeigen, was rationale Einsicht in geometrische Wahrheit bedeutet, nämlich angeborenes Wissen, das nicht aus der Erfahrung stammt.

Diese Interpretation ist zwar für uns heute unannehmbar, aber zu PLATOs Zeit wäre sie eine ausreichende Begründung für eine Ideenschau gewesen. PLATO begnügt sich aber nicht mit diesem Resultat, sondern dehnt die Erklärung auch noch auf die Möglichkeit angeborener Erkenntnis aus. In diesem Zusammenhang behauptet SOKRATES, daß angeborenes Wissen dasselbe wie Erinnerung sei, nämlich eine Erinnerung an die Ideenschau, welche die Menschen sich aus den früheren Leben ihrer Seelen bewahrt haben.

Unter diesen Leben war eines im "Himmel jenseits aller Himmel", und während dieses Lebens sind die Ideen geschaut worden. PLATO greift also zur Mythologie, um eine Kenntnis der Ideen zu "erklären". Man kann schwer verstehen, warum eine Ideenschau in einem früheren Leben unmöglich ist - oder warum die Theorie der Erinnerung nötig ist, wenn wir in unserem gegenwärtigen Leben die Ideen sehen können.

Das poetische Gleichnis fragt nicht nach Logik. In der griechischen Mythologie wird die Frage aufgeworfen, warum die Erde nicht in den unendlichen Raum falle; und es wird dann die Antwort gegeben, daß der Riese ATLAS die Erdkugel auf seinem Rücken trage. PLATOs Lehre von der Erinnerung hat ungefähr denselben Erklärungswert wie diese Geschichte, weil sie nämlich den Ursprung der Ideenvision nur von einem Leben zum anderen verschiebt.

Und PLATOs Kosmologie im "TIMAEUS" unterscheidet sich von einem naiven Märchen nur durch die abstrakte Sprache. Er erklärt z.B., daß das Sein vor der Entstehung des Weltalls bestanden hätte. Es ist nur die dunkle Sprache, die den Philosophen besticht, tiefe Weisheiten in solchen Worten zu sehen, die bei nüchterner Betrachtung an das Grinsen der Cheshire-Katze gemahnen, das noch sichtbar blieb, nachdem die Katze verschwunden war.

Ich will aber PLATO in keiner Weise lächerlich machen. Seine bildliche Redeweise spricht die eindringliche Sprache, die sich an die Phantasie wendet - man darf sie eben nur nicht als Erklärung auffassen. PLATO hat Dichtungen geschaffen und seine Dialoge sind Meisterwerke der Weltliteratur. Die Geschichte von SOKRATES, der die Jugend mit seiner Fragemethode unterrichtet, ist ein großartiges Beispiel didaktischer Poesie, die mit Recht ihren Platz neben HOMERs Ilias und den Lehren der Propheten einnimmt. Wir dürfen nur nicht zu ernst nehmen, was SOKRATES sagt; die Hauptsache ist, wie er es sagt und wie er seine Schüler zu logischer Diskussion anregt. PLATOs Philosophie ist das Werk eines Philosophen, der zum Dichter geworden ist.

Wenn der Philosoph Probleme sieht, die er nicht beantworten kann, scheint es eine unwiderstehliche Versuchung für ihn zu sein, Bildersprache an die Stelle von Erklärungen zu setzen. Wenn PLATO den Ursprung der mathematischen Erkenntnis wirklich wie eine Wissenschaft studiert hätte, würde seine Antwort in einem offenen "Ich weiß es nicht" bestanden haben. Der Mathematiker EUKLID, der eine Generation nach PLATO die Geometrie axiomatisch aufbaute, hat nie den Versuch gemacht, eine Erklärung für unsere Kenntnis der geometrischen Axiome zu geben. Der Philosoph, auf der anderen Seite, scheint unfähig zu sein, seinen Drang nach Wissen zu beherrschen. Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch finden wir den Verstand des Philosophen mit der Phantasie des Dichters vereint; wo der Philosoph fragt, da antwortet der Dichter. Wenn wir uns also mi den philosophischen Systemen beschäftigen, dann sollten wir unsere Aufmerksamkeit besser auf die Fragen richten, die gestellt, als auf die Antworten, die gegeben werden. Die Entdeckung grundlegender Fragen ist ansich ein wesentlicher Beitrag zum geistigen Fortschritt und wenn man die Geschichte der Philosophie als eine Geschichte von Fragen auffaßt, ist sie viel fruchtbarer, als wenn man sie als eine Geschichte von Systemen zu begreifen sucht. Gewisse Fragen, die weit in die Geschichte zurückgehen, haben erst in moderner Zeit eine wissenschaftliche Antwort gefunden. Unter diesen Fragen ist auch die nach dem Ursprung mathematischer Erkenntnis. Andere Fragen mit ähnlicher Entwicklung werden in den folgenden Kapiteln behandelt.

Die in diesem Kapitel gegebene Untersuchung ist die erste Antwort auf unsere psychologische Frage, die sich auf die philosophische Sprache bezog und sich aus der Diskussion des Zitates am Anfang des Buches ergab. Der Philosoph spricht eine unwissenschaftliche Sprache, weil er Probleme zu einer Zeit zu lösen versucht, zu der die Mittel zu einer wissenschaftlichen Lösung noch nicht vorhanden sind. Diese historische Erklärung hat aber nur eine beschränkte Gültigkeit, denn es gibt Philosophen, die diese Bildersprache auch noch sprechen, wenn die Mittel für eine wissenschaftliche Antwort auf ihre Fragen schon längst vorhanden sind. Während die historische Erklärung auf PLATO paßt, kann man sie nicht auf den Verfasser des Zitates anwenden, der von der Vernunft als der Substanz aller Dinge spricht und dem die Resultate von 2000 Jahren wissenschaftlicher Forschung nach PLATO zu Gebote standen - der aber keinen Gebrauch davon gemacht hat.
LITERATUR - Hans Reichenbach: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Philosophie, Berlin 1951