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Das Grundproblem der Erkenntnistheorie [1/3]
Hat die Erkenntniskritik den Beruf, allen und jeden Dogmatismus aufzuheben und zu vernichten, so gilt das nicht bloß für die vielgescholtene spekulative "Begriffsdichtung", sondern ebensogut für jeden Realismus und Empirismus, der sich ohne Legitimation in der "Wirklichkeit" breit niederlassen will. Darin liegt das Hoheitsrecht der Philosophie und wurzelt allen Angriffen auf ihre Existenz gegenüber ihre unbesiegbare Lebenskraft. Keine Einzelwissenschaft ist befähigt und berechtigt, einen aus der Enge ihres Arbeitsfeldes abstrahierten Begriff des Wissens und Erkennens der Philosophie aufzuoktroyieren, wie es zuweilen geschieht; vielmehr hat eine die Prinzipen feststellende philosophische Erkenntniskritik erst ihrer aller wesentliches Verhältnis zu eruieren. Daraus, daß sie etwa mit ihrem Geschäft noch nicht zu Ende und ins reine gekommen, folgt keineswegs die Überflüssigkeit desselben oder das Recht für irgendeine singuläre, etwa die naturwissenschaftliche Methode, die allgemeine Grundfrage von ihrem Sonderstandpunkte aus und nach ihrem Sonderhorizont durch Machtsprüche zu lösen. Solange es in der Natur des Wissens gelegen ist, nicht bloß auf allerhand abwechselnd gerichtet, sondern seiner selbst dabei sicher und gewiß sein zu wollen, solange wird die wissensdurstige Menschheit über alle solche vorschnellen Abschlüsse, so zuversichtlich und anspruchsvoll sie auch einige Zeit auftreten mögen, immer wieder zu erneuter philosophischer Prüfung der letzten Begründung ihres Wissens vordringen müssen. Für spätere Beachtung und Erledigung das gleich hier am Anfang unserer Überlegung sich vordrängende Bedenken zurücklegend, es sei der Zirkel unvermeidlich, in einer solchen Prüfung die letzten Elemente des zu Prüfenden selbst wieder als Entscheidungsgründe vorauszusetzen, beginnen wir mit der Frage nach dem Sinn der Gewißheit. Selten freilich pflegt man diesen Sinn nicht für völlig selbstverständlich zu halten und also auch noch danach zu fragen. Indessen darf uns das Mitleid derer, die - sich selber in allem klar - die Philosophen ohnehin schon an soviel Selbstverständlichem sich abquälen sehen, nicht bereden, diesen Begriff ungemustert aufzunehmen. Obendrein lauten die Bestimmungen, wenn solche aufgestellt werden, unbefriedigend genug. So gibt z. B. WINDELBAND (1) zwei Definitionen, eine logische und eine psychologische. Gewißheit sei dasjenige Prädikat unserer Urteile, durch welches wir dem Inhalt derselben Wahrheit zuschreiben, ferner derjenige psychologische Zustand, in welchem sich die Seele einer widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen bewußt ist. Daß die erst eigentlich nur auf einen Zirkel hinausläuft, und wir uns hüten müssen, die Gewißheit durch die Wahrheit und umgekehrt zu erklären, leuchtet ein. Nicht die Angabe dieser Leistung erwarteten wir, sondern die Aufzeigung dessen, worin die Fähigkeit dazu begründet ist. Die zweite bestimmt die Gewißheit als Bewußtsein eines Inhalts von spezifischer Beschaffenheit, nämlich einer eben im Gleichgewichtszustand befindlichen oder als solche reproduzierten Vorstellungsmasse. Daran scheint zunächst nichts festzustehen, als daß Gewißheit einen eigenen ausgezeichneten Fall oder eine irgendwie ausgezeichnete Weise des Bewußtseins bedeutet. Es frägt sich aber, worin dieses Auszeichnende besteht. Um von allen Schwierigkeiten abzusehen, die wie immer so auch hier hinter der scheinbaren Klarheit eines nach mechanischer Analogie konstruierten Bildes psychischen Geschehens einige kritische Vorsicht leicht entdeckt, so ist nicht zu bestreiten, daß wir mit gutem Grund auch von der sokratischen Gewißheit der Unwissenheit, des Nichtwissens oder von der einzigen Gewißheit unseres Zweifelns reden, daß wir leider wohl ebenso oft eines ungleichgewichtigen Zustands, des widerspruchsvollen Zwiespalts der Vorstellungen uns "gewiß" sind, daß also der positive Inhalt, dessen Beschaffenheit man mit dem Ausdruck: widerspruchslose Einheit der Vorstellungen meint, jene Auszeichnung nicht begründet, daß nämlich Gewißheit nicht einfach bloß "der Zustand eines erfüllten Strebens", des befriedigten Erkenntnistriebes sein kann. Ohnehin steckt ja darin auch insofern ein idem par idem [dasselbe durch das dasselbe - wp], als der "Erkenntnistrieb" notwendig die Gewißheit involviert und das Attribut "widerspruchlos" nur eben denselben der Analyse bedürftigen Knäuel logischer und psychologischer Rätsel anders formuliert, den wir kürzer mit dem Wörtchen "gewiß" bezeichnen. Und wiederum zu nichts als einer unfruchtbaren Diallele [Durcheinander - wp] und bequemen Umgehung der eigentlichen Schwierigkeit führt WINDELBANDs Zusammenfassung seiner beiden Definitionen, wonach Gewißheit derjenige psychologische Zustand sei, in welchem sich die Seele der widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen als einer objektiven Wahrheit bewußt werden (2). Betrachten wir den Gegensatz, die Ungewißheit, so schließt diese allerdings die Gewißheit in Bezug auf ein und dasselbe Objekt des Bewußtseins aus. Ist aber diese letztere ein eigener, irgendwie ausgezeichneter Fall des Bewußtseins, so ist Ungewißheit nicht Negation des Bewußtsein, sondern nur die gewußte Abwesenheit jenes auszeichnenden Momentes, das Wissen von einem Mangel. Beides nun, Gewißheit wie Ungewißheit, kann allerdings nicht als Zustand einer Seele wirklich sein ohne Gewißheit oder Ungewißheit von etwas, eines bestimmten "Vorstellungsinhalts" zu sein; aber kein wie immer beschaffener Bewußtseinsinhalt, ob widerspruchslos einheitlich oder widerspruchsvoll zwiespältig, kann für sich und ansich eo ipso [schlechthin - wp], bloß dadurch daß er eben Bewußtseinsinhalt ist, Gewißheit sein oder setzen. Denn soweit der Ausdruck "widerspruchslos" nur ein statisches Moment eines Vorstellungskomplexes bezeichnet, ist er gänzlich ungeeignet den Sinn zu decken, den wir mit "gewiß" meinen; soll er aber logischen und nicht bloß psychostatischen Sinn haben, so bezeichnet er wohl etwas, das nicht ohne Zusammenhang mit der Gewißheit, aber nicht diese selbst ist: denn, was logisch widerspruchsvoll gedacht ist, nimmt nur die Voreiligkeit schon für gewiß; dem Besonnenen gilt es nur als negatives Kriterium, wonach nichts gewiß sein kann, was nicht widerspruchslos denkbar ist. Dem steht nun freilich eine weitverbreitete Meinung entgegen, der z. B. CARL GÖRING (System der kritischen Philosophie, Teil 1, Seite 306 und sonst) folgenden Ausdruck gibt:
Und auch nach WINDELBAND (a. a. O., Seite 68f) haftet unmittelbare Gewißheit "allem Gegebenen" an und ist nichts anderes als "eine Empfindung der Seele davon, daß in ihrem Vorstellungsverlauf etwas eingetreten ist, was aus dem Mechanismus ihrer Vorstellungen allein nicht erklärlich ist". Ähnliches kehrt in allen Schattierungen empiristischer Grundanschauungen wieder. Beleuchten wir zunächst GÖRINGs Darlegung! Das "unmittelbare Bewußtsein", das Wissen des "natürlichen Denkens" führe die größte subjektive Gewißheit mit sich. Aber welchen angebbaren Sinn sollte denn diese Gewißheit eines "Wissens" noch haben, dem eine "Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum" erklärtermaßen nicht möglich ist, das "keinen Grund zur Annahme der Richtigkeit oder Falschheit einer Vorstellung" hat? Hat das Wort Gewißheit einen Sinn, wenn es nicht im Sinne positiver Energie den Ausschluß der Ungewißheit bedeutet, und ist Ungewißheit ein denkbarer Zustand einer Seele, die zwischen Wahrheit und Irrtum nicht unterscheiden kann? Es würde uns, meint GÖRING, besäßen wir nur das unmittelbare "Wissen", der Gedanke des Irrtums überhaupt nicht kommen. - Warum "überhaupt nicht"? Offenbar weil er nicht möglich wäre! Und während er unmöglich ist, soll eben deshalb dasjenige, welches, wie es auch zustande kommen und worauf auch seine Befähigung zu einer solchen Leistung beruhen mag, jedenfalls Bewußtsein der Ausgeschlossenheit des Irrtums bedeutet, wirklich sein? Der Schluß: weil nicht Ungewißheit, nicht Gedanke an Irrum möglich, deshalb größte Gewißheit wirklich, ein Schluß, der den ganzen sensualistischen Aufbau der GÖRINGschen Erkenntnistheorie tragen muß, ist ein offenbarer Fehlschluß, und muß im Nachsatz zu der Folgerung korrigiert werden: "deshalb auch keine Gewißheit möglich." Wenn im "vermittelten Wissen" Evidenz eintritt, kommt uns auch nicht der Gedanke an Irrtum, eben weil er durch präsente Gewißheit ausgeschlossen, "überhaupt" aber möglich ist; im "unmittelbaren Wissen" dagegen kommt der Gedanke an Irrtum nicht deshalb nicht, weil er durch präsente Gewißheit ausgeschlossen ist, während er ansich möglich wäre, sondern weil er und eben damit auch dessen aktuelle Ausschließung: die Gewißheit unmöglich ist. Auch ist es nicht richtig zu sagen: "wir würden (im unmittelbaren Wissen) keinen Grund haben zur Annahme der Richtigkeit oder Falschheit", sondern das "Grund haben" überhaupt gäbe es gar nicht, wäre unmöglich. Diese empiristische Grundlegung begeht offenbar den Grundfehler, nur zu fragen, was (welcherlei Inhalt) gewiß sei, und nicht zuerst zu erwägen, was gewiß sei, d. h. was dieses Prädikat bedeute und voraussetze. Sie operiert vielmehr mit ihm als etwas ganz Selbstverständlichem. Daß man freilich auf jene erste Frage mit dem Hinweis auf die Sinnesempfindungen antwortet gestützt auf den Zwang, die Nötigung, welche sie mit sich führen, ist sehr natürlich; denn sie sind dem Fragenden, dessen Zustände sie sind, in der Tat gewiß als unleugbare Tatsachen seines Bewußtseins. Besagt doch diese ihre Gewißheit nichts anderes als daß diese seine momentanen Zustände nicht diese Zustände nicht seien. Dabei ist nur zu bedenken, was der Sensualist nicht bedenkt, daß dieses "nicht nichtsein" ein Inhalt ist, der nicht damit gesetzt ist, daß die Zustände sind, sondern dadurch gesetzt wird, daß sie gewußt werden. Wer da wieder einwendete, daß ja jeder solche elementare Zustand, jede Empfindung ihrer Natur nach "bewußt" sei, ihr Sein ja eben in diesem "bewußt sein" bestehe und in und mit diesem ihrem Sein ebendeswegen das unmittelbare Wissen von größter subjektiver Gewißheit gegeben sei, der bewiese nur, daß er zwischen und bewußt sein und bewußt werden, zwischen dem Dasein einer Empfindung und dem Wissen von diesem Dasein nicht unterscheiden kann. Erklärlich freilich ist solcher Irrtum, der eine Verletzung des ersten Denkgesetzes involviert. Die Sinnesempfindungen sind ja in der Tat uns, d. h. den auf den Erkenntniswert ihrer Bewußtseinsinhalte sich besinnenden oder wenigstens überhaupt einen solchen Wertunterschied statuierendenvwenn auch nicht nochmal darauf refelektierenden Subjekten gewiß. Auch dem "natürlichen Denken" bis zu einem gewissen Grad entwickelter nichtphilosophischer Intellekte wird dieser Wertunterschied, den eine Unterscheidung von Gewißheit und Ungewißheit meint, immer geläufiger, wenn auch nie die Klarheit des Erkenntnistheoretikers erreicht wird. Weil es nun "uns" so ganz geläufig und natürlich ist, daß unsere Sinnesempfindungen uns "gewiß" sind, die Frage, was gewiß sei, aber eben nur solche "wir" stellen, so kann man leicht dazu kommen, diese Gewißheit den "gegebenen" Sinnesempfindungen einfach unmittelbar "anhaften" zu lassen und so von einem unmittelbaren Wissen zu reden. Man vergegenwärtige sich den oben angeführten Satz WINDELBANDs! Die allererste Gesichtsempfindung z. B. eines Neugeborenen ist für ihn ansich betrachtet in demselben Sinn ein "Gegebenes" wie für uns unsere gegenwärtig: ist sie für ihn ein "Gegebenes", beantwortet er es mit der Empfindung davon, "daß in seinem Vorstellungsverlauf (wenn und soweit von solchem die Rede sein kann) etwas eingetreten ist, was sich aus dem Mechanismus seiner Vorstellungen allein nicht erklären läßt"; ist es also für ihn "unmittelbar gewiß"? Ich denke, diese Fragen zu bejahen wäre absurd. Leistungen der kompliziertesten Art würden durch den vagen Ausdruck "anhaften" dem einfachsten ursprünglichen psychischen Geschehen immanent gesetzt. Die Wendung von dem etwas, das sich aus dem Mechanismus der Vorstellungen allein nicht erklären lasse, und vom "Gegebnen" umschreibt ja doch nur den "enorm schwierigen" Begriff, um welchen eben nicht herumzukommen ist, wenn man von Gewißheit spricht, nämlich den des Objektiven. Dieser aber ist durchaus nicht von bloß psychologischer Natur. Woher ferner soll die empfindende Seele wissen, was sich so oder nicht so, oder daß sich überhaupt etwas "erklären" lasse? Eine lange Reihe der naivsten Subreptionen [Erschleichungen - wp] steckt in einer solchen Bestimmung der unmittelbaren Gewißheit. Darum macht es aber auch solche einfache Art, zu einem objektiv-Realen, zu einem "Gewissen" hinüberzukommen, recht offenkundig, wie die Eierschale des naiven *Dogmatismus dem altklugen Empirismus gerade dort am zähesten anklebt, wo er sich am meisten mannbar und überlegen fühlt. Von WUNDTs "Anschauung" gilt dasselbe. Er sagt: "Die Empfindung blau, die ich beim Anblick des Himmels in mir finde, ist unmittelbar gewiß; sie ist mir gegeben als eine nicht zu bestreitende Tatsache meines Bewußtseins". Nichts scheint richtiger zu sein und es gilt von jeder Empfindung, die "ich in mir finde". Aber jede Empfindung ist für sich und aus sich doch nur der Grund davon, daß sie (und nicht eine andere) gewiß ist, nicht aber ist das Dasein der Empfindung zugleich der ganze Realgrund ihre gewißseins, ihres gewußtwerdens. Die Empfindungen sind "uns" allerdings unmittelbar gewiß; aber daß sie das sind und nicht eben bloß Empfindungen sind in der ihnen eigenen Seinsweise, die wir eine Form des "Bewußtseins" nennen, dazu ist erforderlich, daß sie, die ansich bloß sind, durch die mit ihrem bloßen Sein oder Erlebtwerden durchaus nicht identische Leistung, die in der Anerkennung, im Wissen ihres "nicht nichtseins" besteht, unter den Gesichtspunkt des Erkenntniswertes gerückt werden, eine Bezüglichkeit auf denselben gewinnen. Eben dies kann aber nicht einfach an den Elementen des Bewußtseins unmittelbar "haften" und keine Kunst, sondern nur Kunststückchen können es aus ihnen herausspinnen wollen. Der Zwang, die Nötigung, die wir meinen, wenn wir sie unmittelbar gewiß, "nicht bestreitbare Tatsachen" nennen, ist also von ganz anderer Natur als der Zwang, der dem Sein oder Erlebtwerden der Empfindungen immanent ist. Den Ursprung jener Nötigung aufsuchen heißt philosophische Erkenntnistheorie treiben, den Nerv von jener Nötigung aus Mangel an Unterscheidungsschärfe in die psychologische Nötigung verlegen und pathetisch als Obersatz wahrer Wissenschaftlichkeit und "wissenschaftlicher Philosophie" proklamieren: "Wer die Wahrheit, das Seiende erkennen will, muß sich dem Zwang der Sinnesempfindungen (als dem allein Gewissen) unterwerfen", heißt nur unter dem Namen des Empirismus oder Positivismus, der "reinen Erfahrung" oder wie man es auch nennen mag, den alten Dogmatismus neu auflegen. Der Satz: "die Sinnesempfindung ist unmittelbar gewiß", ist - Kantisch zu reden - kein analytischer, sondern ein synthetischer, also durchaus nicht das Selbstverständliche, das es "uns" scheint. Vielmehr liegt in der Aufzeigung der Möglichkeit und Aufhellung der Natur dieser Synthese die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Wer sie umgeht, dem bleibt nur die platte Empirie, die jedenfalls gänzlich außer aller Philosophie liegt. Es kann eine Zeit lang Mode werden und ist es gegenwärtig ziemlich allgemein, in ihr ausschließlich wahre Wissenschaftlichkeit zu erblicken; doch Intoleranz ist ja eben das Symptom, an dem man in jeder Maske den Dogmatismus sofort erkennen kann. Auf die scheinbar selbstverständliche unmittelbare Gewißheit gründet dann der Empirismus mittels der Erfahrungskontrolle die objektive oder wissenschaftliche Gewißheit, indem er der Praxis der "wissenschaftlichen Forschung", d. h. der Empirie die Kriterien darüber entlehnt, welche "Tatsachen" allgemein als gewiß zu gelten haben. Aus unserer Kritik jener Grundlage der unmittelbaren Gewißheit, von der ja alle objektive ausgehen muß, erhellt sich daß, wenn an dieser "wissenschaftlichen Gewißheit" alles übrige seine Richtigkeit hat, jedenfalls das Eine unerklärt bleibt, wie sie denn Gewißheit sei. Man versteht dies freilich meist geschickt zu verdecken. So neuestens WUNDT in seiner Logik, indem er nicht vergißt, die Versuche einer tieferen philosophischen Behandlung, die allerdings, eben weil sie dies sind und sich mühen auf die wirklichen Schwierigkeiten einzugehen, sich leicht in unbefriedigende Einseitigkeiten verirren können, der Neigung zu beschuldigen die Probleme des Erkennens unnötig zu verdunkeln, beliebige "erst kürzlich geschaffene Maßstäbe" an die Gewißheit anzulegen, die Sachen auf den Kopf zu stellen und berechtigte wissenschaftliche Vorsicht zu verwirrenden Dogmen erstarren zu lassen. Aber das hilft alles nichts: auch der tüchtigste Physiologe vermag Rätsel des Bewußtseins nicht damit aus der Welt zu schaffen, daß er von ihnen absieht und über sie hinwegspringt. Durch die geräuschvollste Berufung auf die Verfahrensweisen der "wissenschaftlichen Forschung im Einzelnen" darf sich die philosophische Erkenntniskritik in ihrem besonnenen Blick nicht ablenken lassen von ihrem eigenen Pfad. Häufig glaubt man nun auf der anderen Seite den rechten philosophischen Weg einzuschlagen, wenn man als Komplement des einseitig betonten a posteriori der empiristischen Erkenntnistheorien die apriorischen Elemente aufsucht, in deren sich selbst genügender Selbstverständlichkeit unsere Erkenntnis jenen letzten Halt gewinnen möchte, welcher den stets provisorischen Erfahrungswahrheiten in Rücksicht allgemeinen und notwendiger Geltung versagt scheint. Allein mag es auch gewisse Formen und Gesetze geben, in und nach welchen allein vorgestellt und gedacht werden kann, und die vielleich aller Erfahrung vorausgesetzt werden müssen als Anlagen, welche nur der Anreizung harren, um jene psychischen Gebilde zu verwirklichen, in denen allein die Wirklichkeit für uns erfaßbar ist; mögen sie und gewisse "letzte und einfachste synthetische Wahrheiten" apriorische Bedingungen zur Hervorbringung der Vorstellungs- und Gedankenwelt sein, die wir unser Wissen nennen: weder versteht und weiß die Selbstverständlichkeit und Evidenz dieser Wahrheiten sich selbst, noch setzen jene apriorischen Formen und Gesetze aus sich selbst oder enthalten in sich selbst eben die "Gewißheit" des Bewußtseinsinhalts, der durch dieselben geformt wird und bezüglich dessen von erkenntnistheoretischer Geltung doch nur erst geredet werden knn, wenn und weil überhaupt Gewißheit als subjektive Tatsache vorkommt. Ein immerhin denkbares Vorstellen, welches inhaltlich sonst gleichgeartet sich vom unsrigen dadurch unterschiede, daß sich in ihm nie ereignete, was wir unter Gewißheit meinen, gliche demselben ungefähr so wie der tote Organismus dem lebendigen. Man wird daher auch nicht zwischen dem a posteriori und dem a priori unerörtert und ununtersucht die Natur der Gewißheit oder Selbstverständlichkeit in der Mitte liegen lassen dürfen, wie ZELLER (3) oder selbst LOTZE (4), der, sonst so behutsam und vorsichtig, gerade darüber keines seiner leicht erregbaren bedenken hegt. Wenn auch ihm die Evidenz einer Erkenntnis als psychischer Vorgang betrachtet zuletzt in "Ruhe und streitlosem Gleichgewicht des Gemütes" besteht, so hat schon frühere Überlegung uns gezeigt, daß der eigentliche Nerv der Gewißheit damit nicht getroffen ist. Zwar spricht LOTZE gelegentlich vom "unmittelbaren Innewerden", durch welches allein die Überzeugung von einer allgemeingültigen Gewißheit entstehen könne, von einem "unmittelbaren Zutrauen oder Glauben", worauf schließlich alle unsere Beurteilung der Wirklichkeit beruhe und von der "unbegründbaren Zuversicht", die tatsächlich aller Logik zugrunde liege, aber er verfolgt nirgends die innere Natur der Gewißheit, deren eigentümliches Wesen ihm jene unbestimmten Ausdrücke ablockt. Daß ihm aber über dem Eifer, durch eine siegreiche Verfechtung apriorischer Grundsätze unserem Erkennen allgemeingültige Wahrheit zu sichern, die erkenntnistheoretische Fruchtbarkeit der Gewißheit doch entgangen ist, wird sich in einem späteren Zusammenhang deutlich zeigen. Nicht die Namen, aber die sachlichen Behandlungsweisen und Auffassungen sind mit Ausnahme weniger, die uns weiterhin im besonderen beschäftigen müssen, in dieser kurzen Umschau erschöpft. Was der Ausdruck: gewiß heiße, das sehen wir entweder als selbstverständlich einfach vorausgesetzt oder unbefriedigend definiert; wir haben es also mit einem Grundbegriff zu tun, den jedermann gebraucht ohne sich von seinem Sinn genügend Rechenschaft zu geben. Knüpfen wir mit unserem Versuch diese Lücke auszufüllen, an das "letzte Element des Bewußtseins", an die Sinnesempfindung an. Hier ist es nun vor allem notwending mit dem Namen des Bewußtseins einen bestimmten Sinn ausdrücklich zu verbinden; denn die Dehnbarkeit desselben legt die Gefahr nur zu nahe durch eine ununterschiedliche Anwendung desselben wichtige Unterschiede zu verwischen. Bald wird Bewußtsein als gleichbedeutend mit psychischen Phänomenen oder einem psychischen Akt überhaupt gebraucht (5), bald soll es lediglich darin bestehen, daß wir überhaupt Zustände und Vorgänge in uns finden (6), eine Definition von völlig nichtssagender Weitschichtigkeit; bald faßt man es präziser als die nur im Augenblick der Empfindung bestehende Tätigkeit der Seele, die sich auf den empfundenen Inhalt richtet und die also nicht etwas für sich Wirkliches, sondern in Wahrheit nur ungetrennt von den veränderlichen Zuständen möglich ist (7), andere wieder und am nachdrücklichsten ULRICI (8) fassen es als den Erfolg einer eigenartigen, spontanen höheren Unterscheidungstätigkeit der Seele, und wieder andere halten es für ein Letztes und Einfachstes und daher ebensowenig wie die Empfindung eigentlich Definierbares, sondern höchstens negativ Bestimm- und Begrenzbares. Diese Unbestimmtheit und Ratlosigkeit, die mehr oder minder in jenen Versuchen einer Definierung ebenso zutrage tritt wie in der Enthaltung davon, hat ihren Grund offenbar im schwankenden Umfang dessen, was der Sprachgebrauch mit dem Namen des Bewußtseins ohne bestimmten leitenden Grundsatz zu bezeichnen pflegt. Will man ihn für psychischen Akt überhaupt beanspruchen und damit die allgemeine Natur der Akte des Seelenlebens, etwas immanent gegenständlich zu haben, charakterisieren, indem ja immer, wenn empfunden, vorgestellt, begehrt usw. wird, etwas empfunden usw. wird, so ist es umso notwendiger, die weiteren Stufen des Bewußtseins klar davon zu sondern. Um Verwechslungen zu vermeiden dürfte es übrigens geraten sein jenen allgemeinen Charakter psychischer Akte lieber mit dem dieser Allgemeinheit der bloßen sogenannten intentionalen Inexistenz entsprechenden Namen Bewußtheit zu bezeichnen, welcher diese Eigentümlichkeit der psychischen Akte zum Ausdruck brächte, die eben fixes Attribut des Beseelten ist. Denn es ist ja nicht richtig, was gesagt wird, daß jedes psychische Phänomen "Bewußtsein von einem Objekt" ist; für das Empfinden z. B. ist das, was empfunden wird, nicht Objekt, sondern eben nur Inhalt, und in einer nur für das Empfinden organisierten Seele gäbe es durchaus kein "Bewußtsein von einem Objekt", sondern nur jene dumpfere Bewußtheit eines psychischen Inhalts. Die Verwahrung gegen solche düftelnde "Abstraktion" sich berufend auf den hier platzgreifenden Entwicklungs gedanken, der keine solchen Isolierungen dulde, würde vergeblich den Gewohnheitsfehler zu maskieren suchen, der darin liegt, daß man sich gerne notwendingen Unterscheidungen mit Hilfe einer unexkaten Terminologie entzieht. Erst aber müssen bestehende Unterschiede als solche anerkannt und dann erst kann ihr Zusammenhang ins Auge gefaßt werden, wenn die Sicherheit des wissenschaftlichen Verfahrens nicht leiden soll. ![]()
1) WILHELM WINDELBAND, Über die Gewißheit der Erkenntnis, Leipzig 1873 2) Wenn WINDELBAND von der "psychologischen Tatsache" der Grundtendenz unserer Seele nach widerspruchsloser Einheit ihrer Vorstellungen spricht, zu deren Befriedigung sie die objektive Verbindung ihres Vorstellungsinhaltes aufsuchen müsse, so bleibt völlig unerklärt, wohier sie von "objektiver Verbindung" etwas wisse. 3) EDUARD ZELLER, Vorträge und Abhandlungen II, Seite 469f 4) HERMANN LOTZE, Logik 1874, Seite 512f 5) FRANZ BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Seite 132f 6) WILHELM WUNDT, Physiologische Psychologie, Seite 707 7) HERMANN LOTZE, Metaphysik, 1878, Seite 593 8) HERMANN ULRICI, Gott und der Mensch, Seite 274f |