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HEINRICH RICKERT
Alois Riehl

"Die Neukantianer führten dadurch, daß sie auf Kant zurückgingen, die wissenschaftliche Philosophie zugleich erheblich vorwärts. Das entsprach der Situation ihrer Zeit. Kant war vergessen oder wurde nicht mehr verstanden. Die damals herrschenden Ideen stammten aus Gedankenkreisen, die Kant bereits vor einem Jahrhundert überwunden hatte."

"Es gibt Erscheinungen im Bewußtsein und außerdem eine transzendente Realität, die aber wissenschaftlich nicht erkannt werden kann. Die Einzelwissenschaften bleiben auf die Erscheinungen beschränkt, und die Philosophie hat ihre Aufgabe darin, die wissenschaftliche Erkenntnis der Phänomene als objektiv gültig zu begreifen, indem sie die transzendentalen Faktoren darin aufweist."

""Wie es ohne Empfindung für uns keine Eigenschaft eines Dinges geben könnte, so könnte es ohne Gefühl keine Bedeutung desselben geben. Die Frage aber: was die Dinge für Sinne und Verstand sind, ist ohne Zweifel von der Frage, was sie für die Beurteilung durch unsere Gefühle bedeuten, wesentlich verschieden, und es ist gewiß etwas anderes, ob wir die Vorgänge in der Natur auf ihre letzten erkennbaren Gründe zurückzuführen haben oder aussprechen sollen, wie unser Gemüt auf dieselben zurückwirkt."

"Die Motive, die ihn veranlaßten, am Ding-ansich festzuhalten, verband er damals vor allem mit dem Irrationalitätsproblem, das in der Tat jede Realität enthält. Von hier aus begründete er die Notwendigkeit, etwas als wirklich zu behaupten, was sich niemals in das erkennende Subjekt aufnehmen läßt, und was als das Ansich der Realität, wie es unabhängig von jedem Subjekt anzuerkennen sei, stets auch seinen bewußtseinsjenseitigen Bestand behalten wird."

"Dem überwissenschaftlichen Gerede unserer Propheten und Weisheitslehrer werden wir Riehls Standpunkt weit vorziehen. Die modernen Romantiker schreiben nur für den Tag, der die strenge Wissenschaft nicht liebt. Sie scheuen die Mühe des begrifflichen Denkens und möchten sie durch das bequemere Schauen ersetzen. Sie sind die Journalisten der Philosophie. Nun, der Tag kommt und will sein Recht, aber er geht auch wieder."

 
Auf seinem Landsitz in Neubabelsberg, wohin er sich zurückgezogen hatte, ohne seine Lehrtätigkeit ganz aufzugeben, ist ALOIS RIEHL im 81. Lebensjahr gestorben. Kurz vorher erschien im Buchhandel ein Band von ihm unter dem Titel: Philosophische Studien aus vier Jahrzehnten. Das "Geleitwort" dazu ist vom September 1924 datiert, also nur zwei Monate vor seinem Tod geschrieben. Der Band enthält eine Reihe von chronologisch geordneten Abhandlungen, die bis ins Jahr 1870 zurückreichen. Die meisten Arbeiten werden den Fachgenossen bekannt sein. Nur am Schluß stehen einige mehr populär gehaltene Stücke, von denen zwei meines Wissens bisher nicht gedruckt waren, darunter eine Rede, die RIEHL kurz vor dem Krieg in Princeton über den "Beruf der Philosophie in der Gegenwart" gehalten hat. An sie will ich anknüpfen, um zu sagen, wer der Mann war, der jetzt für immer von uns geschieden ist.

RIEHLs Rede beginnt mit folgenden Sätzen, in denen ich einige Worte durch den Druck hervorhebe, da es auf sie vor allem ankommt:
    "Die philosophische Bewegung der Gegenwart nimmt ihren Anfang im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts mit einem erneuten und vertieften Studium Kants. Nach dem Scheitern des naturphilosophischen Abenteuers fand sich die Philosophie wie von selber, um es mit einem Wort von Helmholtz zu sagen: auf den gesunden Boden Kants zurückgebracht. Von dieser Grundlage aus suchte sie sich erst wieder über sich selbst zu besinnen."
Dann fährt RIEHL fort:
    "Inzwischen war die Naturwissenschaft ihrerseits zu Entdeckungen und Anschauungen von philosophischer Bedeutung gelangt."
Dabei ist vor allem an die Erhaltung der Energie zu denken als an das Prinzip, "das es erst möglich machte, alle Teile der Physik in ein einheitliches System zu verbinden", und ferner an die Anwendung der Idee der Entwicklung auf die Erforschung der organischen Natur, an die Lehre von der Abstammung der Arten. Hierauf heißt es weiter:
    "In dem Maße nun, wie sich die forschende Wissenschaft immer exakter gestaltete, wurde sie sich auch der Bedingtheit ihrer Aufgaben bewußt",
wobei auf Dubois-Reymonds "Grenzen des Naturerkennens" hingewiesen wird, und endlich hören wir:
    "Zwischen eine solchen kritisch gewordenen Naturwissenschaft und einer Philosophie, die sich die Prüfung der Quellen des Wissens und die Bestimmung ihrer Grenzen zu ihrer vornehmsten Aufgabe gestellt hatte, konnte sich eine Annäherung vollziehen, die bald zu einem Bündnis werden sollte. Wissenschaft und Philosophie, die beiden längere Zeit getrennten und feindlichen Mächte, hatten sich nicht bloß versöhnt, sondern noch darüber hinaus eine Art Personalunion geschlossen."
Bei diesen Sätzen hat RIEHL selbstverständlich die philosophische Bewegung im Auge, die man als Neukantianismus bezeichnet, und die für ihn die "wissenschaftliche" Philosophie seiner Zeit, also der Gegenwart war. Zugleich hebt er in ihr jenen Faktor hervor, für dessen Ausbildung er selbst von größter Bedeutung geworden ist: die einerseits naturwissenschaftlich orientierte, andererseits "realistisch" gerichtete Fortbildung der kantischen Gedankenwelt. Was bedeutet der Neukantianismus im allgemeinen, und welche Rolle hat RIEHL im Besonderen in ihm gespielt? Wir haben Grund, uns auch die erste Frage gerade bei RIEHLs Tod vorzulegen. Mit diesem ebenso hellen und scharfen wie tiefen Geist ist der letzte aus einer Gruppe von Männern dahingegangen, die Neukantianer genannt werden können, und die für die Entwicklung der wissenschaftlichen Philosophie der Gegenwart die größte Bedeutung besitzen.


Bisweilen wird mit dem Namen des Neukantianismus Mißbrauch getrieben. Man zählt jeden Denker dazu, der nicht hinter die von KANT gemachten Entdeckungen auf dem Gebiet der Philosophie zurückgehen will. Damit verliert das Wort neu-kantisch seine prägnante Bedeutung. Im strengen Sinne sollte man nur die als Neukantianer, d. h. als Kantianer, die etwas Neues gebracht haben, bezeichnen, die, wie RIEHL sagt, durch ein erneutes und vertieftes Studium KANTs die Philosophie über sich selbst zu besinnen suchten und dadurch zugleich wirklich über ihren schon vorher erreichten Stand hinausführten. Dann sind dazu OTTO LIEBMANN, F. A. LANGE, besonders aber HERMANN COHEN, WILHELM WINDELBAND und PAUL NATORP zu rechnen. Man kann von ihnen gewiß nicht sagen, daß sie bloße "Kantianer" geblieben sind. Sie haben sich vielmehr zum Teil sogar recht weit von KANT entfernt. Aber sie werden mit Recht Neukantianer genannt, denn sie führten dadurch, daß sie auf KANT zurückgingen, die wissenschaftliche Philosophie zugleich erheblich vorwärts. Das entsprach der Situation ihrer Zeit. KANT war vergessen oder wurde nicht mehr verstanden. Die damals herrschenden Ideen stammten aus Gedankenkreisen, die KANT bereits vor einem Jahrhundert überwunden hatte. Deshalb gehörte den Neukantianern die Zukunft. Freilich: jeder von den Genannten hat seinen besonderen Beitrag zur Philosophie geliefert, und einig waren sie nur in wenigen Grundbegriffen, die sie KANT entnahmen. Aber gerade darin zeigt sich, daß sie nicht nur etwas wiederherstellten, was es früher schon gab, sondern daß sie zugleich neue Bahnen einschlugen.

So bekommt man einen einigemaßen bestimmten Begriff des Neukantianismus als einer historisch begrenzenten, einmaligen philosophischen Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts fällt, und dann ist zusammen mit COHEN und WINDELBAND zu ihren Vertretern auch RIEHL als einer von denen zu rechnen, die ganz besonders eigenartige und charakteristische Gedanken entwickelten.

Zugleich muß man hinzufügen: RIEHL war der letzte dieser Gruppe. Er hat alle anderen Neukantianer von Wichtigkeit, obwohl er nicht der jüngste von ihnen war, überlebt, so daß mit ihm der Neukantianismus als eine geschichtliche Erscheinung sein Ende findet. Heute gibt es keinen Denker von selbständiger Bedeutung mehr, auf den der Name eines Neukantianers paßt, und das kann nicht anders sein. Der Neukantianismus im hier angegebenen Sinn hat seine Arbeit für diejenigen, welche die Ergebnisse der Wissenschaft nicht ignorieren, im entscheidenden Punkt vollendet: die Grundbegriffe der kantischen Schriften, die für unsere Zeit schwer verständlich geworden waren, da man die Philosophie des 18. Jahrhunderts, in der KANT aufgewachsen ist, gut kennen muß, um sich in KANT zurechtzufinden, haben durch die Werke des Neukantianismus eine Gestalt erhalten, in der jeder sie zu verstehen vermag, der überhaupt zu einem philosophischen Denken fähig ist. Neue Neukantianer brauchen wir jetzt nicht mehr. Sie fänden keine Arbeit vor, die erst noch zu leisten wäre.

Das soll gewiß nicht heißen, daß heute alle "Philosophen" verstanden haben, worauf es bei KANT ankommt. Gibt es doch noch immer Männer, die philosophieren und dabei das von KANT völlig neu entdeckte Gebiet des "Transzendentalen", d. h. die "Anschauungsformen", "Kategorien", "Ideen", die "transzendentale Apperzeption" oder das "Bewußtsein überhaupt" usw. entweder für transzendent-metaphysisch oder für empirisch-psychisch halten, also keine Ahnung von dem haben, worin KANTs entscheidende Tat besteht. Doch ist dieses Faktum für die wissenschaftliche Philosophie, soweit es sich um die Sache handelt, irrelevant. Solche Leute sind Schülern zu vergleichen, die nicht in die "Prima" der selbständigen philosophischen Arbeit "versetzt" werden können, weil sie das "Sekundarpensum" noch nicht gelernt haben. Das ist heute ausschließlich ihre eigene Schuld. Es gibt jetzt auch für diejenigen, welchen den Sinn der kantischen Texte, zu deren Lektüre eine gründliche historisch-philosophische Schulung gehört, nicht zu erfassen vermögen, in den Arbeiten der Neukantianer Bücher, aus denen sie lernen könnten, was KANT gewollt hat. Tun sie das nicht, so bleiben sie "Sekundaner" auch auf philosophischen Kathedern.

Besonders wer COHEN, RIEHL und WINDELBAND zusammennimmt, muß dort finden, was er braucht, um sich die Voraussetzungen und Grundlagen der kantischen Transzendentalphilosophie anzueignen, und kann so ausgerüstet an das Studium der Originale gehen, die ihm unverständlich blieben, solange er sie wie einen eben erst entdeckten Papyros behandelte. Vermag er trotz einer solchen Vorbereitung unter einem "transzendentalen" Gebilde, das weder als psychisch, noch als metaphysisch zu denken ist, sich nichts "vorzustellen", wie die Dilettanten gern sagen, d. h. nichts zu denken, so tut ergut, das Studium der wissenschaftlichen Philosophie aufzugeben. Er ist dann für das in ihr unentbehrliche abstrakte Denken nicht genug begabt. Der Umstand, daß KANT noch immer nicht verstanden wird, ist demnach nur eine sozusagen pädagogische Angelegenheit.

Dies also ist die Situation: Die Wissenschaft braucht heute die kantischen Gedanken nicht erst neu zum Leben zu erwecken. Sie sind durch den Neukantianismus bereits lebendig gemaht, und wer wissenschaftlich etwas leisten will, hat auf ihrer Grundlage weiterzubauen. Wir bleiben dem Neukantianismus den größten Dank schuldig. Er brachte den letzten Aufschwung der Philosophie. Aber er ist als bloßer Neukantianismus jetzt abgeschlossen. Seine Leistung gehört zum festen Bestand der Forschung, den man zu lernen hat.

In solchen Sätzen darf man keine Spur eines kantianisierenden Dogmatismus erblicken. Der wäre selbstverständlich sehr unkritisch, als - vorkantisch- Man möge die Transzendentalphilosophie widerlegen. Dazu hat jeder ein Recht, ja, wenn er Gründe kennt, die Pflicht. Aber er soll dann wirklich die Transzendentalphilosophie widerlegen. Auf keinen Fall ist es noch erlaubt, den Kritizismus, sei es zustimmend, sei es ablehnend, so darzustellen, als lehre er Psychologie oder Metaphysik oder ein trübes Gemisch von beidem. Mit dieser Fabel hat der Neukantianismus ein für allemal ein Ende gemacht.

Weiter braucht hier der Begriff eines Neukantianers im allgemeinen nicht entwickelt zu werden, ja wir dürfen ihn inhaltlich nicht genauer bestimmen, wenn er auf alle Neukantianer in unserem Sinn passen soll. Das Gesagte genügt, um gewissermaßen das "genus proximum" [nächsthöherer Gattungsbegriff - wp] anzugeben, unter das eine Denkerpersönlichkeit wie RIEHL fällt. Nachdem dies geschehen ist, haben wir nach der "differentia specifica" [Unterschied zwischen Unter- und Oberbegriff | wp] zu fragen, d. h. nach dem, wodurch RIEHL sich von den anderen Neukantianern unterscheidet, und worauf daher innerhalb des Neukantianismus die ihm eigentümliche Bedeutung beruth. Das wurde bisher nur angedeutet. Ich möchte, was weiter zu sagen ist, in die Form einer Darstellung von RIEHLs Entwicklung, zumindest nach ihren Grundzügen bringen, und zwar so, daß zugleich ein Umriß seines menschlichen Wesens entsteht. Ich will damit persönliche Erinnerungen verbinden. In Freiburg durfte ich durch fünf Jahre, in denen wir an derselben Universität wirkten, viel mit dem Verfasser des "Philosophischen Kritizismus" verkehren, zu einer Zeit, als sich eine interessante Wandlung in ihm vollzog. Daher kann ich vielleicht einiges sagen, was so bestimmt nicht allgemein bekannt ist (1).


RIEHL war in Bozen geboren und bezeichnete sich selbst bisweilen halb scherzhaft als "Tiroler Bauer". Besonders liebte er die Berge seiner Heimat, die zu besteigen, er eine ungewöhnliche Geschicklichkeit besaß. Noch als älterer Mann machte er Dolomitentouren, die manchem nicht ungefährlich erschienen. Er selbst fühlte sich in den Bergen vollkommen sicher, so daß er im ungefährlichen Schwarzwalt geradezu übermütig wurde. Beim schnellen Hinunterlaufen eines Bergabhangs überschlug er sich dort einmal und blieb bewußtlos liegen. Diesen Unfall "auf einem solchen Hügel", wie er sagte, konnte er sich lange Zeit nicht verzeihen.

Die Freude RIEHLs an körperlichen Übungen ist keine Äußerlichkeit, sondern war für den ganzen Mann charakteristisch. Auch ihn hätte der Turnlehrer, wie einst den Sohn des ARISTON, einen "Platon" nennen können. So oft ich mit ihm in Berührung kam, empfand ich, obwohl fast 20 Jahre jünger als er, sein Wesen als jugendliche Kraff. Es lebte in ihm eine natürliche Frische und Ursprünglichkeit, die keine noch so hohe Kultur zu verwischen imstande war. Und das wirkte umso bewunderungswürdiger, als ihn schon früh schwere persönliche Schicksale getroffen hatten. Er verlor in jungen Jahren seine heißgeliebte Frau, und von den vier Kindern, die dieser Ehe entsprossen, wurden ihm die beiden ältesten Söhne im blühenden Knabenalter entrissen. In einer zweiten Ehe, die er gegen Ende der dreißiger Jahre schloß, und die leider kinderlos blieb, hatte er dann eine neues volles Glück gefunden. Doch auch sein letzter, jüngster Sohn und seine einzige Tochter, die mit dem Bruder seiner zweiten Frau verheiratet war, sind lange vor ihm jung gestorben. Wer ihn kannte, wußte, wie schwer er dauernd unter diesen Schlägen litt. Aber sein Temperament und seine geistige Elastizität blieben unverwüstlich. Noch in hohem Alter stand sein Sinn allem offen, was die neue Zeit brachte.

Als junger Mann hatte RIEHL klassische Philologie studiert und wurde in Klagenfurt Gymnasiallehrer. Mit 26 Jahren schrieb er seine erste philosophische Abhandlung, die "Realistischen Grundzüge" und habilitierte sich an der Universität Graz, wo er 1873 außerordentlicher, 1878 ordentlicher Professor wurde. Schon 1872 hatte er zwei weitere Schriften: "Moral und Dogma" und "Über Begriff und Form der Philosophie" veröffentlicht. Doch nahmen diese Arbeiten noch nicht den Standpunkt ein, den er später vertrat. Sie schließen sich an LEIBNIZ und HERBART an, und er hat ihren Realismus selbst "dogmatisch" genannt. Die entscheidende Wendung in seinem geistigen Leben brachte erst eine eingehende Beschäftigung mit den Naturwissenschaften und ein erneutes Studium KANTs. Aus der Verbindung von beiden erwuchs sein Hauptwerk, der "Philosophische Kritizismus", dessen ersten Band er 1876 veröffentlichte. Er enthält die Geschichte des kritischen Denkens von LOCKE bis zur "Kritik der reinen Vernunft".

Will man sich vergegenwärtigen, was dieses Buch bei seinem Erscheinen bedeutete, so muß man sich daran erinnern, welche Schriften über KANT damals vorlagen. Das Werk von KUNO FISCHER gehört an die erste Stelle; es erschien bereits 1860. FISCHER aber war kein Neukantianer, sondern Historiker und hat auf RIEHL wenig gewirkt. Ebensowenig spürt man bei ihm den Einfluß von OTTO LIEBMANNs Schrift über "Kant und die Epigonen", die 1865 herauskam. Dann folgte 1866 die "Geschichte des Materialismus" von F. A. LANGE und 1871 "Kants Theorie der Erfahrung" von HERMANN COHEN. Beide Bücher hatten viel Erfolg. RIEHL war also nicht der erste, der die neukantische Bewegung stark machte. Doch eine besondere Seite an ihr, die sehr wesentlich wurde, verdankt vor allem ihm ihren Ursprung, und auf sie haben wir jetzt unser Augenmerk zu richten.

ERNST HOFFMANN grenzt in seiner Rede, die er an der Heidelberger Universität zur Feier von KUNO FISCHERs hundertstem Geburtstag hielt, das Kantwerk des großen Heidelberger Historikers gegen die KANT-Auffassungen von COHEN und RIEHL klar ab. KUNO FISCHER gab schon 1860 den ganzen KANT, den erst WINDELBAND 1880 "zurückeroberte". COHEN hob einseitig die Linie hervor, welche durch die Punkte DESCARTES, LEIBNIZ, KANT bezeichnet wird. Bei RIEHL dagegen handelt es sich, ebenso einseitig, um den Weg, der von LOCKE über HUME zu KANT führt. Darin steckt in der Tat das entscheidende Moment, aus dem zugleich RIEHLs Originalität und Bedeutung begriffen werden muß. Seine historische Einseitigkeit wurde seine systematische Stärke.

Von vornherein verstand er unter Kritizismus nicht ausschließlich KANTs Philosophie. KANT war ihm nur der größte Vertreter des kritischen Geistes. Die kritische Denkart selbst hielt er nicht für abhängig von ihrer gelungendsten Ausprägung. Ihre Spuren sind vielmehr nach ihm bereits im Altertum nachzuweisen, und er selbst wollte den kritischen Gedanken weiterbilden "in seiner Bedeutung für die positive Wissenschaft". Dieses Schlagwort stand schon auf dem Titel der ersten Auflage seines Hauptwerkes. Es hat dazu verleitet, daß man RIEHL zu den "Positivisten" zählte. Doch das ist grundverkehrt, wenn man das Wort in der üblichen Bedeutung nimmt. RIEHL hat niemals geglaubt, daß die Philosophie selbst wie eine positive Wissenschaft, d. h. wie die Spezialdisziplinen verfahren soll. Auf eine Theorie der positiven Wissenschaft kam es ihm an, und die mußte, wie jede Theorie, über ihrem Gegenstand stehen. Das kann man auch so zum Ausdruck bringen: RIEHL erkannte die Empirie an als die Quelle der positiven Erkenntnis, aber er war niemals "Empirist".

Ihn zu den Positivisten oder Empiristen zu zählen, geht schon deswegen nicht an, weil er ja mehr als andere Denker seiner Zeit das "realistische" Moment in der kantischen Philosophie hervorhob und für unentbehrlich hielt. KANTs Realismus besteht in der Lehre von "Ding ansich", und das läßt sich nicht in positive Tatsachen der Erfahrung auflösen. RIEHL betonte nicht nur, daß dieses "Ding-ansich" bei KANT selbst nie problematisch geworden war, sondern er machte zugleich den Versuch, zu zeigen, daß KANT recht hat: die Wirklichkeit ist in keiner Weise idealistisch als eine Welt des Bewußtseins zu verstehen, wie KANTs große Jünger es gewollt hatten, und wie auch der Positivismus es lehrt. RIEHL stand dem Positivismus ebenso fern wie dem Idealismus. Es gibt "Erscheinungen" im Bewußtsein und außerdem eine transzendente Realität, die aber wissenschaftlich nicht erkannt werden kann. Die Einzelwissenschaften bleiben auf die Erscheinungen beschränkt, und die Philosophie hat ihre Aufgabe darin, die wissenschaftliche Erkenntnis der Phänomene als objektiv gültig zu begreifen, indem sie die "transzendentalen" Faktoren darin aufweist. Hierin sah RIEHL den bleibenden Sinn des kantischen Kritizismus, und den wollte er "in seiner Bedeutung für die positive Wissenschaft", d. h. vor allem für die Naturwissenschaften darlegen. Damit hat er seit 1876 in der neukantischen Bewegung gewirkt.

An diesen Gedanken ist RIEHLs eigene Arbeit zur Fortbildung der kritischen Denkart orientiert geblieben. Schon 1879 erschien der zweite Teil seines Hauptwerks, der "die sinnlichen und logischen Grundlagen der Erkenntnis" rein systematisch darstellt. Der starke Einfluß, den die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften auf RIEHL ausgeübt hatte, ist hier mehr als anderswo zu spüren. Er gibt diesem Teil seines Werkes einen besonders einseitigen Zug, aber er verschaffte ihm zugleich die eigenartige Stellung in der neukantischen Bewegung. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Wesentlich ist vor allem: die Annäherung, die sich damals zwischen Naturwissenschaft und Philosophie vollzog, wurde hier in der Tat zu einem Bündnis, und das brachte neues philosophisches Leben, das sich auch von den Gedankengebilden der anderen Neukantianer deutlich unterschied.

Mit den beiden ersten Bänden seines "Kritizismus" hatte RIEHL sich zugleich eine feste und anerkannte Position in der wissenschaftlichen Philosophie seiner Zeit geschaffen. Als daher im Jahre 1883 WINDELBAND von Freiburg nach Straßburg ging, konnte er nichts Besseres tun, als RIEHL zu seinem Nachfolger vorzuschlagen. RIEHL wurde berufen und hat in Freiburg dreizehn Jahre lang gewirkt. Schon seine Antrittsrede über "Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie" war für die Weiterbildung seiner Gedanken sehr charakteristisch. Die wissenschaftliche Philosophie blieb ihm im wesentlichen eine Theorie des Erkennens. Aber er beabsichtigte nicht, die Philosophie überhaupt auf die erkenntnistheoretischen Probleme zu beschränken. Auch als umfassende "Weltanschauung" ließ er sie gelten. Nur: einen "wissenschaftlichen" Charakter gestand er ihr in dieser Gestalt nicht zu, da es dabei nicht auf theoretische Gründe, sondern auf praktische Überzeugungen ankommt, und RIEHL selbst wollte nach wie vor in erster Linie als streng wissenschaftlicher Denker tätig sein.

In diesem Sinne schrieb er auch den dritten und letzten Teil des "Philosophischen Kritizismus", der 1887 unter dem Titel "Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik" erschien. Schon das Wort "zur" ist bezeichnend. Ein System der Philosophie, das das Ganze des Denkens zum Abschluß bringt und dadurch "starr" wird, lag nicht in Riehls Plan. Die kritische Philosophie mußte mit der Entwicklung der positiven Wissenschaften Schritt halten und sich weiterbilden können. Dem entspricht: in einer Reihe von relativ selbständigen Untersuchungen behandelt RIEHLs neues Werk Grenzen und Begriff der Erfahrung, metaphysiche und wissenschaftliche Systembildung, die Realität der Außenwelt und die idealistische Theorie, das Verhältnis der psychischen Erscheinungen zu den materiellen Vorgängen, den Determinismus des Wollens und die praktische Freiheit, das kosmologische Problem des Unendlichen und schließlich Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit. Besonders hervorzuheben ist der "Anhang" über Darwinismus und Transzendentalphilosophie, eine schlagende Widerlegung des "Pragmatismus" vor der Erfindung dieses Schlagworts.

In unserem kurzen Überblick ist jede Andeutung der Fülle von Einzelproblemen, die hier alle unter demselben Gesichtspunkt des kritischen Realismus dargestellt sind, unmöglich. Nur die allgemeinste Tendenz und das letzte Ziel des Werkes steht in Frage, und dafür sind besonders zwei Punkte bezeichnend, die den doppelten Sinn betreffen, in dem RIEHLs Denken "erkenntnistheoretisch" gerichtet war.

Später hat er gesagt: "Die Kritik der reinen Vernunft bejaht das Metaphysische, sie verneint die Metaphysik." Dementsprechend bejaht er selbst schon hier das "Ding-ansich", doch die metaphysischen Probleme verwandeln sich für ihn in Probleme der Erkenntnistheorie. Nur mit großer Vorsicht nimmt er zu den traditionellen metaphysischen Fragen Stellung und vertritt dann einen "kritischen Monismus", wobei selbstverständlich nicht an den sogenannten Monismus HÄCKELs, sondern an SPINOZA zu denken ist. Ihn liebte RIEHL und suchte seinen Monismus erkenntnis-theoretisch zu fassen. Außerdem hat sein Kritizismus 1887 eine einseitig erkenntnis-theoretische Tendenz. Im Vorwort zum letzten Teil seines Hauptwerks heißt es - und es klingt fast wie eine Entschuldigung -, bei der Behandlung der Frage des Determinismus sei ein Übergreifen in das Gebiet der praktischen Philosophie nicht ganz zu vermeiden gewesen; er habe sich jedoch bemüht, von dieser durch die Natur des Gegenstandes gebotenen Grenzüberschreitung einen möglichst geringen Gebrauch zu machen.

Schon die Aufzählung der verschiedenen Themata des Werkes zeigt, daß die meisten grundlegenden Probleme der gesamten theoretischen Philosophie darin behandelt sind, wie sie sich auf kritischem Boden gestaltet, und in der Tat kann man sagen: RIEHLs Schaffen war, soweit es sich auf die rein wissenschaftliche Philosophie bezieht, mit dem Schlußband seines "Kritizismus" in der Hauptsache zu Ende gekommen. Der Verfasser stand damals im 44. Jahr und ein langes Leben lag noch vor ihm. Ein zweites neues Werk von annähernd gleich großer Bedeutung wie das erste hat er nicht wieder geschrieben.


Und doch! Im "Kritizismus haben wir noch nicht das Ganze von RIEHLs Lebensarbeit. Was er "nichtwissenschaftliche Philosophie" nannte, hatte er bis jetzt nur scharf von der Wissenschaft geschieden, aber nicht selbständig behandelt, und das versteht man leicht, wenn man die Abgrenzung ins Auge faßt, wie sie der Schlußband des Kritizismus formuliert. RIEHL sagt dort, das Ziel der theoretischen Auffassung sei das Verständnis, die Grundlage der praktischen Auffassung sei die Wertschätzung der Erscheinungen.
    "Wie es ohne Empfindung für uns keine Eigenschaft eines Dinges geben könnte, so könnte es ohne Gefühl keine Bedeutung desselben geben. Die Frage aber: was die Dinge für Sinne und Verstand sind, ist ohne Zweifel von der Frage, was sie für die Beurteilung durch unsere Gefühle bedeuten, wesentlich verschieden, und es ist gewiß etwas anderes, ob wir die Vorgänge in der Natur auf ihre letzten erkennbaren Gründe zurückzuführen haben oder aussprechen sollen, wie unser Gemüt auf dieselben zurückwirkt."
In der Tat: kennt man den Wert nur als Akt der Wertschätzung und macht die "Bedeutung" abhängig vom "Gefühl", dann ist RIEHLs Scheidung in wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie konsequent und man begreift, weshalb er seine Trennung der theoretischen von den praktischen Fragen oder der Seins- von den Wertproblemen im Wesentlichen nur dazu benutzte, um die Beschränkung seines Werkes auf die theoretischen Probleme zu rechtfertigen. In seiner eigenen Arbeit konnte die "nichtwissenschaftliche Philosophie" keine große Rolle spielen. Akte der Wertschätzung und Gefühle sind als Gegenstände der Wissenschaft der empirischen Psychologie zu überlassen.

Nun aber wurde nach Vollendung des Hauptwerkes das Interesse an den "praktischen" Fragen auch beim Philosophen RIEHL immer stärker, und er faßt ihr Gebiet bald sehr weit. Die "Welt der Werte", wie schon den Kantianer LANGE sie 1866, viele Jahre vor NIETZSCHEs Bekanntwerden, genannt hatte, fing an, RIEHL in ihrem ganzen Umfang auch philosophisch zu beschäftigen, und zwar geschah das früher, als der "Zeitgeist" unter NIETZSCHEs Einfluß sich allgemein den Wertproblemen zuwandte. RIEHL hat das, was später den Tag bewegte, zu einer Zeit gesehen, in der es der "öffentlichen Meinung" noch verborgen war.

In diesen Jahren, in denen RIEHL die Wertprobleme in Angriff nahm, und sich allmählich und fast unmerklich ein Wandel in seiner Stellung auch zum Begriff des Wertes vollzog, habe ich ihn persönlich kennen gelernt. Am Ende des Jahres 1889 siedelte ich nach Freiburg über und suchte dort Beziehungen zur Universität. Meine theoretischen Grundüberzeugungen standen denen RIEHLs so weit entgegen, wie das innerhalb einer Philosophie, die KANT nicht ignoriert, nur möglich war. Überdies kam ich als ein Schüler von WINDELBAND, den RIEHL nicht liebte, ja unterschätzte, wobei zu bemerken ist, daß WINDELBANDs Hauptwerk, die Gesamtgeschichte der europäischen Philosophie, damals noch nicht abgeschlossen vorlag. Ich wußte nicht, ob es mir möglich sein würde, mich mit RIEHL, den ich nur aus seinen Büchern als einen starken, aber einseitigen Denker kannte, zu verständigen. Doch kam er mir nicht allein mit großer persönlicher Liebenswürdigkeit entgegen, sondern ich konnte bald auch die außerordentliche Weite seines geistigen Horizontes und seine ungewöhnliche Fähigkeit bewundern, fremden Gedanken sachlich gerecht zu werden. Er forderte mich nach kurzer Zeit zu einer Habilitation in Freiburg geradezu auf, obwohl damals gedruckt nur meine Doktordissertation vorlag, und als ich ihm dann den Entwurf zu meiner Schrift über den "Gegenstand der Erkenntnis" überreichte, in der fast jeder Satz seinen Widerspruch hervorrufen mußte, zeigte er sich von einer Großzügigkeit und wissenschaftlichen Toleranz, wie ich sie im akademischen Leben nur selten wiedergefunden habe. Ich durfte bald als "Kollege" neben ihm wirken.

Allmählich entwickelte sich ein lebhafter persönlicher Verkehr zwischen uns, der zu einer nie getrübten Freundschaft führte, wie sie bei dem großen Altersunterschied und der in entscheidenden Fragen radikal entgegengesetzten Denkweise nicht herzlicher sein konnte. Der Mann, vor dem ich mich anfangs etwas gescheut hatte, wurde für mich zu einem großen Gewinn meines Lebens.

Allerdings vermieden wir es in der ersten Zeit nach meiner Habilitation, uns über erkenntnistheoretische Fragen eingehender zu unterhalten. Dafür aber gab es genug andere Probleme, für die wir ein gemeinsames Interesse hatten. Sie lagen alle in jener Sphäre, die für RIEHL der "nichtwissenschaftlichen" Philosophie gehörte, und zwar waren es vor allem drei weit voneinander abliegende Themata, um die sich unsere Diskussionen, meist auf langen Waldspaziergängen, drehten: die bildende Kunst, besonders die Plastik, FRIEDRICH NIETZSCHE und schließlich FICHTEs Kultur- und Geschichtsphilosophie. Alle drei Gegenstände haben im späteren Schaffen RIEHLs eine Rolle gespielt.

"Das Problem der Form in der bildenden Kunst" von dem Bildhauer ADOLF HILDEBRAND erregte bei seinem Erscheinen sofort RIEHLs lebhafte Teilnahme. Er klagte mir damals, daß von seinen Freiburger Kollegen niemand dafür Verständnis hat. Mir lagen Gedanken dieser Art nicht fern. Ich war schon als Student in Straßburg durch HUBERT JANITSCHEK, mit dem ich manche Nachtstunde in der "Germania" verplaudern durfte, auf HANS von MARÉES und KONRAD FIEDLER aufmerksam geworden. So fanden RIEHL und ich ein Gebiet, auf dem wir uns ausgezeichnet verständigen konnten, ohne erkenntnistheoretische Probleme zu berühren. In seinem Zimmer hatte RIEHL eine Menge von großen Fotografien aufgestellt, vor denen wir uns übten, Werke der Rundplastik als "Reliefs" zu sehen, und alle Probleme HILDEBRANDs vor konkreten Anschauungen eingehend durchsprachen. Später hat RIEHL in seinem "Bemerkungen zum Problem der Form in der Dichtkunst" (1897/98) den Versuch gemacht, die Gedanken HILDEBRANDs in die Poetik zu übertragen. Es war das eines der ersten Stücke seiner "nichtwissenschaftlichen Philosophie". Leider ist es bei diesem Stück einer Ästhetik geblieben, das als Fragment nicht so wirken konnte wie andere Schriften seines Verfassers.

Sehr bekannt ist dagegen das Buch geworden, das RIEHL 1897 über FRIEDRICH NIETZSCHE veröffentlichte. Es ging aus Vorlesungen hervor, die er in der Freiburger Aula hielt und hat viele Auflagen erlebt. Bezeichnend lautete sein Untertitel: der Künstler und der Denker. Diese Reihenfolge ist nicht zufällig.

Als ich RIEHL kennenlernte, fing NIETZSCHE eben erst an, in weiteren Kreisen bekannt zu werden. RIEHL hatte in den Aphorismenbänden nur flüchtig geblättert, und NIETZSCHEs Bemerkungen über wissenschaftliche Philosophen, besonders über KANT, nahm er (mit Recht) nicht ernst. Ich hatte mich schon als junger Student für NIETZSCHE begeistert zu einer Zeit, als NIETZSCHE unbeachtet und einsam in Sils Maria lebte, und mich seine Unwissenheit auf wissenschaftlich-philosophischen Gebiet noch nicht sehr störte, weil ich selber unwissend war. Meine Liebe für den Schriftsteller NIETZSCHE ist auch nie erloschen. Ich versuchte damals, RIEHL zu einer eingehenderen Lektüre zu bewegen, und schließlich gelang mir das auch: wieder war es das Gebiet der Kunst, auf dem wir uns fanden. Der künstlerische Denker zog RIEHL immer mehr an, und bald war er in seinen Schriften besser zuhause als ich. Nun reizte es ihn, den Zarathustra-Dichter gegen die wissenschaftliche Philosophie, wie er sie verstand, abzugrenzen und ihm gerade dadurch gerecht zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist das aus solchen Bemühungen entstandene Buch über NIETZSCHE zu lesen. Dann wird man finden, daß es noch heute für wissenschaftliche Menschen eine der lehrreichsten Schriften ist, die es über NIETZSCHE gibt.

Die NIETZSCHE-Schwärmer können freilich nichts damit anfangen, denn trotz allen Zaubers, den der Künstler NIETZSCHE auf RIEHL ausübte, hat er sich ihm gegenüber stets die kritische Kühle des theoretischen Denkers bewahrt. Er war nicht der Mann, sich durch unerhörte Stilkünste blenden zu lassen, und bei aller Anerkennung für die Fülle von "Geist", den der Meister des Aphorismus in der Form des (im Grunde so bequemen und verantwortungslosen) Fragments auftischte, übersah RIEHL nie, wie schwach es mit der eigentlichen philosophischen "Substanz" bei NIETZSCHE bestellt war, und zwar nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Hinsicht. Das mußte besonders deutlich werden, wenn er ihn mit den wirklich "großen" Philosophen verglich. Noch in seinem zuletzt veröffentlichen Band sagt RIEHL, wo er über KANTs Autonomie spricht:
    "Nietzsche freilich dekretiert: autonom und sittlich schließen sich aus. Aber Nietzsche konnte Kant nicht verstehen. Auch die Moralphilosophie Kants sah er nur in der falschen Beleuchtung, in der sie ihm Schopenhauer gezeigt hatte. Deshalb hielt er sich an den kategorischen Imperativ, die bloße Formel des Sittengesetzes, über deren Angemessenheit man streiten mag, anstatt an das Prinzip. Wenn er aber gegen Kant triumphierend ausruft: zu einem Imperativ gehört ein Imperator, so ist es ihm eben völlig entgangen, daß der Imperator der sittlichen Welt nach Kant unser eigenstes, tiefstes Selbst ist, das Sollen, das er gebietet, unser wahres und innerstes Wollen. Auf die Frage Zarathustras: Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? hatte Kant längst die Antwort gegeben: Man sah den Menschen durch seine Pflichten an Gesetze gebunden, ließ sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen ist - es ist Grund der Würde eines vernünftigen Wesens, daß es keinem Gesetz gehorcht als dem, das es zugleich gibt."
Diese Gegenüberstellung von Worten KANTs und Worten NIETZSCHEs mag eine Probe von der Art geben, in der RIEHL mit unübertrefflicher Prägnanz seine Meinung zum Ausdruck brachte und bewies. Nur Ignoranten können glauben, NIETZSCHE sei in ethischen Prinzipienfragen den kleinsten Schritt über KANT hinausgekommen, und nur Schwärmer werden NIETZSCHE für einen großen "Philosophen" in dem Sinne halten, wie KANT es gewesen ist. Für Schwärmer aber hat RIEHL niemals geschrieben, sondern immer für Leute, die etwas lernen wollen.

Den stärksten Widerstand setzte RIEHL in Freiburg meinen Bemühungen entgegen, ihn für FICHTE zu erwärmen. Die Wissenschaftslehre von 1794 lehnte er rundweg ab. Da war auf eine Verständigung nicht zu hoffen. Als ich in einem meiner ersten Privatdozentensemester eine Vorlesung über FICHTE anzeigte, gab er seiner Verwunderung darüber Ausdruck: ein ganzes Kolleg nur über FICHTE? und als ich einmal (etwas unvorsichtig) von den Nikolais unserer Zeit" sprach, blitzten seine Augen mich an: ob ich wohl auch ihn dazu zähle? Ich versicherte mit gutem Gewissen, das läge mir sehr fern, und wir lachten beiden. Aber das Thema "Fichte" wurde für einige Zeit von der Tagesordnung abgesetzt.

Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. RIEHL wollte über ROUSSEAU sprechen, und ich fragte ihn scherzhaft, ob er auch die ROUSSEAU-Kritik berücksichtigen wird, die in FICHTEs Vorlesungen über die "Bestimmung des Gelehrten" (1794) steht. Er antwortete mir ernsthaft, daß er sie nicht kenne. Doch schon am nächsten Tag hatte er sie gelesen, und nun war das Eis gebrochen. Er fand, es gäbe nichts Tieferes über ROUSSEAU als das. Dann las er FICHTE freudig weiter, und bald gewann er für den Patrioten, den Pädagogen, den Kultur- und Geschichtsphilosphen überhaupt die wärmste Sympathie. In der Adresse, die wir RIEHL zu seinem achtzigsten Geburtstag überreichten, konnte mit Recht gesagt werden, daß er nicht nur "geschult sei am kritischen Geist Kants", und "erfüllt von der würdigen Selbstbescheidung Spinozas unter das Weltgesetz", sondern auch "beflügelt von der schöpferischen Glut des deutschen Ideenverkünders Fichte". Damals in Freiburg ist es eine große persönliche Freude für mich gewesen, RIEHLs Interesse für FICHTE entstehen und wachsen zu sehen. Nun konnte ich mit ihm rückhaltlos auch über eine Sache sprechen, die mir doch noch sehr viel mehr am Herzen lag als HILDEBRAND oder NIETZSCHE.

Man wird meine Erinnerungen nicht so deuten, als meinte ich, RIEHL in einer wichtigen Entwicklungszeit seines geistigen Lebens in wesentlichen Punkten "beeinflußt" zu haben. Nur die causa occasionalis [Gelegenheitsursache - wp] war ich, durch die ihm einige vorher fernerliegende Geisteserzeugnisse näher gebracht worden sind. Ich verhielt mich im Gespräch auch dann, wenn ich den Stoff besser kannte als er, im Grund immer als der Empfangende, was sich bei Unterhaltungen zwischen einem reifen Mann, den den größten Teil seines Lebenswerkes hinter sich hat, und einem jungen Anfänger von selbst versteht. Jedenfalls: RIEHL zu belehren, fühlte ich mich gar nicht berufen. Ich wollte etwas von ihm lernen, auch wenn ich ihm widersprach, und ich habe diesen Zweck in hohem Maß erreicht. Viele der Unterredungen über HILDEBRAND und NIETZSCHE und dann über FICHTE und andere, in RIEHLs Augen "nichtwissenschaftliche" Philosophen, werden mir immer unvergeßlich bleiben. Das feurige Temperament, das sich bei ihm mit einem durchdringenden Scharfsinn verband, hatte bei solchen Gelegenheiten etwas Hinreißendes. RIEHL fand sich mit erstaunlicher Schnelligkeit in eine neue Materie hinein, und sogleich arbeitete das, was er aufgenommen hatte, selbständig in ihm weiter.

Bald spielte die "Welt der Werte" auch bei seinen literarischen Plänen eine Rolle. Schon in Freiburg dachte er an ein Seitenstück zu seinem "Philosophischem Kritizismus", das die Fragen der Wertphilosophie in umfassender Weise behandeln sollte, und er hat den Gedanken daran niemals ganz aufgegeben. Noch im Mai dieses Jahres, im vorletzten Brief, den ich von ihm erhalten habe, heißt es:
    "Eine Ergänzung meines theoretischen Werkes könnte nur eine Kritik der allgemein geltenden Werte werden, die ich bisher nur in meinen Vorlesungen und in Andeutungen der Einführung gegeben habe. Ich weiß nicht, ob meine Kraft noch ausreicht, diese Ideenlehre auszugestalten."
Nun, das Werk ist nicht mehr zustande gekommen, aber mehrere Schriften enthalten äußerst interessante Bemerkungen auch zu wertphilosophischen Problemen. Es wäre auf das lebhafteste zu begrüßen, wenn aus dem Nachlaß die Vorlesungen, von denen er mir schrieb, veröffentlicht werden könnten.

Nachdem wir in Freiburg auf den Gebieten der außertheoretischen Philosophie ein Feld gefunden hatten, auf dem wir uns vorzüglich verständigten, obwohl RIEHL von einer wissenschaftlichen Behandlung dieser Probleme nach wie vor nichts wissen wollte, haben wir schließlich auch erkenntnistheoretisch Fragen eingehend miteinander diskutiert. Ich habe dabei vollends viel gelernt. RIEHL lag daran: ich sollte ihn wenigstens verstehen, wenn ich ihm auch nicht zustimmen konnte, und es gelang ihm in der Tat, mir im Gespräch seine Gedanken näher zu bringen, als das durch die gedruckte Formulierung möglich gewesen war. Die Motive, die ihn veranlaßten, am "Ding-ansich" festzuhalten, verband er damals vor allem mit dem Irrationalitätsproblem, das in der Tat jede Realität enthält. Von hier aus begründete er die Notwendigkeit, etwas als "wirklich" zu behaupten, was sich niemals in das erkennende Subjekt aufnehmen läßt, und was als das Ansich der Realität, wie es unabhängig von jedem Subjekt anzuerkennen sei, stets auch seinen bewußtseinsjenseitigen Bestand behalten wird. Das berührte sich mit Problemen meines Buches über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, an dem ich damals arbeitete, und dessen Gedanken ich ihm ausführlich entwickeln durfte. RIEHL meinte, hier sei ich "Realist" wie er. So fanden wir uns schließlich auch in theoretischen Fragen, die bei uns beiden im Zentrum unserer wissenschaftlichen Arbeit standen, und wir stellten zugleich in bester persönlicher Harmonie die Punkte fest, die uns sachlich für immer trennten.


Leider fühlte RIEHL sich in mancher Hinsicht in Freiburg nicht wohl. Er war geborener Katholik und hatte später die Kirche verlassen. Das brachte ihn an der Universität in eine peinliche Situation. Den Theologen, die beim Protestanten WINDELBAND anstandslos das Kolleg gehört hatten, wurde der Besuch seiner Vorlesungen (übrigens auch meiner) verboten, und das verstimmte ihn stark. Als 1896 ein Ruf an die Universität Kiel kam, folgte er ihm. Es wurde ihm nicht leicht, Freiburg zu verlassen. Er liebte die Stadt, das Münster, die herrliche Umgebung, und in seinem Haus pflegte er mit seiner Gattin eine lebhafte Geselligkeit, wie sie anmutiger und anregender nicht sein konnte. Aber er wünschte sich einen anderen akademischen Wirkungskreis als den Freiburger. Auch bei Gelegenheit seines Scheidens habe ich die Großzügigkeit seines persönlichen Wesens kennengelernt. Er setzte alles daran, mich zu seinem Nachfolger zu machen, obwohl er genau wußte, daß ich auf seinem geliebten Katheder Gedanken vertreten würde, die dem, was er für richtig hielt, in entscheidenden Punkten diametral entgegengesetzt waren. Er veranlaßte mich, die ersten Kapitel meines noch nicht abgeschlossenen Buches über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung als "erste Hälfte" zu veröffentlichen. Bald darauf erhielt ich seinen Lehrstuhl, auf dem ich zwanzig Jahre blieb. So bin ich RIEHL in mehrfacher Hinsicht auch persönlich zu außerordentlichem Dank verpflichtet. Das Gefühl dafür wird bei mir nie erlöschen, und ich habe das Bedürfnis, ihm öffentlich Ausdruck zu geben.

Nachdem RIEHL Freiburg verlassen hatte, wirkte er zunächst in Kiel, dann in Halle und endlich seit 1905 in Berlin. Die Reichshauptstadt sah seit LOTZEs Tod zum erstenmal wieder einen Systematiker von überragender Bedeutung auf dem Katheder ihrer Universität. Die Berliner Akademie freilich verschloß ihm ihre Pforten. Doch sie hatte ja auch FICHTE nicht brauchen können. RIEHL war also in guter Gesellschaft. Auf die Berlinder Studentenschaft hat er stark gewirkt, und die Zahl seiner Schüler war sehr groß, obwohl er nicht eigentlich eine "Schule" bildete. In mancher Hinsicht bedeutet die Berliner Zeit wohl den Höhepunkt seines Lebens.

Ein zweites umfassendes Werk wie sein "Kritizismus" ist von ihm nicht mehr geschaffen worden. Viel gelesen wird seine "Einführung in die Philosophie der Gegenwart", die aus Vorträgen hervorging und eine wesentliche Ergänzung des Hauptwerkes bildet. Sonst sind außer den schon genannten Schriften von ganz neuen Arbeiten nur noch kleinere Abhandlungen erschienen. Die letzte Zeit galt der Ernte. Im Jahr 1922 gab RIEHL unter dem Titel "Führende Denker und Forscher" einen Band heraus, in dem er seine historischen Aufsätze zusammenfaßte, und in diesem Herbst erschien endlich der zweite Sammelband, von dem am Anfang dieses Nachrufes die Rede war.

Mancher hat sich wohl darüber gewundert, daß RIEHLs Produktivität in den letzten Jahrzehnten seines Lebens geringer geworden zu sein schien als in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Doch kann das nur in einem eingeschränkten Sinn als richtig anerkannt werden. Jedenfalls: untätig war dieser Mann nie. Seine Hauptarbeit galt später einer neuen Gestaltung seines Hauptwerkes. Sie vollzog sich jedoch lange Zeit nur in der Stille. Schon in Freiburg hatte sie begonnen und trotzdem kam erst im Jahr 1908 der erste Band des "Kritizismus" wieder heraus. Dafür war aber auch, wie RIEHL selbst sagt, daraus "beinahe ein neues Buch erwachsen". Nicht viel mehr als ein Drittel des neuen Textes deckt sich mit dem alten. Der Standpunkt und die Anordnung der Gedanken blieben unverändert, doch das inzwischen erschlossene Quellenmaterial hatte RIEHL auf das eingehendste verarbeitet und mit unübertrefflicher Meisterschaft zur Begründung seiner Auffassung benutzt. Wer die realistischen Momente der kantischen Philosophie, deren tatsächliches Vorhandensein niemand leugnen kann, kennen lernen und verstehen will, muß zu diesem Werk greifen, das kürzlich in dritter Auflage, sachlich unverändert, erschienen ist.

Der zweite und dritte Teil des "Kritizismus" sind in der veränderten Auflage noch nicht im Buchhandel, aber soviel ich weiß, hat RIEHL auch diese beiden, vom Verlag schon angekündigten Bände neu bearbeitet, und es ist zu hoffen, daß sie bald erscheinen. Jeder, dem die wissenschaftliche Philosophie am Herzen liegt, muß ihnen mit der lebhaftesten Spannung entgegensehen. Auch in ihnen wird RIEHL seinen Standpunkt im Prinzip nicht geändert haben, aber es ist anzunehmen, daß er auch hier die Begründung ergänzt und erweitert hat. So kann diesem Werk noch nach dem Tod seines Verfassers eine starke Wirkung beschieden sein.

Man darf das umso mehr glauben, als RIEHL bis zuletzt geistig "jung" geblieben war und die Fühlung mit den Bewegungen der Zeit nicht verloren hatte. In seinem letzten Brief vom 30. Juli 1924 schrieb er mir: "Die eingehende Lesung Ihres Kant hat mir die angenehme Erfahrung gebracht, daß ich noch nicht zu alt und erstarrt bin, um Neues zu verstehen und mir innerlich anzueignen." Er hat sich wahrlich nicht getäuscht, wie schon sein Brief zeigte. In mehrfacher Hinsicht mußte er "Kant als Philosoph der modernen Kultur" wesentlich anders sehen als ich, und doch ist das, was er mir über mein Buch schrieb, von feinstem Verständnis für meine Intentionen erfüllt. Es war zugleich die letzte Kundgebung eines Freundes, den ich vor mehr als einem Menschenalter gewonnen hatte.


Für RIEHLs bis ins Greisenalter unverminderte Fühlung mit den Zeitströmungen gibt seine schon wiederholt zitierte Rede über die Bedeutung der Philosophie in der Gegenwart einen unzweideutigen Beweis. In KANTs Kritizismus wurzelte für ihn das wissenschaftliche Denken der Zeit. Aber er machte sich keine Jllusionen darüber, daß die Periode der Philosophie, zu deren Vertretern er selber gehörte, vielen bereits wieder überschritten zu sein schien, ja er führte den Wandel bis ins vorige Jahrhundert zurück.
    "Die junge Generation der neunziger Jahre", sagte er, "zeigt, verglichen mit der ihr vorangegangenen, eine neue geistige Verfassung, eine veränderte Richtung ihres Denkens. Sie empfand ein Ungenügen an bloßer Wissenschaft. Nietzsche war ihr Wortführer, Leben, gesteigertes Leben ihre Losung."
Steht RIEHL diesen Strömungen nun etwa ablehnend gegenüber? Gewiß nicht. Er erkennt dem Wandel der Anschauungen sein Recht durchaus zu.
    "Die Wissenschaft, oder was damals beinahe dasselbe bedeutete, die Naturwissenschaft, hatte sich gleichsam übernommen. Sie hatte über ihren rechtmäßigen Bereich hinaus den Anspruch auf Herrschaft ausgedehnt, zwar nicht von Seiten ihrer eigentlichen Vertreter, wohl aber solcher, welche sich ihre Ergebnisse dogmatisch angeeignet hatten."
RIEHL weist als Beispiel besonders darauf hin, daß Historiker im Ernst versuchten, selbst aus der Geschichte eine exakte Wissenschaft zu machen und fährt fort:
    "Der Mensch gilt ihnen als Produkt seiner Umgebung. Sie sahen, um ein Sprichwort umzukehren, vor dem Wald die Bäume nicht, vor den Massenerscheinungen und ihrer Statistik nicht die persönlichen Kräfte der Geschichte."
Demgegenüber war nach RIEHL eine Reaktion unvermeidlich. Die Wissenschaft galt der jungen Generation als "inhuman". Sie konnte die Religion nicht ersetzen und ebensowenig die Kunst. "Sie denkt nur, sie handelt nicht, ihr Reich ist das Tote, das Lebendige erstarrt vor ihren Begriffen." So gibt RIEHL mit Schlagworten, die heute überall tönen, die Ansichten der jungen Generation schon vor dem Krieg wieder, und er hat volles Verständnis dafür, warum sie entstehen mußten.

Aber andererseits weiß er freilich ebensogut, daß, wie es der gewöhnliche Verlauf der Gegenströmung ist, in die entgegengesetzte Einseitigkeit auszuschlagen, so auch die Reaktion gegen den Intellektualismus der Wissenschaft, die über das Ziel hinausführte.
    "Wieder begann man ohne und gegen die Wissenschaft zu philosophieren. Wieder herrschte die Literatur über die Philosophie, und höchstens als literarische Produkte kommen die hier gehörigen Erzeugnisse in Betracht."
Das trifft auch noch heute, ja gerade heute den Nagel auf den Kopf, und demgegenüber ist sich RIEHL schon vor dem Krieg völlig darüber klar:
    "Diese neue Philosophie der Intuition ist in Wahrheit nur eine Wiedergeburt der Romantik. Auch die Romantik war eine Reaktion des Gefühls und der Einbildungskraft gegen Vernunft und Klarheit, auch in ihr herrschte die Poesie über die Philosophie, auch sie bedeutet eine wesentlich literarische Epoche. Und völlig romantisch ist der Mythos der schöpferischen Entwicklung."
Gegen diese Art von Naturphilosophie, die weder Philosophie noch Naturwissenschaft ist, sagt RIEHL, hat schon der spätere FICHTE das rechte Wort geredet:
    "Unfähig, ihre unklaren Gedanken zu begründen, verweist sie statt der Gründe an das Vermögen, womit sie schwärmt, und nennt es intellektuelle Anschauung. Heute heißt dieses Vermögen intellektuelle Sympathie, Intuition."
Solche und ähnliche Sätze RIEHLs aus dem Jahr 1913 passen ohne Einschränkung auf die unmittelbare Gegenwart. Die Jahre nach dem Krieg trieben ja nur das, was schon vorher lebendig war, noch mehr auf die Spitze. Im Prinzip ist der "Zeitgeist" so geblieben, wie RIEHL ihn vor mehr als einem Jahrzehnt dargestellt hat. Die kürzlich veröffentlichte Rede wirkt, als sei sie erst kürzlich gehalten worden.

schnitzelHöchstens kann man sagen: es sieht so aus, als neige sich auch die Reaktion gegen die Wissenschaft schon wieder ihrem Ende zu, und als dürften wir von der jüngsten Generation bald etwas mehr Interesse für streng wissenschaftliches Denken in der Philosophie erwarten, als von jener Jugend, die sich NIETZSCHE [FN/riehl_nietzsche] zum Führer wählte. Auf die Dauer kann man das Schwelgen in "Geist" oder "Tiefsinn" und die blinkenden Reden, mit denen immer von Neuem der Menschheit Schnitzel gekräuselt werden, nicht ertragen. Der Überdruß daran muß früher oder später kommen. Anderes als erste Anzeichen einer Wandlung sind allerdings noch nicht zu spüren, aber umso mehr gilt: der jüngsten Jugend kann, soweit sie sich nach schlichten und klaren Gedanken sehnt, die mit der Überzeugung ihrer objektiven Wahrheit in vorbildlich sachlicher Sprache vorgetragen werden, RIEHLs "Kritizismus" eine gute Schule werden, wenn sie sich zu ernster Arbeit auch in der Philosophie endlich wieder entschließt.


Das soll nicht heißen, daß die Zukunft sich in jeder Hinsicht an RIEHLs Standpunkt wird orientieren können, und auch darüber möchte ich zum Schluß wenigstens einige andeutende Bemerkungen machen. Solange ich den "Philosophischen Kritizismus" kenne, habe ich eine Reihe von Bedenken dagegen gehabt, die selbst durch die ungemein lehrreichen mündlichen Erläuterungen RIEHLs nicht unterdrückt werden konnten. Ich darf in diesem Nachruf mit meinem Widerspruch so wenig zurückhalten wie im persönlichen Verkehr der Freiburger Jahre. RIEHL braucht Kritik nicht zu fürchten. Seine Bedeutung bleibt auch dann unangetastet, wenn wir in prinzipiell wesentlichen Fragen die Basis verlassen müssen, auf der er stand. Davon sollen zumindest die zwei Punkte noch einmal hervorgehoben sein, die bereits wiederholt berührt wurden.

Der erste betrifft den erkenntnistheoretischen Realismus, d. h. die Annahme, es gäbe eine absolute, bewußtseinsjenseitige, transzendente Realität, im Vergleich zu der die empirische Wirklichkeit lediglich als Erscheinung gelten kann. Gewiß hat RIEHL darin Recht, daß sich das Reale nicht restlos in das Wissen aufnehmen läßt und daher jeder "rationalistische" Idealismus abzulehnen ist. Für das erkennende Bewußtsein bleibt im Wirklichen stets ein undurchdringlicher Rest, den man das Ansich der realen Dinge nennen mag, wie es unabhängig von jedem wissenschaftlichen Denken Bestand hat. Aber dabei handelt es sich doch um die Irrationalität der empirischen Wirklichkeit, und aus ihr darf man keinen Schluß auf eine bewußtseinsjenseitige, transzendente Realität ziehen, der dann zum kantischen "Ding-ansich" führt. Etwas kann sehr wohl dem theoretischen Wissen eine Grenze setzen und trotzdem als Inhalt eines "Bewußtseins überhaupt" gedacht werden. Wissen und Bewußtsein oder Urteil und "Vorstellung" fallen nicht zusammen, und gerade das Irrationale am Wirklichen wird von uns unmittelbar "erlebt" (um ein Modewort zu gebrauchen), während das kantische "Ding-ansich" nicht allein dem Erkennen, sondern auch jedem unmittelbaren Erleben entzogen bleiben muß. Wie soll es dann aber noch irgendeine theoretische Bedeutung gewinnen?

RIEHL selbst hat bei KANT das "Ding-ansich" vom "Noumenon im positiven Verstand" unterschieden. Es soll hier nicht gefragt werden, wieweit eine solche Trennung den kantischen Intentionen entspricht. Wenn man sie aber durchführt und dann das "Noumenon im positiven Verstand", weil theoretisch völlig problematisch, fallen läßt, so kann man an einer transzendenten Realität der Dinge, die irgendeine andere als rein negative Bedeutung hat, überhaupt nicht mehr festhalten. Das Reale selbst bliebe sonst völlig negativ bestimmt und wäre ein "Nichtiges" in des Wortes verwegenster Bedeutung. Gerade das kann doch der Realismus nicht wollen. Ganz unabhängig davon, daß bei KANT "Realität" selbst eine Kategorie ist, wird man sich dazu entschließen müssen, das reale Sein, soweit es für die theoretische Philosophie in Frage steht, mit dem im Bewußtsein überhaupt unmittelbar "vorgestellten" oder "erlebten" realen Sein zu identifizieren. Ein solcher empirischer Realismus, den alle Einzelwissenschaften voraussetzen, bedeutet aber bei voller Anerkennung des irrationalen Charakters der Wirklichkeit eine Ablehnung jedes kritischen Realismus, welcher ein Ding-ansich festzuhalten sucht. Er führt zu kritisch "idealistischen" Ansichten, wenn man nicht unkritisch beim Positivismus oder Empirismus stehen bleiben will.

Der zweite Punkt betrifft RIEHLs Scheidung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie. Man wird sie in der Weise, wie RIEHL sie behauptet, nicht durchführen können, ohne daß man dabei zu einer Spaltung der Philosophie kommt, die in ihren Konsequenzen auf die Dauer unerträglich ist. In dieser Hinsicht scheinen mir auch in der Wertphilosophie, wie sie sich bei RIEHL selbst, besonders in der zweiten Hälfte seines wissenschaftlichen Lebens, ausgebildet hat, Ansätze zu stecken, die über seinen eigenen Standpunkt mit Notwendigkeit hinausführen.

Ich habe bereits einige frühe Worte RIEHLs zitiert, die so klingen, als kenne er den Wert nur als Wertschätzung, und als mache er die "Bedeutung" abhängig vom "Gefühl". Das kann man aus dem Schlußband des "Philosophischen Kritizismus" zumindest herauslesen, und dann versteht es sich von selbst, daß es eine strenge Wissenschaft von den Werten als Werten nicht gibt. Später jedoch war RIEHL weit davon entfernt, den Wert mit einem Wertgefühl zusammenfallen zu lassen. Er kannte Werte durchaus nicht nur als Wertschätzungen, d. h. als psychische Akte des Individuums, und die "Subjektivität" der Werte konnte für ihn kein Grund mehr sein, sie einer wissenschaftlichen Behandlung zu entziehen. Schon sein Buch über NIETZSCHE schloß er mit den Worten:
    "Immer wird der Mensch an das Übermenschliche glauben, mag er es nun das Göttliche nennen oder das Ideale. Ohne ein Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinn des Wortes nicht aufrecht gehen. Dieses Übermenschliche, Vorbildlich ist die Welt der geistigen Werte; - auch der Größte hat diese Welt noch über sich, wie er sie zugleich in sich trägt. Diese Werte aber, die das Handeln des Menschen leiten und seine Gesinnung beseelen, brauchen nicht erst erfunden oder durch Umwertung neu geprägt zu werden; sie werden entdeckt, und wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit dem Fortschritt der Kultur in den Gesichtskreis des Menschen. Sie sind nicht alte Werke, nicht neue Werte, es sind die Werte."
Solche Worte haben damals, als sie zuerst bekannt wurden, bei vielen Verwunderung erregt. Man hatte sie vom Verfasser des "Philosophischen Kritizismus" nicht erwartet. Mich überraschte RIEHLs Kundgebung nicht, als ich sie ein Jahr nach seinem Fortgang von Freiburg las. Ich kannte die Wandlung seiner Ansichten, die sich bei ihm vielleicht ohne ausdrückliches Bewußtsein vollzogen hatte, längst aus vielen Gesprächen.

Die Überzeugung, daß Werte nicht nur Wertschätzungen und Wertgefühle sind, hat RIEHL niemals wieder aufgegeben. Im Vortrag über den "Beruf der Philosophie in der Gegenwart" ist sie sogar so formuliert, daß er sich damit dem Standpunkt dessen, was man heute Wertphilosophie nennt, noch mehr annähert. Es heißt dort:
    "Es gibt ein System der Werte; zwischen den Grundrichtungen des geistigen Lebens muß eine Harmonie zu schaffen sein, so gewiß der Geist lebendige Einheit ist. Der Beruf der Philosophie als Geistesführung ist es, das Wissen von den Werten und ihrem System zur Klarheit des Begriffs zu erheben, das strebende Bemühen und die harmonische Gestaltung unseres Lebens tatkräftig zu erhalten. Dies war der Beruf, den die Philosophie im Altertum neben ihrem wissenschaftlichen erfüllte - und dieser nämliche Doppelberuf ist ihr auch in der Gegenwart und für diese geblieben."
Hier ist noch immer von einer Doppelbedeutung der Philosophie die Rede, und solange man die Wissenschaft als theoretische Erkenntnis von der praktischen Geistesführung trennt, läßt sich dagegen auch nichts sagen. Wenn aber die Philosophie wirklich, wie RIEHL jetzt meint, "das Wissen von den Werten und ihrem System zur Klarheit des Begriffs zu erheben" hat, dann ist nicht einzusehen, warum man diese Aufgabe bloß deswegen, weil es sich dabei um Werte handelt, nicht als ebenso wissenschaftlich bezeichnen soll wie die andere Aufgabe, eine Theorie des wissenschaftlichen Erkennens zu geben. Wo es sich um die Darstellung eines Systems und um ein Wissen handelt, das zur Klarheit des Begriffs kommt, gibt es auch Wissenschaft. Der Wert kann als Wert als nicht mehr dazu dienen, die Grenze zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie zu ziehen. Er besteht ja gerade nach RIEHL völlig unabhängig von der Wertschätzung: es gibt ein System der Werte. Nicht auf den Gegenstand, sondern auf unsere Stellung zu ihm kommt es an, wenn entschieden werden soll, ob Wissenschaft oder Nichtwissenschaft, Theorie oder praktisches Verhalten vorliegt, und die Wissenschaft hört erst dort auf, wo man aus dem zur Klarheit des Begriffs gebrachten Wissen von den Werten Konsequenzen zieht, die nicht mehr den theoretischen Menschen allein angehen, sondern zur praktischen "Geistesführung" gehören. Kurz: ist man einmal soweit gegangen, ein für sich bestehendes System der Werte überhaupt anzuerkennen und eine Klarheit des Begriffs über dieses System für möglich zu halten, dann kann man die Wertphilosophie, die nach einer solchen Klarheit sucht, nicht mehr zur nichtwissenschaftlichen Philosophie rechnen.

Daran aber schließt sich sogleich ein neuer Schritt, der jede Spaltung beseitigt und Einheit in das Ganze des nichtwissenschaftlich-philosophischen Denkens bringt. RIEHL selbst hebt hervor, daß auch die theoretische Wahrheit zu den Werten gehört, zu den Idealen, die verwirklicht werden sollen. Er hat sie in einer seiner letzten Arbeiten ausdrücklich einen "Eigenwert" genannt. Wie will unter einer solchen Voraussetzung die Theorie des wissenschaftlichen Erkennens ohne den Wertbegriff der Wahrheit als den eines Eigenwertes auskommen? Die Wahrheit ist ein Glied im System der Werte, und auch die Wissenschaftslehre wird zur (theoretischen) Wertlehre, d. h. zu einem Teil der Philosophie, welche nach dem System aller Eigenwerte sucht, um zu einer umfassenden wissenschaftlich begründeten Weltanschauungslehre zu kommen.

Von hier aus kann man endlich die Frage nach dem Ansich der Welt, besonders wie sie sich im Verhältnis von Noumenon und "Ding-ansich" zueinander darstellt, in Angriff nehmen undi hrer wissenschaftlichen Lösung zumindest näher bringen. Damit aber kommen wir vollends auf Wege, auf denen wir sowohl den kritischen Realismus als auch die Lehre von der Doppelaufgabe der Philosophie entweder ganz aufgeben oder zumindest stark modifizieren müssen. Das System der Philosophie wird sich dann wesentlich anders gestalten, als es im "Philosophischen Kritizismus" aussieht, auch wenn es nicht die Gestalt eines erstarrten Ganzen annimmt, sondern sich als ein der ständigen Fortbildung fähiges Gebilde darstellt.

Selbstverständlich bleibt trotzdem auch heute aus RIEHLs System der Philosophie noch viel zu lernen, ja gerade heute, wo man von wissenschaftlicher Philosophie überhaupt nichts mehr wissen will, ist sogar seine strenge Scheidung zwischen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Philosophie mit Freude zu begrüßen. Dem "überwissenschaftlichen" Gerede unserer Propheten und Weisheitslehrer werden wir RIEHLs Standpunkt weit vorziehen. Die modernen Romantiker schreiben nur für den Tag, der die strenge Wissenschaft nicht liebt. Sie scheuen die Mühe des begrifflichen Denkens und möchten sie durch das bequemere Schauen ersetzen. Sie sind die "Journalisten" der Philosophie. Nun, der Tag kommt und will sein Recht, aber er geht auch wieder. RIEHL konnte, wenn er wollte, ebenfalls sehr gut für den Tag schreiben und sprechen. Seine "journalistischen" Fähigkeiten waren gewiß nicht gering. Aber im Zentrum seines Denkens standen, weil er ein echter Philosoph war, die Probleme, die zeitlos sind, und die deshalb nicht nur diesen oder jenen Tag angehen, sondern immer wiederkehren. RIEHL hat sie in eine Form gebracht, die in ihrer Eigenart vorbildlich genannt werden kann. Daher werden seine Bücher noch gelesen werden, wenn das Weltanschauungsgerede der Lebensphilosophen, wie der heutige Tag sie liebt, längst vergessen sind.
LITERATUR - Heinrich Rickert, Alois Riehl, Logos, Bd. 13, Tübingen 1924-25
    Anmerkungen
    1) 1) Ein Teil des Folgenden wurde bereits in der "Frankfurter Zeitung" auf Wunsch der Redaktion veröffentlich. Um einen verständlichen Gedankenzusammenhang herzustellen, muß ich hier einiges wiederholen, doch habe ich durchweg wesentliche Ergänzungen hinzugefügt.