cr-4 HobbesH. RuinHumeLockeBerkeleyJ. St. Mill    
 
FRANZ NAUEN
Die Erkenntnislehre William Hamiltons
[4/4]

"Woher erkennen wir, daß Raum und Zeit notwendige Formen des Geistes sind? Wir abstrahieren z. B. aus verschiedenen äußeren Wahrnehmungen den Begriff des Raumes, nachdem wir beobachtet haben, daß äußere Gegenstände, die uns die Perzeption darbietet, ausgedehnt sind. Durch einen solchen Prozeß, der nur auf einem Vergleich beruhende Allgemeinheit lehren kann, haben wir nur die  Möglichkeit eines Begriffs des Raumes, aber nur des Raumes als eines auf einem  Vergleich beruhenden allgemeinen und deshalb  zufälligen Begriffs erklärt."

"Unser kausales Urteil spricht keine subjektive Notwendigkeit, sondern eine Verknüpfung von Gegenständen aus. Wie diese objektive Verknüpfung möglich ist, ist das Problem, das sich die kantische Philosophie gestellt hat; um die Voraussetzungen unseres Begriffs der  Gegenständlichkeit dreht sich im Grunde die ganze kritische Erkenntnistheorie. Diese Frage hat aber die kritische Analyse  Hamiltons ganz übersehen."

"Hamilton lehrt, daß uns alle Objekte nur unter den Formen von Raum und Zeit gegeben sind. Aber mit einer solchen Auffassung stehen gelegentliche Bemerkungen im Widerspruch, wonach Raum und Zeit auch  eine äußere oder objektive Realität haben sollen."


2. Abschnitt
Das Erkennen und sein Gegenstand
[dritte Fortsetzung]

4. Kapitel
Der Stufengang der Erkenntnis

II. Die weiteren Stufen der Erkenntnis
der Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung


1. Das Selbstbewußtsein

Als ein Zweig des  präsentativen  Vermögens schließt sich an die  äußere  Perzeption, die unmittelbare Erkenntnis der Außenwelt oder der Materie, die  innere  Perzeption, das  Selbstbewußtsein,  die unmittelbare Erkenntnis des Geistes, an. Beide Erfahrungsquellen sind bloße Modifikationen des Bewußtseins: des rezeptiven oder präsentativen Vermögens zu unterscheiden. Die hauptsächlichsten, das Selbstbewußtsein betreffenden Fragen haben wir bereits bei der allgemeinen Betrachtung des Bewußtseins erörtert.

Durch die Perzeption erkennen wir die Phänomene der äußeren Welt unter den Formen des  Raums  und der  Zeit,  durch das Selbstbewußtsein die Phänomene der inneren Welt unter den Formen der  Zeit  und des  Ichs.  Ohne eine Form können wir nichts erkennen. Daß die Formen angeboren sind und nicht erworben werden, ist in ihrer Notwendigkeit begründet.
    "Was ich unter einer Form oder Bedingung eines Vermögens verstehe, ist jener Rahmen ..., außerhalb welchem kein Objekt erkannt werden kann."
Wenn das Ich eine Form der inneren Erfahrung ist, so gilt das nicht analog für das Nicht-Ich im Gebiet der äußeren Erfahrung. Denn das
    "Nicht-Ich ist nur eine Negation, und obwohl es die Objekte der äußeren Erfahrung von denen der inneren unterscheidet, so gibt es doch für die ersteren keinerlei positives Eineitsband für sie ab."
Die notwendige Form, unter der uns allein Gegenstände der äußeren Erfahrung gegeben werden können, ist demnach der Raum.

Der Raum ist eine notwendige Form des Geistes. Also ist der Geist selber ausgedehnt? Einer Bejahung dieser Frage läge der durch nichts bewiesene Satz zugrunde, daß die Qualitäten des erkennenden Subjekts denen des erkannten Objekts ähnlich sein müssen. Woher erkennen wir, daß Raum und Zeit notwendige Formen des Geistes sind? Diese Frage gibt HAMILTON Gelegenheit, auf den Unterschied der  Induktion  und  Deduktion,  die in den "Vorlesungen" als  kritische Analysis  bezeichnet wird, näher einzugehen. Durch Induktion stellen wir fest, was ist. Wir abstrahieren z. B. aus verschiedenen äußeren Wahrnehmungen den Begriff des Raumes, nachdem wir beobachtet haben, daß äußere Gegenstände, die uns die Perzeption darbietet, ausgedehnt sind. Durch einen solchen Prozeß, der nur komparative [auf einem Vergleich beruhend - wp] Allgemeinheit lehren kann, haben wir nur "die Möglichkeit eines Begriffs des Raumes, aber nur des Raumes als eines komparativ allgemeinen (general) und zufälligen Begriffs erklärt; denn wenn wir der Meinung sind, daß dieser Begriff im Geist nur als das Ergebnis eines solchen Prozesses existiert, müssen wir ihn als a posteriori [nachher - wp] erworben (adventious) und deshalb für zufällig halten. Die kritische Analyse dagegen zeigt uns, was notwendig ist, weil wir es nur so, wie es sich uns zeigt, denken können. Das für uns Notwendige ist aber nur für uns, also  subjektiv  notwendig; "denn nur in den Erscheinungen des Geistes können wir einer absoluten Notwendigkeit bewußt werden." In der äußeren Wirklichkeit erkennen wir nichts als notwendig. Daß ein Ding anfangen kann zu sein, ohne eine Ursache zu haben, halten wir für unmöglich. Warum? Weil wir den Begriff eines absoluten Anfangs nicht fassen können. Daß ein Stein in die Luft aufsteigen kann, halten wir nicht für etwas Unfaßbares. Warum? Weil wir es hier mit einem Faktum, das durch Induktion und Beobachtung verallgemeinert ist, mit der Gravitation zu tun haben. Die Leugnung derselben verstößt nicht gegen ein Gesetz des Denkens. Nur die innere Erfahrung lehrt uns das Notwendige, die äußere gibt uns bloß das Aktuelle: das, was ist, ist nicht das, was sein muß. LEIBNIZ war der erste, der in seiner Polemik gegen LOCKE die Notwendigkeit als Kriterium der dem Geist angeborenen Wahrheit erkannt hat,
    "doch ließ er  Kant die Ehre, der erste gewesen zu sein, der vollständig die kritische Analyse in der Philosophie des Geistes angewendet hat."

2. Das Gedächtnis

Das Vermögen der Rezeptivität, das von HAMILTON auch sehr bezeichnend  faculty of acquisition [Vermögen der Erwerbung - wp] genannt wird, wird durch das  Gedächtnis  (memory proper, conservative faculty, retention) ergänzt. Alle Kenntnis, die wir erwerben, wäre nutzlos, wenn wir nicht das Vermögen hätten, sie zu bewahren. Doch ist hiervon das Vermögen, diese aufbewahrten Erkenntnisse ins Bewußtsein zu rufen: die  Reproduktion  zu scheiden. Für diese bildet das Gedächtnis die unerläßliche Bedingung, wie es selber wieder die Erfahrung oder Rezeptivität [Aufnahmefähigkeit, Empfänglichkeit - wp] voraussetzt.


3. Die Reproduktion

Die  Reproduktion  ist das Vermögen, das die schlummernden Inhalte in die Sphäre des Bewußtseins hebt und bei diesem Prozeß von gewissen Gesetzen, den Gesetzen der Assoziation beherrscht wird. Die Reproduktion ist von der Repräsentation zu unterscheiden, wenngleich es uns unmöglich ist, uns irgendwelche zum Bewußtsein gehobene Inhalte vorzustellen, ohne daß sie zugleich repräsentiert werden. Die Reproduktion bedeutet nichts anderes als "das Ergebnis der Gesetze, welche die Folge unseres geistigen Lebens beherrschen". Diese Gesetze lassen sich auf zwei zurückführen: auf das Gesetz der  Simultaneität  und das Gesetz der  Affinität Beide ergeben sich aus dem Grundgesetz der  Reintegration [Wiedereingliederung - wp] oder der  Totalität,  das als letztes Prinzip nicht weiter zurückführbar ist.
    "Dieses Gesetz kann so ausgesprochen werden: Solche Gedanken rufen einander hervor, die früher Teile desselben vollständigen oder totalen Erkenntnisaktes gebildet hatten. Zu demselben ganzen oder totalen Akt gehören nun als integrierende und wesentliche Teile zuerst solche Gedanken, die zu derselben Zeit oder in unmittelbarer Folge entstanden und zweitens solche, die durch ihre gegenseitige Affinität zu einer Einheit geworden sind (19). So werden darum die beiden Gesetze der Simultaneität und der Affinität im höheren Gesetz der Reintegration oder Totalität in eine Einheit gebracht; und durch dieses eine Gesetz können die ganzen Erscheinungen der Assoziation leicht erklärt werden."
HUME war nicht der Erste, der auf die Assoziationsgesetze aufmerksam gemacht hat; bereits ARISTOTELES hat verschiedene Assoziationsarten unterschieden. Sein eigenes Grundgesetz findet HAMILTON schon bei AUGUSTINUS angedeutet. Die Formulierung der beiden Gesetze und ihre Zurückführung auf ein Prinzip hat er von HEINRICH SCHMID aus dessen "Versuch einer Metaphysik der inneren Natur" übernommen. Im Ganzen zeigt sich HAMILTON in diesen rein psychologischen Ausführungen von den zeitgenössischen französischen und deutschen Psychologen, die er häufig und teilweise anstelle einer eigenen systematischen Darlegung in diesen Vorlesungen anführt, stark abhängig.

Die Reproduktion unterscheiden wir als  Suggestion wenn sie spontan auftritt, von der  Reminiszenz [Erinnerung - wp], die durch den Willen anderer in Tätigkeit versetzt wird.


4. Die Repräsentation

Unter dem Vermögen der  Repräsentation  (imagination) versteht HAMILTON die Kraft, die der Geist besitzt, lebhaft vor sich die Vorstellungen zu halten, die er durch den Akt der Reproduktion ins Bewußtsein zurückgerufen hat.

Gedächtnis, Reproduktion  und  Imagination  hängen eng miteinander zusammen, so daß wir uns ihrer wie ein und desselben Aktes bewußt werden. Diese Vermögen in Verbindung mit der  Wahrnehmung  liefern das Material, welches der  Verstand  zu seiner vergleichenden Tätigkeit bedarf.


5. Der Verstand

Der  Verstand  (elaborative faculty), "das Vermögen der Beziehungen oder der Vergleichung konstituiert das, was wir im strengen Sinn  Denken  nennen". Er setzt wenigstens zwei Glieder voraus, von denen er das eine bejaht oder verneint im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zum andern. Das Wesentliche der Verstandestätigkeit ist also das  Beurteilen.  Wie wir bereits erwähnt haben, schließt jeder Bewußtseinsak eine Beurteilung ein und zwar nicht nur das bejahende Urteil der bloßen Existenz, "sondern die Bejahung einer bestimmt gearteten oder beschränkten Existenz".  Urteilen  aber heißt  Vergleichen In jedem, selbst dem einfachsten Akt der Erkenntnis ist demnach ein  Vergleich  gesetzt. Unsere Verallgemeinerungen und Abstraktionen sind bloße Produkte dieses vergleichenden, beziehenden Vermögens. Daraus ergibt sich, daß  Urteilen  und  Denken  identisch mit  Vergleichen  sind.

Die  erste  Tat des Vergleichens ist die Unterscheidung der Existenz von der Nicht-Existenz. Der  zweite  Akt der Vergleichung ist die Unterscheidung des Ichs und den Nicht-Ichs. Er schließt das Urteil ein, daß das eine nicht gleich dem andern ist. Auf einer  weiteren  Stufe des Vergleichens erfassen wir die Vielheit der äußeren und innere Wahrnehmung und beurteilen sie als ähnlich oder verschieden.  Viertens  vergleichen wir die Erscheinungen mit den angeborenen Begriff der Substanz. Die Beurteilung, die darin enthalten ist, ergibt die Gruppierung dieser Phänomene in verschiedenen Bündeln (bundles) als die Attribute verschiedener Subjekte. In der Außenwelt wird dadurch die Unterscheidung der Dinge, in der Innenwelt die der Kräfte konstituiert. Der  fünfte  Akt des Vergleichenes ist die Betrachtung aufeinanderfolgender Erscheinungen unter dem angeborenen Begriff der Kausalität und die Bejahung oder Verneinung ihrer gegenseitigen Beziehung als Ursache und Wirkung. Während dieser ganze Prozeß des Vergleichens und Beurteilens objektiv bedingt ist, folgt das Denken im  Klassifizieren  und  Verallgemeinern die beide ebenfalls ein Vergleichen einschließen "den Notwendigkeiten des denkenden Subjekts selbst"; dieser Prozeß der Vergleichung kann im Gegensatz zum ersten in gewissem Sinne als künstlich bezeichnet werden.

Da der menschliche Geist nicht fähig ist, die unendliche Vielheit der Dinge in sich aufzunehmen, so kann er sie nur festhalten, indem er sie  klassifiziert.  Zur Bildung der Kollektivbegriffe (z. B. Armee, Wald, Stadt) gelangen wir durch das wiederholte Auftreten einzelner Begriffe (wie Soldat, Baum, Haus). "Ein Kollektivbegriff ist nur die Wiederholung von durchaus ähnlichen Begriffen". An die Klassifikation schließt sich die  Zergliederung  an, die einmal den Zwecken der Kunst und dann den Zwecken der Wissenschaft dient. Die wissenschaftliche Zergliederung nennt man  Abstraktion

Als eine weitere  gewissermaßen künstliche  Art des Vergleichens erwähnt HAMILTON die  Verallgemeinerung  (generalisation). Diese besteht darin, daß wir mehrere Objekt vergleichen und sie nach Klassen ordnen, insfoern sie bestimmte Ähnlichkeiten aufweisen. Diese Klassifizierung können wir fortsetzen, bis wir schließlich zum allgemeinsten Begriff des Seins gelangen, der alle Objekte einschließt. Ähnlich wie HAMILTON gegen JAMES MILL gezeigt hat, daß wir bei der Perzeption zuerst das Ganze und erst allmählich die einzelnen Teile wahrnehmen, bemüht er sich jetzt, darzulegen, daß unser Erkennen von der Auffassung des Allgemeinen und der allgemeinsten Unterschied zu der des Individuellen und seiner Besonderheiten fortschreitet.

Die  höchsten  Stufen der Vergleichung bilden das  Urteil  (judgement) (20) und der  Schluß  (reasoning). Beide sind in der Unvollkommenheit unserer Natur gegründet.
    "Wären wir einer Erkenntnis der Dinge und ihrer Beziehungen durch einen Blick, durch eine Intuition fähig, so wäre das diskursive Denken ein überflüssiger Akt. Wir müssen annehmen, daß das höchste Wesen alle Dinge auf einmal erkennt."
Mit dem Urteilen und Schließen als den beiden höchsten Stufen der vergleichenden Tätigkeit unseres Verständesvermögens schließt sich der Kreis unserer aktiven geistigen Fähigkeiten, die uns ermöglichen, ein System von Erkenntnissen aus der vorgefundenen Wirklichkeit zu gestalten. Aus der bloßen Empfänglichkeit entwickeln sich die einzelnen geistigen Vermögen in einer zweckvoll abgestimmten Reihe bis zur bewußten Erfassung der Wirklichkeit durch die Wissenschaft. Aber diesem ganzen Prozeß liegen gewisse  angeborene, ursprüngliche Prinzipien  zugrunde, die wir stillschweigend voraussetzen. Wir haben bereits hervorgehoben, daß wir uns eines Objekts nur unter gewissen notwendigen Formen bewußt werden können. Wir haben bei der Betrachtung der  kritischen Analyse  gesehen, daß nur solche Erkenntnisse den Charakter einer strengen Notwendigkeit und Allgemeinheit haben, die sich auf diese Formen unseres Geistes zurückführen lassen. Deshalb muß es ein Vermögen geben, das wir freilich nur in einem uneigentlichen Sinn so nennen und das nichts anderes als den Inbegriff dieser  notwendigen  oder  apriorischen  Erkenntnisse darstellt.


5. Kapitel
Der Apriorismus Hamiltons:
die Philosophie des Bedingten.


I. Die apriorischen Elemente
der Erkenntnis

Als  regulatives Vermögen  (regulative faculty),  locus principiorum,  bezeichnet HAMILTON "die Kraft des Geistes, aus sich gewisse notwendige Erkenntnisse hervorzubringen".
    "Da diese Erkenntnisse die Bedingungen, die Formen, sind, unter denen unsere Erkenntnis im allgemeinen möglich ist, so konstituieren sie ebenso viele Grundgesetze der intellektuellen Natur."
Gegenüber den  Tatsachenwahrheiten,  deren Kriterium in ihrer Zufälligkeit besteht, erweisen diese sich als  notwendige Wahrheiten.  Aus dieser ihrer Notwendigkeit ergibt sich als zweites Merkmal ihre  Allgemeinheit.  Schon DESCARTES hat die Allgemeinheit dieser Erkenntnisse hervorgehoben, aber erst LEIBNIZ hat ihr wesentliches Kriterium, die  Notwendigkeit,  klar ausgesprochen. Auch HUME hat erkannt, daß sich die Kausalität als notwendiges und allgemein gültiges Gesetz nicht aus der Erfahrung ableiten läßt. Ebenso hat auch REID gelehrt, daß die Erfahrung keine allgemeingültigen Erkenntnisse gibt. Der allgemeine Erfolg, mit dem KANT das Kriterium der apriorischen Wahrheiten angewandt hat, muß selbst von denen zugegeben werden, die vielen der besonderen Resultate, zu denen seine Philosophie gelangt, nicht beistimmen können.

HAMILTON lehnt die Bezeichnung  Reason  für dieses Vermögen als vieldeutig ab. Gegen den Ausdruck  common sense  spricht besonders der Nebensinn eines gesunden, aber auf gewöhnliche, nicht eigentlich wissenschaftliche Gegenstände gerichteten Verstandes, den man meist damit verbindet. HAMILTON geht eine große Reihe Denker seit CICERO durch, um den rechtmäßigen Gebrauch dieses Terminus, wie er besonders von den Schotten verwandt wird, darzulegen. Doch will er ihn selbst nur mangels eines besseren gebraucht wissen. Die apriorischen Wahrheiten werden von ihm in der mannigfachsten Weise bezeichnet. Er führt neben mehreren griechischen und lateinischen Benennungen folgende auf: erste Prinzipien oder Prinzipien des  common sense,  selbstgewisse oder intuitive Wahrheiten, angeborene Begriffe, natürliche Erkenntnisse oder  beliefs,  metaphysische oder transzendentale Wahrheiten, erste oder ursprüngliche Gesetze des menschlichen Glaubens (belief), reine oder transzendental oder apriorische Erkenntnisse etc. In der Note A der "Dissertations" zu REID (On Common Sense) wird diese bunte Reihe durch eine große Zahl weiterer Termini vermehrt.

Hier erhebt sich die Frage, ob die früher als  natural beliefs  oder Bewußtseinstatsachen schlechthin bezeichneten Wahrheiten, denen auch das Merkmal der Notwendigkeit zugesprochen wurde, mit den apriorischen Prinzipien, wie sie hier erörtert werden, zusammenfallen. Das  argument from common sense  wäre dann nichts anderes als ein allgemeines Vernunftprinzip. Andererseits soll es aber nicht so sehr eine Erkenntnis, sondern ein Gefühl sein, bei dem wir uns als ein Letztes beruhigen müssen. Wie kann es dann aber zu den Prinzipien gehören, die Wissenschaft und wissenschaftliches Erkennen möglich machen? Wir erinnern uns, daß HAMILTON der Dualität des Bewußtseins, die er als einen solchen  natural belief  eingeführt hat, zwei weitere "allgemeine Erscheinungen des Bewußtseins" anfügt, die nur durch experimentelle Beobachtung zu erweisen sind. Wenn hier also eine Unstimmigkeit vorliegt, so wird man auch die Gleichsetzung von  natural belief  und apriorischer Wahrheit beanstanden. Denn die Dualität des Bewußtseins ist doch kein apriorisches Prinzip in dem Sinn wie z. B. der Satz des Widerspruchs oder das Kausalgesetz, die HAMILTON als solche aufführt. Diesen ist es eigentümlich, daß sie eine allgemeingültige Erkenntnis begründen, was von jener  Bewußtseinstatsache  nicht gilt. Aus dieser Betrachtung, an die wir noch einmal bei der Würdigung der Stellung, die HAMILTON zu KANT einnimmt, anzuknüpfen haben, ergibt sich schon jetzt, daß nur eine äußerliche Harmonisierungstendenz die  natural beliefs  im Sinne der Common-Sense-Philosophie und die apriorischen Prinzipien gleichsetzen kann.

Indem wir uns zu einer  Ableitung  der  apriorischen  Sätze wenden, heben wir zunächst das Einteilungsprinzip hervor, nach welchem sie in  zwei grundverschiedene Klassen  zerfallen. Das wesentliche Kriterium dieser Sätze ist ihre  Notwendigkeit.  Diese Notwendigkeit, die sich durch Verallgemeinerung aus der Erfahrung niemals ableiten läßt, ist dem Geist angeboren, aber sie ist nicht immer "ein positives und unmittelbares Datum einer intellektuellen Kraft".
    "Es ist augenscheinlich, daß die Qualität der Notwendigkeit von zwei verschiedenen und entgegengesetzten Prinzipien abhängen kann, insofern sie entweder das Ergebnis einer Kraft oder einer Kraftlosigkeit des denkenden Prinzips ist. Im einen Fall wird sie eine positive, im andern eine negative Notwendigkeit sein."
So ist die Existenz, deren ich mir bei einem Wahrnehmungsakt bewußt werden, eine angeborene Erkenntnis,
    "weil ich finde, daß ich nicht denken kann außer unter der Bedingung zu denken, daß alles, dessen ich mir bewußt bin, existiert. Existenz ist also eine Form, eine Kategorie des Denkens. Aber hier, obwohl ich die Existenz denken muß, bin ich mir dieses Gedankens als eines Aktes der Kraft, eines Aktes der intellektuellen Energie bewußt."
Unter diesen Begriff der  positiven  Notwendigkeit fallen alle  natürlichen Erkenntnisse,  bei denen wir uns bewußt sind,  daß die Notwendigkeit,  mit der wir sie denken, "nicht aus der Ohnmacht" des Geistes "erwächst". Zu dieser Klasse gehören der Begriff der  Existenz  und seine  Modifikationen,  die Prinzipien der  Identität  und des  Widerspruchs  und des  ausgeschlossenen Dritten,  die Anschauungen des  Raums  und der  Zeit

Es gibt nun aber andere notwendige Formen des Denkens, die von einer völlig verschiedenen Art als die bisher betrachteten sind.
    "Statt daß die Notwendigkeit, die ihnen zukommt, das Ergebnis einer Kraft ist, ist sie bloß die Folge der Ohnmacht unserer Fähigkeiten."
Diesen  negativen Unfähigkeiten  darf man nicht  die Würde positiver Energien  zuschreiben. Es würde gegen das Gesetz der Ökonomie (law of parcimony) verstoßen, wollte man jede dieser Denkformen auf eine besondere Kraft zurückführen. Sie lassen sich vielmehr aus einem Grundgesetz unseres Denkens ableiten, das HAMILTON so formuliert:
    "Alles, was im Denken begriffen werden kann, liegt zwischen zwei Extremen, die, da sie einander widersprechen, nicht beide wahr sein können, von denen aber eines wahr sein muß."
Dieses Grundgesetz erläutert er an den Beispielen von  Raum  und  Zeit,  als den beiden Formen, unter denen wir uns die Objekte der äußeren und inneren Erfahrung vorstellen. Wenn wir den Raum als ein  Maximum  auffassen, so können wir ihn uns weder unendlich ausgedehnt, noch endlich begrenzt vorstellen. "Es ist aber klar, daß der Raum entweder begrenzt oder nicht begrenzt sein muß."
    "Dies sind einander widersprechende Alternativen; nach dem Prinzip des Widerspruchs können sie beide nicht wahr sein und nach dem Prinzip des ausgeschlossenen Dritten muß eine wahr sein. Dies kann nicht geleugnet werden, ohne die ursprünglichen Gesetze des Denkens (primary laws of intelligence) zu leugnen. Aber wiewohl wir den Raum entweder als endlich oder als unendlich annehmen müssen, können wir uns weder von der Möglichkeit eines endlichen, noch eines unendlichen Raumes eines Vorstellung machen."
Der Begrenztheit unseres Vorstellens werden wir uns ebenso bewußt, wenn wir uns den Raum als ein  Minimum  begreiflich zu machen suchen. Wir können uns niemals ein unendlich kleinstes Raumteilchen, das nicht weiter teilbar wäre, vorstellen; wir können uns aber ebensowenig eine unendliche Teilbarkeit eines ausgedehnten Dinges vorstellig machen.
    "Wenn wir versuchen, die Zeit zu begreifen, entweder als ein Ganzes oder einen Teil, so finden wir, daß unser Denken in zwei Unbegreiflichkeiten eingeschlossen ist. Und doch denken wir alles, das Körperliche wie das Geistige, in der Zeit, und außerhalb der Zeit können wir nichts denken."
Fassen wir zunächst die Zeit als ein  Ganzes  ins Auge. Es ist uns unmöglich, uns einen absoluten Anfang der Zeit vorzustellen; ebensowenig können wir uns eine absolute Begrenzung der Zeit, ihr Aufhören begreiflich machen. Gleicherweise können wir die Vorstellung einer Zeit ohne einen Anfang nicht vollziehen. So wenig wir uns einen absoluten Beginn der Zeit denken können, so müssen wir doch einen solchen fordern. Denn
    "die Verneinung eines Anfangs der Zeit schließt gleichfalls die Behauptung ein, daß eine unendlich lange Zeit in jedem Augenblick schon verflossen ist, d. h. sie enthält den Widerspruch, daß ein Unendliches vollendet worden ist."
Aus demselben Grund können wir uns keinen unendlichen Fortgang der Zeit vorstellen.

Wenn wir uns einen  Zeitabschnitt  denken, etwa einen Augenblick, so können wir ihn uns nur als ein unendlich Teilbares vorstellen. Diese unendliche Teilbarkeit können wir aber in Gedanken nicht vollziehen. Jeder Zeitabschnitt muß aber entweder unendlich teilbar oder in bestimmt begrenzte Teilchen auflösbar sein. Ein Drittes gibt es nicht. "Eins ist notwendigerweise wahr; aber keins von beiden kann als möglich begriffen werden."

Das Prinzip, das uns in seinen Anwendungen auf Raum und Zeit hier entgegengetreten ist, ist nichts anderes als das  Gesetz des Geistes  (law of mind), das ausspricht, "daß das Begreifbare in jeder Beziehung durch das Unbegreifbare gebunden ist." HAMILTON nennt dieses Grundgesetz das  Gesetz des Bedingten  (law of the conditioned). Raum und Zeit lassen sich also auf dieses Grundgesetz unseres Denkens wie zwei besondere Formen desselben zurückführen. Da uns aber nichts gegeben werden kann außer in einem räumlichen Nebeneinander oder in zeitlicher Folge, so ist damit ausgesprochen, daß wir nur das Bedingte erkennen können.


II. Das Unbedingte

Dem Bedingten, das allein Gegenstand unseres Erkennens sein kann, steht das Unbedingte gegenüber.
    "Nach unserer Meinung kann der Geist nur das Begrenzte und zwar das bedingt Begrenzte begreifen und folglich erkennen. Das unbedingt Unbegrenzte, das Unendliche, das unbedingt Begrenzte, das Absolute, kann der Geist sich nicht positiv konstruieren."

    "Der Begriff des Unbedingten ist bloß negativ, - die Verneinung des Begreifbaren selbst."
Denn wir können ihn nur fassen, indem wir "eben jene Bedingungen, unter denen das Denken selber verwirklicht wird, wegdenken oder von ihnen abstrahieren. Mit einer gewissen Änderung der Formulierung führt er zum Beweis dieses Satzes, der das notwendige Gegenstück zum  Gesetz des Bedingten  bildet, das Beispiel des Raumes durch und zeigt daran, daß uns sowohl das  Absolute  wie das  Unendliche  als die beiden Arten des Unbedingten unerkennbar sind. Denken bedeutet demgemäß  bedingen:  "to think is to condition". Ebensowenig wie das Windspiel seinem Schatten entfliehen kann oder besser noch "der Adler die Atmosphäre, in der er fliegt, verlassen kann", ebenso wenig "kann der Geist jene Sphäre der Begrenzung..., in der und durch die allein die Möglichkeit des Denkens verwirklicht wird ... überschreiten." Hiermit verbindet sich ein uns bereits bekannter Gedanke. Unser Erkennen ist an unser Bewußtsein, dieses aber an die Antithesis von Subjekt und Objekt gebunden: darum können wir nur das Bedingte, oder wie es hier genannt wird: das  Relative  erkennen. (21) In der durchgängigen Bedingtheit unseres Denkens wurzelt die Relativität unseres Erkennens. Zugleich ist hier der Versuch gemacht, den Begriff der Existenz in das Gesetz des Bedingten aufzulösen, da er ja nur im notwendigen Korrelat von Subjekt und Objekt gegeben ist und dadurch bedingt wird. Hieraus ergibt sich das  logische Axiom,  das positiv die Bedingtheit unseres Erkennens ausspricht, die Erkenntnis eines Dinges schließt die Erkenntnis seines Gegensatzes ein.


III. Die Kausalität. Das Gesetz des
Bedingten in seinen Anwendungen

Die Fruchtbarkeit seines "Law of the Conditioned" findet HAMILTON vor allem darin, daß "dieses Prinzip uns ... eine Auflösung der zwei großen intellektuellen Prinzipien der Ursache und Wirkung und der Substanz und Erscheinung (phaenomenon and accident) gewährt." Weder in dem von uns oft zitierten Aufsatz "Über die Philosophie des Unbedingten" (Discussions, Seite 1f), noch in den "Vorlesungen" ist er jedoch einer   Ableitung des Substanzbegriffes  nachgegangen. Dagegen führt er sie im philosophischen Appendix der "Discussions" unter dem Titel "Bedingungen des Denkbaren" aus. Er geht hier davon aus, daß die Relativität eine Grundbedingung des Denkbaren ist. Er unterscheidet sie als Relation des  Erkennens,  die den Gegensatz von Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich in sich schließt und als Relation der  Existenz, welche die Beziehung von  Substanz und  Qualität  ausmacht. Beide können nur als sich gegenseitig bedingend, als relative Begriffe gedacht werden. Wir können uns eine Qualität nicht absolut und für sich existierend denken, sondern
    "wir sind gezwungen sie als einem Substrat ... Subjekt oder einer Substanz innewohnend zu denken; aber diese Substanz kann von uns nur negativ ... als das unbegreifbare Korrelati gewisser erscheinender Qualitäten (appearing qualities) erfaßt werden."
Wenn wir den Versuch machen, sie positiv zu denken, so müssen wir sie uns als eine Qualität oder ein Bündel von Qualitäten vorstellen, die wir wieder auf eine unbekannte Substanz, welche als  Basis  notwendigerweise von uns vorausgesetzt werden muß, zurückzuführen hätten.
    "Alles kann in der Tat von uns als die Qualität oder die Substanz von irgendeinem anderen Ding begriffen werden."
Absolute Substanz und absolute Qualität aber sind für uns unbegreiflich, sie bedeuten uns nichts mehr als Negationen des für uns Erfaßbaren. HAMILTON fügt hinzu, es sei kaum nötig hervorzuheben, daß in diesem Zusammenhang der Ausdruck  Substanz  im gewöhnlichen Sinn angewendet wird, in welchem er einen Haufen von permanenten Qualitäten im Gegensatz zu gewissen mehr transitorischen [übergehenden - wp] bezeichnet.

Den breitesten Raum in den Darlegungen über die apriorischen Wahrheiten nimmt die  Ableitung des Kausalgesetzes  aus dem  Gesetz des Bedingten  ein. "Wenn wir auf irgendetwas achten, das beginnt zu sein, so sind wir durch die Notwendigkeit unseres Verstandes gezwungen zu glauben, daß es eine Ursache hat."

Was bedeutet aber der Ausdruck: "es hat eine Ursache?" Er bedeutet, daß wir uns alles, was entsteht, nur so vorstellen können, daß es früher unter einer anderen Form existiert hat. Wir können uns nicht begreiflich machen, daß irgendetwas aus Nichts entstanden sein soll, ebensowenig, daß irgendeine Existenz in Nichts übergehen könnte.
    "Wir müssen notwendigerweise leugnen oder besser, wir können in Gedanken nicht behaupten, daß das Objekt, so wie wir es erfassen ... wirklich beginnt zu sein; sondern wir müssen die Identität der gegenwärtigen Summe seines Seins mit der Summe seiner vergangenen Existenz behaupten."
Oder anders ausgedrückt: In der Ursache ist alles enthalten, was in der Wirkung enthalten ist; und in der Wirkung ist nichts, was nicht auch in der Ursache enthalten wäre. Es handelt sich uns nicht darum zu wissen, "unter welcher Form oder Kombination" eine bestimmte Existenz "früher bestanden hat; in anderen Worten: es ist für uns nicht notwendig, die besonderen Ursachen dieser besonderen Wirkung zu erkennen." Die Aufsuchung der Verbindung bestimmter Ursachen mit bestimmten Wirkungen bleibt Sache der induktiven Forschung; diese jeweiligen Verbindungen sind individuell und darum zufällig.
    "Das Prinzip hingegen, daß jedes Ereignis seine Ursache hat, ist notwendig und allgemein; es ist darum eine Bedingung unserer menschlichen Intelligenz. Diese Notwendigkeit so zu denken (oder besser: die Unmöglichkeit das Gegenteil zu denken), ist das einzige Phänomen, das zu erklären ist."
Alle Philosophen sollen darin einig sein, was "das Phänomen der Kausalität" besagt - nit einer einzigen Ausnahme: BROWN. Dieser hat die  idea  der Notwendigkeit, die den eigentlichen Sinn des Kausalgesetzes ausmacht, ganz übersehen. Dadurch hat er das Problem im Voraus seiner Lösung anbequemt.

Es sind  acht  verschiedene Erklärungen des Kausalgesetzes möglich, die alle von Philosophen vertreten worden sind. Die achte und letzte, die Zurrückführung der Kausalität auf das Gesetz des Bedingten ist zuerst von HAMILTON selbst ausgesprochen worden.

Die  beiden ersten  Erklärungen gehen wie auch die  dritte  und  vierte  davon aus, daß wir den Begriff der Ursächlichkeit durch die Erfahrung bilden. Und zwar gelangen wir zu ihm durch die  äußere  und  innere  Erfahrung, wie die  erste  Theorie behauptet oder nur durch die  innere,  wie die Vertreter der  zweiten  lehren. Beiden Theorien ist wieder gemeinsam, daß sie die Kausalität als einen ursprünglichen, nicht abgeleiteten Begriff betrachten. Gegen sie spricht:

1. die Tatsache, daß wir die Ursächlichkeit, den Vorgang, der eine Erscheinung zur Ursache einer andern macht, nicht wahrnehmen. Hierauf hat HUME vor allem aufmerksam gemacht. (22) Dies gilt für die  innere  Erfahrung ebenso wie für die  äußere. 

2. die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die wir dem Kausalurteil beilegen.

Das zweite Bedenken richtet sich ebenso gegen die  dritte  und  vierte  Theorie, welche unseren Begriff der ursächlichen Verknüpfung durch objektive Induktion oder Verallgemeinerung aus der Erfahrung bzw. als das Produkt subjektiver Assoziationen, d. h. aus der Gewohnheit erklären wollen.

Gegen alle diese Versuche, das Kausalgesetz  aposteriorisch  abzuleiten, "genügt es zu sagen, daß sie alle wertlos sind, da sie unvermögend sind, die Qualität der Notwendigkeit zu erklären, durch ... die das Kausalurteil charakterisiert ist." Dieses Phänomen der subjektiven Notwendigkeit" wird nur durch die  apriorischen  Erklärungsversuche gewahrt.

Den vier folgenden Erklärungen ist es eigentümlich, daß sie das Kausalgesetz nicht aus der Erfahrung ableiten, sondern als ein  Verstandesgesetz  betrachten.

Die  fünfte  Theorie sieht in ihm ein  besonderes  apriorisches Prinzip. Als Vertreter derselben führt HAMILTON DESCARTES, LEIBNIZ, REID, STEWART, KANT, FICHTE, COUSIN und "die Mehrzahl der neueren Philosophen" an.

Diese Annahme, daß das Kausalgesetz ein apriorisches Prinzip ist, das sich nicht weiter zurückführen läßt, kann nur provisorisch gemacht werden. Sie wird erst dann die einzig notwendige Erklärung, wenn sich zeigen läßt, daß sich das als ursprünglich angenommene Gesetz nicht aus einem höheren ableiten läßt. Davon abgesehen, spricht gegen diese Theorie "eine Grundvoraussetzung der Philosophie". Das ist das "Gesetz der Ökonomie", welches verbietet, ohne Notwendigkeit Wesenheiten, Kräfte, Prinzipien oder Ursachen anzuhäufen, vor allem die Setzung einer unbekannten Kraft, wo eine erkannte Ohnmacht die Wirkung erklären kann.

Als sechste Theorie wird BROWNs Ansicht erwähnt, die das Kausalgesetz auf den Glauben an die  Gleichförmigkeit der Naturvorgänge  reduziert. Diese erfordert nach dem Gesagten keine Widerlegung.

Dasselbe gilt von der  allgemein aufgegebenen  Theorie, welche das Kausalgesetz auf das  Prinzip des Widerspruchs  zurückführt. Der Grundirrtum derselben besteht darin, daß sie die Realität der Ursächlichkeit, die erwiesen werden soll, stillschweigend voraussetzt.

Nach dieser Kritik der bisherigen Erklärungsversuche unternimmt es HAMILTON, das Kausalgesetz aus dem  Grundgesetz des Bedingten  abzuleiten. Alles, was wir denken, denken wir unter der Kategorie der Zeit und der Existenz.
    "Ich kann nicht denken ohne zu denken, daß ich existiere, - ich kann mir meiner nicht bewußt sein, ohne mir bewußt zu sein, daß ich bin."
Das ist die wahre Deutung des Cartesianischen  cogito, ergo sum.  Die Existenz ist also eine notwendige Form des Denkens. Als eine zweite Kategorie oder subjektive Bedingung des Denkens betrachten wir die Zeit. Denn das Denken kann von uns nur als eine Aufeinanderfolge von Gedanken verwirklicht werden; jede Folge ist aber nur unter dem Begriff der Zeit begreiflich. Die "Existenz in der Zeit" ist demnach eine notwendige Form oder Kategorie unseres Verstandes. Aber wir erfassen die Existenz in der Zeit nicht absolut oder unendlich, wir erfassen sie nur als bedingt in der Zeit. Wir können demnach nur die "in der Zeit bedingte Wirklichkeit" erkennen; aber
    "die in der Zeit bedingte Wirklichkeit drückt zugleich und in Beziehung zueinander die drei Kategorien des Denkens aus, die uns zusammen das Prinzip der Kausalität ergeben. Das ganze Phänomen der Kausalität scheint mir nichts anderes als das Gesetz des Bedingten in seiner Anwendung auf ein Ding zu sein, das unter der Form der geistigen Kategorie der Existenz und unter der geistigen Form oder Kategorie der Zeit gedacht wird."
Denn was wir auch denken mögen, können wir nicht als nicht-existierend denken, d. h., wir sind unfähig, es in Gedanken zu vernichten. Was wir allein begreifen können, ist eine Veränderung der Form eines Dings in der Zeit. Aus demselben Grund ist eine Erschaffung aus Nichts für uns unbegreifbar: eine Erschaffung können wir uns nur als die Entwicklung einer neuen Existenzform durch das Fiat [es werde - wp] des Schöpfers vorstellen.

Zum Verständnis dessen, was HAMILTON meint, erscheint es ratsam, seine nähere Begründung in ihrer ganzen Breite hier folgen zu lassen. Was wir auch als existierend denken, können wir nur als in der Zeit existierend denken. Wir können nicht den Gegenstand unseres Denkens als nicht existierend in einem Augenblick vor dem gegenwärtigen denken, ebensowenig in einem Augenblick vor diesem usw. Wir können also keine Existenz in Gedanken vernichten, indem wir sie uns in einer möglichst weit zurückliegenden Vergangenheit denken. Was wir einmal als existierend gedacht haben, können wir niemals als nichtseiend begreifen. Dasselbe gilt auch für die Existenz in der Zukunft. Wir mögen uns die Vernichtung eines einmal als seiend gedachten Gegenstandes vorstellen, sie für möglich halten, wir können uns diese Möglichkeit nicht denken.
    "Aber wenn man so weder den absoluten Anfang, noch das absolute Ende von irgendetwas, das einmal als seiend gedacht ist, begreifen kann",
so ist es ebenso unmöglich, auf der anderen Seite eine unendliche Anfangs- und unendliche Endlosigkeit zu denken. Dazu sind wir gleicherweise unfähig. Jenseits des Bereiches unseres Denkens liegt darum sowohl der Gedanke eines absoluten Anfangs wie der eines absoluten Endes; das  Absolute  ist eine unüberwindliche Schranke, die unserem Denken gesetzt ist. Ebensowenig vermag es den Gedanken einer unendlichen Anfangslosigkeit oder einer unendlichen Endlosigkeit zu erfassen; das  Unendliche  ist das andere unbegreifliche Extrem, das unser Denken seiner natur nach nie zu überschreiten vermag. Diese fundamentale Begrenztheit unseres Denkens wird durch "die Kategorie des Bedingten in ihrer Anwendung auf die Kategorie der Existenz unter der Kategorie der Zeit" ausgedrückt. In dieser Anwendung ist zugleich das Prinzip der Kausalität gegeben. Denn dieses drückt nichts anderes aus, als daß wir jedes uns gegebene Objekt in seinen Ursachen als in der Vergangenheit existierend denken müssen, wenngleich wir auch niemals diese Ursachen vermuten.
    "Es ist die Unfähigkeit, die wir erfahren, wenn wir in Gedanken eine Existenz in vergangener Zeit vernichten, in anderen Worten: unser völliges Unvermögen ihren absoluten Anfang zu begreifen, das ganze Phänomen der Kausalität ausmacht und erklärt."
In diesem Sinne ergibt sich das Kausalgesetz aus dem Gesetz des Bedingten.

Als einen Vorzug dieser Theorie erwähnt HAMILTON den Umstand, daß sie kein besonderes Prinzip setzt, um das Kausalverhältnis zu erklären. Dadurch wird nicht nur dem Gesetz der Ökonomie genügt, sondern es soll auch der Skeptizismus durch seine Auffassung zurückgewiesen sein. Die Tatsache, die das Kausalgesetz erklärt, ist einfach diese: die Existenz kann nicht absolut beginnen. Wenn wir für diese ein  besonderes  Prinzip setzen, so müssen wir ebenso ein besonderes Prinzip des Verstandes annehmen, um die entgegengesetzte Tatsache der Endlosigkeit der Zeit zu begründen. Daraus ergäbe sich, daß uns unsere Natur im Grunde belügt, denn beide angenommenen Prinzipien widersprechen sich, wie sich die Erscheinungen widersprechen, die sie erklären sollen. Auf dem Standpunkt, den HAMILTON dagegen einnimmt, "werden diese einander widersprechenden Erscheinungen in das gemeinsame Prinzip einer Begrenzung unserer Vermögen aufgelöst". Wir erkennen, daß "unsere Vermögen schwach sind", nicht aber, daß sie uns täuschen. Weder spiegelt uns unsere Natur ein lügenhaftes Bild der Wirklichkeit vor, noch ist ihr Urheber ein Betrüger.

Diese psychologische Ableitung des Kausalgesetzes geht von der Voraussetzung aus, daß dies nichts anderes als unsere Unfähigkeit ausdrückt, uns einen absoluten Anfang der Zeit zu denken. Diese Voraussetzung beschränkt natürlich auch die Lösung des Problems; in dieser wie in jener kommt zum Ausdruck, daß wir es hier nur mit einer psychologischen Tatswache und nichts anderem zu tun haben. Hiermit haben wir den eigentlichen Kernpunkt des HAMILTONschen Apriorismus berührt, der uns zugleich seine harmonisierende Tendenz erklärt. HAMILTON spricht von a priori, transzendental, von notwendigen Bedingungen eines aposteriorischen Wissens, ja er formuliert die Aufgabe der Philosophie gelegentlich in einem Sinn, den man als kantisch bezeichnen könnte (23), - aber er meint mit all dem etwas anderes, als was diese Wendungen im ursprünglichen Wortsinn bedeuten. Ihm ist das Apriori ein psychologisches Faktum: eine geistige Fähigkeit oder ein geistiges Unvermögen. Sein Apriorismus ist ein  Psychologismus  (24). Und darum ist er ein  reiner  Subjektivismus. Wir brauchen uns nur der verschiedenen Bezeichnungen für die  angeborenen Begriffe,  also für die apriorischen Elemente des Erkennens zu erinnern, um uns bewußt zu werden, wie hier und ebenso in der sachlichen Entwicklung des Gesetzes des Bedingten aus den  subjektiven Denkformen  des Raumes und der Zeit und in der Ableitung des Kausalprinzips stets die Gleichsetzung von subjektiv und apriorisch wiederkehrt. Wir machen nur auf besonders bezeichnende Wendungen noch einmal aufmerksam. HAMILTON spricht vom Kausalgesetz als einer "unvermeidbaren Notwendigkeit unserer Natur", er sieht in der Kausalität und der Substanzialität nichts anderes als "die beiden großen intellektuellen Prinzipien", als die "fundamentalen Gesetze unserer intellektuellen Natur", und er betont selbst ausdrücklich, daß alle Notwendigkeit subjektiv ist. Seine  kritische  Analyse ist ihm, wie wir gesehen haben, nichts anderes als die Aufweisung gewisser letztlich gegebener Tatsachen des Selbstbewußtseins. Auch hier hat der Mangel einer Klärung des Objektbegriffs verhängnisvoll gewirkt. HAMILTON interpretiert von vornherein das Kausalgesetz als subjektive Notwendigkeit, uns die Erscheinungen in der Verknüpfung von Ursache und Wirkung vorzustellen. Damit hat er aber selbst den Fehler gemacht, den er BROWN vorwirft: er hat seiner subjektivistischen Auflösung des Problems die Deutung desselben angepaßt. Unser kausales Urteil spricht aber nicht zunächst eine subjektive Notwendigkeit, sondern eine Verknüpfung von Gegenständen aus. Wie diese objektive Verknüpfung möglich ist, ist das Problem, das sich die kantische Philosophie gestellt hat; um die Voraussetzungen unseres Begriffs der Gegenständlichkeit dreht sich im Grunde die ganze kritische Erkenntnistheorie. Diese Frage hat aber die  kritische Analyse  HAMILTONs ganz übersehen. Er setzt das erkenntnistheoretische Apriori einer psychologischen Tatsächlichkeit gleich. Daher konnte es ihm sogar scheinen, daß selbst HUME, gegen den gerade KANT die objektive Geltung des Kausalgesetzes erweisen wollte, mit diesem in der Auffassung des Apriori übereinstimmt. (25)

So drängt sich vor allem bei der Würdigung des  Apriorismus  HAMILTONs die Berechtigung des Vorwurfs auf, den MILL in die Worte kleidet:
    "Es ist nicht ungewöhnlich bei  Hamilton, daß er von anderen Philosophen einzelne Ausdrücke übernimmt, deren volle Bedeutung keinen Teil seiner eigenen Denkweise bildet."
Wie konnte aber MILL [hamilton0] in seinem Gegner den Vertreter einer Denkweise sehen, zu dem er seinen konsequenten Empirismus in einem schroffen Gegensatz wußte? Auch das ist aus der psychologistischen Tendenz HAMILTONs leicht erklärbar. Diese Tendenz wird von ihm nicht konsequent durchgeführt. MILL charakterisiert HAMILTONs Methode als introspektiv, und er stellt ihr die rein psychologische gegenber. Diese introspektive Methode ist für ihn im Grunde dieselbe, der auch die kritische Philosophie huldigt. Er will darum in HAMILTON den Rationalismus überhaupt treffen, und zwar den Rationalismus als die philosophische Auffassung, die unser Erkennen auf gewisse nicht weiter ableitbare Prinzipien zurückführt. Da er diese apriorischen Elemente rein psychologisch wie auch HAMILTON faßt, so bleibt er seinem Psychologismus nur treu, wenn er verlangt, solche apriorischen Voraussetzungen unseres Wissens aus assoziativen Verknüpfungen unserer Wahrnehmungen zu begreifen und zu erklären. Von diesem Standpunt aus kritisiert er vor allem den  natural belief  HAMILTONs, unseren Glauben an die Existenz der Außenwelt. So lehrt diese Kritik vom empirischen Standpunkt, daß ein rein psychologisch gedeuteter Apriorismus in sich selbst widersprechend ist.

Wir haben früher erwähnt, HAMILTON glaube mit KANT in der Lehre übereinzustimmen, unser Erkennen erfasse nur die  Erscheinungen  der Wirklichkeit, nicht diese selbst ansich. Es scheint, daß diese Behauptung, wenn wir von der subjektiv-psychologischen Tendenz HAMILTONs absehen, zu Recht besteht, da auch HAMILTON lehrt, daß uns alle Objekte nur unter den Formen von Raum und Zeit gegeben sind. Aber mit einer solchen Auffassung stehen gelegentliche Bemerkungen im Widerspruch, wonach Raum und Zeit auch "eine äußere oder objektive Realität" haben sollen: Diese Ansicht scheint er auch ausdrücken zu wollen, wenn er die Ableitung des Raumes als notwendige Form unseres Denkens eine  psychologische  nennt, die mit der  physikalischen  nichts zu tun hat.

Wenn sich so kantische Gedanken in einer eigentümlichen Wendung bei HAMILTON finden, so zeigt dies doch zugleich, welch großen Einfluß KANTs Philosophie auf ihn ausgeübt hat, und es erscheint daher gerechtfertigt, die Stellung HAMILTONs zu ihr als Ganzes kurz darzulegen.


IV. Hamiltons Stellung zu Kant

HAMILTON hat seine Stellung zur  kantischen  Philosophie selbst im Anschluß an eine Kritik der Idee des Unbedingten bei KANT ausführlich auseinandergesetzt. Er behauptet, KANTs Lehre sei "in der Hauptsache (fundamentally) dieselbe wie seine eigene". Nach KANT sei das Unbedingte "kein Objekt des Wissens, aber sein Begriff sei als ein regulatives Prinzip des Geistes selbst mehr als eine bloße Verneinung des Bedingten". Er stimmt mit KANT darin überein, daß das Unbedingte unerkennbar und unbegreiflich ist: doch ist sein Begriff des Unbedingten lediglich die Verneinung des Bedingten, das nach ihm allein erkannt werden kann. Indem KANT die Erkenntnis des Unbedingten verwirft, verwirft er folgerichtig die rationale Psychologie, Ontologie und spekulative Theologie. Die Philosophie wird
    "so auf die Beobachtung und Analyse der Erscheinungen des Bewußtseins eingeschränkt; und was nicht explizit oder implizit in einer Bewußtseinstatsache gegeben ist, wird abgelehnt (condemned), da es die Sphäre einer rechtmäßigen Spekulation überschreitet."
Ebenso hält er die kantische "Auflösung von Zeit und Raum in formale Denknotwendigkeiten" für überzeugend, "ohne jedoch zuzugeben, daß sie keine äußere oder objektive Realitäät haben". Die Deduktion der Kategorien und die Ideen der spekulativen Vernunft bezeichnet er als "das Werke eines großen, aber stöckischen Scharfsinns", und hiermit setzt die Kritik gegen KANT ein. Er verwirft die Ableitung der Kategorien aus einer anfechtbaren Einteilung der logischen Urteile. Es gibt nur eine Hauptform oder Kategorie des Denkens: das  Bedingte,  die  bedingte Existenz.  Aus ihr sind die einzelnen Formen, die man auch Kategorien nennen mag, als bloße Anwendungen abzuleiten. Die Vernunftideen KANTs sind unerreichbar für unser Erkennen, denn "die Idee des Unbedingten kann keine objkektive Realität haben". Das Unbedingte kann darum nicht die Bedeutung haben, die ihm noch bei KANT eingeräumt wird, es ist "bloß ein gemeinsamer Name für das, was die Gesetze des Denkens übersteigt, - für das formal Unrechtmäßige". Statt der willkürlichen Trennung von Verstand und Vernunft schlägt HAMILTON, wie er glaubt im Sinne der kritischen Philosophie, vor, "das Denken in seinen Grundbedingungen zu analysieren" und die Reduktion KANTs auf ihre äußerste Einfachheit zu bringen, indem er das Denken, je nachdem es sich auf das Bedingte oder Unbedingte bezieht, als  positiv  und  negativ  unterscheidet. Das würde dann einen logischen, aber keinen psychologischen Unterschied ausmachen. KANTs zwölf Kategorien des Verstandes würden unter die erste Form, seine drei Ideen der Vernunft unter die zweite Form des Denkens fallen; "und so würden der Gegensatz zwischen Verstand und Vernunft verschwinden". Umd die "willkürliche Beschränkung von Zeit und Raum auf die Sphäre der Sinnlichkeit" aufzuheben, schlägt er unter der Formel "das Bedingte in Zeit und Raum" "eine Definition des Begreifbaren und eine Aufzählung der drei Kategorien des Denkens" vor.

Die Konsequenzen der Analyse KANTs führen zu einem  absoluten Skeptizismus Nach seinem eigenen Zugeständnis (on Kants own admission) ist die spekulative Vernunft ein Organ bloßer Täuschung. Die Idee des Unbedingten enthält nach KANT unlösbare Widersprüche und soll doch das rechtmäßige Produkt des Verstandes sein.
    "Wenn unsere intellektuelle Natur in einer Offenbarung treulos (perfidious) ist, so können wir nicht annehmen, daß sie in irgend einer anderen treu ist; darum ist es nach  Kant nicht möglich, die Existenz Gottes, die Freiheit des Willens und die Unsterblichkeit auf die vorausgesetzte Wahrhaftigkeit der Vernunft in einer praktischen Beziehung zu gründen, nachdem er selbst ihre Unwahrhaftigkeit in einer spekulativen bewiesen hat."
Das treibende Motiv dieser Kritik der kantischen Philosophie ist nicht rein spekulativer, sondern praktischer Natur: es betriff vor allem die persönlichen sittlichen Lebensüberzeugungen ihres Verfassers. Der Dualismus von reiner und praktischer Vernunft scheint HAMILTON die praktischen Ideen selbst zu gefährden. Damit kommen wir auf eine Seite seines Denkens, die wir bisher kaum gestreift haben, die aber zur Ergänzung seiner Anschauungen überaus wichtig ist. Wir meinen seine praktische Philosophie (26), insofern sie aus der innigen Verbindung mit seiner Erkenntnislehre erwächst und durch den Versuch einer  Aussöhnung  von Glauben und  Wissen  charakterisiert wird.


3. Abschnitt
Das Verhältnis von Glauben und Wissen

Die  Philosophie des Unbedingten  hängt in letzter Linie von der  sittlich-religiösen Auffassung  ihres Urhebers ab. Das zeigt sich vielleicht nirgends so deutlich wie in der Aufdeckung der praktischen Motive seiner Ableitung des Kausalprinzips aus dem Gesetz des Bedingten.

Wenn wir ein  positives  und  besonderes  Prinzip der Kausalität voraussetzen, so setzen wir damit zugleich die Unmöglichkeit einer  freien Verursachung.  Dann gibt es keine Ursache, die nicht selbst eine Wirkung ist: die ganze Wirklichkeit löst sich in eine Kette ursächlich bedingter Glieder auf. Das wäre aber ein Bekenntnis zum Fatalismus, eine Leugnung der sittlichen Ordnung und damit eines Urhebers der moralischen Welt. Der Fatalismus bedingt den Atheismus.

HAMILTON verwirft den Ausweg derer, welche die Kausalität als besonderes Prinzip auffassen, sie aber im Interesse unserer sittlichen Freiheit von unseren Willenshandlungen ausnehmen. Wir sind unvermögend, die Wirklichkeit als geschlossene Kette ursächlich sich bedingender Vorgänge und zugleich als Tat einer freien Verursachung zu denken. Beide Vorstellungen gründen darum in der Begrenztheit unseres Erkennens. Die Philosophie des Unbedingten ist der Ausdruck für die Unmöglichkeit einer theoretischen Einsicht in die Vereinbarkeit eines kausal bedingten Naturzusammenhangs mit unseren auf der Tatsächlichkeit einer sittlichen Ordnung gegründeten moralischen Überzeugungen. Indem sich die spekulativen Darlegungen so in einen innigen Zusammenhang mit HAMILTONs ethischer Auffassung stellen, verliert seine Deduktion des Kausalgesetzes für uns den Eindruck des Gekünstelten, den sie zunächst hervorrufen konnte. HAMILTON ist dann auch davon überzeugt, daß wenn sie sich in theoretischer Hinsicht als richtig erweist, sie
    "eine sicherere und befriedigendere Begründung unserer praktischen Interessen als irgendeine andere gibt, die bis jetzt ausgesprochen worden ist."
Wir sind freilich nicht imstande einzusehen, wie der Mensch möglicherweise frei sein kann, da wir einen absoluten Anfang nicht begreifen können. Auf der anderen Seite können wir uns ebensowenig eine absolute Anfangslosigkeit, also ein System kausaler Notwendigkeit, vorstellig machen. Daß wir aber frei sind, wird erwiesen  1.  aus dem Bewußtsein unserer sittlichen Freiheit und  2.  aus dem Bewußtsein unserer moralischen Verantwortlichkeit. Aus der Idee der Freiheit folgt die Überzeugung vom Dasein Gottes als des Urhebers der sittlichen Welt. Dieser moralische Gottesbeweis ist die beste theoretische Begründung unseres religiösen Glaubens. Ebenso beruth unser Glaube an die Unsterblichkeit auf unserer Gewißheit der sittlichen Freiheit. (27)

Diese philosophische Auffassung ist demnach mit dem religiösen Glauben durchaus vereinbar. Indem sie uns warnt, das Gebiet unseres Wissens mit dem unseres Glaubens gleichzusetzen, - da all unser Wissen nur vom Bedingten handelt -,
    "flößt sie uns einen Glauben an die Existenz eines Unbedingten jenseits der Sphäre aller begreifbaren Realität ein".
Das Unbedingte, die Gottheit, ist ein Gegenstand des Glaubens, nicht des Wissens. An Gott müssen wir glauben, aber sein Wesen ist uns unbegreifbar. Denn "eine von uns begriffene Gottheit wäre überhaupt keine Gottheit".
    "Hierin stimmen alle Theologen und Philosophen, die des Namens würdig sind, überein; und die wenigen, die für den Menschen ein Wissen vom Unendlichen in Anspruch nehmen, tun dies auf die gewagte, ausschweifende und paradoxe Behauptung hin, daß der menschliche Verstand mit dem göttlichen identisch ist, oder daß der Mensch und das Absolute eins sind."
Das Streben nach dem Unbedingten ist uns an- und eingeboren. "Aber wie  Ixion [König der Lapithen - wp] umarmen wir eine Wolke statt einer Gottheit". Jeder Versuch, das Unendliche, die Gottheit zu erfassen, führt darum zur Einsicht in unser Nichtwissen. So macht dieser  mächtige Drang  unseres Geistes, "die Sphäre unserer Vermögen zu überschreiten", zuletzt eine  gelehrte Unwissenheit  zur Vollendung allen Wissens.

Das Kennzeichen des echten Wissens ist darum wie das Merkmal des echten Glaubens die Demut, die aus der Einsicht in die Begrenztheit des Bereichs unserer theoretischen Erkenntnis erwächst. So verschlingen sich die Fäden, die von hier zu den persönlichsten Lebensüberzeugungen führen.  Glauben  und  Wissen  erscheinen beide als selbständige Geistesmächte, die sich einem Gesamtzweck der sittlichen Persönlichkeit einordnen. Die  Philosophie des Unbedingten  ist ihr Ausgleich und ihre Versöhnung. Aber sie kann dies nur sein, indem die Postulate der praktischen Vernunft als der unzerstörbare Grund unserer sittlichen Lebensüberzeugungen vor aller theoretischen Spekulation sichergestellt bleiben. So bildet auch in der psychologistischen Denkweise HAMILTONs das innerste Motiv der  Primat der praktischen Vernunft.
LITERATUR: Franz Nauen, Die Erkenntnislehre William Hamiltons, Straßburg 1911
    Anmerkungen
    19) Unter das Gesetz der Affinität fallen folgende fünf Fälle: 1. einander ähnliche, analoge oder teilweise identische Objekte, 2. entgegengesetzte Gedanken, 3. einander berührende Objekte im Raum, 4. das Ganze und seine Teile, 5. Ursache und Wirkung. - Es bedarf kaum der Erwähnung, daß HAMILTON in diesem Zusammenhang den Ausdruck  Gedanken viel weiter, als im gewöhnlichen Sinn faßt, er begreift darunter auch die Gefühle und Strebungen.
    20) Urteil  wird hier im genauen Sinn genommen für die Vergleichung zweier Begriffe und die Aussage ihrer Zusammengehörigkeit bzw. die Verneinung derselben.
    21) Damit bleiben nur die logischen und arithmetischen Sätze als apriorische Wahrheiten übrig, die sich nicht in das  Grundgesetz des Geistes auflösen lassen.
    22) Doch soll diese Meinung HUMEs schon früher von ALGAZEL, den  Scholastikern und insbesondere von MALEBRANCHE vertreten worden sein, von welchem HUME  wahrscheinlich sowohl die Ansicht wie auch das Beispiel (mit den beiden Billiardkugeln) entlehnt hat. Vgl. hierzu BÄUMKERs "Beiträge zur Geschichte der mittelalterlichen Philosophie", Bd. 3, Heft 4, Seite 57, Münster 1900.
    23) Vgl. Metaphysics I, Seite 62: hier wird die Philosophie als Erforschung der notwendigen Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit bestimmt.
    24) Vgl. WINDELBAND in seiner Charakteristik HAMILTONs in der "Kultur der Gegenwart", Teil I, Abt. V: Geschichte der Neueren Philosophie, Seite 524, wo HAMILTONs Philosophie als "ausgesprochener Typus des Psychologismus" bezeichnet wird.
    25) Metaphysics II, Seite 362 führt er HUME neben LEIBNIZ, REID und KANT als einen Denker auf, der überzeugt ist, daß "ein gewisser Teil unserer Erkenntnisse" seinen Ursprung in der Natur des denkenden Prinzips selbst" haben muß.
    26) Praktische Philosophie im Sinne KANTs; HAMILTON spricht ebenso von  praktischem Interesse; vgl. dagegen seine Bedenken eine Einteilung der Philosophie in spekulative und praktische Philosophie ("Discussions", Seite 16f).
    27) Discussions, Seite 618; Metaphysics, Seite 411. Trotz aller formellen Ablehnung zeigt sich in diesen Erwägungen KANTs Einfluß wirksam.