p-4 W. WalzMFKG. W. CampbellM. PalágyiW. EnochTh. Reid    
 
HANS RUIN
Erlebnis und Wissen
[Kritischer Gang durch die englische Psychologie]
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"Alle Prädikation ist ein Auswechseln des einen Namens gegen einen anderen, ein Allgemeines gegen ein weniger Allgemeines. Mill meint, was er sagt. Für ihn sind die Syllogismen nichts anderes als eine Bezeichnungsprozedur, und die Schlußsätze der Arithmetik und Geometrie sind Variationen davon. Mit dem Beispiel: «die Summe der Winkel eines Dreiecks ist gleich zwei rechten Winkeln», sucht er zu zeigen, daß der Prozeß selber, durch den man zu der Bezeichnung zwei rechte Winkel kommt, in einem sukzessiven Umtausch der Bezeichnungen besteht, und in nichts anderem. Vor dieser Auffassung hätte sogar Condillac mit seinem Satz eine gut gemachte Wissenschaft ist nur eine gut gemachte Sprache, eingestehen müssen, daß er seinen Meister gefunden hat."

"Mill sieht die Sache so an, wie in unseren Tagen Ziehen, daß wir nicht denken können, wie wir wollen, sondern daß wir denken müssen, wie die vorliegenden Assoziationen bestimmen. Es dünkt uns, daß wir Macht haben, auf eine Sache aufmerken zu wollen oder nicht zu wollen und damit die Assoziationen zu wecken oder zu unterdrücken, an welche diese Sache gebunden ist. Aber das verhält sich bei weitem nicht so. Nur die Empfindungen oder Vorstellungen, die für uns von Interesse sind, d. h. die Gegenstand eines Strebens sind, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich."

"Das Verhältnis (von Lust und Vorstellung) wird so dargestellt, als ob die Gedanken denken, nicht gedacht werden. Man soll auch nicht glauben, es handle sich hier um eine mißverstandene Ausdrucksweise. Mills psychologische Methode besteht gerade darin, Seelenerscheinungen so zu behandeln, als ob sie nicht zu einem Subjekt gehören, sondern auf eigene Hand in der Welt existieren, d. h. als ob sie unabhängig von jeder Ich-Empfindung wären."


V. James Mill

So mächtig war die Stimme, mit der REID geredet hatte, daß es manche Jahrzehnte still um das Banner HUMEs war. Anstatt dessen drängten sich lauschende Scharen von allgen Gegenden Brittaniens um das Katheder in Edinburgh, dem Hauptsitz der schottischen Schule. Dort vertraten DUGALD STEWART und THOMAS BROWN die Sache der Weisheit; dort erschallten die Losungsworte, die über das ganze Reich verbreitet wurden. Sie standen in hohem Ansehen, diese schottischen Denker; dem DUGALD STEWART wurde auf Calton Hill in Edinburg ein Ehrenmal errichtet.

Doch eines Mannes Werk läßt sich nicht am Beifall seiner Zeitgenossen messen. STEWART und BROWN waren überlegen als Vorleser und Männer gradliniger Sinnesart, aber originelle Denker waren sie kaum. Der erste hat sich gewiß um die Psychologie verdient gemacht durch eine gründliche Analyse des Assoziationsbegriffs in seinem Hauptwerk "Philosophy of the Active and Moral Powers of Man" und der letztere hat in einer sorgfältig ausgearbeiteten Schrift "An Inquiry into the Relation of Cause and Effect", in interessanter Weise zwischen dem intuitionistischen und empiristischen Standpunkt zu vermitteln versucht. Doch bezeichnete im Großen und Ganzen ihre philosophische Bemühung ein Treten auf der Stelle. Und ein Treten auf der Stelle war für das ganze Zeitalter um die Jahrhundertwende bezeichnend. Es zeigte sich, daß HUME und REID zwei mächtige Wellenbewegungen bedeutet hatten, die jedoch so unglücklich aufeinander gestoßen waren, daß sie sich ausgleichen und tote See hinter sich lassen mußten. Nur einige matte Wellenschläge setzten für sich ihren Weg fort und gelangten in das neue Jahrhundert hinein.

Aber diese Wellenschläge sollten wieder in die Höhe gebracht und starke Wogen werden. Am Ende des Jahrhunderts war JEREMY BENTHAM, der zum Lager HUMEs gehörte, aufgetreten und hatte mit seiner Moralphilosophie dem Denken einen Stoß gegeben, der u. a. JAMES MILL traf und diesen zu einem bedeutungsvollen philosophischen Einsatz trieb. Dem Wellenschlag REIDs gab die Zeit selber günstigen Wind. KANT hatte sein Werk vollbracht und den Impuls zu einer romantischen Persönlichkeitsphilosophie gegeben, die mit ihrer tiefen Verankerung in zentralen Teilen des menschlichen Wesens eine ungesuchte Verwandtschaft mit dem Denken REIDs besaß. COLERIDGE war der erste in England, der vom Wehen der neuen Zeit ergriffen wurde. Aber WILLIAM HAMILTON war es vorbehalten, schließlich deutsches und schottisches Denken zu vereinen und damit den Gegensatz zwischen Empirismus und Intuitionismus, zwischen dem Denken HUMEs und REIDs, dauernd zu befestigen, der für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts bezeichnend wurde.

BENTHAM wollte die Ethik auf die Tatsache gründen, daß Glück, Wohlbefinden dem Unglück, Übelbefinden vorgezogen wird. Es war das Prinzip des Nutzens, das Idol der Utilitaristen, das er aufwarf und das den erklärenden Grund unserer moralischen Gefühle ausmachen sollte. Hierin war BENTHAM eigentlich kein Bahnbrecher. Schon HUTCHESON hatte die Sache ungefähr so formuliert. Aber während dieser gleichwohl einen besonderen moralischen Sinn annahm, der in unserem Wesen apriorisch niedergelegt ist, sah BENTHAM hier folgerichtiger auf die Sache. Er verstand, daß die Erhebung der Idee des Nutzens zum höchsten Prinzip das Zugeständnis einschloß, unser sittliches Bewußtsein sei empirisch gewonnen. Der sogenannte moralische Sinn ist keine apriorische Realität; er befindet sich in beständiger Verwandlung und Entwicklung und ist dabei von der Gestaltung der Verhältnisse abhängig. Damit stellte sich BENTHAM in den schärfsten Gegensatz zu dem, was die schottische Schule lehrte. Nach dieser gehört unsere moralische Billigung oder Mißbilligung zu den natürlichen Suggestionen. Oder wie BROWN sich ausdrückte: unser sittliches Bewußtsein kann nicht erklärt werden, sondern muß in der Wissenschaft als letztes Urfaktum angenommen werden.

BENTHAMs Theorie litt gleichwohl an einer bedenklichen Schwäche. Ihr fehlte eine Psychologie - sie war hierin der schottischen Schule weit unterlegen, die es gerade in dieser Hinsicht weit gebracht hatte. An diesem Punkt setzte JAMES MILL ein. Er vertrat die empirische Erklärungsmethode gegenüber der intuitionistischen der Schotten; er machte die natürlichen Suggestionen zu Mythen und verwies anstatt dessen auf die Erfahrung als Grund unserer "Prinzipien". Damit war der Stab über die Philosophie der Schotten gebrochen und die große Fehde konnte beginnen. MILL suchte anfangs an selben Strang wie BENTHAM zu ziehen - auf diese Weise stellte er sich in den Zeitzusammenhang ein - wuchs sich aber bald zu einer unselbständigen Denkerpersönlichkeit aus.

Er griff auf HARTLEYs Werk zurück. Dieses war von einem alle Aufmerksamkeit auf sich lenkenden Auftreten REIDs in den Schatten gestellt worden. MILL suchte dessen leitende Gedanken wieder hervorzutreiben und wurde auf diese Weise, wie JOHN STUART MILL sagt, der Erneuerer und zweite Begründer der Assoziationspsychologie. Für ihn existiert nur ein Seelenfaktum, die Empfindung, nur ein Gesetz, die Assoziation. HUMEs Anschauung kam von neuem zu ihrer Geltung. Welt und Seele wurden wieder, was sie bei diesem waren; die Erkenntnis selbst mußte sich mit der bescheidenen Stellung eines gewohnheitsmäßigen Glaubens begnügen, wozu der großes Skeptiker sie herabgesetzt hatte.

Mit einem Wort: die Psychologie wurde wieder in ihr altes Gleis gebracht. Doch, es traten neue Seiten ans Licht und wurden neue Konsequenzen gezogen. Die Methode wurde auf Probleme angewandt, die früher versäumt worden waren, und zeigte dabei Eigenschaften, die für sie höchst charakteristisch waren. Von diesem Gesichtspunkt aus ist JAMES MILL in der Tat eine bemerkenswerte Gestalt im englischen Denken.

Der Satz: die Vorstellung ist ein schwacher Widerhall der Wahrnehmung, führt bei ihm automatisch zu einem bedeutungsvollen Schlußsatz. Ist die Vorstellung eine Entsprechung der Wahrnehmung, so folgt daraus, daß beide eine konstruktive Gleichheit besitzen, d. h. die elementaren Vorstellungen, die wir durch Analyse in der zusammengesetzten Vorstellung unterscheiden, müssen in einem ursprünglichen Erlebnis ihre Entsprechung in der Form elementarer Empfindungen besitzen, durch deren assoziative Vereinigung die in Frage kommende Wahrnehmung, wie anzunehmen ist, zustande kommt.

Dies bedeutete, daß im primären Seelenleben Distinktionen gemacht wurden, die nur in den höchsten Stadien des Seelenlebens in Frage kommen können. Wählen wir ein Beispiel! Die Vorstellung eines Körpers in Bewegung kann analytisch in eine unübersehbare Anzahl Vorstellungen zerteilt werden; um einen Begriff davon zu geben, ist es zureichend, darauf hinzuweisen, was für ein zusammengesetztes Gebilde schon die Vorstellung verschiedener Lageverhältnisse ist. Nach MILL müßte nun eine solche analytische Zerteilung ohne weiteres auch von der Wahrnehmung eines Körpers in Bewegung gelten; er sieht die Sache ganz einfach so, daß überhaupt erst dank der assoziativen Zusammenfügung dieser Elemente die Perzeption der Bewegung möglich wird. Ein ausgezeichnetes Beispiel für einen ähnlichen Gedankengang liefert SPENCER. Er unternimmt eine Analyse des Begriffs der Ausdehnung und findet, daß dieser "ein Aggregat von gleichzeitigen Lageverhältnissen" bedeutet. Aufgrund hiervor hält er sich ohne weiteres für berechtigt festzustellen, daß "jede Erkenntnis der Größe eine Erkenntnis der Lageverhältnisse" ist, und
    "daß eine Vorstellung der Ausdehnung nicht aus einem gleichzeitigen Reiz einer Mehrzahl Nerven hervorgehen kann, wenn nicht zumindest die Lageverhältnisse dieser Nerven bekannt sind." (1)
Daraus folgt: damit ein Kind oder ein Tier eine ungefähre Vorstellung von etwas Ausgedehntem gewinnen kann, müßte es eine Menge mehr oder weniger bewußte Experimente mit seinen Nerven vornehmen, messen und vergleichen, überlegen und zusammenfassen etc., und all das, damit das Blau des Himmels sein Gesichtsfeld bedeckt oder damit es einen im Körper verbreiteten Schmerz wahrnimmt.

Die psychologische Literatur ist überreich an Beispielen für ähnliche Verwechslungen der Analyse einer Vorstellung mit der Art ihrer Entstehung. Aber nirgends sind sie so in ein System gebracht wie bei MILL. Er geht von einer fingierten seelischen Urlage aus, wo die Empfindungen voneinander getrennt liegen und die Assoziationen sich bereit halten, ihr Netz um sie zu knüpfen. Er sieht nicht, daß es weder Isolation noch unbestimmte Unterscheidung ist, die das erste Stadium des Seelenlebens kennzeichnen, sondern umgekehrt die Kontinuität und Unbestimmtheit. Die Diskontinuität und die bestimmten Umrisse, welche die Voraussetzung für MILLs intellektualistisch gekünstelte Genese bilden, gehören einem späteren Entwicklungsstadium an. Sein Grundfehler ist ein für alle Mal, daß bei ihm die Analyse die Natur mores lehrt. Daß er hierbei die Grenze zwischen Abstraktion und Wirklichkeit unbekümmert überschreitet, das wird uns mit einem einzigen Beispiel klar werden.
    "Einige Vorstellungen sind aufgrund der Häufigkeit und Strenge der Assoziationien so intim vereint, daß sie nicht getrennt werden können. Wenn die eine existiert, existiert auch die andere, trotz aller Anstrengungen, die wir machen, um sie zu scheiden. Zum Beispiel: Es liegt nicht in unserer Macht, an Farbe zu denken, ohne an Ausdehnung zu denken, oder an etwas Festes zu denken, ohne an Form zu denken." (2)
Das ist ein unleugbar gutes Beispiel dafür, wie eine logische Distinktion als reelle gefaßt wird. MILL spricht von Assoziation, wo Assoziation niemals vorgekommen ist. Man kann nicht an Farbe denken ohne an Ausdehnung zu denken, ganz einfach deswegen, weil das erstere das letztere einschließt, oder richtiger, weil hier ein einziges unteilbares Erlebnis vorliegt, wo unser Verstand allerdings verschiedene Seiten unterscheiden kann, ungefähr wie wir zwischen der inneren und äußeren Seite eines Zirkelbogens unterscheiden können, wo wir aber ebensowenig davon reden können, daß Farbe und Ausdehnung assoziativ miteinander verbunden sind, als daß die innere und äußere Seite des Bogens es sind. Im Begriff Assoziation liegt die Voraussetzung freistehender Elemente, die assoziiert werden können. Liegt diese Möglichkeit nicht vor, so ist es sinnlos, von Assoziation zu sprechen.

Zu MILLs Verteidigung lohnt es sich nicht, sich auf die zufällige Ungeeignetheit seines Beispiels zu berufen. Durchgängig werden die Elemente verwechselt, die der Gedanke analytisch scheidet, und die, welche wirklich Existenz haben. MILL hat den Unterschied zwischen Analyse und Wirklichkeit nicht klar gemacht. Er zeigt überhaupt eine merkwürdige Geneigtheit, sich in der Peripherie des Seelenlebens festzubeißen und ihre Erscheinungen mit dem, was sich in der Tiefe, in der eigentlichen Seelenwerkstatt, bewegt, gleichzustellen. Dies kommt auffallend zum Ausdruck in dem Kapitel, das unter dem Titel "Naming" eine ziemlich breit angelegte Studie über den psychologischen Ursprung und die Entwicklung der Sprache enthält.

Über diesen Teil von MILLs Psychologie hat RIBOT geäußert: "Der erste Fehler besteht schon mal darin, natürliche Dinge künstlich zu erklären, an zu viel Regelmäßigkeit im Lauf des menschlichen Geistes zu glauben, und der Spontaneität nicht genügend Raum zu geben, in einer Logik wo Psychologie sein sollte." (3) Diese Charakteristik ist durchaus zutreffend. Das einzige, wonach man jedoch bei RIBOT vergebens sucht, ist eine Andeutung, warum MILL in so künstlicher Weise verfuhr. War es vielleicht ein Zufall, oder lag die Sache tiefer, im Wesen der Methode MILLs?

Ich zögere nicht, für die letztere Analyse einzutreten. Warum sollte MILL nicht von der Sprache in ihrer vollen Entwicklung und Differenzierung auf ihren Ursprung Rückschlüsse ziehen und gemeinsame Bestimmungen annehmen, wenn es einmal für ihn natürlich war, die primären Äußerungen des Seelenlebens in derselben Weise wie seine höheren, reich differenzierten Stadien aufzufassen? Warum sollte er nicht bei der Genese der Sprache dieselben Distinktionen machen wie die Grammatiker und Logiker, wenn sie von Subjekt und Objekt sprechen, von Substantiv und Adjektiv, von Verb, Adverb, Präposition, Konjunktion usw.? Es darf darum nicht verwundern, daß die eigentlich psychischen Vorgänge, zu deren Ausdruck die Worte dienen, in seiner Sprachpsychologie beiseite geschoben werden, während die rein mechanische Wort- und Satzbildung zur Hauptsache wird. Gleichwie er in der Frage: Empfindung-Vorstellung, praktisch genommen, die Vorstellung als Sprungbrett zurück zur Empfindung verwandte, so nahm er in Sachen der Sprache das dem Verstand zunächst liegende Wort- und Satzschema als Äquivalent für das Zentrale und Wesentliche, für die seelische Realität selbst. Im einen wie im anderen Fall ist es das oberflächliche Anfassen, das Unvermögen, sich einzufühlen, das in die Augen sticht.

Einige Beispiele werden das näher beleuchten. MILL macht geltend, daß nur nomina substantiva Namen oder Zeichen (marks) für Vorstellungen sind. Alles andere, Adjektiv, Verb, Präposition usw. sind bloß Zeichen auf Zeichen (marks upon marks). Dies bedeutet eine gewaltsame Schmälerung des Inhalts des Seelenlebens, oder doch ein Verschleiern von Seelenrealitäten, die nicht in Abrede zu stellen sind. Ein solches Verfahren läßt sich jedoch zum Teil in Verbindung mit der Grundlehre MILLs bringen, daß die Vorstellungen bloße Kopien der Wahrnehmungen sind. Das Manöver HUMEs Manöver konnte ungestört wiederholt werden: alles, was wir im Seelenleben zu finden glauben, was aber seine Wurzel nicht in deutlich angebbaren Wahrnehmungen hat, kann nicht als wirklich existierend betrachtet werden, sondern muß nur Worte sein, oder wie MILL sich auszudrücken liebte "marks upon marks". Auf diese Weise erfuhr die Sprachpsychologie bei MILL eine durchgreifende Vereinfachung, aber eine Vereinfachung auf Kosten der seelischen Wirklichkeit.

Wie wenig sich MILL um die eigentlichen Seelenprobleme kümmert, im vorliegenden Fall um die Gedankenprozesse, tritt besonders deutlich hervor, wenn er sich mit der Aussage beschäftigt, oder, wie er sie nennt: "predication" [Prädikation - wp]. "All Predication is the substitution of one name for another, the more for the less general." [Alle Prädikation ist ein Auswechseln des einen Namens gegen einen anderen, ein Allgemeines gegen ein weniger Allgemeines. - wp] (4) MILL meint, was er sagt. Für ihn sind die Syllogismen nichts anderes als eine Bezeichnungsprozedur, und die Schlußsätze der Arithmetik und Geometrie sind Variationen davon. Mit dem Beispiel: die Summe der Winkel eines Dreiecks ist gleich zwei rechten Winkeln, sucht er zu zeigen, daß der Prozeß selber, durch den man zu der Bezeichnung "zwei rechte Winkel" kommt, in einem sukzessiven Umtausch der Bezeichnungen besteht, und in nichts anderem. (5) Vor dieser Auffassung hätte sogar CONDILLAC mit seinem Satz "une science bien traitée n'est qu'une langue bien faite." [Eine gut gemachte Wissenschaft ist nur eine gut gemachte Sprache. - wp] (6) eingestehen müssen, daß er seinen Meister gefunden hat. Man kann sich die Denktätigkeit nicht mechanischer vorgestellt denken. Streng genommen geht es hier überhaupt nicht um eine Denktätigkeit; was wir nach MILL vor uns haben, ist nur das mehr oder weniger selbständige Spiel der Worte, der Ausdrücke untereinander, ihre Vereinigung und Trennung, ein automatisches Wechselspiel, wo wir nichts von Denktätigkeit bemerken, geschweige denn die großen Probleme des Gedankenlebens ahnen.

JOHN STUART MILL, welcher der fleissige Kommentator seines Vaters war, macht hier mehr als einmal eine bekümmerte Miene. Er wundert sich darüber, daß JAMES MILL ganz und gar versäumt, auf allerlei seelische Eigentümlichkeiten beim Urteil hinzuweisen. So sagt er z. B.: Er hat sein Augenmerk nicht darauf gerichtet, daß das, was ausgedrückt wird, der Glaube an eine bestimmte Ordnung der Vorstellungen und Empfindungen ist. Und betreffs der Lehre von den Bezeichnungen (naming) sagt er: Einem Ding einen Klassennamen beizulegen, hat nicht den Zweck, eine geeignete Bezeichnung zu gewinnen, sondern den, die Tatsache hervorzuheben, daß dieses Ding die Attribute besitzt, welche die Klasse kennzeichnen und die eben mit dem Klassennamen bezeichnet werden (7).

All dies zeigt, wie JAMES MILL das eigentlich Seelische unbeachtet gelassen hat, das, was es doch zu deuten und zu erklären galt. Kapitel für Kapitel wiederholt sich dasselbe. Besonders charakteristisch sind die Kapitel über Klassifizierung und Abstraktion. Ebenso wie im Kapitel "Naming" läßt MILL auch hier die Denktätigkeit von der Wort- und Satzbildung vertreten werden. Schon die Definition der Klassifizierung zeigt, wo das hinzielt. "The businesse of Classification is merely a process of naming." (8) [Das Geschäft der Klassifikation ist hauptsächlich ein Geschäft der Bezeichnung. - wp]. "Naming" bedeutet hier wie vorher nichts anderes als eine rein mechanische Substituierung einer Bezeichnung anstelle einer anderen. Die Ursache der Klassifizierung wird folgendermaßen angegeben: es ist deutlich, daß die Leute begonnen haben, zu klassifizieren nur in der Absicht, mit Worten hauszuhalten. (9) Eine Äußerung wie diese verrät deutlicher als irgendetwas anderes, daß nur auf die Interessen der Sprache Rücksicht genommen wird, im vorliegenden Fall auf die Notwendigkeit, nicht mit Ausdrücken belastet zu werden, deren man sich infolge ihrer Menge unmöglich erinnern kann. Die intellektuelle Seite, die hier doch die Hauptsache ist, wird wenig oder gar nicht in Betracht gezogen.

Dieses Versäumnis rächt sich auch ernsthaft bei der weiteren Ausgestaltung der Theorie. Es genügt, als Beispiel MILLs Bericht über die Mechanik der Klassifizierung zu nennen. Er denkt sich die Sache so, daß z. B. das Worte "Mensch" erst als Bezeichnung eines einzelnen Individuums angewandt wird; hiermit gewinnt es die Fähigkeit, in Zukunft die Vorstellung dieses Individuums zu suggerieren. Aber der in Frage kommende Ausdruck wird bald auch gebraucht, um ein anderes Individuum zu bezeichnen, und die Folge ist, daß es die Fähikeit gewinnt, in jedem einzelnen Fall die eine oder die andere von den beiden Vorstellungen hervorzurufen. Diese Entwicklung geht auch fernerhin so fort, und die Klassifizierung bietet folgendes Schema:
    1. das Wort stellt sich ein;
    2. die Vorstellung von einem der Individuen wird suggeriert;
    3. diese Vorstellung suggeriert wieder das Wort;
    4. das Wort suggeriert die Vorstellung eines anderen Individuums. usw.
All das spielt sich infolge der nötigen Übung, blitzschnell ab.

Es bedürfte kaum einer näheren Erklärung, damit jeder einsieht, in welch hohem Grad konstruiert diese Darstellung ist. Die Annahme eines Zickzackweges vom Wort zur Vorstellung und von der Vorstellung zum Wort zeigt, wie sehr MILL an die Auffassung gebunden ist, daß das Wort in jedem Augenblick das Äquivalent der Vorstellung bildet. Die Vorstellung ist ihm streng an das Wort gefesselt, und kann nur durch einen ununterbrochenen Rückgang auf das weckende Wort erreicht werden. MILL ist der Gedanke vollkommen fremd, daß hier ein solcher unmittelbarer oder freistehender seelischer Akt vorliegen könnte, der ohne jeden Umweg und ohne ein künstliches Pendeln zwischen Vorstellung und Wort in ein und demselben Ausdruck alle gleichartigen Vorstellungen und Empfindungen einschließt.

Man wird vielleicht einwenden, daß hier der Unterschied eigentlich nicht so groß ist, weil nämlich bei einer kleinen Berichtigun von MILLs Standpunkt jede Verschiedenheit wegfallen würde. Seine Theorie - wird man vielleicht sagen - besitzt gewissermaßen eine primäre Richtigkeit, und was die höheren Stadien des Gedankenlebens betrifft, gibt sie auch diese richtig wieder, wenn man nur die naheliegende Annahme einschiebt, daß dieser Zickzackweg, genügend wiederholt, überflüssig wird. Da ist aber zu bemerken, daß es gerade dies ist, was MILL nicht einräumen will. Von seinem Standpunkt aus übrigens ganz konsequent. Er läßt ein für alle Mal in weitem Umfang den Ausdruck für das, was ausgedrückt wird, gelten; wird er in einem Fall wie diesem gezwungen, zwischen Wort und Vorstellung zu unterscheiden, so ist nichts so natürlich, wie daß er den Unterschied so gering wie möglich macht. Daher die intime und beständige Wechselwirkung, die MILL bei der Mechanik der Klassifizierung zwischen Wort und Vorstellung aufrechterhalten wollte.

Das Kapitel über die Abstraktion vollendet das Bild von MILL. "Abstract terms", sagt er "ar simply the concrete terms, with the connotation dropped." [Die abstrakten Begriffe sind in Wahrheit die konkreten, nur daß die wertende Nebenbedeutung fallengelassen wurde. - wp] (10) Eine solche Auffassung ist ja gewiß bis zuletzt von der Mehrzahl der Psychologen verfochten worden. Sicher ist gleichwohl, daß wir bei einem Wort wie z. B. "Tugend" ein Erfassen erleben, das als unmittelbare psychische Realität etwas anderes enthält als ein konkretes Beispiel. FOUILLÉE und JAMES richteten ihre Aufmerksamkeit auf diese Tatsache, und später wurde sie durch besonders energische experimentalpsychologische Forschungen beleuchtet, die in Deutschland von der sogenannten "Würzburger Schule", an der Spitze KÜLPE und MARBE, und in Frankreich vor allem von BINET betrieben wurden. Daß MILL die erste Konzipierung des Begriffs übersah, die nach den genannten Forschern einen spezifisch seelischen Akt bezeichnet, einen Gedanken, ein Meinen, ist nicht zu verwundern; das gehört zu seinem allgemeinen Streben, das Seelische auf solche Erscheinungen zu reduzieren, die in ihrer Eigenschaft als klar umrissene, bestimmte Realitäten ein natürliches Einschlagsziel für die Beobachtung bieten. MILL ging gerade so wie die Gegner des "unsinnlichen Denkens" heutzutage vor: er weilte im Unsinnlichen, bis etwas Anschauliches sich einstellte, worauf er sich ohne Diskussion berechtigt fühlte, festzustellen, daß das anschauliche Denken das einzige ist, das bei näherer Untersuchung im Seelenleben vorliegt.

Unsere Charakteristik von MILL könnte mit weit mehr Beispielen belegt werden. Aber das dürfte überflüssig sein. Das für ihn Charakteristische steht schon fest. Wir haben betont:
    1. die durch nichts gehemmte Analyse, die das Seelenleben in unzählige, selbständige Elemente auflöst;

    2. die Neigung, nur das gelten zu lassen, womit das Fühlhorn der Analyse in Berührung zu kommen vermag;

    3. fehlenden Sinn für alles, was nicht fest und endgültige Form angenommen hat, sondern im Werden ist;

    4. ein hiermit zusammenhängendes Bestreben, das Wort, den fertigen Ausdruck, mit der mehr oder weniger irrationalen Seelenrealität, die ihm zugrunde liegt, zu identifizieren.
All dies läuft in dem Hang zusammen, das Primäre, das, was wächst und wird, vom Reifen und Fertigen aus zu erklären. Das Bild des Seelenlebens, das JAMES MILL gab, steht hiermit völlig deutlich vor uns. Nach ihm ist die Seele keine geschlossene organische Ganzheit, sondern eher ein Aggregat von mehr oder weniger unabhängigen Elementen. Die Analyse hatte ihr Werk vollbracht. Sie hatte die Verbindungsglieder zwischen den Elementen aufgehoben, da ja ihre Tätigkeit gerade darin besteht, zu begrenzen und hervorzuheben auf Kosten der dazwischen befindlichen Realität. Das Seelenleben, das MILL somit näher behandelt hatte, war ein Seelenleben, da in einer Menge wohl gegeneinander abgewogener Größen bestand und das Problem, das sich ergab, war: das Wechselspiel zwischen diesen Größen und die Gesetze für dasselbe zu verstehen.

MILL führte den Begriff Assoziation ein. Damit bekam er die Mechanik in Gang. Aber die Ordnung, der Zusammenhalt, wie sollte dieser erklärt werden? Hier stand MILL vor derselben Schwierigkeit wie sein Lehrmeister HARTLEY. Es war schwer, die Annahme eines zusammenhaltenden und ordnenden Prinzips zu entbehren. MILL machte anfänglich eine Verbeugung vor dem Willen. Er solle der Wächter der Ordnung sein.
    "Unsere Träume" - sagt er - "bezeichnen nur Vorstellungsreihen, die aufgrund von Assoziation einander folgen, die aber nicht, wie im wachen Zustand, der Kontrolle der Empfindungen und des Willens unterworfen sind." Und weiter: "Geistige Leitung ist nur ein anderer Name für Wille. Daraus geht hervor, daß der Wille nicht Assoziation ist, sondern etwas, was die Assoziationen überwacht." (11)
Richtig: etwas, was die Assoziationen überwacht! Doch wie soll der Vorgang dieser Überwachung gedacht werden? Ist es vielleicht die Absicht, den Willen als eine mystische Kraft aufzufassen, die die Vorstellungen ergreift, etwa so wie man junge Hunde im Nacken packt und sie in den Korb zurücksteckt, aus dem sie gefallen sind? Es sieht beinahe eine Weile so aus, als hegte MILL eine solche Auffassung. "Unser Willensvermögen besteht" - sagt er - "in dem Vermögen, die erforderliche Vorstellung ins Dasein zu rufen." (12) Wenn er aber daran geht, das Problem näher zu untersuchen, ist er sofort von der Unmöglichkeit einer solchen Annahme überzeugt. MILL ist nämlich ein folgerechter Analytiker und als solcher hat er es mit einem Seelenleben zu tun, wo klare und distinkte Größen in greifbarer Absonderung voneinander paradieren. Wie sollte er da annehmen können, daß eine Größe wie der Wille, der strenggenommen bei der Analyse überhaupt nicht angetroffen, sondern der von uns bloß als Postulat aufgestellt wird, eine solche Macht über die andern hätte, daß er nach Belieben Ball mit ihnen spielen und sie für seine Zwecke anwenden könnte? Und wohl zu merken, wie sollte eine solche Machtausübung zu verstehen sein? Schon in der physischen Welt ist der Begriff wirkende Kraft ein schwerer Stein des Anstoßes. Wie rätselhaft ist nicht in der Tat die Kraftübertragung von einem Billardball auf einen andern? Hierüber hatte schon LOCKE viel zu vermelden. (13) Und gleichwohl: in der materiellen Welt hat die Kraft in der Regel einen materiellen Träger, was das Problem für uns zumindest anschaulich macht. Aber wie ist das in der psychischen Welt? Was ist der Wille für ein Ding, und woran ist er gebunden?

So möchte sich der Gedankengang bei MILL gestaltet haben, denn wir werden nun Zeugen von etwas höchst Eigentümlichen, nämlich der Annahme des Willens gleichzeitig mit der Darstellung dieses Willens als nicht existierend. Er wird bloß als ein Schild, ein Wort, ein Überbleibsel aus vergangenen Zeiten präsentiert, da man noch naiv genug war, an so etwas Unmögliches zu glauben.

MILL rechnet ungefähr auf diese Weise mit dem Willen ab. Es könnte angenommen werden, sagt er, daß der Wille Kontrolle über die Assoziationen ausübt, entweder dadurch, daß er eine Vorstellung hervorruft unabhängig von aller Assoziation, oder dadurch, daß er die eine Vorstellung eine andere hervorrufen läßt, die jedoch nicht diejenige ist, die ihr spontan hätte folgen müssen. Die erste Annahme ist unmöglich.
    "Wollen wir eine Vorstellung, so müssen wir sie schon besitzen. Zu sagen, wir wollen eine Vorstellung haben, wenn wir sie schon haben, ist eine reine Absurdität." (14)
Die andere Annahme ist nicht weniger unmöglich.
    "Wenn wir voraussehen, eine Vorstellung werde spontan eine Vorstellung hervorrufen, die wir zu vermeiden wünschen, so folgt hieraus, daß diese spätere Vorstellung schon in der Seele ist." (15)
Es liegt also dieselbe Unmöglichkeit in der Annahme, der Wille könne eine Vorstellung direkt vermeiden, wie in der Annahme, er könne direkt eine solche hervorrufen. Ist es nun aber so, daß der Wille keinen direkten Einfluß auf die Vorstellungen auszuüben vermag, so bleibt doch die Annahme übrig, daß er es indirekt tun könnte, dadurch daß er auf die Assoziationsreihen einwirkt. MILL weist auch diesen Gedanken ab.
    "Wenn die Seele einmal eine Vorstellung nicht wollen kann, was für eine Kraft sollte sie da besitzen, irgendwelche Vorstellungen in die Assoziationsreihe einzuführen außer solchen, die freiwillig kommen? Hat sie die Vorstellung, so ist sie schon in der Reihe. Hat sie dieselbe nicht, was kann sie tun, sie zu bekommen?" (16)
Genug: MILL sieht die Sache so an, wie in unseren Tagen ZIEHEN, daß wir nicht denken können, wie wir wollen, sondern daß wir denken müssen, wie die vorliegenden Assoziationen bestimmen. (17)

Diese Demonstration der Unfähigkeit des Willens, das Denken zu lenken, ist ein unübertrefflicher Ausdruck für MILLs psychologische Forscherart. Wir sehen hier das unmittelbare Resultat einer Methode, die nichts anderes anerkennen will als voll entwickelte psychische Größen und den ganzen reichen Fonds psychischen Lebens unbeachtet läßt, das nicht ein gewisses Maß an Bewußtheit erreicht hat oder der rechten intellektuellen Greifbarkeit ermangelt (18). MILL merkt nicht, daß, wenn wir eine gewisse Vorstellung suchen, diese Vorstellung allerdings nicht explizit in unserem Bewußtsein anwesend ist - denn dann wäre wirklich, wie er bemerkt, das Suchen eine Absurdität - aber wir erleben hierbei doch etwas, was seinem Inhalt nach in der einen oder anderen Hinsicht verwandt mit der gesuchten Vorstellung ist. Wie MÜNSTERBERG (19) und nach ihm eine Reihe Experimentalpsychologen ausgeführt haben: bevor wir die gesuchte Vorstellung treffen, empfinden wir gewiß nur ein X, etwas vorläufig leeres, aber dieses X repräsentiert durch seine Beziehungen ein Schema, das die gesuchte Vorstellung schon vorbildet, sie also gewissermaßen trägt. Dadurch, daß er dies ganz und gar übersah, schuf MILL die Voraussetzung für die oben referierte Dialektik. JOHN STUART MILL sah, trotz der aufrichtigen Bewunderung für die Willenstheorie seines Vaters, in diesem Punkt klar.
    "In seinem Kapitel über den Willen" - so zeigt er - "identifiziert er das Begleitetsein von einem Gefühl mit dem größtenteiligen Haben dieses Gefühls. Ich begreife, im Gegensatz dazu, eine wichtige Unterscheidung zwischen beidem. Das Ignorieren dieses Unterschieds hat den Autor in die Fehlerhaftigkeit geführt." (20)
Aber hiermit läßt JAMES MILL nicht etwa die ganze Frage unseres Vermögens, die Vorstellungsreihen zu überwachen, verfallen. Er behandelt sie eingehend bei der Erörterung zweier Erscheinungen: unseres Strebens, uns an etwas, das wir vergessen haben, zu erinnern, und unseres Vermögens, aufmerksam zu sein.

Einleitungsweise betont er, daß man sich uneigentlich ausdrückt, wenn man sagt, daß man sich an etwas erinnern will. Die Absicht ist, zu sagen, daß man wünscht oder verlangt (desire), dies zu tun. Seine Behauptung begründet er mit dem Hinweis auf die Gedankenführung hier oben. Sich erinnern heißt eine Vorstellung hervorrufen. Aber es hat sich gezeigt, daß so etwas ein für alle Mal außerhalb des Machtbereich des Willens liegt. Deshalb kann es sich hier bloß um einen Wunsch oder ein Verlangen handeln.

Das muß unleugbar als ungewöhnliche Logik bezeichnet werden. MILL sieht durch die Finger, scheint es. Genau dieselbe Überlegung, mit der er den Gebrauch des Ausdrucks Willen abwies, hätte hier angewandt werden können, um den Gebrauch des Ausdrucks Wunsch abzuweisen. Hat man das Verlangen nach einer Vorstellung, so muß diese schon in der Seele sein; es ist aber absurd, etwas zu verlangen, was man schon besitzt. Daß MILL diese Konsequenz ganz entging, deutet darauf hin, daß sein Austausch von "will" gegen "desire" letztlich einen anderen Grund als den von ihm angegebenen gehabt haben muß. Es ist auch gar nicht schwer, einzusehen, welches dieser Grund ist. Es dürfte beobachtet werden, daß nach MILL "desire" nichts anderes bedeutet als die Vorstellung einer Lust (idea of pleasure) (21). Der Zusammenhang mit der Ausmusterung des Wortes Wille ist somit klar. MILL wollte seinen Intellektualismus unerbittlich durchführen und fand zu diesem Zweck den Begriff "desire" - als Vorstellung aufgefaßt - bequemer als den Begriff "will".

Man kann jedoch unter keiner Bedingung MILLs Definition anerkennen. Wie man "desire" auch übersetzen mag, als Wunsch oder Verlangen oder Begierde, so bezeichnet es doch allezeit ein Streben, während eine Vorstellung etwas relativ Stabiles enthält. Gewiß hat MILL recht, wenn er darauf hinweist, daß jede Vorstellung eine Tendenz besitzt, sich selbst zu manifestieren und daß auch die Vorstellung einer Lust ein Streben nach Verwirklichung auslöst. Aber wenn er aus diesem Anlaß das Bewußtsein eines Strebens als Vorstellung erklärt, da nimmt er tatsächlich eine Erweiterung des Begriffs Vorstellung nach seinem Gutdünken vor, um darin die verschiedensten Seelenerscheinungen einschließen zu können. Die Zurückführung auf eine gemeinsame Einheit, die er auf diese Weise zu erreichen glaubt, ist nur eine Zurückführung auf eine gemeinsame sprachliche Bezeichnung.

Aber sehen wir zu, wie MILL seine Theorie näher entwickelt. Wenn wir versuchen, uns eines Worts oder einer Vorstellung zu erinnern, so geschieht dies, sagt er, weil dieses Wort oder diese Vorstellung für irgendeinen Zweck erforderlich ist. Dieser Zweck aber ist eine angenehme Vorstellung, und mit den angenehmen Vorstellungen verhält es sich so, daß sie in der Seele ansässig sind; das will sagen: sie werden von anderen Vorstellungen leicht zum Leben erweckt und umgekehrt, indem sie im Seelenleben die meisten Verbindungen stiften. Solange die Assoziationsreihen fortlaufen, ohne zum gewünschten Ergebnis zu führen, ist da im Bewußtsein ein Gefühl unbefriedigter Begierde (unsatisfied desire). Dieses Gefühl bildet tatsächlich das, was man die Empfindung der Anstrangung nennt.

In ähnlicher Weise wird auch das Phänomen der Aufmerksamkeit erklärt. Es dünkt uns, daß wir Macht haben, auf eine Sache aufmerken zu wollen oder nicht zu wollen und damit die Assoziationen zu wecken oder zu unterdrücken, an welche diese Sache gebunden ist. Aber das verhält sich bei weitem nicht so. Nur die Empfindungen oder Vorstellungen, die für uns von Interesse sind, d. h. die Gegenstand eines "desire" sind, ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Und der Ausdruck: "ziehen unsere Aufmerksamkeit auf sich", besagt nur, daß diese Empfindungen oder Vorstellungen aufgrund dieses ihres Interesses in unserem Bewußtsein deutlich hervortreten. Das ist der ganze gehalt des Problems.
    "The feeling is not one thing, the attention another; the feeling and the attention are the same thing." [Das Gefühl ist nicht eine Sache und die Aufmerksamkeit eine andere; das Gefühl und die Aufmerksamkeit sind ein und dasselbe Ding.] (22)
Auf diese Weise erklärt MILL alle Äußerungen des Willenslebens. Die Vorstellung der Lust nimmt in seiner Psychologie dieselbe Stellung ein wie die Zentralmonade in der Monadologie von LEIBNIZ, um die sich alle anderen Monaden im menschlichen Organismus gruppieren. Sie ist, wie er selbst sagt, "nicht nur das große Suggestionsprinzip, das die Bahnen für die Ideen legt, die mit ihm in Bewegung verbunden sind, sondern es ist auch das große Auswahlprinzip." (23) Und MILL faßt seine Theorie in folgenden Worten zusammen:
    "Jedesmal, wenn von einer Handlung gesagt wird, sie sei gewollt, ist sie gewünscht als Mittel für ein Ziel, oder richtiger, ist sie in ihrer Eigenschaft als Ursache mit Lust als Wirkung assoziiert. ... Welche Macht auch immer wir über unsere Muskeln besitzen, muß sie von unserer Macht über die Assoziationen herrühreen; und diese Macht über die Assoziationen ist nichts anderes als die Macht gewisser uns interessierender Ideen, die in interessanten Empfindungen ihren Ursprung haben und durch Assoziationen zur Kraft werden." (24)
Diese Zusammenfassung liefert deutlich den Beweis, wie nahe MILLs Willenstheorie mit seinem psychologischen Denken überhaupt verbunden ist. Sie ist als notwendige Konsequenz aus ihm hervorgegangen; eine andere Theorie war hier nicht möglich. Durchgeführt mit äußerster Klarheit und Schärfe, besitzt sie etwas Imponierendes in ihrer Einfachheit. Sie ist auch gewissermaßen die Grundform für die englische Willenspsychologie geworden. Alles, was die Nachfolger hervorgebracht haben, ist mehr oder weniger bloß ein Vervollständigen oder Umarbeiten von dem, was bei MILL schon in den Grundzügen gegeben ist.

Daß diese Theorie indessen nicht zufrieden stellen kann, so hier über das hinaus, was schon geschehen ist, noch in mancher Hinsicht beleuchtet werden.

Nehmen wir an, daß "desire" wirklich, wie MILL aus bekannten Gründen annahm, eine Vorstellung unter allen anderen wäre, dann hätten wir zwischen zwei Arten zu wählen, ihre leitende Stellung im Vorstellungsverlau zu erklären. Wir könnten uns entweder denken, daß diese "Vorstellung" eine direkte Macht über ihresgleichen usurpiert hat, oder aber, daß sie auch darin Gleichheit mit der Zentralmonade des LEIBNIZ besitzt, daß sie aufgrund der Gestaltung der Assoziationsreihen ein für alle Mal in ein bestimmtes Verhältnis zu den übrigen Seelendaten zu stehen gekommen ist. Die erstere Annahme würde besagen, daß die vermeintliche Konstitution in der Seelendemokratie gebrochen wäre. Die Demokratie wäre in eine Seelendemokratie umgeschlagen. Die andere Annahme wieder würde bedeuten, daß diese Vorstellung von einer Lust ihre Position als erklärender Faktor verloren hätte. In ein gegebenes Verhältnis zu den Assoziationsreihen sind auch die anderen Vorstellungen "ein für alle Mal" zu stehen gekommen. Die Erklärung, "der Wille ist nicht Assoziation, sondern etwas, was die Assoziation überwacht", nicht sich unbegreiflich aus.

MILLs Willenstheorie steht weiter im Streit mit der Selbstbeobachtung. Wenn er z. B. erklärt, die Empfindung der Anstrengung sei nichts anderes als eine unbefriedigte Begierde und die Aufmerksamkeit falle mit dem gesteigerten Bewußtseinsgrad zusammen, den eine Vorstellung bekommt, da gibt er eine Deutung im Geist der Theorie, aber nicht in dem der Wirklichkeit. Die Empfindung der Anstrengung ist allenfalls nicht dasselbe wie eine unbefriedigte Begierde, und die Aufmerksamkeit wird keineswegs bloß durch die gesteigerte Bewußtheit einer Vorstellung gekennzeichnet (25), sondern vor allem durch das Festhalten dieser Vorstellung im Bewußtsein und ihr Einrücken in ein intentionales Erlebnis. Daß MILL in diesen beiden Fällen in so offenbarer Weise von dem abirrt, was wirklich vorliegt, hängt mit seinem völligen Nichtbeachten der wesentlichsten Empfindung im Willensakt zusammen: der Empfindung der inneren Tätigkeit.

Noch auf einen Umstand muß hingewiesen werden. Wenn MILL z. B. das Problem der Denktätigkeit zu lösen sucht, erklärt er,
    "die Vorstellung vom Zweck (d. h. die Vorstellung einer Lust) ruft nach und nach solche Umstände hervor, die mehr oder weniger intim mit der Vorstellung, die gesucht wird, verbunden sind" etc. (26)
Das Verhältnis wird also so dargestellt, als ob die Gedanken denken, nicht gedacht werden. Man soll auch nicht glauben, es handle sich hier um eine mißverstandene Ausdrucksweise. MILLs psychologische Methode besteht gerade darin, Seelenerscheinungen so zu behandeln, als ob sie nicht zu einem Subjekt gehören, sondern auf eigene Hand in der Welt existieren, d. h. als ob sie unabhängig von jeder Ich-Empfindung wären. Dieser Fehlgriff in Bezug auf die Wirklichkeit wird auf einem solchen Gebiet wie dem des Willens umso größer, als gerade hier die Ich-Empfindung mit besonderer Kraft hervortritt. MILL beschneidet mit einem Wort in mehr als einer Hinsicht das Willensleben an seinen wichtigsten Erlebnissen und vermeidet damit, die bedeutungsvolle Frage zu berühren, wie es erklärt werden soll, daß gerade die willensbestimmten Bewußtseinsabläufe sich von den frei und launenhaft verlaufenden durch das Gefühl der Anteilnahme und Verantwortlichkeit der ganzen Persönlichkeit unterscheiden.

Um zusammenzufassen: wie wir auch MILLs Willenspsychologie betrachten mögen, sei es, daß wir sie einer reinen Vernunftkritik unterwerfen, oder daß wir sie mit den Tatsachen konfrontieren oder sie sogar von den eigenen Gesichtspunkten der Lehre MILLs aus beleuchten, durchweg zeigt sie sich als gleich unmöglich. Es ist, als ob das Künstliche, das Verdrehte und Verstümmelte an dem ganzen Gebäude, das JAMES MILLs Psychologie ausmacht, hier zu einem gesammelten Ausdruck gekommen wäre, vor dem Bild des Seelenlebens, das nicht länger bloß über das, was ist und war, brütet, sondern sich nach der Zukunft streckt, die Zukunft zur Wirklichkeit macht.

Unsere Kritik von MILL kann einem unsanft vorkommen. Wir haben keinen Anlaß gehabt, bei den Seiten seines psychologischen Werkes zu verweilen, die unsere Anerkennung hätten hervorrufen können. Sie haben sich vom Gesichtspunkt unserer Betrachtung aus als ziemlich unwesentlich erwiesen. Manches Gute ist gewiß von MILL fast auf allen Stoffgebieten der Psychologie ausgeführt worden, es hat aber nicht die Gestaltung des Ganzen zu bestimmen vermocht. Nicht einmal ein bemerkenswertes Zugeständnis, daß die Assoziationselemente Ganzheiten bilden können, die Eigenschaften an den Tag legen, welche die darin befindlichen Bestandteile entbehren (27), öffnete MILL eine neue Perspektive für das Seelenleben. Ebensowenig wie HARTLEY, der ebenfalls das Faktum dieser sogenannten Chemie feststellte, sah MILL ein, daß hier ein offenes Dementi der Prinzipien gebracht wurde, die zu allein waltenden im Seelenleben gemacht waren.

All dies ist jedoch nicht gesagt, um MILLs Bedeutung zu verringern. Er war in vieler Hinsicht ein bedeutender Denker und besonders wird unsere Bewunderung von seinem ehrlichen Bestreben erweckt, zu den ursprünglichen Elementen des Seelenlebens zu gelangen. Im Licht dieses Bestrebens muß auch seine grobhändige, ja man könnte sagen stiefmütterliche Behandlung mancher Seelenerscheinungen gesehen werden. Aber MILL war desselben Geistes Kind wie HUME und HARTLEY. Seine psychologische Physiognomie war damit gegeben.
LITERATUR - Hans Ruin, Erlebnis und Wissen, Helsingfors 1921
    Anmerkungen
    1) JAMES MILL, Principles of Psychology, Bd. 2, Seite 168 und 174 (von mir gesperrt).
    2) JAMES MILL, Analysis of the Phenomena of the Human Mind, Bd. 1, Seite 93
    3) THEODULE RIBOT, La Psychologie Anglaise contemporaine, Seite 65
    4) Analysis I, Seite 169
    5) Analysis I, Seite 191
    6) CONDILLAC, La Langue des Calculs, Seite 8 (Oeuvres, t. XXXIII)
    7) Siehe die Kommentare zur Analysis I, Seite 164 und 165.
    8) Analysis I, Seite 269 (von mir gesperrt)
    9) ebd. I, Seite 260.
    10) Analysis I, Seite 304
    11) Analysis I, Seite 372 und II, Seite 358.
    12) Analysis II, Seite 348
    13) LOCKE, An Essay concerning Human Understanding, Seite 218-223
    14) Analysis II, Seite 358
    15) Analysis II, Seite 359
    16) Analysis II, Seite 360
    17) THEODOR ZIEHEN, Leitfaden der physiologischen Psychologie, Seite 171
    18) Aber wodurch war diese Methode bedingt? Durch die Aufgabe selbst, die MILL sich vorgenommen hatte: durchaus eine Mechanik des Seelenlebens festzustellen. Denn klarer als irgendein anderer hatte er erfaßt, was Mechanik besagt: eine Bewegung zwischen festen, fertig gebildeten Einheiten. Nur unter dieser Voraussetzung konnte die Rede sein von einer Mechanik des Seelenlebens.
    19) HUGO MÜNSTERBERG, Die Willenshandlung, Seite 67-69
    20) Siehe die Kommentare zur Analysis, Bd. II, Seite 180 (von mir gesperrt).
    21) Analysis II, Seite 191
    22) Analysis II, Seite 364
    23) Analysis II, Seite 371
    24) Analysis II, Seite 378-379
    25) Ich kann mir nicht das Vergnügen versagen, BINETs Einwand gegen eine ähnliche Aufmerksamkeitstheorie MARILLIERs anzuführen: "La vrale objection ... consiste à montrer que l'attention es un acte intellectuel de fixatioin, de concentration, de direction, et que ces actes intellectuels, s'ils sont parfois favorisés par certaines qualités des images, en sonst cependant distincts en principle." [Der eigentliche Einwand ... besteht darin zu zeigen, daß Aufmerksamkeit ein intellektueller Akt der Fixierung, der Konzentration, der Richtung ist und daß diese intellektuellen Handlungen, auch wenn sie manchmal durch bestimmte Eigenschaften der Bilder begünstigt werden, sich jedoch prinzipiell von ihnen unterscheiden. - wp] (Qu'est-ce qu'une émotion? Qu'est-ce qu'un acte intellectuel? "L'Année psychologique, XVII, Seite 21-22).
    26) Analysis II, Seite 362
    27) siehe u. a. "A Fragment on Mackintosh", Seite 408