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HANS RUIN
Erlebnis und Wissen
[Kritischer Gang durch die englische Psychologie]
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"Hamilton leugnete die Möglichkeit einer absoluten Erkenntnis der Dinge und zwar mit dem Hinweis auf die Gebundenheit des Bewußtseins an die Subjekt-Objekt-Beziehungen und sprach zugleich den Gedanken, daß überhaupt nur das, was innerhalb des Bewußtseins fällt, von uns aufgefaßt wird."

"Hamilton macht uns darauf aufmerksam, daß jedes Wie sich letztlich auf ein Daß gründet, daß jede Beweisführung auf etwas Gegebenes und Unbeweisbares zurückgeht, daß alles, was sich von uns verstehen läßt, auf irgendeinem unmittelbar geoffenbarten Faktum beruth, auf das wir unser Vertrauen setzen müssen, das wir aber nicht vor dem reflektierenden Intellekt zu legitimieren vermögen."

"Alles Bewußtsein setzt das Subjekt-Objekt-Verhältnis voraus. Das bedeutet, daß das Faktum des Unterscheidens unabweisbar für alles Seelenleben ist. Nun ist es aber undenkbar, daß man eine Unterscheidung vornehmen könnte, ohne ein Urteil zu fällen. Folglich schließt jeder Seelenakt ein Urteil ein."

"Hamilton bleibt das, was weder auf etwas anderes reduziert noch objektiv greifbar gemacht werden kann, das Wesentliche. Das Phänomen des Glaubens bleibt eine Offenbarung, ein heller Blitz der Evidenz aus der Kraftzentrale des Bewußtseins. Es ist das Unzurückführbare beim Phänomen, das der Analyse Unzugängliche, was Hamilton packt und worauf er die entscheidende Bedeutung legt. Hier war keine Vermittlung möglich. Mill und Hamilton hatten sich verschiedenen Welten verschworen."

"Hamiltons Aufgabe war, auf die Grenze aller Forschung hinzuweisen, auf das Unwissbare; sein Streben richtete sich auf die Voraussetzungen der Erkenntnis, auf das, was ohne Weiteres angenommen werden muß, aber nicht selbst zum Gegenstand eines Beweises gemacht werden kann."


VI. William Hamilton

Im selben Jahr (1829), als MILLs "Analysis" erschien, erblickte im Edinburgh Review eine merkwürdige Abhandlung das Licht des Tages. Sie war von Sir WILLIAM HAMILTON verfaßt und trug den für englisches Denken ungewöhnlichen Titel "On the Philosophy of the Unconditioned". Auch war es eine neue Philosophie, die präsentiert wurde, gewachsen auf kontinentalem Boden, aber umgeformt zum Glaubensbekenntnis eines Schotten. Der kantische Problemkreis war ergriffen und als die rechte fruchtbringende Gedankenatmosphäre angenommen worden.

Insoweit stimmt HAMILTON mit den englischen Empiristen überein, als auch er die Überzeugung hegt, eine zielbewußte Betrachtung des Bewußtseinslebens sei die rechte Weise, zu philosophieren. Aber er unterscheidet sich dadurch scharf von ihnen, daß er den Blick nicht auf die Peripherie des Bewußtseins, auf die Seelenmomente in ihrer individuellen Abgrenzung richtet, sondern auf die Prinzipien, die notwendigen Voraussetzungen, die Bedingungen des Bewußtseins und damit des Wissens selbst. Er bedient sich einer neuen Taktik beim Anfassen der Aufgabe. Damit die Forschung erfolgreich wird, muß ihr von Anfang an das rechte Gleichgewicht und Selbstzucht darüber beigebracht werden, daß sie über ihre Befugnisse und Aussichten Bescheid erhält. Es gilt, über die innere Konstruktion des Erkenntnisinstruments Klarheit zu gewinnen. Aber eine solche Einsicht läßt sich nicht durch die Analyse einzelner Seelenmomente erreichen, sie läßt sich nur dort gewinnen, wo man auf die allgemeinen, ein für alle Mal gegebenen Formen genau achtgibt, an die das Bewußtseinsleben gebunden ist und die nicht überschritten oder überwunden werden können.

Das ist die Auffassung HAMILTONs. Und er gibt sein seiner "Philosophy of the Unconditioned" an, was er gefunden zu haben glaubt. Das Bewußtsein bewegt sich - sagt er - in der Antithese Subjekt und Objekt, es gibt diese Bestimmungen jederzeit in Beziehung zueinander, nie einzeln oder absolut, es vermittelt überhaupt bloß eine Kenntnis in Beziehungen. Für uns ist es ebenso unmöglich das absolut Unbegrenzte wie das absolut Begrenzte zu denken. Wir bewegen uns in unserer Auffassung beständig zwischen diesen äußersten Grenzen, ohne jedeoch eine von ihnen berühren zu können. Denken heißt Bedingungen stellen. Nur die phänomenale Wirklichkeit ist uns im Wissen zugänglich.

Das ist in Kürze der Inhalt der genannten Abhandlung. Wie ersichtlich, ist die Tendenz so antispekulativ wie möglich. Empiristen vom reinsten Wasser müßten sich über dieses Ergebnis freuen können. Und gleichwohl entzog sich HAMILTON gerade mit dieser Abhandlung der empiristischen Schule mit ihren Lehrsätzen und Methoden.

Um diesen unerwarteten Ausgang zu verstehen, gilt es zu beobachten, daß HAMILTON, indem er die Möglichkeit einer absoluten Erkenntnis der Dinge leugnete und zwar mit dem Hinweis auf die Gebundenheit des Bewußtseins an die Subjekt-Objekt-Beziehungen, zugleich den Gedanken aussprach, daß überhaupt nur das, was innerhalb des Bewußtseins fällt, von uns aufgefaßt wird. Das heißt: wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn er in seiner darauffolgenden Abhandlung "Philosophy of Perception", eben im Edinburg Review veröffentlich, darauf besonderes Gewicht legte, zu zeigen, daß der Umfang des Wissens niemals über den des Bewußtseins hinausgeht. REID hatte Unrecht, meint HAMILTON, wenn er lehrte, das Bewußtsein beziehe sich bloß auf das Subjektive im Erkenntnisgewinn, d. h. auf den Akt selbst. Wenn er sagt: Ich besitze Bewußtsein von der Perzeption (d. h. vom Perzipieren), aber nicht vom Objekt der Perzeption; ich besitze Bewußtsein vom Gedächtnis (d. h. vom Sich-erinnern), aber nicht vom Objekt des Gedächtnisses, macht er sich einer Ungereimtheit schuldig, denn man kann nicht an einem Akt teilnehmen, ohne auch das Objekt hereinziehen. REID beschneidet willkürlich die Sphäre des Bewußtseins. Man kann zwischen Objekt und Empfindung, zwischen dem Objektiven und Subjektiven unterscheiden, aber man darf nicht vergessen, daß es sich hierbei bloß um zwei verschiedene Seiten ein und desselben Aktes handelt. Das Bewußtsein selbst geht über alle Distinktionen hinaus und umspannt das gesamte phänomenale Dasein.

Daß es sich hier um eine außerordentlich bedeutungsvolle Lehre handelt, läßt sich unmittelbar einsehen. Und gleichwohl ist sie von HAMILTONs Kommentatoren aus einem unerklärlichen Grund ziemlich unbeachtet gelassen oder auch in der einen oder anderen Beziehung mißdeutet worden (1). Die nächste Folge hiervon ist gewesen, daß man keine Möglichkeit hatte, das bemerkenswerte Faktum recht zu verstehen, daß HAMILTON, entschlossener als irgendein anderer Schotte, die Hypothese der direkten Perzeption verfochten hat (2). Eine andere Folge war, daß man nicht vermocht hat, seinen allgemeinen Intuitionismus den rechten erklärenden Hintergrund zu geben.

Die Auffassung einer direkten Perzeption folgt unmittelbar aus der Lehre vom Umfang des Bewußtseins. Wenn einmal von einem Ding erklärt wird, es bild die objektive Seite eines Bewußtseinsaktes, so ist es klar, daß man von ihm wird sagen können, "that it stands face to face, in direct and immediate relation to the conscious mind" [daß es von Angesicht zu Angesicht in einer unmittelbaren Beziehung zum Bewußtsein steht - wp], was eben sagen will, daß es direkt perzipiert wird (3). Nicht weniger folgerichtig ist HAMILTONs allgemeiner Intuitionismus. Er macht uns darauf aufmerksam, daß jedes Wie (how) sich letztlich auf ein Daß (that) gründet, daß jede Beweisführung auf etwas Gegebenes und Unbeweisbares (indemonstrable) zurückgeht, daß alles, was sich von uns verstehen läßt, auf irgendeinem unmittelbar geoffenbarten (revealed) Faktum beruth, auf das wir unser vertrauen setzen müssen, das wir aber nicht vor dem reflektierenden Intellekt zu legitimieren vermögen. (4) Aber wo sind dann diese letzten Wahrheitskriterien niedergelegt? Die Antwort läßt nicht auf sich warten. Im Bewußtsein natürlich, da es ja die ganze Weite der Erkenntnis umspannt. In der unmittelbaren Spontaneität des Intellekts verwirklichen sich die primären Fakta des Erkenntnislebens. Das Bewußtsein ist die Quelle jeder Erklärung und allen Verstehens, aber selbst kann es als solches weder verstanden noch erklärt werden. Die Methode der Forschung ist somit klar. Es ist das Bewußtsein, welches diktiert, was wahr und was falsch ist. Es gilt nur mit unverblendeten Augen in seine Tiefen hinabzuschauen.

HAMILTON fühlt sich als Entdecker von Gottes Gnaden, wenn er diese Methode feststellt. In seinen "Lectures" beschäftigt er sich wiederholt mit der Evidenz und Autorität des Bewußtseins, und jederzeit klingt die Grundbehauptung durch: alle Forschung setzt die Wahrheitsgemäßheit des Bewußtseins voraus. Das Wort von LEIBNIZ: falls unsere innere unmittelbare Erfahrung uns irgendwie betrügen sollte, so würde es für uns überhaupt weiter keine Wahrheit geben, weder eine Wahrheit in der Erfahrung, noch eine Wahrheit in der Vernunft, - besitzt für HAMILTON eine Bedeutung, die sein philosophisches Sehen durch und durch bestimmt. Könnten wir, so nimmt er an, in einem einzigen Fall das Bewußtsein bei einer Lüge ertappen, so würde das ganze Wahrheitsgebäude zu Fall gebracht werden. Und ein Philosoph, der es unternähme, und wäre es nur ein einziges Mal, sich über das Zeugnis des Bewußtseins hinwegzusetzen, würde damit einfach sich selber wegwerfen.

Wie ersichtlich, ist HAMILTON eine strenge Natur, wenig zum Ausgleich geneigt. Er nimmt auch Philosophen aus allen Zeiten ins Verhör, um gegen sie ein Verfahren zu eröffnen, daß sie sich gegen die unkränkbare Majestät des Bewußtseins vergangen haben. Gleichwie DAVID HUME seiner Zeit mit seiner Lehre vom sinnlichen Ursprung der Vorstellungen alle philosophischen Ideologien außer seiner eigenen erwürgte, so macht es auch WILLIAM HAMILTON mit seinem Hinweis auf das Bewußtsein als höchster Wahrheitsinstanz. Jeder Ansicht, die visitiert wird, begegnet die Frage: Was sagt das Bewußtsein in dieser Sache? Fällt die Antwort günstig aus, so wird die Passage für frei erklärt. Stellt es sich abweisend, so ist die Wahrheitsgrenze für die Betreffenden gesperrt.

Die wissenschaftliche Deduktion der Philosophie aus den Daten des Bewußtseins scheint sich also sehr leicht zu stellen. Aber die Geschichte der Philosophie ist unglücklicherweise Zeugin einer verwirrenden Mannigfaltigkeit verschiedener Ansichten, die grade auf diesem Weg entstanden sind, und das ist kaum ein gutes Vorzeichen. HAMILTON ist aber nicht ratlos. Da ja das Bewußtsein keine falschen Aufklärungen geben kann, muß die Ursache der Verwirrung in einer Mißdeutung seines Zeugnisses liegen. Man hat sich in der einen oder anderen Weise an den Grundsätzen vergriffen, die alle Forschung leiten müssen. Man hat Bewußtseinsfakta als primär oder einfach erklärt, d. h. als nicht weiter reduzierbar, die aber in Wirklichkeit keineswegs solche sind; man hat den Umfang des Bewußtseins willkürlich beschnitten und Überlegungen gutgeheißen, die zum Widerspruch gegen die primären Data geführt haben. Unter solchen Umständen war es klar, wohin das Ganze führen würde. Die erste Aufgabe der Philosophie muß deshalb sein, die primären, unmittelbaren Gewißheitsfakta, die das Bewußtsein bei jedem aufzeigt, zu bestimmen, zu reinigen und zu befestigen. Diese Daten lassen sich nach HAMILTON an vier Zeichen erkennen: erstens an ihrer Unerklärlichkeit (incomprehensibility), d. h. sie können nicht auf irgendein höheres Prinzip zurückgeführt werden, durch welches sie sich erklären ließen; zweitens an ihrer Einfachheit - sie können nicht in einfachere Elemente zerlegt werden; drittens an ihrer Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit (5); viertens an ihrer alle übrigen Wahrheiten übertreffenden Evidenz und Gewißheit (certainty). Lassen sich diese Erkennungszeichen bei den betreffenden Seelenfakta nicht antreffen, dann liegen auch gar keine "primary truths of common sense" [primären Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes - wp] vor.

Man wird nicht sagen können, daß HAMILTONs Forschungsmethode übertriebene Anforderungen stellt. Das Ganze läuft darauf hinaus, das Bewußtsein zu interpellieren [dazwischenreden - wp] und ihm ein Formular mit den vier Punkten zur geneigten Ausfüllung vorzulegen. Das System, das sich daraus ergibt, ist auch sehr zuvorkommend gegen alle eingewurzelten Vorstellungen. Die Grundform des Bewußtseins mit dem Gegensatz Subjekt-Objekt als unentrinnbarem Inhalt stellt zuerst das Ich fest, das Subjekt als unmittelbare Wirklichkeit im Gegensatz zum Nicht-Ich, dem Objekt. HUMEs ungeheuerlicher Versuch, eine Seele und eine Welt aus losgerissenen Empfindungsgliedern zu konstruieren, findet man nach Verdienst gestempelt. Weiter stellt das Bewußtsein unsere seelische Existenz und Substantialität als unmittelbar gewiß fest, es bekräftigt die Identität des Ichs und läßt keinen Zweifel an der Freiheit des Willens zu, usw. Behagt es einem, das Zeugnis zu leugnen, so steht es ihm frei, - nur sägt er damit den Ast ab, auf dem er sitzt.

Es ist klar, daß diese Berufung auf das Bewußtsein als höchste Wahrheitsinstanz zur Nachlässigkeit in der Forschermoral einlädt. Das Bewußtsein, das die Quelle allen Lichts sein soll, wird leicht zum Asyl für Unkenntnis und Denkfaulheit. Es beruth ja doch letztlich auf einem subjektiven Gefühl des Einzelnen, was als notwendig, unabweisbar usw. aufgefaßt werden soll. Jeder wird sein eigener Wahrheitszeuge. Man macht eine Geste vor den als ursprünglich bezeichneten Daten des Bewußtseins und setzt sich damit zur Ruhe, daß sie in dieser Eigenschaft aller Erklärung trotzen. Das Wahrheitslicht wird auf einfache Weise im Dunkel der Unwissenheit angezündet.

HAMILTON selbst, einer der gelehrtesten Philosophen aller Zeiten, konnte nicht umhin, auf dem Altar, den er hiermit der Unwissenheit errichtet hatte, manches zu opfern. Schon die Verengung des Problemkreises fällt bei ihm in die Augen. Alle diese selbstevidenten Wahrheiten, ursprünglichen Fakta, die HAMILTON unter der Leitung der Aussage des Bewußtseins feststellte, wurden damit in der Tat aus dem Kreis der Probleme herausgerissen. Man diskutiert nicht Erscheinungen, die bloß dazu da sind, akzeptiert zu werden. Das Ich-Bewußtsein z. B. lädt nicht zu einer näheren Untersuchung ein, wenn es dargestellt wird als unabweisbares Faktum. Und in derselben Weise die ganze Linie entlang. Der notwendige Glaube, der als Kriterium der Evidenz dargestellt wird, entzieht sich jeder Analyse. Das Gefühl der Wirklichkeit, von dem eine neuere Psychologie (6) so viel Treffendes zu sagen hat, wird in gleicher Weise außerhalb jeder Diskussion gestellt, da es als ein unmittelbares, ursprüngliches Faktum erklärt wird. Man braucht wahrlich keine Beispiele zu häufen, um einzusehen, daß auf diese Weise die Wissenslust abgestumpft, die Forschungsgegenstände reduziert werden mußten (7).

Es ist aber keineswegs dieses allein, was HAMILTONs Methode verdächtig macht. Der Erkenntnisaspekt selbst, der angelegt wird, ist irreführend. Wenn der notwendig Glaube, mit dem eine Erscheinung erfaßt wird, zum Kriterium der Ursprünglichkeit dieser Erscheinung erhoben wird, dann läßt man in Wirklichkeit das reife Seelenleben, zu dessen Äußerungen dieser Glaube gehört, das Gesetz für die früheren Seelenstadien diktieren. Hierfür gibt HAMILTON zahlreiche Beispiele. Das ist schon charakteristisch, daß wir uns bei seiner Psychologie in einem vollständigen Mangel an einer Genetik der Seelenvorgänge befinden. Wozu würde eine solche auch gedient haben? Das unmittelbare Zeugnis des Bewußtseins, ausgedrückt in einem festen und unabweisbaren Glauben an gewisse Vorstellungen, klärt uns ohne jeden Umweg darüber auf, was in der Seele ursprünglich ist. Weiter können wir konstatieren, daß HAMILTON in den frühesten Stadien des Seelenlebens Bildungen voraussetzt, die erst bei weiter fortgeschrittenen Seelenlagen eintreffen. Ein einziges Beispiel soll herausgegriffen werden. HAMILTON macht mit großer Hartnäckigkeit geltend, daß jeder Seelenakt ein Urteil einschließt. Zu dieser Ansicht ist er auf folgende Weise gekommen. Alles Bewußtsein setzt das Subjekt-Objekt-Verhältnis voraus. Das bedeutet, daß das Faktum des Unterscheidens unabweisbar für alles Seelenleben ist. Nun ist es aber undenkbar, daß man eine Unterscheidung vornehmen könnte ohne ein Urteil zu fällen. Folglich schließt jeder Seelenakt ein Urteil ein. Diese Folgerung ist besonders charakteristisch. Vom Faktum, daß wir uns in unserer vollreifen Seelenlage nicht vom Subjekt-Objekt-Verhältnis frei machen können, geht HAMILTON unmittelbar zu dem Schlußsatz über, dasselbe müsse ebenfalls von den primitiven Seelenlagen gelten, und krönt dann seine Überlegung damit, daß er noch einmal eine ähnliche Schlußfolgerungsfigur anwendet: da wir ja in unserem gegenwärtigen Bewußtseinsstadium nicht imstande sind, eine Distinktion [Unterscheidung - wp] zu vollziehen, ohne ein Urteil abzugeben, so folgt hieraus, daß auch im frühesten Seelenleben jeder Akt ein Urteil in sich birgt.

Es wundert einen nicht, daß die Kritik, die JOHN STUART MILL später in "An Examination of Sir William Hamiltons Philosophy" gegen ihn richtete, so bitter ausfiel. Es gibt Angriffspunkte in Hülle und Fülle. HAMILTONs Philosophie drohte auch der gesündesten Empirie mit Abbruch. Wenn er lehrte, das Bewußtsein umfasse nicht bloß das Ich und seine Modifikationen, sondern beziehe auch das Nicht-Ich ein, da bereitete er den Boden für eine oberflächliche Lösung der Probleme der äußeren Erfahrung. Es kam nicht mehr so sehr darauf an, zu beobachten, zu prüfen, zu experimentieren, sondern nun wurden die Fragen mittels der Intuition entschieden, d. h. mit der Fragestellung: kann dieses oder jenes gedacht werden oder nicht? Da ja eine vollständige Kongruenz [Übereinstimmung - wp] zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit angenommen war, so wurden die Gesetze des Gedankens zu Gesetzen der Wirklichkeit gemacht. HAMILTON kam in hegelsche Bahnen, wo der spekulative Taumel anfangen konnte.

MILLs Angriff auf HAMILTON zielt auch dahin, den Nerv des Ganzen dadurch zu treffen, daß die Lehre vom Nicht-Ich als von einer ursprünglichen Bestimmung beim Bewußtsein widerlegt wird. Er bemüht sich zu zeigen, daß die Vorstellung der Außenwelt ein Ergebnis von Schlußfolgerungen ist, mit einem Wort, daß es unerlaubt ist, hier eine direkte Perzeption anzunehmen. Diese Auslegung bedeutet einen prinzipiellen Hieb gegen HAMILTONs Intuitionismus; er trifft den Herzpunkt in seiner Lehre: den Satz, der notwendige Glaube bilde das Kriterium für die Ursprünglichkeit und Unabweisbarkeit einer Vorstellung. Der Glaube an eine Außenwelt ist für uns zweifelsohne unentrinnbar; nichts desto weniger soll er nach MILL etwas Erworbenes bezeichnen. Er beraubt ganz einfach den notwendigen Glauben dadurch seiner Zeugnisfähigkeit, daß er ihm einen empirischen Ursprung aufbürdet, und wiederholt das, wo ein solcher Glaube nur auftreten mag. Ein Assoziationsvorgang, durch Tage und Jahre befestigt, liegt, so wird erklärt, hinter dem Phänomen des notwendigen Glaubens.

Wir werden uns in diesem Zusammenhang nicht näher auf MILLs Kritik an HAMILTON einlassen. Um den Streit zwischen beiden gerecht zu beurteilen, muß man sich jedoch daran erinnern, daß sie in einem grundsätzlichen Antagonistenverhältnis zueinander standen. Der eine hatte sich vorgenommen, die Interessen des Subjekts, des Ich zu verteidigen, der andere die des Objekts, des Nicht-Ich. Des einen Meister waren KANT und REID, die des andern HUME und HARTLEY. Sie waren Repräsentanten verschiedener geistiger Welten, und wenn jeder sich auf seine Ideologie stützte, war es stets leicht, den andern auf die Finger zu klopfen. Gerade in dem Punkt, wo die Wogen des Streites am gewaltsamsten aufeinander trafen, nämlich in der Frage des notwendigen Glaubens als Wahrheitskriterium, wurde die innerste Divergenz ihrer Ansichten bloß gelegt, und es ist leicht nachzuweisen, daß diese von einer Art ist, daß sie von keiner Logik in der Welt überwunden werden kann. Wenn MILL das Phänomen dieses Glaubens auf einen Assoziationsvorgang gründet, d. h. ihm eine empirische Ableitung gibt, so ist er doch im Gegensatz zu seinem Vater JAMES MILL darüber im Klaren, daß dieses Seelenfaktum nincht restlos in einem Assoziationsvorgang aufgeht. (8) Er gibt mit einem Wort zu, daß die objektive Analyse das irrationale Plus, das dieses Phänomen über die reine Assoziationskopplung hinaus besitzt, nicht zum Verdunsten bringen kann. Er gibt dies zu, läßt es aber ohne Berücksichtigung. Hier ist nun die Stelle, wo HAMILTON notwendigerweise anders handelt. Ihm bleibt das, was weder auf etwas anderes reduziert noch objektiv greifbar gemacht werden kann, das Wesentliche. Das Phänomen des Glaubens bleibt eine Offenbarung, ein heller Blitz der Evidenz aus der Kraftzentrale des Bewußtseins. Es ist das Unzurückführbare beim Phänomen, das der Analyse Unzugängliche, was HAMILTON packt und worauf er die entscheidende Bedeutung legt. Hier war keine Vermittlung möglich. MILL und HAMILTON hatten sich verschiedenen Welten verschworen.

Das Bild von HAMILTON, das hier gegeben worden ist, erweckt leicht die Vorstellung eines Denkers mit äußerst geringen Verdiensten um die Psychologie. Er hat auch faktisch den Schein bedenklich gegen sich. Seine Aufgabe war, auf die Grenze aller Forschung hinzuweisen, auf das Unwissbare; sein Streben richtete sich auf die Voraussetzungen der Erkenntnis, auf das, was ohne Weiteres angenommen werden muß, aber nicht selbst zum Gegenstand eines Beweises gemacht werden kann. Vom Gesichtspunkt der aktiven Forschung aus war die Negativität unverkennbar. Aber trotzdem konnten oft feine Dinge aus seiner Behandlung der psychologischen Probleme hervorgehen. Besonders muß angeführt werden, was er über die Kausalitäts- und Freiheitsidee und über das Assoziationsphänomen zu sagen hat. In beiden Fällen enthüllt er einen tiefen und gedankenerweiternden Einblick und zeigt, wie seine allgemeine Theorie dennoch geeignet ist, befruchtend zu wirken.

Unser Bewußtsein, so hatte er gelehrt, kann nichts als absolut fassen. Hieraus folgt, daß wir uns weder einen absoluten Anfang noch ein absolutes Ende denken können. Wenn wir eine neue Erscheinung beobachten, sind wir außerstande zu fassen, daß sich darin etwas ganz Neues offenbaren könnte, und sind gezwungen zu denken, das, was nun in dieser Form auftritt, habe vorher in anderen Formen existiert, gleichgültig ob wir sie kennen oder nicht. Unser Verstand ist kurz gesagt genötigt, eine existentiale Identität zwischen dem, was vorausgegangen ist, und dem, was nachher folgt, zwischen Ursache und Wirkung zu postulieren. Was bezeichnet also das Kausalgesetz? Nur dies, daß wir, wenn uns ein Objekt zuerst erscheint, annehmen müssen, die Quantität von Existenz, die es innehat, war schon vorher da, d. h. alles, was wir in der Gegenwart als Wirkung kennen lernen, muß früher in der Ursache existiert haben. Aber dies bedeutet nach HAMILTON, daß das Kausalgesetz keine positive, apriorische Bestimmung des Bewußtseins ist, sondern auf unserem Unvermögen fußt, also ein Ausdruck für die Begrenzung des Geistes ist. Die Freiheit kann von uns nicht gefaßt werden. Die Determinierung des Willens gilt für den Gedanken als Tatsache, aber in sich selbst bleibt der Freiheitsbegriff unverrückt bestehen, seinen Himmel über alle begrenzenden Kategorien wölbend.

Unzweifelhaft hat HAMILTON hiermit einen wertvollen Einsatz zur Diskussion über die Kausalität geliefert. Und dasselbe muß von seinen Reflexionen über die Assoziation gesagt werden. Er führt die Ähnlichkeits- und Berührungsassoziationen auf ein höheres Gesetz zurück, das er "Law of Redintegration or Totality" nennt. Was er hiermit gesagt haben will, ist dies, daß nur die Vorstellungen einander suggerieren, die vorher Teile ein und desselben Bewußtseinsaktes bezeichnet haben. Faßt man die einzelnen Momente des Bewußtseins als isolierte Bilder in einem vermeintlichen Kaleidoskop des Bewußtseins auf, so wird der Zusammenhang dieser Bilder und die Fähigkeit der gegenseitigen Suggestion das Wunder aller Wunder. Nach dem "Gesetz der Ganzheit" dagegen ist die Seele eine Einheit, d. h. ihre verstreuten Energien sind in einer einzigen generellen Aktivität vereint. Und Aktivität bedeutet eine Bewegung fortsetzen. Wird somit ein Teilmoment in der Ganzheitsaktivität zu neuem Leben erweckt, so strebt es ganz natürlich, auch die übrigen Teilmomente zu erwecken. Und das ist es, was mit dem Wort Assoziation bezeichnet wird.

HAMILTONs Lehre von der Assoziation fußt ebenso wie seine Lehre von Kausalität auf seiner allgemeinen Ansicht vom Seelenleben. Wir dürfen nicht vergessen, daß KANT und REID an seiner Denkerpersönlichkeit teilhaben. Vom ersteren hat er die Inspiration zur Lehre von der Relativität der Erkenntnis und von der Verborgenheit des Dings ansich geholt. Vom letzteren wurde seine Zuversicht auf das Zeugnis des Bewußtseins, auf die unmittelbaren Suggestionen, die notwendigen Gewißheitsmomente geweckt. Nach beiden Seiten hin wurde er in seinem Glauben an die Spontaneität des Bewußtseins, seine Kraftbegabung und seinen schaffenden Einsatz für die Entstehung des Weltbildes gestärkt. Er wurde auf diese Weise der Fürsprecher der aktiven Seele in einem Land, wo deren Wert niedrig im Kurs stand.

Diese Stellung als Schutzherr der aktiven Seele gibt ihm im englischen Denken sein momentum aere perennius [Denkmal dauernder als Erz - wp].
LITERATUR - Hans Ruin, Erlebnis und Wissen, Helsingfors 1921
    Anmerkungen
    1) Es muß freilich erwähnt werden, daß HAMILTON sich nicht mit der Klarheit ausgedrückt hat, die man sich gewünscht hätte, und daß er sich sogar greifbarer Widersprüche schuldig gemacht hat. Anders kann z. B. nicht sein Festhalten an der üblichen Distinktioin zwischen den primären und sekundären Qualitäten der Dinge charakterisiert werden, und dasselbe gilt von seiner in den Kommentaren zu REIDs "Works" (II, Seite 881) dargestellten Lehre, daß wir unmittelbar nur unseren Leib zu perzipieren vermögen.
    2) Ein gutes Beispiel hierfür bildet u. a. PAUL JANETs Artikel "Mill et Hamilton" (Revue des Deux Mondes, Bd. 83)
    3) Siehe "Discussions on Philosophy and Literature, Education and University Reform" (wo HAMILTONs verschiedene Abhandlungen gesammelt sind), Seite 54. - Das Verständnis von HAMILTONs Perzeptionslehre ist dadurch erschwert worden, daß er ein "Ding ansich" angenommen hat. Man hat folgende Überlegung gemacht: Ein Ding direkt zu perzipieren, kann nichts anderes heißen als es an sich selbst, absolut zu fassen. Aber nun hat HAMILTON ausdrücklich erklärt, das Ding ansich sei unseren Blicken entzogen. Folglich ist es ein Widerspruch zu behaupten, daß wir eine direkte Perzeption erleben. HAMILTONs Versuch (Discussions, Seite 54), sich gegen diese Überlegung zu wehren, scheint seinen Kritikern entgangen zu sein.
    4) Discussions, Seite 63
    5) In den "Lectures on Metaphysics", Bd. II, Seite 191 heißt es: "Was ich nicht anders als denken kann, muß a priori sein, ein originaler Gedanke; es kann nicht durch eine Erfahrung der üblichen Denkgewohnheiten erzeugt werden."
    6) Siehe z. B. BALDWINs ergiebige Untersuchung im "Handbook of Psychology", Feeling and Will, Seite 148-155.
    7) Zu welchen Folgerungen HAMILTONs Lehre führt, wird zu einem besonders sprechenden Ausdruck gebracht in seinen "Lectures", Bd. II, Seite 355.
    8) In den Noten zu JAMES MILLs "Analysis", wo JOHN STUART MILL in vielen Stücken seine früheren Ansichten revidiert, drückt er sich ohne die Möglichkeit eines Mißverständnisses aus. Unzweifelhaft würde es, sagt er, "den größten Triumph für die Assoziationspsychologie" bedeuten, wenn es den Psychologen zu zeigen glückte, Glaube sei nichts anderes als eine besonders feste Assoziation (I, Seite 402). Aber das wird ihnen kaum glücken. Es gibt untrennbare Assoziatioinen ohne Glauben und Glauben ohne untrennbare Assoziationen. "Der Unterschied zwischen einem Glauben und der bloßen Einbildung ist der Unterschied zwischen etwas als Realität in der Natur zu erkennen und es als einen bloß eigenen Gedanken zu betrachten." (I, Seite 418). JOHN STUART MILL sieht sich dennoch genötigt zuzugehen, daß der Unterschied hier die Anfechtung der Analyse aushält, daß er als "ultimativ und ursprünglich" festgestellt werden muß (I, Seite 412).