ra-2ra-3R. StammlerR. StolzmannBöhm-BawerkI. Kornfeld    
 
RUDOLF STOLZMANN
Der Zweck in der Volkswirtschaft
[Die Volkswirtschaft als sozial-ethisches Zweckgebilde]

"Im Begriff der Regelung lassen sich zwei verschiedene Bedeutungen unterscheiden, deren erstere einer niederen, und deren zweite einer höheren Stufe der Erkenntnis entspricht: die Regelung als Grund, und die Regelung als Zweck. In der ersteren Bedeutung ist sie die bereits  objektiv verwirklichte Regelung, gleichbedeutend mit der durch die bestehende Rechts- und Sittenordnung gegebenen Wirtschaftsverfassung. Aber neben der objektiven Regelung auch zweitens das logische Motiv der Regelung bezeichnen, die Regelung als Idee, als ein Gewolltes, die Regelung als Zweckvorstellung."

"Es waren all die erschienenen Schriften der entgegengesetzten Richtung, die den Widerspruch reizend, mir die Feder in die Hand gedrückt haben. Ich meine die Richtungen, welche in alter Schärfe an der absoluten Herrschaft des Kausalitätsgedankens festhalten, deshalb theoretisch die Volkswirtschaft als Naturgebilde behandeln und in der Politik heute noch dem Gehen- und Geschehenlassen das Wort reden."

"Die Agitation jener, welche einen größeren Anteil der einer Gesellschaft verfügbaren Genußmittel den Arbeitern zugewendet sehen möchten als dies gegenwärtig der Fall ist, verlangen demnach, nichts anderes als eine Entlohnung der Arbeit über ihren Wert, das ist eine Entlohnung der Arbeiter nicht so sehr nach dem, was ihre Leistungen der Gesellschaft wert sind, als vielmehr nach dem Maßstab einer würdigeren Existenz derselben, einer möglichst gleichen Verteilung der Genußmittel und Mühseligkeiten des Lebens. Die Lösung der Frage auf dieser Grundlage hat nun aber allerdings eine völlige Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse zur Voraussetzung."

"Die erste Alternative hat die Frage zum Gegenstand hat, ob man die Erklärung der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit aus den rein-ökonomischen, naturgegebenen Prämissen vornimmt, was dann die Darstellung der Volkswirtschaft als eines Naturgebildes zur Folge hat, oder aber, ob man jene Erklärung aus den in der Wirtschaftsverfassung gegebenen Sozialprämissen vornehmen soll, wonach dann die volkswirtschaftlichen Verhältnisse ein Ergebnis der sozialen Regelung oder ein bloßer Ausdruck ganz und gar künstlicher Machtphänomene sind. Grundverschieden hiervon ist die andere Antithese. Sie geht auf die Entscheidung der Frage, ob die bestehende Volkswirtschaft, sei sie nun ein Naturgebilde oder ein Sozialprodukt, mit dem Prädikat gut oder schlecht zu belegen, ob also die wirtschaftlichen Erscheinungen von einem moralischen Standpunkt aus zu billigen oder zu verwerfen, ob sie ohne Makel sind oder ob man sie mit dem Ausdruck brutal zu bezeichnen hat."


V o r w o r t

Der gewaltige Fortschritt der letzten Jahre im sozial-ethischen Empfinden und Handeln gibt mir die Hoffnung, daß der vorliegende Versuch: die Volkswirtschaft als sozial-sittliches Zweckgebilde zu begründen, auf fruchtbareren Boden fallen wird als der erste Versuch, den ich vor nunmehr dreizehn Jahren in meiner "Sozialen Kategorie" unternahm. Die Zeit ist seitdem für das soziale und ethische Verständnis zusehends reifer geworden. Doch hoffe auch ich jetzt den Zielen der Zeit ein reiferes Verständnis entgegenzubringen.

Daß diese Ziele aber - trotz allen gegenteiligen Scheines - nicht auf eine neue, nur materialistisch verwässerte Auflage des Naturalismus und der individualistischen Aufklärungsideen vergangener Jahrhundert gerichtet sind, das ist mein fester Glaube. Ich glaube an den Anbruch einer neuen Ära, in der die Menschen nicht länger gewillt sind, sich durch das einst vergötterte "freie Spiel der natürlichen Kräfte" regieren zu lassen, sondern im Vollgefühl eigener Kraft ihr Geschick in sittlicher Freiheit selbst lenken wollen.

Zwar wird ihnen nicht die Erfahrung erspart bleiben, daß ihr Wollen gerade auf wirtschaftlichem Gebiet nach wie vor durch die natürlichen Schranken bedingt ist, die ihnen der natürliche Nahrungsspielraum, der Stand der Technik und - nicht zuletzt - das unabänderliche Wesen, die "Konstanz" ihrer eigenen Natur ziehen (ADOLF WAGNER). Aber dadurch werden sie sich nicht die Zuversicht rauben lassen, daß ihnen innerhalb der naturgesetzlichen Grenzen ein weites Feld ureigenen Wollens und Handelns übrig bleibt, das seinen Ausbau von der Autonomie des menschlichen Willens erwartet. Es wird nur die Aufgabe sein, exakter wie bisher die Grenzscheide zu bestimmen, an der das Gebiet der Naturnotwendigkeit aufhört und das Reich der menschlichen Freiheit beginnt, das Gebiet des sittlich-freien Handelns, der Regelung und der gesellschaftlichen Organisationen. Es werden von den natürlichen Elementen diejenigen schärfer abzugrenzen sein, die aus der  Gesellschaft,  aus den historischen Bedingungen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, sowie aus den konstituierten Macht- und Rechtsverhältnissen herstammen, welche, wie in der "Sozialen Kategorie" bemerkte, die Menschen sich im Grunde selbst gesetzt haben, die also, weil und soweit sie Menschenwerk sind, auch von den Menschen geändert werden können.

Nur von dieser reinlichen Scheidung der "Kategorien" dürfte auch eine befriedigende Beilegung des unfruchtbaren  Methodenstreits  zu erwarten sein: es wird der "subjektivistischen" Forschung ganz von selbst die Untersuchung der natürlichen, der "objektivistischen" Methode aber die der  gesellschaftlichen  Faktoren des wirtschaftlichen Lebens zufallen, und zwar werden dann jene - nach STAMMLERs bahnbrechenden Voranschreiten - als der  Stoff (die Materie) des gesellschaftlichen Lebens, diese aber, in Gestalt der jeweiligen Rechts- und Sittenordnung, als die  Form  zu behandeln sein, durch welche die volkswirtschaftlichen Einzelerscheinungen erst ihre Ausgestaltung erhalten. Das gilt ganz besonders für diejenige Lehre, die im Mittelpunkt unserer Wissenschaft steht, für die vielumstrittene Lehre vom  Wert Auch der Wert, d. h. der auf dem Markt im Geldpreis verwirklichte "objektive" Verkehrswert, kann in seiner positiven Gestalt als  sozialer Wert,  trotz all einer konstanten, subjektiv-psychologischen Grundlagen, abschließend nur aus den sozial-organischen Funktionen bestimmt werden, die ihm die  historische Wirtschaftsordnung  zuweist.

Der "Objektivismus" tritt damit in ein neues Stadium, er wird nicht nur sozial, er wird "historisch"; es bleibt keine Kluft mehr zwischen der systematisch-logischen und der historisch-realistischen Forschung, das Arbeitsfeld wird für beide gemeinsam, sie haen beide die Erkenntnis der geschichtlichen  Wirklichkeit  zu Gegenstand. Wird doch die "soziale Kategorie" ganz mit Recht kurzweg die "historische" genannt, und was ihren tieferen Kern, die  Ethik,  betrifft, so ist sie gerade von der historischen Schule, zuletzt besonders durch von SCHMOLLER, immer entschiedener als Hauptfaktor des geschichtlichen Werdens zu Ansehen und Geltung gebracht worden.

Erst mit dieser Annäherung an die historisch-realistische Forschung verliert die systematisch-theoretische Methode den Charakter des allzu "Abstrakten", sie gewinnt wieder mehr Fühlung mit dem Leben; sie trägt die "Ideen" - und das ist der Hauptzweck auch dieses Buches - herab in die Niederungen des wirtschaftlichen Lebens, herab mitten in das profane Wert- und Preisgetriebe des Marktes, damit so die "idealen Potenzen" des "sozialen, politischen und geistigen Lebensprozesses" nicht mehr - wie MARX meint - als bloßes "Spiegelbild der Produktionsweise des materiellen Lebens", als sein bloßer dekorativer "Überbau" erscheinen, sondern als ein  Unterbau  lebendig sittlicher Kräfte, die dem gesellschaftlichen "Sein" erst ihren Stempel aufdrücken.



E i n l e i t u n g

Die vorliegende Schrift hat sich keine historische oder statistische Aufgabe gestellt, sie ist  erkenntnistheoretischen  und  systematischen  Inhalts und teilt diese Eigenart mit ihrer Vorgängerin, der schon im Jahr 1896 erschienenen "Sozialen Kategorie in der Volkswirtschaftslehre". Wie damals geht auch jetzt meine Absicht nicht auf die Vorführung des vielgestalteten Stoffs der volkswirtschaftlichen Erscheinungen in ihrem geschichtlich gewordenen und geschichtlich werdenden Bestand, sondern auf die Bereitstellung eines formal-wissenschaftlichen Rüstzeugs zur geistigen Durchdringung und Bemeisterung jenes Stoffs. Um desto sicherer zur unmittelbaren Erkenntnis zu gelangen, schlage ich einen Umweg ein, ich such nach den  Mitteln  der Erkenntnis. Es gilt in letzter Linie die Gewinnung einer den nationalökonomischen Stoff beherrschenden  Idee eines leitenden und ordnenden  Grundprinzips  von heuristischer Kraft, um mit seiner Hilfe aus dem Wirrwarr der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen zu einem festen Punkt zu gelangen, von dem aus das lose gefügte Netz der sozial-ökonomischen Beziehungen sich uns zu einem einheitlichen System erschließen könnte.

Ich bin nicht etwa methodisch auf die Entdeckung eines solchen Grundprinzips ausgegangen, ich bin mehr zufällig und allmählich auf dasselbe gestoßen worden. Als ich vor langer Zeit mit der Untersuchung einiger praktischer Fragen des Staatsrechts und der Verwaltung einiger praktischer Fragen des Staatsrechts und der Verwaltung beschäftigt war, wollte ich mir zu diesem Zweck bei der Volkswirtschaftslehre Rat holen. Während ich hierbei einigen wichtigsten der nationalökonomischen Einzelmaterien und Einzelbegriffen auf den Grund zu kommen suchte (Wert - Arbeitslohn, Kapitalgewinn, Grundrente), merkte ich zu meiner Überraschung, daß die herrschende Lehre in der Erklärung jeder einzelnen dieser Materien überall gewisse Lücken aufwies, deren Gleichartigkeit mich auf einen  Fehler im System  der ganzen Lehre schließen ließ: überall fehlte das Schlußstück der Erklärung, und überall glaubte ich es in den durch die  Rechts- und Sittenordnung  bedingten Verursachungen zu entdecken. Von hier aus war es nur ein Schritt, auch das  Ganze der Volkswirtschaft  als ein durch diese selbe Rechts- und Sittenordnung zusammengehaltenes einheitliches System sozial-organischer Wechselwirkung zu begreifen: das letzte Prinzip der Volkswirtschaft, so war mein Schluß, liegt in ihrer Verfassung, in ihrer regelnden Organisation, sie ist  kein Naturgebilde,  sondern ein  Menschenwerk.  Wohl gibt es technisch-psychologische und daher naturwissenschaftlich "ewige" Grundgesetze, mit denen die Volkswirtschaft stetig zu rechnen hat, aber im Wesen und Charakter ist sie eine  geistige Schöpfung. 

Auch um den Namen für das so gewonnene sozial-organische Grundprinzip brauchte ich nicht lange in Verlegenheit zu sein, da er längst vorhanden war. Er bot sich mir ganz von selbst in dem von RODBERTUS und ADOLF WAGNER eingeführten Begriff der  sozialen Kategorie,  welche man auch - in Hervorkehrung ihrer wichtigsten akzidentiellen [nebensächlichen - wp] Funktion, mit einer  nominatio a potiori [Benennung nach der Hauptsache - wp] - als Kategorie der "Verteilung" oder als "historische" Kategorie bezeichnet hat.

Ihr begrifflicher  Gegensatz,  oder besser ihr komplementäres Gegenstück, mit dem sie in Wechselwirkung erst das Gesamtgefüge der wirtschaftlichen Zusammenhänge erzeugt, ist die "rein-ökonomische" oder  natürliche Kategorie.  Mit ihr wird der Inbegriff aller Verursachungen bezeichnet, welche auf dem vom menschlichen Willen unabhängigen Mechanismus der Natur beruhen und in der  Kausalität  der Naturgesetze ein für allemal  gegeben  sind. Die natürliche Kategorie oder - wenn man für das Ganze den Plural der funktionalen Äußerungen setzt -: die natürlichen Kategorien, umfassen deshalb die naturwissenschaftlich-technischen, (individual-) psychologischen Grundbedingungen, welche man auch  konstante  oder "ewige" genannt hat, weil sie den unabänderlichen Gegenstand, die Materie, den  Stoff  aller wirtschaftlichen Gestaltungen bilden.

Diese letztgenannten Kategorien, die natürlichen, bildeten bis vor wenigen Jahrzehnten die Grundlage aller volkswirtschaftlichen Theorie. Der Naturalismus war Herrscher, und es ist leicht erklärlich, aus welchen Gründen er es besonders lange auf dem Gebiet der Volkswirtschaft geblieben ist; denn der gegebene Gegenstand der Volkswirtschaft  scheint  doch eben ein stofflich natürlicher, ein höchst materieller zu sein; die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. Durch diesen Schein war die national-ökonomische Forschung ja gerade in unserem naturwissenschaftlichen und auf das Materielle gerichteten Zeitalter ganz besonders geblendet worden. Auch auf unsere Wissenschaft hatte die impertinent [frech - wp] sich aufdrängende Macht der natürlichen Kategorien berauschend gewirkt. Man hatte in diesem Rausch vergessen, daß die Volkswirtschaft als solche, trotz aller Abhängigkeit von der Kausalität der Materie, doch keineswegs auf den natürlich-ökonomischen Kategorien aufgebaut ist, sondern daß - um in der von STAMMLER inzwischen geschaffenen Terminologie zu reden - die in der Natur wirksamen Urkräfte und die im Menschen selbst sich regenden Urtriebe nur der "Stoff" sind, welcher der menschlichen "Regelung" harrt, und zwar nicht der technischen Regelung, sondern der Regelung durch  Recht  und  Sitte. 

Nun lassen sich aber im Begriff der Regelung, der sich ganz mit dem der sozialen Kategorie deckt, zwei verschiedene Bedeutungen unterscheiden, deren erstere einer niederen, und deren zweite einer höheren Stufe der Erkenntnis entspricht: die Regelung als  Grund,  und die Regelung als  Zweck In der  ersteren  Bedeutung ist sie die bereits  objektiv verwirklichte  Regelung, gleichbedeutend mit der durch die bestehende Rechts- und Sittenordnung gegebenen Wirtschaftsverfassung. Von ihr geht der eine, der soziale Teil der Verursachungen aus, durch welche nach unseren obigen Darlegungen die Ausgestaltung der volkswirtschaftlichen Erscheinungen bedingt ist. Aber neben der objektiven Regelung auch  zweitens  das logische Motiv der Regelung bezeichnen, die Regelung als  Idee,  als ein Gewolltes, die Regelung als Zweckvorstellung.

In meinem Erstlingswerk hatte ich vollauf mit dem Versuch zu tun, die Regelung (die soziale Kategorie) in der  ersteren  Bedeutung - als bisher viel zu wenig beachtetes Kausalmoment - zur Darstellung und zur Anerkennung zu bringen, die Regelung als Tatsache, als verursachenden Faktor der sozialökonomischen Phänomene. Zwar war ich mir schon damals bewußt, daß die soziale Kategorie im tiefsten Grund mehr als die objektiv verwirklichte Regelung, nämlich die  Idee als Schöpferin  dieser Regelung bedeutet. Mir war klar, daß die Volkswirtschaft, soweit ihr die soziale Kategorie zugrunde liegt, schon begrifflich auf eine  Teleologie  hinausläuft, indem sie sich als ein Produkt des menschlichen Wollens, als ein Menschenwerk darstellt, das von Menschen geschaffen ist und durch die Menschen verändert werden kann. Nur soweit die natürliche Kategorie die wirtschaftlichen Dinge beeinflußt, tritt, so führte ich (z. B. Seite 8 und 10 a. a. O.) aus, die  Kausalität  als das Prinzip der Erklärung in Wirksamkeit. Aber da sich meine Darstellung auf die objektive Regelung beschränkte, konnte ich von den beiden großen Grundprinzipien:  Telos  und  Kausa  das erstere beseite stellen und die soziale Kategorie vorläufig mehr als bloßes Kausalmoment behandeln. Denn in der Tat ist die Regelung in ihrer objektiven Bedeutung, als Koeffizient positiver Verursachungen, genausogut wie die natürliche Kategorie schon mit der Hilfe des reinen Kausalgedankens zu erfassen, sie wirkt als  verkörperte  Idee, als  verwirklichter  Telos wie jede andere  causa,  sie hat diese kausale Wirksamkeit mit den natürlichen Kategorien völlig gemein, sie übt in dieser ihrer Form eine ebenso derb kausale  Wirkung  aus, wie sie nur je das zwingendste Naturgesetz zustande bringt.
    "Die Gesellschaft", sagt  John Stuart Mill (Principles II, Kapitel 1, § 2) "kann die Verteilung des Vermögens (als das Werk menschlicher Anordnung) beliebig solchen Regeln unterwerfen, die sie für die besten hält; was für praktische Ergebnisse aber aus der Wirksamkeit dieser Regeln hervorgehen werden, das muß, wie jede andere physikalische oder psychologische Wahrheit, durch Beobachtung und Nachdenken aufgefunden werden. Hier, (so sagte auch ich) haben wir nicht die Ursachen, sondern die Folgen der Regelns, denen gemäß Vermögen verteilt wird, zu betrachten."
Ich hielt die so ermöglichste Beschränkung meiner Untersuchungen auf die kausale Wirksamkeit der (objektiven) Regelung für einen methodischen Vorzug, indem sie mir gestattete, mich ganz an die Erklärung des  Seins  zu halten und die heikle Frage des Seinsollens, die Politik und die Ethik, ganz aus dem Spiel zu lassen. Ich durfte mich begnügen, die bestehende Volkswirtschaft ganz wie ein naturwissenschaftliches Untersuchungsobjekt objektiv und kühl zu behandeln, ganz gleichgültig, ob die einmal bestehende Wirtschaftsordnung nach irgendeinem an sie anzulegenden Sondermaßstab der ethischen Beurteilung das Prädikat  gut  oder  schlecht  verdient, ob ihr nach ihrer moralischen Dignität der Anspruch auf Bestand zukommt, ob sie zu reformieren oder ob sie gar, wie kühne Leute meinen, umzustürzen ist.

Aber auch jetzt noch, wo ich dazu übergehe, der sozialen Kategorie in ihrer tieferen Bedeutung, als teleologischem Zweckmotiv, gerecht zu werden, und wo ich das Seinsollen und die Ethik in den Kreis meiner Untersuchungen ziehe, geht nach wie vor mein ganzes Bestreben auf die Fernhaltung einer Tendenz zu Moralisieren, kurz einer Tendenz zur Politik. Und es wird mir dies dadurch ermöglicht, daß ich die Ethik ohne Rücksicht auf den konkreten Inhalt bestimmter Ziele behandle, die Ethik als solche, als allgemeines Formalprinzip. Mein Postulat geht nur dahin, die Volkswirtschaft  im Prinzip  als ethisches Zweckgebilde zu begreifen.

So stellt sich dann die vorliegende Schrift in gewisser Beziehung als eine Fortführung des leitenden Gedankens dar, welcher der "Sozialen Kategorie" vom Jahr 1896 zugrunde lag, sie bezweckt nur seine Erweiterung und Vertiefung. Enstanden ist sie als Ergebnis von Studien, die den zur Zeit immer noch fehlenden zweiten,  positiven  Teil der "Sozialen Kategorie" vorbereiten sollten. Aber wie es so kommt, die Zwecke wechseln während der Arbeit, es hat sich die  soziale  Kategorie unter der Hand zur  sozial-ethischen Zweckkategorie  umgewandelt. Die Gründe liegen in der Sache und werden sich aus dem Folgenden ergeben. An dieser Stelle bleibt mir nur anzugeben, was mich bewogen hat, jene Ergebnisse schon in diesem Stadium zu veröffentlichen.

Zunächst ist es ganz unbestimmt, ob und wann mir des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr die karge Mußestunde gönnen wird, um an wissenschaftliche Arbeit zu denken. Die Fertigstellung meines Hauptwerkes ist in unbestimmte Ferne gerückt. Doch treibt mich ein Lieblingsgedanke vorwärts, den ich recht eigentlich aus der Praxis geschöpft habe, der Gedanke, daß gerade  auch  die die soziale Praxis auf die Wissenschaft angewiesen ist. Und so möchte ich zumindest im Umriß zeigen, nach welchen bedeutsamen Richtungen sowohl die volkswirtschaftliche Praxis wie auch die Volkswirtschaftslehre meines festen Dafürhaltens durch die hier befürwortete soziale und sozialethische Behandlungsweise gefördert werden kann. Man ist in der Praxis nicht immer gut auf die Volkswirtschafts lehre  zu sprechen, auf die Volkswirtschafts politik  auch nicht, weil sie häufig genug zu  unüberlegt  ihre Rezepte aufdrängt, auf die Volkswirtschafts theorie  nicht, weil sie  zuviel  überlegt, zu weit ausholt und deshalb nicht zum Ziel kommt. Letzterer Vorwurf trifft nun gerade wieder ganz besonders diejenige Teildisziplin der theoretischen Volkswirtschaftslehre, die man im  engeren  Sinne die  theoretische  oder auch die  systematische  nennt. Denn während man vor der realistisch-historischen Methode immer den Hut zu ziehen pflegt, steht man der theoretisch-systematischen Methode meist recht ablehnend gegenüber: sie ist zu "abstrakt".

Wo liegt der Grund, wo ist die Schuld? Ich glaube, nicht bei den Praktikern, die gerne nehmen, wo sie etwas Brauchbares bekommen. Ich glaube, die Schuld liegt bei der Theorie selbst, es ist nötig, daß sie endlich den toten Punkt überwindet, auf den sie zur Zeit anerkanntermaßen geraten ist, geraten durch eine Methode, die durch die grundsätzliche Abstraktion von der sozialen Wirklichkeit allen Boden unter den Füßen verloren hat. Soll sie nicht gänzlich zugunsten der historischen und statistischen Forschung abdanken, so bedarf sie eines neuen Fundaments, und ich beeile mich, meinerseits einige unbehauene Fundamentsteine für einen soliden Neubau beizubringen, den ein größerer Systematiker in hoffentlich nicht zu ferner Zeit doch einmal aufführen wird. Die Ideen hierzu liegen heute in der Luft.

Dies führt mich zu dem zweiten Anlaß, der diese Veröffentlichung beschleunigt hat. Gerade die hier behandelten Fragen sind inzwischen durch eine ganze Reihe literarischer Erscheinungen in den Vordergrund des Interesses getreten. Sie sind zu brennenden Tagesfragen geworden, auch beginnen sie, aus dem Kreis allgemein-philosophischer, soziologischer und sozial-politischer Erwägungen herauszutreten. Sie nehmen, was ich immer erhofft habe, ein Gebiet in Angriff, das sich bisher allzu vornehm gegen sie abgeschlossen hatte: das oben hervorgehobene ureigene Gebiet der "theoretischen" Volkswirtschaftslehre. Ich will nur an RUDOLF STAMMLERs epochemachendes Werk "Wirtschaft und Recht" erinnern, welches gleichzeitig mit meiner "Sozialen Kategorie" erschien und sich mit ihr zu meiner großen Freude nicht nur im Gegenstand, sondern auch in den Zielen und im Ergebnis ganz auffällig berührt hat. Es bedarf ferner nur der kurzen Erinnerung an das ganze Heer anderer seitdem erschienener Schriften, welche die  Teleologie  und den  ethischen Zweckgedanken  überallhin verbreitet und selbst in die entlegendsten Winkel der sozialistisch-materialistischen Hochburg hineingetragen haben, mit dem ketzerischen Kampfruf:  Zurück zu Kant!  Ich greife nur folgende ganz bedeutsamen Schriften heraus: BERNSTEIN, "Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie", Stuttgart 1899 und WOLTMANN, "Der historische Materialismus", Düsseldorf 1900, sowie neben diesen beiden dem sozialistischen Lager entstammenden Schriften das Buch von ADOLPH von WENCKSTERNs "Marx", Leipzig 1896, dessen tiefdurchdachte Untersuchungen in  Schmollers Jahrbuch  noch einmal im Ergebnis wiedergegeben sind, und schließlich die Schriften HEINRICH RICKERTs, die den fundamentalen Unterschied zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften (er selbst nennt sie die Kulturwissenschaften) behandeln.

Noch mehr freilich waren es aber all die seitdem erschienenen Schriften der entgegengesetzten Richtung, die den Widerspruch reizend, mir die Feder in die Hand gedrückt haben. Ich meine die Richtungen, welche in alter Schärfe an der absoluten Herrschaft des Kausalitätsgedankens festhalten, deshalb  theoretisch  die Volkswirtschaft als Naturgebilde behandeln und in der  Politik  heute noch dem Gehen- und Geschehenlassen das Wort reden.

Was mich aber ganz besonders bestimmte, das Wort zu ergreifen, war die eingehendere Kritik meiner "Sozialen Kategorie" in der mit Spannung erwarteten zweiten Auflage des großen Werkes EUGEN von BÖHM-BAWERKs "Kapital und Kapitalzins", Erste Abteilung: "Geschichte und Kritik der Kapitalzinstheorien", Innsbruck 1900, Seite 648 bis 663, zu vergleichen auch Seite 396 und 476f. - Als Vorläufer dieser Neuauflage seines Hauptwerks, durch dessen erste, im Jahre 1884 erschienene Auflage sich von BÖHM-BAWERK den wohlverdienten Ruf des ersten und gefeiertsten Vertreters der abstrakt-theoretischen Volkswirtschaftslehre erworben hat, erschienen desselben Verfassers: "Einige strittige Fragen der Kapitalzinstheorie", Wien und Leipzig 1900. Auch hier geht von BÖHM wiederholt auf meine Ausführungen ein (vgl. Seite 3, 20, 21, 112, 115, 120, 121) und legt mir dadurch eine Erwiderung nahe.

Es war ja von vornherein schwer zu erhoffen, daß meine Gedanken bei den Vertretern der österreichischen Schule, der sogenannten  Grenznutzenlehre Anklang finden würden. Zwar in der Methode berührt sich diese seinerzeit von ANTON MENGER, einem Meister der logischen Deduktion, gegründete Schule sehr nahe mit meiner Untersuchungsweise, die ADOLF WAGNER in seinem 1901 erschienenen "Grundriß", Seite 8 und 9, zutreffend mit den Worten charakterisiert:
    "nicht zu dieser österreichischen Richtung gehörend, aber (darin dieser ähnelnd) die Theorie der Nationalökonomik wieder mehr pflegend als die historische Richtung".
Von dieser Ähnlichkeit in der Methode abgesehen, ist der grundsätzliche Ausgangspunkt meiner Untersuchung von demjenigen der österreichischen Schule freilich geradezu antipodisch abgewandt, und im praktischen Ergebnis nähere ich mich vielmehr der  historischen Richtung.  Denn während  ich  den Ausgang von der "sozialen Regelung" nehme und die Wertung aller Dinge von der  objektiven  Bedeutung abhängen lasse, die ihnen als Glieder im konkret gegebenen festen Gefüge der jeweilig bestehenden Rechts- und Sittenordnung zufällt, wird die Volkswirtschaft von der  Grenznutzenlehre  als eine lose Resultantenbildung abstrakt vorgestellter  Quantitätsverhältnisse  behandelt, wie sich dieselben in  Angebot und Nachfrage  äußern, oder in anderer Wendung: wie sie in den jeweiligen  natürlich-technischen  Produktionsbedingungen und in den höchst  subjektivistischen  Begehrungen der einzelnen Wirtschaftssubjekte individual-psychologisch gegeben sind.

In zwei verschiedenen Welten des Gedankens scheinen sich diese beiden Erklärungsreihen zu bewegen. Und doch gab es eine Zeit, wo mir ihre Vereinigung, ja ihre Verschmelzung und Vermählung zu einem einheitlichen System nicht ausgeschlossen schien. Kein geringerer als von BÖHM-BAWERK selbst war es, der diese Hoffnung in mir weckte. Ich meine seine liebenswürdige und für mich schmeichelhafte Kritik in Band VII der "Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung" under der Überschrift "Zur theoretischen Nationalökonomie der letzten Jahre", Seite 421 bis 427. Nachdem er hier Lob und Tadel gegen mich gerecht und objektiv abgewogen hat, weist er Seite 425 den Hauptvorwurf, den ich allerdings gegen die Grenznutzenlehre erhoben hatte und erheben mußte, nämlich denjenigen "der einseitigen Berücksichtigung der sogenannten "rein-wirtschaftlichen" und der "völligen Vernachlässigung aller mitwirkenden sozialen Elemente" mit folgenden Worten zurück:
    "Ich glaube nicht, daß die maßgeblichen Vertreter der Grenzwerttheorie Ursache haben, sich durch diesen Vorwurf getroffen zu fühlen. ... Aber nichtsdestoweniger hat  Stolzmann  das große Verdienst, in Eindruck machender Weise auf eine Lücke hingewiesen zu haben, die in der Wissenschaft tatsächlich noch besteht. Ich bin ebenso wie  Stolzmann  davon überzeugt, daß die tatsächliche Gestaltung der in Erscheinungen tretenden Preis- und Einkommensverhältnisse aus dem vereinigten und ineinandergreifenden Einfluß von rein wirtschaftlichen  und  von sozialen Machtfaktoren zu erklären ist. Das große, noch nicht befriedigend gelöste Problem ist nun, die Art und das Maß des von jeder der beiden Seiten stammenden Einflusses darzulegen; darzulegen, wieviel der eine neben dem anderen und eventuell gegen ihn vermag. Dieses Kapitel der Sozialökonomie ist noch nicht befriedigend geschrieben worden. Es sind im Laufe der Zeit verschiedene extreme Irrtümer gelehrt worden. ... Nun, die Wahrheit liegt auch hier gewiß in der Mitte. Allein die genaue Linie, in der sie läuft, ist noch nicht dargelegt worden. Auch von der Grenzwerttheorie noch nicht. Und insofern hat  Stolzmanns  im übrigen recht anfechtbare Kritik einen richtigen Kern. Nur glaubt  Stolzmann  da Irrtum zu sehen, wo nur eine Lücke ist. Die Grenzwerttheorie hat - und zwar aus guten Gründen - zuerst und bisher allein die Wirkungen der rein wirtschaftlichen Momente systematisch und im Detail dargelegt. Die Mitwirkung der sozialen Einflüsse ist von ihr durchaus nicht verleugnet, auch nicht übersehen - ich könnte  Stolzmann  zahllose Belegstellen dafür vorführen - sondern einfach noch nicht  ex professo [professionell - wp] bearbeitet worden.  Stolzmanns  Werk ist ein wirksamer und verdienstvoller Mahnruf, die Lücke zu füllen. Die Theorie muß und wird sich dazu bereit finden lassen."
Die Hoffnungen, welche diese Worte erwecken konnten, sind bisher leider in keiner Weise erfüllt worden. BÖHM-BAWERK selbst hat nunmehr in den "Strittigen Fragen", Seite 100f, a. a. O., die ganze Grundtendenz der sozial-organischen Betrachtungsweise in freundlich-ermahnendem, aber bestimmten Ton abgelehnt. Er bezeichnet ise als eine bloß ephemere [vorübergehende - wp] Gedankenrichtung, "die in Begriff ist, in Mode zu kommen", er nennt sie eine Art "ökonomischer Sezession", "eine Art Freilicht-Manier in der Auffassung unserer sozialen Zustände" usw. usw. LEXIS' und DIETZELs Ansichten, wonach der Kapitalgewinn als eine durch die wirtschaftlichen Machtverhältnisse bedingte historische Einkommenskategorie aufzufassen ist, belegt er mit dem Ausdruck "eins vulgär-ökonomischen Ablegers der sozialistischen Ausbeutungstheorie". Und meine Theorie, nach welcher der Kapitalgewinn, wie alle anderen Wert- und Einkommensphänomene, nur soziale Kategorien im Sinne einer unumgänglichen Vergeltung für "sozialnotwendige" Abfindungsberechtigten darstellen, bezeichnet er - gewiß in einem gänzlichen Mißverständnis meiner Thesen - als eine bloße "Variatnte der Arbeitstheorie". Auch in der neuen Auflage seines Hauptwerkes hält er diese Charakterisierung Seite 648 mit dem Zusatz aufrecht, daß meine Theorie allerdings "manche originellen Züge aufweist und zugleich jedenfalls die sorgfältigste und geschlossenste Durchführung darstellt, welche der Gedanke der Arbeitstheorie bisher gefunden hat".

Ich muß sowohl das Lob wie den Tadel ablehnen, der in diesen Worten des von mir hochverehrten Mannes liegt. Ich ersehe aber aus denselben, wie sehr hier eine Aufklärung vonnöten ist. Auch im übrigen läßt der ganze Inhalt der neuen Auflage von BÖHMs keine Hoffnung mehr, daß die österreichische Schule sich zur Ausfüllung der anerkannten "Lücke" anschicken wird. Mit keinem Wort ist mehr die Rede davon. Ich muß befürchten, daß schließlich auch von BÖHM-BAWERK in ganzer Schärfe am naturalistisch-subjektivistischen Dogma festgehalten wird, das der Begründer der Schule ein für allemal mit den Worten gekennzeichnet hat:
    "Der ökonomische Charakter der Güter ist in keinerlei Weise an die Vorbedingung der menschlichen Wirtschaft in ihrer  sozialen  Erscheinung geknüpft." (Anton Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, Wien 1871)
Weit entfernt, die Ableitung des Wertes und der Einkommensbezüge aus der Eigentumsordnung vorzunehmen, wählen MENGER wie BÖHM-BAWERK eher den umgekehrten Weg: Die Eigentumsordnung sichert und sanktioniert nur, was sich schon  a priori  aus der Bedeutung der rein-wirtschaftlichen Grundelemente ergibt (vgl. Soziale Kategorie, Seite 171, 172 und 281).

Kein Wunder daher, führte ich bereits ()ebenda Seite 187f) aus, wenn MENGER "zu den seltsamsten (!) wissenschaftlichen Streitfragen" diejenige rechnet, ob die Bodenrente bzw. der Kapitalzins vom moralischen Standpunkt aus berechtigt oder unmoralisch ist.
    "Ich glaube nämlich", sagt er dort, "daß unsere Wissenschaft u. a. wohl auch die Ursachen zu erforschen hat, warum und unter welchen Voraussetzungen die Bodennutzungen bzw. die Kapitalnutzungen für uns Güter sind, den ökonomischen Charakter aufweisen, Wert erlangen und schließlich im Güterverkehr erscheinen, also für dieselben Quantitäten anderer ökonomischer Güter (Preise) erlangt werden können, - daß diese Frage nach dem rechtlichen oder moralischen Charakter dieser Tatsachen aber  außerhalb der Sphäre unserer Wissenschaft  liegt. Wo immer die Boden- und Kapitalnutzungen Preise haben, überall dort ist dies die Folge des Wertes; dieser letztere ist aber nichts Willkürliches; die Preise der obigen Güter (die Bodenrente und der Kapitalzins) sind demnach das  notwendige Produkt der ökonomischen Sachlage,  unter welcher sie entstehen und werden umso sicherer entrichtet, je ausgebildeter der Rechtszustand eines Volkes und je geläuterter dessen öffentliche Moral ist. Wohl mag es für den Menschenfreund betrübend erscheinen, daß die Verfügung über ein Grundstück oder ein Kapital innerhalb eines bestimmten Zeitraums dem Besitzer nicht selten ein höheres Einkommen gewährt als die angestrengteste Tätigkeit dem Arbeiter innerhalb desselben Zeitraumes. Der Grund hiervon ist jedoch kein unmoralischer, sondern liegt darin, daß in den obigen Fällen eben von der Nutzung eines Grundstücks, bzw. jenes Kapitals die Befriedigung wichtigerer menschlicher Bedürfnisse  abhängig  ist als von den in Rede stehenden Arbeitsleistungen. Die Agitation jener, welche einen größeren Anteil der einer Gesellschaft verfügbaren Genußmittel den Arbeitern zugewendet sehen möchten als dies gegenwärtig der Fall ist, verlangen demnach, soweit dieses Begehren nicht Hand in Hand mit einer tüchtigeren Ausbildung des Arbeiterstandes geht oder sich auf eine freiere Entfaltung der Konkurrenzverhältnisse beschränkt, nichts anderes als eine Entlohnung der Arbeit  über ihren Wert,  das ist eine Entlohnung der Arbeiter nicht so sehr nach dem, was ihre Leistungen  der Gesellschaft wert sind,  als vielmehr nach dem Maßstab einer würdigeren Existenz derselben, einer möglichst gleichen Verteilung der Genußmittel und Mühseligkeiten des Lebens. Die Lösung der Frage auf dieser Grundlage hat nun aber allerdings eine völlige Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse zur Voraussetzung."
Ich bemerkte schon damals (a. a. O., Seite 188) zu dieser für das Wesen der Grenznutzenlehre markantesten aller markanten Stellen: Nun werden die Sozialisten sagen, dann  wollen  wir diese unleidlichen Verhältnisse eben von Grund auf umgestalten. Man sieht, zu welchen Konsequenzen die MENGERsche Lehre führt, zum Ausschluß aller durchgreifenden sozialen Reform oder - zum Umsturz. Ein Trost nur, daß MENGERs Lehre falsch ist. Nein, die Größen der Anteile am Produkt sind mitnichten durch die "Natur" allein gegeben, sie sind nicht "ehern". Sie hängen mit den menschlichen Einrichtungen zusammen, sie sind zum Teil Menschenwerk und können und werden zu diesem Teil auch von den Menschen geändert werden!

Wie längst verklungene Töne aus alten Zeiten muten uns heute jene MENGERschen Gedanken an. Wir werden zurückversetzt in die nahezu vergessene Traumwelt der wirtschaftlichen Harmonie-Apostel aus der alten Schule der Naturrechtslehre, auf deren Boden dann die Manchesterschule und die liberale Freihandelslehre ihr ausgelebtes  Laissez-faire-Prinzip [machen lassen - wp] begründet haben. Ich kann keinen Unterschied erkennen, durch den sich im praktischen Schlußergebnis die MENGERschen Ausführungen von jenem "Extrem" der Betrachtungsweise abheben, das von BÖHM-BAWERK bei der Besprechung meines Buches an der schon oben in Bezug genommenen Stelle (a. a. O. Seite 426) so zutreffend schildert:
    "Das eine Extrem scheint mir die ältere Lohnfondtheorie zu bezeichnen, welche jeden Versuch, die Höhe des Arbeitslohnes durch künstliche Einwirkung, durch etwas, was wir heute eine sozialpolitische Maßregel nennen würden, zu beeinflussen, mit dürren Worten für eine hoffnungslose Torheit erklärt, weil die gegebene wirtschaftliche Sachlage jeweils einen ganz bestimmten Lohnsatz und nur diesen erfordert und ermöglicht."
Ich könnte hier mit ganz denselben Worten dem verehrten Schriftsteller erwidern, mit welchem er mir den leisen Vorwurf einer Hinneigung zum entgegengesetzten Extrem, dem sozialistischen, macht. Ich könnte sagen:  "von Böhm-Bawerk  scheint mir jenem  ersten Extrem  ganz nahe zu stehen, ohne daß er sich selbst klar darüber wäre, wie nahe er ihm steht." Und ich könnte diesen Vorwurf mit all den Belegen begründen, die ich in stattlicher Anzahl im Laufe dieser Schrift aus von BÖHMs eigenen Werken vorzubringen haben werden. Hier sei nur ganz vorläufig auf folgenden Ausspruch hingewiesen: "der Kapitalzins ist keine zufällige  historisch-rechtliche Kategorie",  sondern stellt sich als eine  "ökonomische Kategorie"  heraus, "die elementaren ökonomischen Ursachen entspringt und darum ohne Unterschied der Gesellschaftsorganisaton und Rechtsordnung" zum Vorschein kommt und "sogar in der einamen Wirtschaft eines  Robinson"  im Grundzug nicht fehlen könnte ("Kapital und Kapitalzins", 2. Teil, Seite 398).

Diese und ähnliche Sätze gleichen sich auf ein Haar denjenigen BASTIATs in seinen "Wirtschaftlichen Harmonien", wo dieser Gedanken ausführt, welche ebensogut jeder Grenznutzenlehrer als Programm seiner eigenen Theorie hätte niederschreiben können. BASTIAT sagt:
    "Die ökonomischen Gesetze wirken ihrem Prinzip nach überall gleich, es mag sich nun von einer Menge von Menschen, von zweien oder von einem einzigen handeln, der durch die Umstände gezwungen ist, isoliert zu leben. Der Einzelne, wenn er überhaupt eine Zeitlang so leben könnte, würde nur Kapitalist, Unternehmer, Arbeiter, Produzent und Konsument in einer Person sein und die ganz ökonomische Entwicklung müßte sich an ihm allein vollziehen. Aber wollte er nur jedes Element dieser Entwicklung mit Sorgfalt beobachten - das Bedürfnis, die Arbeit, die Befriedigung, die Nutzbarkeit, welche die Natur umsonst liefert, und die welche Arbeit kostet ... - so würde er dennoch eine richtige Vorstellung vom ganzen wirtschaftlichen Mechanismus gewinnen können, obgleich dieser auf seinen einfachsten Ausdruck zurückgebracht wäre."
"Das ist grundfalsch", so beginnt schon RODBERTUS seine klassische Polemik, in welcher er, ("Kapital", Seite 71f) unter trefflicher Darlegung des sozialorganischen - er sagt: des "staatswirtschaftlichen" oder "kommunistischen" - Charakters der Volkswirtschaft gegen solche Anschauungen zu Felde zieht.

Allerdings stellt nun die von RODBERTUS zum ersten Mal in unserer Wissenschaft zur Geltung gebrachte und jetzt auch von mir aufgenommene sozialorganische Betrachtungsweise ein "Extrem" - ich möchte lieber sagen: einen "Gegensatz" - zu der Auffassung der "älteren Lohnfondtheorie" dar. Aber ich muß an die unbefangene Instanz meiner Lehre darüber appellieren, ob den von BÖHM-BAWERK dieses Extrem, diesen Gegensatz, richtig erfaßt und gekennzeichnet hat. Er sagt a. a. O.:
    "Das entgegengesetzte Extrem scheinen mir die sozialistischen Theorien zu repräsentieren, welche in der Grundrente und im Kapitalzins das ausschließliche Produkt eines brutalen Nehmens, also kein naturgemäßes wirtschaftliches, sondern ein ganz und gar künstliches Machtphänomen erblicken.  Stolzmann  scheint mir diesem zweiten Extrem ganz nahe zu stehen, ohne daß er sich selbst klar darüber ist, wie nahe er ihm steht."
Nun, ich begegne mich mit dem verehrten Schriftsteller in dem ernsthaften Bestreben, bezüglich dieses für Theorie und Praxis gleich wichtigen Punktes eine vollständige Klarheit zu schaffen.

Um es kurz zu sagen, von BÖHM-BAWERK scheint hier  zwei  logisch denkbare, aber wohl auseinander zu haltende Antithesen (Extremreihen) miteinander vermengt zu haben, die sich als zwei getrennte große Probleme in folgenden beiden grundverschiedenen Alternativen ausdrücken lassen. Die  erste  Alternative deckt sich mit dem schon oben gekennzeichneten Problem, das die Frage zum Gegenstand hat, ob man die Erklärung der volkswirtschaftlichen Wirklichkeit aus den rein-ökonomischen, natur gegebenen Prämissen vornimmt, was dann die Darstellung der Volkswirtschaft als eines Naturgebildes, also im BÖHM-BAWERKschen Ausdruck als eines naturgemäß wirtschaftlichen Produkts" zur Folge hat,  oder  aber, ob man jene Erklärung aus den in der Wirtschaftsverfassung gegebenen  Sozialprämissen  vornehmen soll, wonach dann die volkswirtschaftlichen Verhältnisse ein Ergebnis der sozialen Regelung oder, wie von BÖHM sagt: ein bloßer Ausdruck ganz und gar "künstlicher Machtphänomene" sind.  Grundverschieden hiervon ist die andere Antithese.  Sie geht auf die Entscheidung der Frage, ob die bestehende Volkswirtschaft,  sei  sie nun ein Naturgebilde  oder  ein Sozialprodukt, mit dem Prädikat  gut oder schlecht  zu belegen, ob also die wirtschaftlichen Erscheinungen von einem  moralischen Standpunkt  aus zu billigen oder zu verwerfen, ob sie, um wiederum von BÖHMsche Worte zu gebrauchen, der sich an anderen Stellen bedient, "ohne Makel" sind  oder  ob man sie mit dem Ausdruck "brutal" zu bezeichnen hat.

Nun kann aber doch die Volkswirtschaft, auch wenn man sie als Naturgebilde betrachtet, an sich gut  oder  schlecht sein, ganz dasselbe ist jedoch denkbar, wenn man sie als Ergebnis einer sozialen Regelung ansieht. Durch eine Versetzung der Glieder jener beiden Antithesenreihen erhalten wir so  vier  Hauptgruppen von möglichen Kombinationen, und die vier denselben entsprechenden Anschauungsweisen sind der Reihe nach - freilich in allen möglichen Unterarten und Nuancierungen - von den verschiedenen Lehrrichtungen vertreten worden. Die Vertreter des  ordre naturel [Naturordnung - wp] haben allerdings häufig nur die erste Variante vertreten, indem sie die Harmonie und Vortrefflichkeit der bestehenden Wirtschaftsordnung verteidigten. Aber dies taten sie nicht immer, sie haben die bestehende Wirtschaftsordnung vielfach als eine wahre Inkarnation [Wiedergeburt - wp] von Ungerechtigkeit und Scheußlichkeit gekennzeichnet. Nur meinten die einen, daß man dagegen mit aller Moral nichts ausrichten kann, weil der Natur der Dinge nicht zu entrinnen ist, die anderen meinten mit gänzlich deplaziertem Augenaufschlag, daß Gottes unabänderlicher Wille den Gegensatz von reich und arm, von Glück und Elend geschaffen hat. Ganz ebenso haben aber auf der anderen Seite auch die Vertreter der  sozial-organischen  Auffassung ganz verschiedene Moralurteile über unser volkswirtschaftliches System ausgesprochen und sich damit je nachdem zur dritten  oder  vierten Variante bekannt, indem sie sich entweder als überschwängliche Optimisten oder als unheilbare Pessimisten in der Beurteilung des Bestehenden zeigten.

Neben den so gekennzeichneten vier Gruppen, welche das rein erklärende Moment mit dem moralischen verbanden, gab es aber und gibt es solche Theorien, die es als eine wissenschaftliche Notwendigkeit erachten, alles Moralisieren  beiseite  zu lassen und scharf theoretisch-objektiv am reinen und unverfälschten  Erklärungsprinzip  festzuhalten,  sei  es, daß sie es in der "Natur",  sei  es, daß sie es in der sozialen Regelung zu finden vermeinen. Ich bin so bescheiden, oder soll ich sagen so anmaßend, mich der letzteren Richtung zuzuzählen.

So habe ich, wie schon oben berührt, in meiner "Sozialen Kategorie" immer wieder das ernsthafte Bemühen gezeigt, Politik und Moraltendenz von allen meinen theoretischen Untersuchungen strengstens fernzuhalten. (vgl. etwa Seite 9, 10 und 422 a. a. O.) An letzterer Stelle sage ich: Meiner ausgesprochenen und hoffentlich einigermaßen durchgeführten Tendenz - wenigstens für diesen ersten Teil - liegt das, ich möchte sagen ängstliche, Bestreben zugrunde, nichts zu "rechtfertigen" und niemanden anzuklagen, sondern einfach zu  erklären,  zu  beschreiben,  die tatsächlichen wirtschaftlichen Werterscheinungen als notwendige, als durch die bestehende Wirtschaftsordnung gegebene und logisch unvermeidliche Kausalfolgen zu erweisen, für diesen Erweis aber etwas bisher einigermaßen Vernachlässigtes nachzuholen, nämlich dem bestehenden Wertbildungsgesetz aus der "Sozialen Kategorie" heraus näher zu kommen. Wenn mich von BÖHM (a. a. O., Seite 422) einen Schriftsteller nennt, "der die wissenschaftlicher Ehrlichkeit und Gewißhaftigkeit selbst ist", so wird er mir die Ausdehnung dieses  Epithetons [Zusatz - wp] auch auf mein Bestreben einer tendenzlosen Untersuchung nicht versagen.

Er beginnt ja auch seine Kritik in der Tat ganz zutreffend mit meinem - korrekt wiedergegebenen - Leitmotiv:
    "daß die tatsächliche Gestaltung ... der ... Verhältnisse aus dem ... Einfluß von rein wirtschaftlichen  und  von sozialen Machtfaktoren zu erklären ist."
Hier ist also durch sachlich nur von der oben beschriebenen ersten Alternative die Rede. Diese und  nur diese  bildete den Gegenstand meiner Untersuchung. Nun aber schleicht sich in den von BÖHMschen Gedankengang ganz unerwartet die zweite - moralische - Alternative ein, er spricht in der wiedergegebenen Stelle von einem sozialistischen Extrem, zeichnet dies als erklärendes  und  als moralisches, letzteres z. B. direkt in den Worten "brutales Nehmen", und meint dann, daß  ich  diesem Extrem unbewußt nahestehe. Dies kann unmöglich zutreffen; denn ich habe doch nirgends behauptet und behaupte es auch heute nicht, daß die Einkommensverhältnisse ein Ergebnis "brutalen Nehmens", einer "Ausbeutung" oder sonst dgl. sind. Ich behaupte nur, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse schlecht und recht auch, und ganz besonders als ein Ergebnis der sozialen Regelung, rein  kausal  gedacht, zu  erklären  sind. Dieses Ergebnis, ich muß es immer wiederholen, kann  gut,  es kann  schlecht  sein, es kann Licht- und Schattenseiten zu gleicher Zeit aufweisen. Ob das eine oder das andere, das hängt lediglich mit dem moralischen Sondermaßstab zusammen, den der Beobachter an die Dinge legt, geht jedoch den "reinen" Theoretiker, welcher allerdings eine sehr rar gewordene Spezies geworden ist, zunächst ganz und gar nichts an.

Ich kann mich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, daß von BÖHM  bei mir  gewissermaßen als selbstredend voraussetzt, was  bei ihm - vielleicht unbewußterweise in Gedanken vereinigt ist, nämlich die Verbindung der theoretischen Erklärung der Volkswirtschaft mit ihrer moralischen Würdigung. Er scheint anzunehmen, daß bei mir die soziale Erklärung mit der moralischen Verwerfung des Bestehenden begrifflich verbunden ist. Aber vielleicht irre ich mich; denn es ist doch kaum glaubhaft, daß ein Mann vom Schlage BÖHM-BAWERKs sich nicht längst von dem leider immer noch populären Irrtum freigemacht haben sollte, welcher die "soziale" Betrachtung urteilslos mit der "sozialistischen" Denkweise zusammenwirft, ein Vorurteil, das allerdings bis vor kurzem noch wie ein schwerer Alp [Gespenst - wp] über dem wirtschaftlichen Denken und Handeln gelastet hat. Aber wenn von BÖHM diesen - ganz gefährlichen - Irrtum nicht teilt, woher ist dann die so typische Bezeichnung eines "vulgär-ökonomischen  Ablegers  der sozialistischen Ausbeutungstheorie" zu erklären, womit er die sozial-organische Betrachtungsweise bedenkt? Weshalb bezeichnet er die einer solchen Betrachtungsweise entsprechenden Sätze als "erratische Blöcke", als "unorganische Eindringlinge", welche zwar durch die lautersten Bestrebungen, wie "Sympathie für das Los der Enterbten" und solches mehr hervorgerufen seien, aber doch für eine Außerachtlassung der "in unseren Tagen so oft übersprungenen Grenzlinie" Zeugnis ablegten, nämlich der "Grenzlinie zwischen theoretischen und praktischen Problemen, zwischen Kopf und Herz."

Hier merkt man vielleicht, worauf von BÖHM hinauswill: er nimmt die soziale Betrachtungsweise nicht für voll, er erkenntnis sie nicht als gleichberechtigt mit der rein-wirtschaftlichen an, er erkennt ihr keine Ebenbürtigkeit zu, sie ist nur eine häretische Abspringung vom allein orthodoxen Prinzip, und diese Abspringung ist eigentlich keine solche von wirklich theoretischer Natur, sie ist ein  moralischer  Ableger. Nein, so bescheiden ist dieser Ableger nur schwer. Er prätendiert [vorgeben - wp] volle Ebenbürtigkeit, ja er macht  horribile dictu [es ist furchtbar, dies sagen zu müssen - wp] Anstalten, sich als volles Erklärungsprinzip an die Stelle der "naturgemäßen" Erklärung zu setzen. Es handelt sich um etwas viel Schlimmeres, als um "Grenzstreitigkeiten". Die soziale Kategorie will sich nicht als Fremdling in einem ihr grundsätzlich nicht zugehöriges Territorium einnisten, sie will keine moralischen Kuckuckseier in ein fremdes Nest legen, in das Nest der rein theoretischen Erklärung, sie will sich ihr eigenes Nest bauen.  Wollte  sie allerdings die ihr zugeschriebene Vermengung des theoretischen Moments mit dem moralischen vornehmen, so verdiente sie einen viel schlimmeren Vorwurf, als ihn von BÖHMs liebenswürdige und nachsichtige Feder erhebt; denn sie wäre dann nichts anderes als ein einziger großer Denkfehler, ein grober logischer Verstoß.

Nebenbei gesagt, möge sich von BÖHM-BAWERK mit den Sozialisten selbst darüber auseinandersetzen, ob seine Schilderung auf sie zutrifft, wonach sie extreme Anhänger des von mir befürworteten sozialen Erklärungsprinzips sein sollen. Die  Marxisten  zumindest, und sie haben in ihrem Lager trotz BERNSTEIN die Oberhand behalten, würden sich diese Gemeinschaft ernsthaft verbitten, wie ich mir umgekehrt diejenige mit ihnen. Aus der überreichen Literatur der letzten Jahre über MARX und den naturalistischen Sozialismus ja hinlänglich bekannt, wie MARX und alle seine orthodoxen Anhänger über diese Sache denken. Sie sehen den Ursprung und Kern der kapitalistischen Wirtschaftsverfassung wie den aller anderen historisch vorhergegangenen Gesellschaftsformationen gerade  nicht  in "künstlichen" Machtphänomenen begründet, sondern sie lassen ihn wie diese aus der "natürlichen Dialektik der den materiellen Produktionsbedingungen immanenten Potenzen" erstehen:
    "Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in einem rosigen Licht. Aber ... weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen (!) Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag." (Karl Marx, erstes Vorwort zu Bd. I des "Kapitals", Seite VIII)
Ich frage, ob diese Herleitung des Kapitalismus aus einem "naturgeschichtlichen Prozeß" nicht viel eher Anklänge an die oben skizzierten Gedankengänge der Grenznutzenlehre, als an die Erklärung der wirtschaftlichen Erscheinungen aus dem sozialen Menschenwerk und aus der sozialen Kategorie enthält, wobei letztere ihr eigentliches Wesen ja gerade in der strengen  Scheidung  der menschlichen Willenshandlungen und ihrer geistigen Schöpfungen von den sie allerdings bedingenden und voraussetzenden materiellen Naturprozessen findet.

Difficile est, satiram non scribere. [Schwer ist es, keine Satire zu schreiben. - wp] Wenn ein Scherz in einer so ernsten Sache erlaubt ist und von BÖHM mir gegenüber das soziale Erklärungsprinzip mit dem moralischen Ausbeutungssystem zu verquicken scheint, so könnte ich den Schluß ziehen, daß weil von BÖHM mit MARX an einem naturwissenschaftlichen Erklärungsprinzip festhält, er  seinerseits  zum sozialistischen Extrem hinneigen muß. Nun, das liegt mir fern, schon aus dem einfachen Grund, weil bei Licht besehen, der ganze Naturalismus und "Materialismus" der MARXschen Richtung nicht waschecht ist. Er ist, wie im Laufe dieser Schrift nachzuweisen sein wird, gar nicht ernst zu nehmen. Er ist nichts als ein plausibler Vorwand, den sich MARX, als ursprünglich  bürgerlicher  Revolutionär, absichtlich oder in Selbsttäuschung nachträglich zurecht gelegt hat. Ein wirklicher Ethiker - und MARX ist sogar ein revolutionärer Ethiker - kann  gar nicht  Materialist  sein. Das ist logisch und begrifflich ausgeschlossen. MARX bezeichnet ja selbst die Ideen und damit doch auch die Ethik als das bloß in einem Menschenkopf umgesetzte Materielle, Staat und Gesellschaft als bloßen juristischen und politischen "Überbau" auf dem materiellen Grund der jeweiligen Produktionsverhältnisse, mit deren allmählicher Veränderung er sich nach seiner Ansicht gleichzeitig von selbst vorwärts schiebt. Bei einer solchen Anschauung bleibt ja gar kein Platz für ein menschliches Wollen, es gibt keine Ethik, es kann niemand für etwas verantwortlich gemacht werden, was dem Naturnotwendigen entstammt, am wenigsten bleibt für eine selbstbewußte Politik irgendein noch so kleines Feld der Betätigung übrig. In Wahrheit ist dann auch MARX keineswegs Materialist in diesem leidenden Sinn. Wie u. a. von WENCKSTERN und WOLTMANN in den angeführten Schriften nachgewiesen haben, ist er durch und durch Ethiker, so sehr er den Schein abwehrt und sich in das materialistische Mäntelchen einhüllt. MARX hat einen sehr ausgeprägten Willen. Aber er macht es, wie es schon viele falsche Propheten gemacht haben, sie legen das, was sie wollen, irgendeiner höheren geheimnisvollen und unkontrollierbaren Macht als Willen unter, vor der dann die gläubige Masse der Einfältigen umso leichter ihre Knie beugt. MARX ist Revolutionär im innersten Grunde seines Herzens, aber es paßt ihm, lieber die "Materie" an seiner Stelle den Rebellen spielen zu lassen, um dann mit umso größerem Nachdruck sagen zu können: die Gesellschaft geht bereits selbst mit einer neuen Ordnung schwanger, sie ist dem "Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen". Zwar "kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieen.  Aber!  sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern." (Marx, Vorwort zu Kapital I). Mit dieser "Aber" wird die Hintertür offen gelassen - für eine Revolution und wenn es ausnahmsweise in den Plan paßt auch einmal für eine Reform. In dieser "zweiten Garnitur", wie sie STAMMLER so trefflich bezeichnet hat, "hält man sich dann ein Mittel bereit, den "Willen der Materie" - soll heißen: den eigenen Willen - zur rechten Zeit zur Vollstreckung zu bringen. MARX ist ein verkappter Idealist und Ethiker!

Behält aber von BÖHM deshalb Recht? Durfte er deshalb die von mir vertretene sozial-organische Erklärungsmethode mit dem Sozialismus vergleichen? Nimmermehr! Gerade weil MARX das rein erklärende Prinzip mit dem moralischen Werturteil und der politischen Tendenz unzulässigerweise verquickt hat, durfte von BÖHM diese Richtung des Sozialismus überhaupt nicht mit meiner Methode vergleichen. Er mußte hier überhaupt alle Moral aus dem Spiel lassen, wie es derjenige Schriftsteller getan hatte, dessen Kritik er unternahm. Mögen sich Sozialisten und Nichtsozialisten die seitens von BÖHMs gerügten "Grenzüberschreitungen" haben zuschulden kommen lassen, deswegen darf er noch lange nicht ganze Richtungen rein-theoretischer Art verdammen, wenn sich zufällig auch Sozialisten hier und da desselben Prinzips wie sie bedient, aber dasselbe durch hineingetragene moralische und politische Tendenzen mißbrauch und verunstaltet haben. Mögen die Naturalisten nur vor ihrer eigenen Tür fegen! Im Verlauf dieser Schrift wird sich überreiche Gelegenheit finden,  ihnen  zur Last fallende Grenzverletzungen zwischen dem Gebiet von Theorie und Moral vor Augen zu halten.

Niemand mehr wie ich stimmt ja mit von BÖHM darin überein, daß "die Fragen der reinen Theorie, die Fragen des kausalen Zusammenhangs der Dinge" in ein Gebiet fallen, "welches eine reine Domäne des Kopfes" ist, "dessen leidenschaftsloses Forschen sich nicht beirren lassen darf durch irgendwelche Einflüsterungen des Herzens." "Hier gilt nicht Sympathie oder Antipathie, auch nicht Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit, sondern einzig und allein die Wahrheit." Und von BÖHM mahnt deshalb mit Recht: "so entspringt für die Theorie die verschärfte Pflicht, Wache zu halten über ihre eigene Unbefangenheit gegenüber jedweder Modeströmung, von welcher Seite sie auch kommt". Nun aber folgen die überaus bezeichnenden Worte:
    "Glücklicherweise scheint mir auch die Sache so zu liegen, daß mit der vollen, ungeschminkten Wahrheit - je ungeschminkter desto besser - allen Parteien am besten gedient ist. Gesetzt, es wäre wirklich so, wie ich überzeugt bin, die Arbeitswerttheorie und die damit zusammenhängende Ausbeutungstheorie ein theoretischer Irrtum; könnten da die arbeitenden Klassen ein wohlverstandenes Interesse daran haben, daß diese falsche theoretische Meinung Bestand und Verbreitung erlangt? Ich glaube nicht. Sie würden ja damit doch nur erreichen, daß für gewisse soziale Übel, über die sie sich beklagen und gegen welche sie eine zweckmäßige Abhilfe wünschen, eine falsche Diagnose gestellt würde; und ich habe niemals gehört, daß eine falsche Diagnose für ein zweckmäßiges, erfolgreiches Heilverfahren förderlich ist. Das erste, und zwar für alle Parteien gemeinsame Interesse ist vielmehr, daß wir die Ursachen der Erscheinungen richtig erkennen: tun wir das, dann werden wir auch die Ursachen der bestehenden Übel richtig erkennen, und dann werden wir weiter in der Lage sein, nicht quacksalberisch, sondern mit vernunftgemäßen erfolgversprechenden Maßregeln diesen Übeln an den Leib zu rücken."
Gut. Wie in aller Welt sollen sich denn nun aber die Anhänger des entgegengesetzten Gedankens verhalten, welche wie ich, ebenfalls rein theoretisch, "kühl bis ans Herz" forschend, als "volle und ungeschminkte Wahrheit" die nicht wegzuleugnende schlichte  Tatsache  feststellen zu müssen glauben, daß erst die  gegebene  soziale Regelung, wie sie leibhaftig in unserer Rechts- und Wirtschaftsordnung verkörpert vor uns liegt, die entscheidende Erkenntnis des wirilichen und wahren kausalen Zusammenhangs der Dinge liefert, und welche meinen, daß es gerade die Grenznutzenlehre ist, welche den theoretischen Befund, in Verkennung jenes kausalen Zusammenhangs, einseitig und deshalb unrichtig dargestellt hat? Soll ein Vertreter dieser sozialen Betrachtungsweise etwa deshalb seine Waffen strecken, weil angeblich  auch  Sozialisten Anhänger seines Erklärungsprinzips sind und aus demselben unhaltbare  politische  Folgerungen und Forderungen gezogen haben? Muß nicht gerade umso unentwegter und nüchterner an seinem Prinzip festhalten und das wieder gut zu machen suchen, was jene durch eine Hineintragtung der politischen Tendenz an jenem gemeinsamen Erklärungsprinzip gesündigt haben? Was wäre es denn für ein Schaden, wenn Anhänger und Feinde der bestehenden Gesellschaftsordnung zwar im politischen Wollen verschiedene Wege gingen, sich aber im Erklärungsprinzip auf einem gemeinsamen Boden begegnen würden? Nicht ein Schaden wäre das, sondern ein gar nicht hoch genug zu veranschlagender Vorteil. Freund und Feind müssen mit gleichen Waffen kämpfen, sie hauen sonst ewig daneben, sie verstehen sich gar nicht und reden aneinander vorbei, wie uns dies STAMMLER (a. a. O., Seite 58f) so allerliebst in dem "Dialog des Bürgers und des Sozialisten" vor Augen geführt hat.
    "Darum",  sagt  Stammler,  "hat der Kampf mit geistigen Waffen gegenseitig noch nichts helfen wollen ... Die Gegner fanden sich gar nicht; sie trafen sich nicht und konnten sich nicht treffen. Es war der Kampf der Bären mit dem Haifisch."
Es ist wahr, die soziale Kategorie ist ein schneidiges Messer; aber wegen seiner Schneidigkeit, kann es doch nicht beiseite gelegt werden, man muß nur dafür sorgen, daß nicht Ignoranten und böswillig Gesinnte ihr Unwesen damit treiben. Und darin hat von BÖHM allerdings etwas Recht, wenn er meint, daß sich die neue Richtung
    "bis jetzt weder als eine richtige Theorie, noch auch als eine falsche Theorie, sondern als eine theoretische Behauptung, als eine Ansichtsäußerung präsentiert hat, für welche eine geschlossene theoretische Erklärung zu geben bis jetzt noch gar nicht versucht worden ist."
Ich weiß übrigens nicht, ob von BÖHM, als er diese Worte niederschrieb, schon das Werk STAMMLERs gelesen hatte. Davon, daß ich selbst allerdings in dem Wahn befangen war, als hätte  ich  in meiner "Sozialen Kategorie" zumindest in den allergröbsten Umrissen schon erfüllt, was von BÖHM hier mit vollem Recht als Forderung aufstellt, davon will ich schweigen. Ich will im Folgenden versuchen, das etwa Versäumte nachzuholen, soweit es in meinen Kräften steht.

Wie nun aber, wenn es gelingt, die theoretische Sozialökonomie auf diesem neuen Fundament aufzubauen? Wie kann dann, so frage ich meinerseits, irgendeine Klasse im Staat noch ein wohlverstandenes Interesse daran haben, daß dann jene alte und überlebte Anschauungsweise, welche von BÖHM der älteren Lohnfondtheorie zuschreibt, und als deren "Ableger" nach meiner Auffassung vielleicht gerade die Grenznutzenlehre in Betracht kommt, weiteren Bestand und Verbreitung erlangt? Ich glaube  mit  BÖHM-BAWERK, daß eine Vogelstraußpolitik nicht zum Heil hilft. Ich glaube, daß es  keiner  Klasse vorteilhaft ist, wenn sie nichts neues lernt und auch das alte nicht vergessen kann. Ich gehe dann freilich nicht gleich so weit, wie von BÖHM, wenn er beansprucht, daß die neue Richtung ihrerseits auch gleich die "Diagnose für das richtige Heilverfahren" stellt. Das wäre viel zuviel verlangt. Denn die Diagnose bedeutet schon die Feststellung der Krankheit, das heißt, sie würde auf unserem Gebiet bedeuten, daß die Theorie wieder einmal ein moralisches Urteil abgeben soll, was sie eben begrifflich nicht will und nicht soll. Sie hat ja eben nur zu erklären, sie hat es mit keinem konkreten pathologischen, sondern lediglich mit dem allgemeinen anatomischen Befund zu tun, sie will nur den regulären Bau und das reguläre Leben des großen Wirtschaftskörpers darstellen.

Hält man so alle Tendenzen vom sozial-organischen Erklärungsprinzip fern, so ist gar nicht einzusehen, wie dasselbe gerade zum sozialistischen Extrem führen muß. Ich meine, daß sich gerade das Gegenteil ereignen könnte. Es könnte sich denkbarerweise herausstellen, daß die bestehende Gesellschaftsordnung, auch wenn sie als historisch variables Menschenwerk, als geistige Schöpfung betrachtet wird, oder vielleicht gerade  deshalb,  ganz leidlich den ethischen Anforderungen unserer Zeit entspricht, und daß die ihr anhaftende Schwäche nur der allgemeinen menschlichen Unvollkommenheit sowie dem Umstand zugute zu schreiben ist, daß man es nicht  allen  gleichzeitig recht machen kann und Kompromisse unvermeidlich sind. Man könnte vielleicht gerade von diesen Gesichtspunkten aus zu dem Schluß gelangen, daß die Menschheit, wenn sie  noch einmal  ihren Weg in freier Selbstbestimmung zurücklegen könnte oder müßte, sie die kapitalistische Wirtschaftsordnung  faute de mieux [in Ermangelung etwas Besserem - wp] noch einmal aufrichten würde. Und sie würde sich bei diesem Standpunkt vielleicht umso eher mit dem Bestehenden aussöhnen, wenn sie so einsähe, daß trotz diesem und jenem eine "Vernunft in der Weltgeschichte" ist, und daß ENGELS wohl doch nicht so ganz Recht hat, wenn er, in einem Brief aus dem Jahre 1890, von den ideologischen Gebieten der Wissenschaft (Religion, Philosophie, Jurisprudenz, Politik usw.) sagt, daß sie "einen vorgeschichtlichen, von der geschichtlichen Periode vorgefundenen und überkommenen Bestand von - was wir heute  Blözinn  nennen" hat und dann die denkwürdigen Worte spricht:
    "Die Geschichte der Wissenschaften ist die Geschichte der allmählichen Beseitigung dieses Blözinns, bwz. seiner Ersetzung durch neuen, aber immer weniger absurden Blözinn."
Weitgefehlt also, daß das sozial-organische Erklärungsprinzip zu politischen Extremen führen muß, bin ich der Ansicht, daß sie erst den neutralen Boden der Verständigung oder, was schon viel wäre, des gegenseitigen Verstehens, schaffen kann. Auf diesem Boden ist keine Raum mehr für unfruchtbare Überschwänglichkeiten. Hier heißt es nicht mehr Stillstand  oder  Umsturz, hier kommen nicht extravagante Qualitäts-, sondern nur nüchterne Quantitätsfragen zur Entscheidung. Die Politik auf diesem Grund bedeutet nur die kontinuierliche Fortspinnung des ethischen Fadens, der sich in einer ununterbrochenen Kette aus den Gesellschaftsformationen der Vergangenheit und der Gegenwart in diejenigen der Zukunft hinüberzieht. Dieses Prinzip ist für die tatsächliche Entwicklung der Dinge im einzelnen nicht präjudizierlich [nicht im Voraus entscheidbar - wp]. Ihr Gang wird sich ganz nach dem Temperament der Völker und Klassen richten und nach den sozialen und technischen Aufgaben und Fragen, welche die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse im gegebenen Fall zur Entscheidung stellen. Da die sozialen und ethischen Kategorien "historische", d. h. schon begrifflich variabel sind, tragen sie jeweiligen Ausschreitungen ihre Schranke ganz von selbst in den rein-ökonomischen Widerständen der natürlichen Produktivität und der Natur der menschlichen Psyche. Die sozial-organische Methode behandelt ja diese rein-ökonomischen Vorbedingungen keineswegs als eine zu vernachlässigende Quantität, sie dringt auf ihre volle Berücksichtigung und fügt sie als Bestandteile in ihr System ein.

Ob sich die von der Grenznutzenlehre befürwortete Methode gleicher Anpassungsfähigkeit rühmen kann ist mehr als zweifelhaft. Eine von ihr ausgehende Politik ist in ihrer Beweglichkeit und in ihrem Fortschritt schon begrifflich auf die Ausgestaltung der rein-wirtschaftlichen Momente beschränkt, nämlich, wie schon MENGERs oben wiedergegebenen programmartigen Ausführungen ersehen ließen, nach der  positiven  Seite in der "tüchtigeren Ausbildung des Arbeiterstandes", was verallgemeinert nur heißen kann: "im technischen Fortschritt der sachlichen und persönlichen Produktionselemente" und  negativ:  "in der freieren Entfaltung der Konkurrenzverhältnisse". Letzteren Gesichtspunkt macht sich auch von BÖHM ("Strittige Fragen", Seite 116) zu eigen, aber der Kenner wird darin - wie schon angedeutet - doch nur Anklänge an altehrwürdige, aber doch längst in Mißkredit gekommene Manchestergedanken erkennen. Deren ganze Weisheit mündet ja bekanntlich darin, daß sie das Ausbleiben der vollen segensreichen Wirksamkeit des liberalen Prinzips dadurch erklärt, daß man demselben nur immer noch nicht zuviel, sondern zu wenig Konkurrenz vorhanden ist. Und was die Hebung des technischen Fortschritts betrifft, so bleibt ja gerade die entscheidende Frage, wie der durch diesen Fortschritt erzielte Mehrertrag den einzelnen Klassen und Individuen durch eine entsprechende  soziale Regelung  zugänglich gemacht werden soll.

Die soziale Frage ist in ihrem wichtigsten Teil eine Organisationsfrage.  Ob heute die Menschheit nicht etwadoch auf einem Standpunkt angelangt ist, wo Technik und Naturwissenschaft einen so unverhältnismäßigen Vorsprung gewonnen haben, daß der Fortschritt in erhöhtem Maße nicht so sehr in der "fortschreitenden Erkenntnis des Kausalzusammenhangs der Dinge" und der "fortschreitenden Bemächtigung der entfernteren Bedingungen der Produktion" sein Maß findet, wie MENGER meint, als vielmehr in der fortschreitenden Erkenntnis und Beherrschung der  sozialen  Kausalzusammenhänge - wie andere meinen -, das ist gerade der sozialen Frage zweiter und zumindest nicht unwichtigerer Teil ("Soziale Kategorie" Seite 182).

Wenn sich die Grenznutzenlehre auf jenen ersten, den naturwissenschaftlichen, produktionstechnischen und individualpsychologischen Teil beschränkt, so ist das ihre Sache. Eine Arbeitsteilung ist auch in der Wissenschaft am Platz, es ist vielleicht ganz verdienstlich, diese rein ökonomische Seite der Dinge, wie es seitens der Grenznutzenlehre geschehen ist, auch einmal für sich zu betrachten und in ihre subtilsten Konsequenzen zu verfolgen. Wenn man sich hierauf "mit guten Gründen" beschränkt und anerkennt, daß nun  daneben  die sozial-organische Betrachtungsweise einsetzen muß, so kann man hier allerdings wohl noch allenfalls von einer bloßen "Lücke" reden. Der Fehler, die methodische Todsünde, beginnt mit dem Augenblick, wo jene Beschränkung zum methodischen Prinzip erhoben wird. Die Folge ist Erstarrung und Tod der Theorie, und was schlimmer ist, eine falsche Beratung der Politik, wenn sich diese von deren Rat erholen will, oder wenn gar die Parteien sie als Kampfmittel für ihre politischen Tendenzen mißbrauchen. In des Meisters Hand kann auch dieses Prinzip keinen Schaden anrichten, wie die österreichischen Staatsmänner, von BÖHM-BAWERK an der Spitze, auf dem in der Sozialpolitik nicht zurückgebliebenen Boden ihres Landes bewiesen haben. BÖHM-BAWERK hat vielleicht das volle Recht, Auffassungen von der Hand zu weisen, wie etwa die im Aufsatz von BORTKIEWICZs in "Schmollers Jahrbuch Bd. XXII, Seite 89f vorgetragene: "Die Grenznutzentheorie als Grundlage einer ultraliberalen Wirtschaftspolitik". Hier wird dieser Theorie vorgeworfen, daß sie ihre bisherige "Harmlosigkeit" verwirkt hat. Ich glaube das nicht, ich glaube, daß man den ehrwürdigen Begründern der österreichischen Schule das Zeugnis ausstellen sollte, daß ihre Theorie mit der Politik überhaupt nichts zu schaffen hat, sie ist eine echte und reine Wissenschaft zur Erklärung des Seins, sie ist in politischer Beziehung völlig neutral, ja man könnte sagen naiv. Nach meiner Ansicht ist von BÖHM-BAWERK wie die übrigen wissenschaftlichen Vertreter jener Richtung auch über den Vorwurf DIETZELs erhaben, wonach ihre theoretischen Lehren "nicht dem Verstand, sondern dem Willen ihren Ursprung (!) verdanken" und das Bestreben haben sollen, ihre Wertlehre "wirtschaftlich auszunützen". Aber die Gefahr einer solchen Ausnützung von  anderer  Seite liegt immerhin sehr nahe, wenn eine Theorie wie die Grenznutzenlehre immerfort betont, daß Wert und Einkommensbezug auf einem ewigen unwandelbaren rein-ökonomischen Gesetz beruhen, "welches keiner sozialen oder staatlichen Institution, sondern unmittelbar der Natur des Menschen und der Natur der Dinge" oder "elementaren Tatsachen der menschlichen Natur und der Produktionstechnik" sein Dasein verdankt. Eine Theorie, nac der sich unsere Staats- und Wirtschaftsverfassung auf unabänderlichen Naturelementen aufbaut, die alles weitere Mühen und Ringen als zwecklos erscheinen lassen, wird sich der menschliche Geist niemals aufdrängen lassen, mag sie nun von MENGER, von BÖHM-BAWERK oder KARL MARX vertreten werden. Eine Theorie, welche nicht den  Zweck  in der Volkswirtschaft berücksichtigt, hat selbst keinen "Zweck".
LITERATUR - Rudolf Stolzmann, Der Zweck in der Volkswirtschaft, Berlin 1909