ra-2p-4Taubertvon HartmannWindelbandHartsenJ. VolkeltA. Kowalewski    
 
MAX WENTSCHER
Der Pessimismus
und seine Wurzeln

[Akademische Antrittsrede gehalten am 30. Januar 1897]

"Ein Schlaraffenland ersehnt sich die Menschheit gar nicht; und sicher nicht bloß darum nicht, weil sie es nun einmal nicht haben kann, sondern weil sie ein solches Leben für unter ihrer Würde hielte!"

"Ist denn dieses empirische Einzelwollen, wie es unser tägliches Lebens ausfüllt, an sich selbst schon überall unser letzter Endzweck? Steht nicht vielmehr beständig ein tieferes, eigentlicheres  Wollen im Hintergrund, von dem jenes Einzelwollen immer nur ein gelegentlicher Ausfluß, eine gelegentliche Bestätigung ist? Wir leben doch wohl kaum jemals ganz nur dem  Augenblick mit seinen Zwecken und Interessen; sondern es ist die  Gestaltung unseres ganzen Lebens und seine Erfüllung mit wertvollen, idealen Aufgaben, was uns, wenn auch oft gewiß nur dunkel und unbestimmt, als letzter und eigentlicher Zweck all unseres Wollens und Handelns vorschwebt."

"Wäre uns einmal die Wahl gegeben zwischen einer Welt, in der alles schon gut und vollkommen  wäre und auf der anderen Seite einer solchen, die uns nur ein unendliches Feld möglichen Wollens und Wirkens eröffnete, wir würden - als Menschen - unbedenklich nach der letzteren greifen, - in der wir ja ohne Mühe die unsrige wiedererkennen! - Freies, eigenes Ringen und Streben nach dem Guten  ist uns das höchste Gut. Von dem, was es darüber hinaus etwa geben könnte, vermögen wir uns überhaupt gar keinen Begriff zu machen!"

"Ein Bewußtsein des Getragenseins unserer Bestrebungen von der ganzen Gattung, das uns die Erhebung weit über die Schranken unseres individuellen Lebens hinaus zum Standpunkt der  Menschheit  ermöglicht, macht uns in der Tat zuletzt  allen  Übeln überlegen, wie sehr ihre Bekämpfung auch immer die Kraft des Einzelnen übersteigen mag! Schon die Macht  eines  entschlossenen, lebendigen Beispiels erleichtert den Späteren den weiteren Kampf."

Es war ein Unternehmen von gleicher Kühnheit, - ja, man möchte sagen, Verlegenheit, - wie der bekannte ANSELMsche Versuch, das  Dasein Gottes  zum Gegenstand eines Beweis-Verfahrens zu machen, als LEIBNIZ sich die Aufgabe stellt, eine  "Theodizee" [Rechtfertigung Gottes - wp] zu liefern, d. h. den Nachweis zu führen, daß die geschaffene Welt die  beste  sei von allen, die überhaupt zu existieren vermöchten. Hier, wie dort, unternahm es die Spekukation, Gegenstände vor ihr  Forum  zu ziehen, die ihre theoretischen Erkenntnis- und Beweismittel weit überstiegen. Und hier, wie dort mußte diese gar zu kühne Grenzüberschreitung früher oder später eine  Reaktion  hervorrufen: verneinungslustige Geister, an denen ja selten ein Mangel ist, mußten sich angereizt fühlen, die dort gebrauchten Erkenntniswaffen auch einmal im gerade entgegengesetzten Sinne zu versuchen. Und so war durch den  "Optimismus"  der LEIBNIZschen Philosophie zugleich sein Widerspiel, der  "Pessimismus"  heraufbeschworen; und er konnte, da er sich der gleichen Argumentationsmittel, wie der Optimismus, bediente, auch die gleiche Existenzberechtigung mit diesem für sich in Anspruch nehmen, - ja, eine höhere sogar, da er, als der später auftretende, mit leichter Mühe diejenigen Fehler vermeiden konnte, welche sich inzwischen beim Optimismus herausgestellt haben.

Doch damit ist nun freilich noch nicht erklärt, wie es kommen konnte, daß der Pessimismus in so weiten Kreisen Wurzel faßte, wie er unsere ganze geistige Bildung derart durchsetzen konnte, daß man ihn nahezu als die philosophische Signatur unseres niedergehenden Jahrhunderts überhaupt bezeichnen möchte! Daß eine so weitgehende Reaktion gegen den Optimismus früherer Zeitalter Platz greifen konnte, daran sind gewiß nicht bloß die Schwächen des Optimismus und ihre Aufdeckung Schuld; vielmehr müssen offenbar in unserer Zeit irgendwelche besonderen Bedingungen gegeben sein, welche zu so einem üppigen Aufwuchern pessimistischer Anschauungen den Boden vorbereitet haben. Der Pessimismus unserer Tage ist nicht mehr eine bloße  philosophische Theorie,  wie andere Theorien auch, sondern er ist zugleich ein Symptom gewisser Eigenheiten unserer modernen Kulturentwicklung, - eine  pathologische Erscheinung  gleichsam am Leben der Gegenwart! -

Theorien nun begegnet man mit theoretischer Kritik: pathologischen Symptomen gegenüber aber versagt dieses Mittel! Da bleibtkein anderer Weg, als ihren letzten Wurzeln nachzugehen, um von dort aus vielleicht die Gesichtspunkte zu gewinnen, nach denen man - für die fernere Zukunft zumindest - dem Übel entgegenarbeiten könnte! - Hören wir also zuerst die Argumente der  Theoretiker  unter den Pessimisten, um uns alsdann dem Pessimismus als  pathologischer Erscheinung  zuzuwenden! -

Das entschiedene  Überwiegen der Unlust gegenüber der Lust  ist stets eines der Lieblingsargumente des Pessimismus gewesen. SCHOPENHAUER und HARTMANN suchen es noch dadurch zu schärfen, daß sie der  Lust  ihren positiven Wert einfach absprechen; nur  Un lust werde überhaupt wirklich empfunden,  Lust  und  Wohl sein aber nicht; sie bestehen gleichsam nur in den  Pausen  zwischen Zuständen des Leidens. - Nun ist natürlich gar nicht darüber zu streiten, daß man den Nullpunkt auf der Skala zwischen Lust und Unlust ansetzen kann, wo man will; und so ist zuletzt auch gar nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand ihn gerade beim Punkt der höchsten möglichen Lust anzusetzen Gefallen findet. Nur sollte man sich freilich bewußt bleiben, daß man damit nur ein leeres Gaukelspiel treibt, durch das es einem schwerlich gelingen wird, Anderen die Freude an ihrer Lust auszureden oder zu verkümmern! Der Lust beim Anblick des  Schönen der Kunst  zumindest kann selbst SCHOPENHAUER einen höheren, echten Wert nicht absprechen; sie ist dann doch offenbar mehr, als die bloße "Abwesenheit von Unlust", welche der Pessimismus allein gelten lassen will. -

Überhaupt aber: Lust und Unlust können doch einem jeden immer nur das  sein,  als was sie  von ihm selbst  empfunden werden, nicht, als was sie nach der Behauptung des Pessimisten von ihm empfunden werden  müßten!  Somit würde auch das "Überwiegen" der Lust oder Unlust im Leben immer nur der Einzelne für sich allein gültig entscheiden können! Doch auch  hier  zeigt sich sogleich eine Schwierigkeit: Sind denn Lust und Unlust in der Weise objektive und absolute Größen, daß man sie miteinander vergleichen, messen, summieren könnte? - kurz, daß man auch nur den ersten Ansatz machen könnte zu jener  "Lust- und Unlustbilanz",  auch welche der Pessimismus sich immer und immer wieder zu beziehen pflegt? - Von der  Lust  zumindest bemerkt auch HARTMANN mit Recht, daß sie bei längerer Dauer sich verändert und schließlich in Langeweile oder gar Unlust übergeht. Aber auch die  Unlust  ist doch keineswegs als unveränderliche Größe ein für allemal mit diesem oder jenem bestimmten Inhalt verbunden. Durch Gewöhnung und Askese bringen wir es in vielen Fällen sogar schließlich zu  Lust-Empfindungen bei Gegenständen, die uns anfänglich nur  Un lust erzeugten. Das lehren z. B. die Erfahrungen der Pädagogik uns auf Schritt und Tritt! Aber auch andere Überwindungsmittel der Unlust an diesem oder jenem Inhalt stehen uns reichlich zu Gebote, - so vor allem die Hinüberlenkung der Aufmerksamkeit auf eine große Lust verheißendes Ziel, zu dem aber jenes Unlust Gewährende als unerläßliches Mittel gefaßt wird. - Natürlich wird hier keineswegs etwa die unmittelbare Unlustwirkung aufgehoben; eine widrige Arznei schmeckt uns nicht darum auf einmal angenehm, weil wir während des Einnehmens an ihre Heilkraft denken. Aber die weitere Wirkung dieser Unlust, das Unwilligmachende des zwecklosen Leidens, wird doch gehemmt, und so der Unlust ihr Stachel genommen. -

Es zeigt sich also, daß es ein ganz verfehltes Beginnen ist, pessimistische Theorien überhaupt auf Vergleiche von Lust und Unlust begründen zu wollen. Das ganze Material zerrinnt einem unter den Händen, sowie man es ernsthaft zu fassen versucht. - Aber weiter! Wo man von "Optimismus und Pessimismus" redet, da handelt es sich doch überall um die Frage, ob der Welt das Prädikat "gut" oder "schlecht" zuzuschreiben ist. Ist denn aber diese Frage so ohne weiteres identisch mit der, ob Lust oder Unlust darin vorherrscht? Ist es wirklich schon so ausgemacht, daß gerade  Lust  der einzige uns überhaupt begreifliche Zweck der Welt ist, und daß diese folglich "schlecht" sei, wenn dieser Zweck nicht durchweg in ihr erreicht wird? Der Eudämonismus trägt kein Bedenken, in der Tat so zu entscheiden: wo einmal eine Welt von Wesen mit der Fähigkeit, Lust und Unlust zu empfinden, gegeben ist, da kann offenbar nur die Lust dieser Wesen als für sich selbst verständlicher, in sich gerechtfertigter Weltzweck anerkannt werden. Das Gegenteil sei so absurd, so widersinnig, daß es darüber gar keine Diskussion geben kann. - Nun, wir werden ohne weiteres zugeben, daß ein solcher Weltzweck nicht wohl im vollen  Gegensatz  gedacht werden kann zu dem, was uns Lust gewährt! Ja, wir können sogar den Eudämonismus noch überbieten und behaupten: nicht nur Lust überhaupt, sondern geradezu die  höchste  Lust müsse als höchster Weltzweck in Anspruch genommen werden. Und dennoch werden wir es ablehnen dürfen, den Maßstab von Lust und Unlust überhaupt als entscheidende Instanz anzuerkennen, wo es sich um das Urteil über die Güte oder Schlechtigkeit der Welt handelt! Denn jener Begriff der "höchsten Lust", wie wir ihn hier gefaßt wissen möchten, ist auf dem Boden des Eudämonismus für sich allein überhaupt gar nicht zu gewinnen, - wenn er auch freilich, nachdem er auf anderem Weg gewonnen ist, sich hier empirisch bestätigen muß. Es soll sich nälich nicht etwa die bloße Steigerung der  subjektiven Affektion  der Lust darin aussprechen, sondern zugleich der  Wert des Inhalts,  den diese zum Gegenstand hat! -

Es ist also der Begriff des  Wertvollen zu dem wir uns hier hinübergedrängt sehen. In ihm sind die subjektiven Schwankungen und Willkürlichkeiten des bloßen  Lust-Prinzips völlig ausgelöscht, und ein anderer, objektiverer Maßstab macht sich geltend, in welchem unser Wert schaffendes  ethisches Urteil  zum Ausdruck kommt. Denn hier allein, in der  ethischen Reflexion,  haben wir unmittelbare Gewißheit, durch nichts weiter als unser eigenstes, innerstes Wesen, durch die Menschheit in uns bestimmt zu sein und zu erfahren, was allein uns wahre, höchste Lust gewähren kann! Nicht als von Lust und Unlust pathologisch hin- und hergeworfene, jedes inneren Haltes entbehrende Wesen, sondern als  sittliche Persönlichkeiten  allein werden wir die Frage nach dem Wert der Welt zu erörtern haben. Und dieser Wert wird sich danach bestimmen, was sie  unserem Wollen und Handeln - eben als freier, sittlicher Wesen, - ist oder sein kann! -

Hier aber tritt uns der Pessimismus mit der Behauptung entgegen: gerade Das sei unser Unglück, daß wir wollende Wesen sind, - und zwar, daß wir überhaupt etwas wollen; auf Das, was wir wollen, komme es gar nicht an. Aber in der Natur des Wollens liegt es, daß es niemals befriedigt werden kann. Daher hören wir nie auf, zu wollen, und das sei ein dauernder Jammer! - So SCHOPENHAUER! - Aber von welch einem Wollen redet er hier denn eigentlich? Soviel ist gewiß, daß es nicht wohl dasselbe sein kann, das wir soeben mit dem Begriff des Wertvollen in Verbindung brachten; nicht das von der freien  ethischen Reflexion  geschaffene und gebilligte Wollen, sondern offenbar nur jenes blinde, hin und herflackernde  naive  Wollen, das im Grunde nichts weiter ist, als ein pathologisches Anhängsel der Lust- und Unlustgefühle, wie sie gerade kommen und gehen. - Und insofern freilich hat er Recht: für eigenwillige Kinder ist diese Welt ganz und gar nicht gemacht; im Gegenteil, sie fordert ein kräftiges, charaktervolles Wollen und Handeln und macht diese Forderung dem  nicht  Wollenden meist sehr bald recht empfindlich fühlbar! Wer sie darum schlecht schelten will, dem mag das ja unbenommen bleiben; nur soll er dann diesen seinen Pessimismus nicht als "der Weisheit letzten Schluß" auch anderen aufdemonstrieren wollen. - Ein Schlaraffenland ersehnt sich die Menschheit gar nicht; und sicher nicht bloß darum nicht, weil sie es nun einmal nicht haben kann, sondern weil sie ein solches Leben für unter ihrer Würde hielte! -

In  einem  freilich hat SCHOPENHAUER Recht: unser Wollen überhaupt kann nie befriedigt werden; unaufhörlich regt es sich auf's Neue, sobald es  ein  Ziel erreicht hat. Ein befriedigtes Ausruhen ist uns nirgends für längere Dauer vergönnt; immer wieder ergreift uns neues Sehnen und Verlangen und treibt uns zu neuem Wollen und Handeln. - Und dennoch: kann man daraufhin wirklich behaupten, daß also unser Wollen selbst niemals Befriedigung findet? Ist es nicht gerade der Wunsch, mit dem Wollen einmal  aufhören  zu können, was hier unbefriedigt bleibt? - Und wer heißt uns denn, diesen Wunsch zu hegen? Wie, wenn wir es nun gerade als einen Gewinn erachteten, daß uns immer noch etwas Neues und Größeres zu wollen übrig bleibt, daß das Feld des möglichen Wollens sich ins Unendliche erstreckt? - Nur wer einmal nicht davon loskommt, nur in absoluter Ruhe und Untätigkeit sein Glück zu suchen, wird die Unaufhörlichkeit unseres Angereiztwerdens zu immer neuem Wollen als einen so unseligen Zustand empfinden, wie ihn SCHOPENHAUER gern hinstellen möchte! -

Aber wie denn: beweist nicht eben jene beständige Erneuerung unseres Wollens, daß auch jedes einzelne Wollen seinen Zweck verfehlt hat, daß wir am Erreichten das  nicht haben,  was uns beim Wollen als so wünschenswert vorschwebte? - Dieser Einwand ist gewiß beachtenswert! Allein wir müssen darauf zurückkommen: er trifft das Wollen gar nicht, von dem wir hier reden wollten! Ist denn dieses empirische Einzelwollen, wie es unser tägliches Lebens ausfüllt, an sich selbst schon überall unser letzter Endzweck? Steht nicht vielmehr beständig ein tieferes, eigentlicheres "Wollen" im Hintergrund, von dem jenes Einzelwollen immer nur ein gelegentlicher Ausfluß, eine gelegentliche Bestätigung ist? Wir leben doch wohl kaum jemals ganz nur dem  Augenblick  mit seinen Zwecken und Interessen; sondern es ist die  Gestaltung unseres ganzen Lebens  und seine Erfüllung mit wertvollen, idealen Aufgaben, was uns, wenn auch oft gewiß nur dunkel und unbestimmt, als letzter und eigentlicher Zweck all unseres Wollens und Handelns vorschwebt. Mag also immer jenes Einzelwollen, für sich allein betrachtet, ohne dauernde Befriedigung bleiben! Darauf kommt es gar nicht an: unsere Befriedigung hängt nur davon ab, ob es unserem innersten, unser Leben überhaupt leitenden  Grundwollen  und seinen Idealen eine Förderung bringt und von uns dienstbar gemacht werden kann! -

Die Frage nach dem  Wert der Welt  geht uns also mehr und mehr in die andere über: Ist die Welt so angelegt, daß uns darin eine freie und mannigfaltige Betätigung unseres eigensten, innersten Wollens möglich ist, eines Wollens, in welchem das, was sich uns als höchstes Ideal menschlichen Daseins und Strebens darstellt, nach einem bestimmt gestalteten realen Ausdruck, nach individueller Verwirklichung sucht. - Denn offenbar nur so kann der Begriff der "höchsten Lust", von dem wir hier ausgingen, verstanden werden: nicht das subjektive Lustgefühl ansich, sondern die mit dem wertvollsten Inhalt verbundene Lust muß in dem, was uns als letzter Weltzweck einer "guten" Welt verständlich sein soll, ihre Stelle haben! Und zwar bestimmt sich dieser reichste Inhalt im letzten Grund durch nichts anderes, als das Moment des höchsten uns überhaupt möglichen, des wirkungsvollsten  Wollens! 

Eben damit aber ist unser Urteil über den Wert der Welt von zwei Faktoren abhängig gemacht: einmal von einem objektiv gegebenen - bzw. vorauszusetzenden -  Material  derselben; sodann aber von unserer subjektiven Fähigkeit, dieses Material im höchsten, vollendetsten Sinn auch zu  gebrauchen,  auf dem so gegebenen Boden nun auch unser eigenes Sein und Wollen auf den höchsten Grad des Menschlichen überhaupt zu erheben!

Nun setzt zwar alles Streben nach Vervollkommnung, nach Realisierung idealerer Zustände notwendig voraus, daß der  gegenwärtige,  und  vorliegende  Zustand der Welt diesen unseren Idealen eben  nicht  entspricht; ja, der Pessimismus wird dieses Argument noch dahin zu erweitern geneigt sein, daß er all unser Wollen überhaupt lediglich auf die Unlust, den Schmerz zurückführt, den der gegenwärtige Weltzustand, soweit er uns berührt, in uns erregt! Das Wollen wäre danach nur ein beständiges Flüchten aus Zuständen des Leidens heraus, - wobei dann freilich völlig außer Acht gelassen ist, daß doch alles Wollen vor allem auf einen  Zweck  gerichtet ist, der als positiver Erfolg unseres Handelns vorgestellt wird, und eben damit Lust an diesem Handeln selbst in uns erzeugt, während sich eine Unlust am gegenwärtigen Zustand durchaus  nicht immer,  und fast niemals in einem jene Lust überwiegenden Grad im Bewußtsein findet! -

Aber immer wird die Frage wiederkehren: warum ist den nicht alles schon gut und vollkommen? und warum sind Geschöpfe, wie  wir,  in diese Welt gestellt, die wir selbst nur so unvollkommen, so beschränkt in unserem Wollen sind? Und es muß ja zugegeben werden, es  könnte  wohl  anders  sein: es könnten ungleich vollkommenere Wesen in einer gleichfalls vollkommeneren Welt existieren, und es ist wohl anzunehmen, daß diesen dann die Leiden alle erspart blieben, mit denen wir in unserer Welt zu kämpfen haben.

Im Vergleich zu  dieser  Welt, scheint es also, würden wir ein Recht haben, die unsrige "schlecht" zu nennen! - Und dennoch -: wir erinnern uns hier des schönen LESSINGschen Wortes, daß ihm das  eigene Streben  nach der Wahrheit, mit all seinen Irrwegen, lieber sei, als wenn der Schöpfer sie ihm mühelos  in fertiger Gestalt  in die Hände geben wolle! Das ist keineswegs etwa bloß die Äußerung einer überschwänglichen Wallung, sondern im tiefsten und wahrsten Sinne  menschlich  gedacht! Wir sind einmal unserem Wesen und unserem ganzen Denken nach  Menschen  und können auch an die Weltordnung immer nur unseren, einen menschlichen Maßstab anlegen. Und da zeigt sich dann in der Tat, daß wir mit einem solchen Zustand allgemein  erreichter  Vollkommenheit, wo es nun weiter nichts zu wünschen und zu wollen gäbe, garnichts anzufangen wissen! Soweit wir ihn uns auszumalen überhaupt imstande sind, schreckt uns seine eisige Ruhe und Öde viel mehr zurück, als sie uns anzuziehen vermag; uns beunruhigt die Langeweile, die uns hier, wie wir nun einmal sind, unvermeidlich bedroht. Wir sehen keinen uns wertvollen  Inhalt  mehr für so ein Leben in einer vollkommenen Welt! So können auch wir uns nur zu dem LESSINGschen Wort bekennen; ja, wir werden es sogar auf alles Ideale überhaupt ausdehnen müssen: Wäre uns einmal die Wahl gegeben zwischen einer Welt, in der alles schon gut und vollkommen  wäre, - wir selbst mit eingeschlossen, - und auf der anderen Seite einer solchen, die uns nur ein unendliches Feld möglichen Wollens und Wirkens eröffnete, worin wir aber darauf angewiesen blieben, uns erst selbst ein Ideal des höchsten Erstrebenswerten, des Guten, zu schaffen, und dann nach diesem all unser Wollen und unser ganzes Leben zu gestalten: wir würden - als Menschen - unbedenklich nach der letzteren greifen, - in der wir ja ohne Mühe die unsrige wiedererkennen! - Freies, eigenes Ringen und Streben nach dem Guten  ist  uns das höchste Gut. Von dem, was es darüber hinaus etwa geben könnte, vermögen wir uns überhaupt gar keinen Begriff zu machen!  Denkmöglich  mag eine vollkommene Welt ja sein, und in ihr auch Wesen, die sich tatsächlich noch glücklicher fühlen, als wir; aber für  uns, - solange wir nur irgendwie so bleiben, wie wir nun einmal sind, - wäre sie nicht geschaffen; wir würden uns, in sie versetzt, bald genug nach der unsrigen zurücksehnen!

Genug also, daß wir die uns umgebende wirkliche Welt und uns in ihr tatsächlich so angelegt finden, daß gerade dieses unaufhörliche Ringen nach dem Ideal des Guten, bei welchem wir uns ganz auf uns selbst gestellt sehen,  uns höchste Lust gewährt, - und das nicht nur  trotz  aller oft so übermächtig scheinenden Hindernisse, sondern gerade  weil  diese da sind und uns zu immer höherer Kraftbewährung aufrufen, zur Entfaltung immer höherer Menschlichkeit den Anstoß und die Gelegenheit darbieten! Wenn die alten Griechen einst ihre Göttergestalten mit Vorliebe im heroischen Kampf darstellten, so geschah das gewiß nicht nur aus religiöser Pietät, sondern offenbar aus dem ursprünglichen gesunden Gefühl heraus, daß in dem alle Kräfte anspannenden  Kampf  um ideale Güter, als deren Träger man sich fühlen darf, dann doch ein ungleich höheres, göttlicheres Glück liegt, als im ruhigen Genuß des mühelos Erlangten!

Doch auch hier bleibt dem Pessimismus noch ein schwerwiegendes Argument zurück. Er wird zugeben, daß mancher  Einzelne  auf diesem Weg und bei einer solchen Auffassung seiner Stellung in der Welt in der Tat zu einigem Glück gelangen könnte; aber er kann dies nur, solange er sich gegen das Schicksal seiner Mitmenschen engherzig verschließt; denn sonst müßte es sein Glück notwendig trüben, zu sehen, wie so Viele ohne jede eigene Schuld doch überhaupt niemals dahin zu gelangen vermögen, wo jene Freiheit eines wahrhaft eigenen Willens allererst anfängt! Nicht genug, daß Unglücksfälle aller Art, daß Krankheit und Tod oft selbst das edelste und wertvollste Streben plötzlich und unbarmherzig niedertreten; auch die weitreichende Abhängigkeit unserer ganzen ersten Entwicklung und auch noch der späteren Lebensgestaltung vom Tun und Lassen Anderer bringe es mit sich, daß die allermeisten Menschenleben bereits verpfuscht werden, bevor sie überhaupt nur anfangen, und daß Unzählige ihr Leben lang an dem zu tragen haben, was Andere verschuldeten.

Alle diese sogenannten  "Übel", - physischer, wie moralischer Art, - sind nun einmal da und dürfen bei unserem Urteil über den Wert der Welt nicht einfach beiseite gesetzt werden! Aber andererseits schließt die Anerkennung ihres Daseins doch noch keineswegs eine pessimistische Weltauffassung ein. Zumindest hat es keinen Sinn mehr, den Begriff des "Pessimismus" so weit zu fassen, daß man auch diejenige Auffassung schon so benennt, welche zugibt, daß es in der Welt zahlreiche Übel gäbe; denn  dann  wären freilich  alle  Menschen "Pessimisten", - sofern sie nicht etwa durch eine abnorme Veranlagung verhindert sind, diese Übel zu  sehen  und als solche zu erkennen! - Der eigentliche "Pessimismus" fängt vielmehr erst da an, wo man von der Überzeugung durchdrungen ist, keinerlei Mittel zu einem erfolgreichen Kampf gegen jene Übel zu besitzen, ihnen rettungslos über kurz oder lang verfallen zu müssen! -

Und  wie  also nun: stehen wir ihnen wirklich so wehrlos gegenüber? und erweisen sie sich uns  nur  als Übel? - Ich meine, sie gerade haben ungleich mehr, als alles Andere, zu einem immer engeren  Zusammenschluß der Menschheit  und ihrer Bestrebungen zu einer  solidarischen Gesamtheit  geführt; und damit haben sie wiederum auch dem sittlich-freien Wollen des Einzelnen ein unermeßliches Gebiet möglicher Betätigung eröffnet, in der er erst zum Vollgefühl der Menschheit in sich zu gelangen vermag! - So hat uns gerade die Macht der Übel selbst das gewaltigste Kampfmittel gegen sie in die Hände gespielt: wo wir ihnen als  Einzelwesen  so gut, wie ohnmächtig gegenüber stehen, vermögen wir ihnen als  Glieder der Gesellschaft  immer wirksamer und erfolgreicher zu begegnen! freilich wird die  individuelle  Befriedigung des endgültigen Sieges oft genug innerhalb unseres beschränkten Daseins nicht mehr erreicht werden; allein das Bewußtsein, an seinem Platz das Seinige getan und dadurch den späteren Sieg der Gesellschaft näher gebracht zu haben, vermag doch auch hier eine innere Genugtuung zu wirken, die uns über allen Pessimismus hinwegträgt! - Die Bekämpfung derjenigen Leiden und Übel, welche nicht den Einzelnen als Einzelwesen, als ihm speziell anhaftendes Schicksal, betreffen, sondern zugleich mit unzähligen Anderen, als  Gliedern der Gattung,  kann nicht der Einzelne mit seinen beschränkten Mitteln sogleich entscheidend  zuende  führen wollen; sie ist  Sache der Gattung,  wie jene Übel selbst, auf die sie sich richtet! -

Andererseits ist es nun nicht die Meinung, daß durch diese Verweisung an die Gesellschaft die sittliche Arbeit des Einzelnen irgendwie entbehrlicher gemacht wäre! Vielmehr haben wir immer festzuhalten, daß ja auch die Gesellschaft mit all ihren Bestrebungen durchaus nu  in  den Einzelwesen lebendig und wirklich ist. Und so muß doch zuletzt von diesen Selbst alles getan und gewirkt werden, was wir von der "Entwicklung" der Gesellschaft erwarten! - Freilich hat es nicht an superklugen mechanistischen Theorien gefehlt, welche uns glauben machen möchten, daß aus der natürlichen Wechselwirkung von lauter selbstischen Bestrebungen der Einzelwesen ganz von selbst ein Fortschreiten der Gesamtheit resultiert; und es mag schon sein, daß etwas Wahres daran ist. Allein  als Menschen,  die wir doch vor allem sein wollen, können wir an so einem automatischen Fortschreiten, bei dem wir bloß als Spielwerk unbekannter höherer Gewalten fungieren, jedenfalls kein Interesse haben! Was wir als wahren Fortschritt anerkennen sollen können, muß unsere eigene, freie Tat sein, unserem bewußten Wollen entspringen! - Mag nun auch die Wirkungssphäre des Einzelnen im Gesamtleben der Gesellschaft noch so sehr verschwinden: es ist dennoch auf seine Mitwirkung als unerläßliche Bedingung aller wahren Entwicklung  gerechnet!  Und zwar ist es die  prinzipielle  Bedeutung des einzelnen tätigen Handelns, worauf es hier ankommt: - viel weniger auf die rasche und glückliche  Vollendung  des beabsichtigten Erfolges! -

Dieses Bewußtsein des Getragenseins unserer Bestrebungen von der ganzen Gattung, das uns die Erhebung weit über die Schranken unseres individuellen Lebens hinaus zum Standpunkt der  Menschheit  ermöglicht, macht uns in der Tat zuletzt  allen  Übeln überlegen, wie sehr ihre Bekämpfung auch immer die Kraft des Einzelnen übersteigen mag! Schon die Macht  eines  entschlossenen, lebendigen  Beispiels  erleichtert den Späteren den weiteren Kampf; mehr noch aber vermögen wir durch die Mitarbeit an der  sittlichen Bildung der Menschheit,  zu der uns insbesondere das Reich der  Wissenschaft wie andererseits das der  Kunst  Gelegenheit geben! Denn hier vor allem hat sich das überindividuelle Leben der Gesellschaft gleichsam konstituiert, zu einem eigenen, die einzelnen Träger überdauernden Dasein zusammengeschlossen; und unerschöpflich sind die physischen, wie die moralischen Kräfte, die von hier aus immer aufs Neue wieder der Menschheit erwachsen! - Wer wollte einem solchen Fortschreiten gegenüber einer pessimistischen Resignation das Wort reden? Nur dürfen wir uns freilich nicht beirren lassen durch die zahllosen Mißgriffe, denen wir allerdings im  Gebrauch  unserer so hoch aufstrebenden Kulturmittel immer und immer wieder begegnen! -

Erkennen wir so auf der einen Seite die hohe Bedeutung, welche der Solidarisierung des Einzelstrebens mit dem der Gesellschaft zukommt, so soll damit andererseits doch nicht jenes  völlige Aufgehen  in der Gesellschaft und ihren Interessen befürwortet werden, wie es die modernen Ethiker vielfach glauben fordern zu müssen. Ich gestehe, daß ich diese Forderung der absoluten Selbsthingebung an die Bestrebungen einer übergeordneten Gesellschaft nur für einen theoretischen Mißgriff halten kann, der in seinen Konsequenzen leicht verhängnisvoll werden kann. Nur darauf bedacht, den gewiß häßlichen und unwürdigen  Egoismus  mit Stumpf und Stiel auszurotten, vergißt man hier doch gar zu sehr, daß in letzter Instanz immer nur die  Einzelnen  es sein können, um deren willen die "Gesellschaft" mit all ihren Ordnungen und Gütern allererst ihren  Wert  empfängt, und daß es folglich doch auch im Einzelwesen bestimmte auf sein eigenes, individuelles Leben gerichtete Interessen können geben muß, die unmittelbar in sich selbst gerechtfertigt sind, und denen das Odium [Geruch - wp] des Selbstischen, Egoistischen trotz alledem eben  nicht  anhaftet! Man pflegt KANTs  "Rigorismus"  zu schelten, und vielleicht mit einigem Recht, wenn auch das rigoristisch-Asketische mehr der schulmäßigen  Form,  als dem eigentlichen  Inhalt  dieser Ethik anhaften dürfte. Wie dem aber auch sei, jedenfalls ist es gerade KANT gewesen, der mit aller Energie immer und immer wieder betont hat, daß der Mensch vor allem "Zweck an sich selbst" sei und daß er niemals als bloßes Mittel zu einem außerhalb und über ihm gelegenen Zweck betrachtet werden dürfe! Die KANT'sche Ethik war durchaus vom erfrischenden Geist der  Freiheit  beherrscht, während die  "soziologische"  Ethik unserer Tage die Persönlichkeit und das freie Eigenleben geradezu erdrückt und unmöglich macht. - Freilich treten wir nicht schon als fertige Wesen in die Welt, sondern bedürfen einer Gesellschaft und ihrer Ordnungen, um überhaupt erst zum vollen Bewußtsein der Menschheit in uns und des Gebietes unserer Freiheit gelangen zu können. Hier also  fordert  es geradezu das Interesse des Individuums, - auch wenn es ihm selbst noch nicht zu Bewußtsein kommt, - daß die Gesellschaft ihm als  Autorität  gegenübersteht! Wo jedoch die Entwicklung des Einzelwesens den erforderlichen Vollendungsgrad erreicht hat, da soll es seinem Leben nun auch einen  eigenen  Inhalt schaffen und nicht mehr alle Aufgaben und Pflichten nur von  außen  her erwarten, von einer Gesellschaft, die doch  außer  und  über  den Wesen, die sie umfaßt,  nichts  ist und nichts sein  kann! - Wir sind einmal nicht bloße Herdentiere; und NIETZSCHE hat ganz recht, wenn er der sogenannten "Herdenmoral" als einer unwürdigen Art menschlichen Daseins entgegentritt! Nur freilich übertreibt er wiederum den entgegengesetzten ethischen Standpunkt bis zur Karikatur und verdirbt sich damit selbst das Spiel. -

Soll uns das Dasein der Gesellschaft und ihrer sogenannten Güter wirklich ein ethisches Gut sein, so muß sie ihre Bedeutung, ihre Aufgabe darin suchen, daß sie dem zur sittlichen Persönlichkeit gereiften Einzelwesen eine über die Grenzen der Individualität weit hinausreichende Sphäre möglichen Wollens und Wirkens eröffnet, den Bereich seiner Freiheit und Macht auf den höchsten uns erreichbaren Grad erweitert und so der Menschheit in ihm die Bedingungen zur freiesten, vollsten Entfaltung in die Hand gibt! Immer muß es in letzter Linie das Einzelwesen selbst sein, um dessen willen das Dasein der Gesellschaft und ihrer Ordnungen uns als wertvoll, als ein  Gut  erscheinen können soll! Wo sich das Verhältnis umgekehrt, wo dem Einzelnen nur Wert zugestanden wird, sofern sein Wirken und sein Zwecken der Gesellschaft dient, da verliert zuletzt notwendig auch die Gesellschaft selbst jedes Ziel und Ideal, da ihr Leben und Streben ja immer nur von den Einzelwesen getragen und repräsentiert wird und daher notwendig verkümmern muß, wenn das Eigenleben dieser Einzelwesen ohne eigenen, idealistischen Inhalt bleibt! So kommt es zuletzt dahin, daß nur noch die rein  materiellen  Zweck in Geltung bleiben, die sich auf die Erhaltung der Art und auf die Daseinserleichterung erstrecken, - wie wir sie dann auch in der Tat gerade in unserer Zeit, im öffentlichen wie im privaten Leben, immer brutaler sich breit machen sehen!

Es ist klar, daß diese Richtung der modernen Ethik in ihren Konsequenzen dem Pessimismus geradezu in die Hände arbeitet! So gewiß sich unser Dasein dadurch  erweitert,  sich unsere Wirkungskraft ins Unermeßliche  steigert,  daß wir  nicht bloß  Individuen zu bleiben brauchen, sondern uns zur  Gesellschaft zu einer einheitlichen Gesamtarbeit zusammenzuschließen vermögen: so gewiß wird das wahre, freie Eigenleben der Persönlichkeit, dem allein alles sittlich-Gute entspringen kann, unterdrückt, wenn die Gesellschaft zum Selbstzweck erhoben, der Einzelne nur als  Mittel  dazu gelten gelassen wird. Wo die Freude des freien, kraftvollen  Wollens  gehemmt und unmöglich gemacht wird, da ist eine pessimistische Verstimmung und Resignation die natürliche Folge!

Wenn wir so unser Verhältnis zur Gesellschaft, unser Leben in ihr als eine Art gesteigerten, erweiterten Daseins faßten, daß uns instandsetzt, auch solchen Übeln gegenüber den Kampf aufzunehmen, denen wir, bloß auf unsere Individualität beschränkt, allerdings hoffnungslos das Feld räumen müßten: so bleibt nur noch  eine  Frage zurück, von deren Entscheidung es abhängen würde, ob nicht dennoch zuletzt der Pessimismus Recht behält. Sind die Aussichten so, daß wir hoffen dürfen, die Gattung werde mehr und mehr  Herr  werden über alle Übel, die uns gegenwärtig noch bedrohen und quälen? oder lehrt nicht etwa die Geschichte, wie die Betrachtung der Mechanik des Weltlaufs, daß dies eine  vergebliche  Hoffnung sei, daß vielmehr anstelle eines jeden etwa glücklich bekämpften Übels sogleich ein neues, ja, oft mehrere sogar, auf den Plan treten? - Aber diese Frage läßt sich  theoretisch  nicht entscheiden! Allerdings lehrt die Geschichte, daß die Übel in der Welt niemals aufhören, daß diese Welt in der Tat eine Welt des beständigen  Kampfes  und der unaufhörlichen Kraftanspannung ist; und allerdings bestätigt auch die Erfahrung, die wir von der Mechanik des Weltlaufs besitzen, daß es aller Wahrscheinlichkeit nach immer so bleiben wird, schon darum, weil die unmittelbare Übertragung des vom Einzelwesen, wie überhaupt von einer Generation glücklich errungenen Guten auf die  nach kommenden Geschlechter nicht möglich ist, sondern wieder die eigene sittliche Arbeit derselben voraussetzt. Allein andererseits lehrt doch auch die Geschichte, daß es keinerlei Übel gegeben hat, die uns  dauern  unüberwindlich geblieben wären, die nicht neue, höhere Kräfte in uns gewirkt und gestählt hätten, welche uns weit über die Machtsphäre hinaushoben! - Gerade in jenem fortdauernden  Kampf  umd das, was uns als wertvoll, als Ideal des Guten, Seinsollenden gilt, fühlen wir erst die ganze Größe der Menschheit in uns zur Entfaltung kommen; und als dauernder Gewinn dieses Kampfes bleibt uns die beständige Erweiterung der Sphäre unserer Macht und Freiheit, unseres sittlichen Daseins und Wollens, - ein Gewinn, der uns - als Menschen - das Höchste ist, das wir uns überhaupt zu ersinnen vermögen. - Schon der entschlossene, siegesfreudige  Kampf  gegen das Übel nimmt diesem seinen subjektiven Stachel und trägt schon dadurch auch am entscheidensten bei zur Schwächung der objektiven Macht des Übels. Daß aber die Zahl und die Macht der Übel immer größer werden muß, je weiter die Kultur fortschreitet, ist vollends unbeweisbar! Denn geradezu unerschöpflich sind die noch unentwickelten, noch nicht organisierten sittlichen Kräfte in uns, die wir zu ihrer Bekämpfung aufzurufen vermögen. Es hängt nur an  uns,  in welchem Maß wir sie gebrauchen wollen!

Kurz: es zeigt sich überall, daß die Entscheidung zwischen optimistischer und pessimistischer Denkweise im letzten Grund gar nicht durch bloße  theoretische  Argumente herbeigeführt werden kann, sondern zur  Sache des sittlichen Entschlusses  und eigenen, kraftvollen Handanlegens wird! Die Welt ist  das wert,  was  wir  aus ihr  machen  wollen!


Steht es aber so damit, so tritt nunmehr die Frage in den Vordergrund, woher es denn kommt, daß gerade unser Zeitalter den pessimistischen Anschauungen so eine lebhafte Empfänglichkeit entgegenbringt, wir haben den Wurzeln des Pessimismus nachzugehen, sofern er als  "pathologische Erscheinung"  auftritt!

HARTMANN nimmt es bekanntlich für den natürlich und notwendigen Entwicklungsgang der Dinge, daß mit fortschreitender Kultur und wachsender Erkenntnis auch die pessimistische Einsicht immer allgemeiner wird, daß es mit dieser ganzen Welt und all unseren Bestrebungen darin durchaus  nichts  sei, - im Gegenteil, all unser Wollen und Handeln nur dazu beiträgt, die Welt und unsere Daseinsbedingungen in ihr noch zu verschlechtern. Ein exakter  Beweis  für diese Behauptungen ist natürlich  nicht möglich;  aber die Entwicklung so mancher Kulturbestrebungen unseres Zeitalters bietet in der Tat so viel scheinbare Bestätigungen dafür, daß sich die pessimistische Weltansicht immerhin mit einigem Recht als die objektivere, weiter schauende fühlen und ausgeben kann, die auch mit den jetzt vorherrschenden Prinzipien wissenschaftlicher Forschung am besten zusammenstimmt. - Und dennoch, wie steht es denn eigentlich mit dem "naturnotwendigen Entwicklungsgang", auf den man sich hier mit solcher Sicherheit beruft? Ist es denn schon so ausgemacht, daß  alle  "Entwicklung", - auch die unserer  Geisteskultur  also, - durchaus nur eine "Naturnotwendigkeit" sein muß, daß sie keinerlei Momente in sich aufzeigen kann, die nicht aus den vorangegangenen Naturbedingungen rein analytisch begriffen und vollständig erschöpfend abgeleitet werden könnten? - Es ist dies in der Tat die völlig entscheidende Frage, so sehr sie auch gerade dem modernen Bewußtsein aus dem Gesichtskreis gekommen sein mag! Denn gar zu sehr hat man sich - nach dem Voranschreiten der Naturwissenschaft - daran gewöhnt, alle Erscheinungen nur für notwendige Entwicklungsprodukte gegebener  Antezendien [Vorhergehendes - wp] zu nehmen, aus denen sie mechanisch ohne Rest ableitbar sind. Wo aber diese Anschauungsweise zur Herrschaft gelangt, muß sie für die  Ethik als Lehre von der  Freiheit die bedenklichsten Folgen haben und kann daher nach dem vorher Entwickelten auch nicht ohne Einfluß bleiben auf die Empfänglichkeit für eine pessimistische Weltauffassung.

Vergegenwärtigen wir uns einmal in kurzen Zügen die Entstehungsgeschichte der mechanistischen Denkweise, die wir heutzutage so weite Kreise beherrschen sehen, und die fast in allen Wissenschaften Eingang gefunden hat! Es waren keineswegs etwa empirische Tatsachen oder gar Ergebnisse des wissenschaftlichen Experiments, sondern lediglich das Gefühl einer freien Kraftbetätigung und geistiger Souveränität, was schon im Altertum zu kunstvollen und kühnen Entwürfen mechanistischer und atomistischer Weltansichten führte. Es hat etwas Verlockendes für den menschlichen Geist, aus selbstgeschaffenen einheitlichen Bausteinen das Weltgebäude und alle Wirklichkeit überhaupt vor sich entstehen zu lassen, es der schaffenden Gewalt der Götter im idealen Nachbild zumindest gleich zu tun und hier und da vielleicht gar zu entdecken, was sie hätten besser machen können! - Und dieser Geist ist es dann auch eigentlich, dem alle Naturwissenschaft ihre erste Entstehung verdankt und zugleich ihre Würde als wahrhaft menschlicher Bestrebung! Allein zu irgendwelcher  Bedeutung  konnten diese apriorischen Konstruktionsversuche doch erst gelangen, wo sich zur Kraft und Lust des Konstruierens auch die Mittel fanden, diesem Drang zu genügen. Die Vervollkommnung der empirischen  Beobachtung  der Natur und der dazu dienenden Instrumente interessiert uns hier nicht weiter. Dagegen war es die Entwicklung der  Mathematik  und besonders der  "Infinitesimalrechnung",  wodurch es gelang, dem wirklichen Naturgeschehen so weit nachzugehen mit der eigenen Konstruktion, daß kaum noch ein Geheimnis zurückzubleiben schien, dem man nicht - zumindest im Prinzip - auf die Spur zu kommen hoffen konnte. Mit überraschender Schnelligkeit schritt man von Erfolg zu Erfolg, ein Gebiet des Naturgeschehens nach dem andern dem nachkonstruierenden Geist unterwerfend. Dennoch war es erst unserem Jahrhundert vorbehalten, dieser Entwicklung nach zwei Seiten hin einen gewissen Abschluß zu geben, durch den die mechanistische Denkweise eigentlich erst die Bedeutung erlangen konnte, die ihr heutzutage unbestritten zukommt. Es war die Tat DARWINs, einer als  Hypothese  freilich schon von KANT ausführlich erläuterten Ansicht die sicheren empirischen Fundamente zu schaffen, durch welche auch das ganze Gebiet des  Organischen  den Prinzipien mechanisch-genetischer Erklärungsmethoden unterworfen wurde. Und es war auf der anderen Seite die noch glänzendere Tat ROBERT MAYERs, aufgrund des Gesetzes von der  Erhaltung der Energie  und durch die Entdeckung des  "mechanischen  Wärme-Äquivalents" unsere erklärende Naturerkenntnis zur geschlossenen prinzipiellen  Einheit  zusammenzufassen und die exakte, rechnende Verfolgung der Naturvorgänge auch da zu ermöglichen, wo bisher noch völliges Dunkel geherrscht hat!

Kein Wunder, wenn solche Erfolge - zwar nicht ihre Urheber selbst, wohl aber übereifrige Anhänger der neuen Lehren - dazu verleiteten, die Tragweite der gewonnenen Ergebnisse zu überschätzen und ihre unbedingte Gültigkeit auch da in Anspruch zu nehmen, wo keinerlei Erfahrung mehr den Boden dazu hergeben konnte! Und kein Wunder auch, wenn sich auf lange Zeit hin die Aufmerksamkeit und das Interesse aller Gebildeten auf die so gewaltsam und erfolgreich fortschreitende Naturwissenschaft lenkte, daß man willig auch alle Übergriffe mit in Kauf nahm und für gerechtfertigt durch die Macht der Tatsachen hielt, die es doch nicht waren! Nicht bloß das Reich des  Naturgeschehens, - das  organische  eingeschlossen, sondern auch das  geistige  Leben sollte in einem mechanischen Entwicklungsgedanken seine erschöpfende Erklärung gefunden haben. Und doch gaben zu solchen jedes Maß überschreitenden Folgerungen die naturwissenschaftlichen Entdeckungen in Wahrheit nicht den mindesten Anlaß. Freilich war es ein - zufolge der vorher geschilderten Entwicklung ja verständlicher - Lieblingsgedanke der spekulierenden Naturwissenschaft, das Ganze des Naturgeschehens nach Art eines ungeheuren Automaten zu fassen: alle Veränderungen sollten mit mechanischer Notwendigkeit aus der ursprünglichen Anlage und inneren Einrichtung des Ganzen hervorgehen: und zwar derart eindeutig bestimmt, daß es einem Geist, der nur umfassend genug wäre, gelingen müßte, den ganzen Weltlauf mit all seinen einzelnen Geschehnissen in  eine  umfassende mathematische Formel, ein System von Differentialgleichungen, zu bannen. Diese berühmte "Weltformel des Laplace'schen Geistes", wie DUBOIS-REYMOND in seinen "Grenzen des Naturerkennens" sie nennt, soll uns also, wenn wir sie hätten, in den Stand setzen, alles Geschehen für jeden beliebigen Zeitpunkt genau und eindeutig vorherzuberechnen, bzw. nachzukonstruieren! - In der Tat ein großartiger, gewaltiger Gedanke, - aber auch zugleich eine Überspannung der Freude an der Souveränität des theoretischen Denkens, wie sie sonderbarer und naiver kaum gedacht werden kann! Denn - ich wiederhole es - nicht die  Erfahrung  war es, was zu dieser Konsequenz hintrieb, sondern allein die  spekulative Konstruktionslust,  der apriorische Drang, Ordnung und Einheit in das Ganze des Weltgeschehens zu bringen, in mathematischer Nachkonstruktion sich dieses Ganze begreiflich zu machen und so dem theoretischen Geist zu unterwerfen! Wäre aber die Welt  in Wahrheit  nichts weiter, als ein ungeheures Uhrwerk, zu dem sie hier gemacht wird, so gäbe es in ihr keine Stelle mehr für  wollende  und  handelnde Wesen!  Das  Wollen,  das Entschlußfassen unter mehreren Möglichkeiten nach  Zweck-  und  Ideal-Vorstellungen, zu denen wir durch eine bewußte, vernunftgeleitete Überlegung zu gelangen glauben. Das alles wäre bloße  Jllusion In Wirklichkeit gäbe es nur ein notwendiges  Geschehen in uns,  ohne all unser Zutun, - für das wir dann folgerechterweise auch keinerlei Verantwortung mehr zu tragen hätten! - Um welchen Preis aber ist da jener scheinbare höchste Triumph des erkennenden theoretischen Geistes erkauft! Was hilft uns selbst die höchste Erkenntnis, wenn es uns völlig versagt ist, auch nur den mindesten  Gebrauch  davon zu machen, die  theoretische  Herrschaft auch in die  praktische Tat  umzusetzen, wenn wir selbst die  Jllusion  jeder eigenen Tat, jedes zweckvollen Wollens nur von einem unabänderlichen Walten der einmal vorhandenen und wirksamen Naturgewalten erwarten dürfen, nichts selbst dazu zu tun imstande sind? - Jene Überspannung des rein theoretischen Interesses und des Konstruktionseifers führt also notwendig zur völligen Enttäuschung; es ist nur ein  Idol,  was man hier verfolgt und wofür man das eigentlich  Wertvolle  in unserem Dasein so bereitwillig hingibt! Man schafft sich hier willkürlich selbst eine Welt, die nachher zu weiter nichts gut ist, als in pessimistischer Resignation darüber zu reflektieren, ob nicht ihr Nichtsein vorzuziehen wäre!

Und dennoch ist heutzutage in weitesten Kreisen die Meinung verbreitet, daß jene angedeuteten Konsequenzen aus den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft wirklich zu ziehen seien. Denn auch die  Psychologie  hat sich mehr als wohl nötig war, von jenen einseitigen Übertreibungen der Naturwissenschaft fortreißen lassen. Auch ihren Vertretern gilt vielfach zumindest das  materielle Naturgeschehen  als in sich  geschlossenes Ganzes,  unbeeinflußbar durch jede etwaig außerphysikalische Kraft und insbesondere auch durch  psychische  Vorgänge! Da nun doch all unser  Wollen  zuletzt im  Handeln  seinen Ausdruck finden soll, dieses aber überall in das Gebiet des Physisch-Materiellen hinübergreift, so bleibt auch bei dieser Anschauungsweise schließlich für das eigentlich  geistige Leben  kein Raum; es wird zur bloßen  Begleiterscheinung,  zur  Funktion  des gerade gegebenen  physischen  Vorgangs herabgedrückt. Und wenn man auch noch ein  Wollen,  als durch innere Erfahrung unmittelbar gegeben, festhält, so vermag dann eben doch nicht dieses, sondern nur gerade parallel gehende physische oder physiologische Gehirnprozeß die gewünschte Folge zu erzeugen; dieser Gehirnprozeß aber ist durchaus nur Folge der vorangegangenen  materiellen  Vorgänge; und so bleibt auch für diese "psycho-physische" Auffassung das Wollen in letzter Instanz eine bloße  Jllusion der für die wirkliche Handlung keinerlei Bedeutung zukommt.

Aber auch von anderer Seite her, vom rein psychologischen Boden aus, haben solche mechanisierenden Tendenzen die modernen Psychologie überflutet. Zwar scheiterte das HERBARTsche Unternehmen, den ganzen Vorstellungsverlauf aufgrund einer  Assoziations mechanik in mathematische Formeln zu bannen; allein man hält es doch immer noch für so gut, wie ausgemacht, daß auch hier nur eine starre, mathematische Notwendigkeit herrscht, daß auch der Ablauf der psychischen Vorgänge nur die notwendige, auch der Zeit nach schon eindeutig festgelegte Entwicklung des einmal Angelegten sei. - Auch hier ist es lediglich das  theoretische  Interesse,  nicht  die  Erfahrung was dieser Denkweise zugrunde liegt. Man meint, es sei anders keine Gesetzlichkeit denkbar und mithin keine Wissenschaft möglich, als unter der Voraussetzung eines automatenhaften, zeitlich genau geregelten Ablaufes der Vorgänge; und darüber läßt man entweder alle Konsequenzen einfach außer Acht, die sich aus einer solchen Auffassung für unser Wollen und Handeln ergeben müssen, oder man trägt auch kein Bedenken, zugundsten der einmal zu eigen gemachten Anschauung den Tatsachen des geistigen Lebens, des Wollens, Gewalt anzutun und sie kühn hinwegzuleugnen oder zur Jllusion zu erklären.

So zweifellos nun die Wissenschaft gerade der Aufsuchung und Feststellung  allgemeiner Gesetze  in allem Geschehen gerade ihre großen Erfolge und Triumphe verdankt, so ist doch andererseits die Tatsache, daß überall solche allgemeinen Gesetze auffindbar sind, daß also alles Geschehen  innerhalb  gewisser mechanischer Zusammenhänge zu verlaufen gezwungen ist, noch keineswegs damit identisch, daß aller Naturlauf  nur die mechanisch-notwendige Entwicklung  eines gegebenen ersten Anfangszustandes sei! Man überschreitet durchaus den Boden jeder gegebenen und überhaupt möglichen Erfahrung, wenn man zu der Behauptung einer solchen  allgemeinen Prädeterminiertheit  allen Geschehens übergeht und so den  "Mechanismus",  anstatt ihn zu  beherrschen  und zu  gebrauchen,  zu einem alles, was Leben heißt, zur bloßen Jllusion herabdrückenden  Fatum  erhebt! Solch ein automatisches Kunstwerk mag ein sehr interessantes Spielwerk für die spekulierende Konstruktionslust sein. Aber seine  wirkliche Existenz  könnte nur als völlig zweck- und sinnlos bezeichnet werden! - Und so zeigt dann auch tatsächlich die unbefangene,  objektive Beobachtung  und  Erfahrung  uns jene allgemeinen Gesetze des Geschehens keineswegs zu so einem sinnlosen Werk mißbraucht; vielmehr lehrt sie uns allen  Mechanismus  durchaus nur als eine  Summe von Mitteln und Werkzeugen  verstehen, deren alles  Wirken  in dieser Welt, um Erfolg zu haben, sich bedienen muß. Daraus ergibt sich dann auf der einen Seite die große Bedeutung der möglichst erschöpfenden  Erkenntnis  dieser Gesetze des Mechanismus für uns; denn diese erst setzt uns instand, uns jener Mittel und Werkzeuge nun auch für unser  eigenes  Wirken und eigene  Zwecke  zu bedienen. Auf der anderen Seite aber fordert diese - immer noch einer unbegrenzten Erweiterung fähige - Erkenntnis der uns zu eigen gegebenen  Mittel  möglichen Wirkens uns nun auch zu einem  Gebrauch  dieser Mittel heraus, welcher der so erweiterten Machtsphäre unseres Wesens einigermaßen angemessen ist!

Gar zu sehr hat man sich in der modernen Wissenschaft, einseitig von einem theoretischen Interesse geleitet, daran gewöhnt, überall den Blick nur auf das  mechanisch Notwendige  der Zusammenhänge zu richten; man beachtet zu wenig, daß diese Notwendigkeit doch nur erst die  eine Seite  des wirklichen Geschehens ist, nur die unentbehrliche  Basis,  auf der ein bedeutsames, zweckvolles Wirken allererst möglich wird! Dieser beständige Hinweis aber auf das uns  a tergo [von hinten - wp] treibende Notwendige, Unvermeidliche, ohne gleichzeitige Hervorkehrung der darin doch zugleich begründeten Erweiterung unserer  Macht- und Willenssphäre, konnte zuletzt nicht wohl anders, als erdrückend und ertötend wirken auf das Eigenleben der Persönlichkeit. Es ist nicht zuviel behauptet, wenn man die  mechanisierenden Tendenzen  der modernen Wissenschaft in der gekennzeichneten Übertreibung als den eigentlichen Nährboden bezeichnet, in den die letzten Wurzeln des Pessimismus zurückreichen, sofern er in unserer Zeit als  pathologische Erscheinung  auftritt.


Unter dem Einfluß der soeben erwähnten Bestrebungen der modernen Wissenschaft ist auch der alte Streit um die  Freiheit unseres Willens  in eine neue Phase getreten. Die  deterministische  Ansicht gilt jetzt fast allgemein als ausgemachte Tatsache, obgleich noch ein LOTZE die Freiheitslehre in ihrer extremsten Form zu vertreten keinen Anstand nahm. Und allerdings wird sich jene Freiheit, deren jede einer echten Ethik bedarf, nicht wohl bestreiten lassen; sie ist in der Tatsache begründet, daß unser  Denken  keineswegs von bloß  zeitlich-mechanischen  Bedingungen konstituiert wird, sondern all seine eigentliche Bedeutung von völlig  außerzeitlichen,  lediglich  inhaltlichen  Bestimmungen empfängt. Sofern nun unser  Wollen  wiederum sehr wesentlich durch die Ergebnisse unseres Denkens bestimmbar ist, wird auch in ihm jederzeit ein völlig  Neues  auftauchen können, das in keinem Vorangegangenen noch begründet ist. Muß es auch seiner  Möglichkeit  nach freilich in den Antezedentien schon mit angelegt sein, so stellt es doch immer noch eine  Auswahl  unter mehreren in gleicher Weise angelegten Möglichkeiten dar; und bei dieser Auswahl eben werden jene lediglich  inhaltlichen  Bestimmungen und Verhältnisse maßgebend, wie sie z. B. in den Gesetzen der  Ethik  oder der  Ästhetik  oder, allgemeiner, in unseren  Zweck-  und  Ideal vorstellungen enthalten sind! - So sind wir trotz aller Beschränktheit und Bedingtheit dennoch in der Lage, zu festen, in sich selbst gerechtfertigten  Grundsätzen  unseres Wollens und Handelns zu gelangen, und uns zu einer Abwägung des Wertes der verschiedenen ansich  möglichen  Handlungsweisen zu erheben, bei welcher wir völlig gewiß sind, durch nichts anderes, als unser eigenstes, innerstes Wesen geleitet zu werden!

Wenn ich aber hier am Namen der  Freiheit  festhalte, obgleich die "Bestimmtheit durch das eigene Wesen" ja gewiß  auch  als "Determiniertheit" bezeichnet werden kann, so glaube ich dies dadurch gerechtfertigt, daß diese letztere Bezeichnungsweise dann doch gar zu einseitig und eigensinnig gerade  das  in den Vordergrund rückt, worauf es gar nicht ankommt, während sie  das  ganz vernachlässigt, was hier doch die Hauptsache ist: daß nämlich auf die bewußte, kräftige  Selbstbetätigung  unseres eigenen Wesens hierbei vor allem  gerechnet  ist! Läßt man dies außer Acht und zeigt dem Subjekt von vornherein auf allen Seiten nur eine starre, unabänderliche "Notwendigkeit" und "Determiniertheit", so  kommt  es überhaupt gar nicht mehr zur rechten Entfaltung einer wahrhaft eigenen Wirksamkeit. Ohne  Bewußtsein  der "Freiheit" ist nicht bloß  kein freies,  sondern auch nicht einmal ein  eigenes  Handeln möglich! - Insofern ist es keineswegs ein bloßer Wortstreit, ob man den gleichen Tatbestand als  Freiheit  des Willens oder als  Determiniertheit  bezeichnet. Mag immerhin die Annahme einer Willensfreiheit in einem absoluten Sinn eine "Jllusion" sein; jedenfalls wird auch die Annahme der völligen  Determiniertheit  unseres Wollens zur "Jllusion", sobald sie uns beim Wollen selbst auch nur im mindesten beeeinflußt. Und zwar übt  diese  Jllusion sogleich die verderblichste Wirkung, indem sie unsere Selbstbetätigung lähmt und erdrückt und uns nichts übrig läßt, als jenes resignierte Waltenlassen des fremden  Geschehens in uns,  als dessen natürliche Konsequenz sich die  pessimistische  Ansicht der Dinge einstellt!

Demgegenüber wird es die Pflicht der  Philosophie  als der  zentralen Wissenschaft,  die sie ihrer ursprünglichen Bestimmung nach sein soll, einmal wieder mit aller Energie die Sache der  Freiheit  zu führen, welche die Einzelwissenschaften bei der einseitigen Verfolgung ihrer rein theoretischen Interessen gar zu sehr aus dem Auge verloren haben. Der Pessimismus, soweit er als pathologische Erscheinung auftritt, kann durch nichts weiter überwunden werden, als durch eine kraftvolle  Philosophie der Freiheit,  welche uns einmal wieder das  Gebiet des uns möglichen Wollens  vor Augen führt und uns zur wirklichen  Ausübung  der  Herrschaft über die Natur  erhebt, zu der wir als geistige, als sittliche Wesen berufen sind! Die so gewaltig fortschreitende  Erkenntnis  der Zusammenhänge und der Gesetze der Natur darf uns nichts anderes sein, als ein Mittel zur freien Erhebung über alle bloße Notwendigkeit zu einem wahrhaft eigenen Leben mit selbstgeschaffenen Zwecken und Idealen, um deren willen es sich verlohnt zu leben! Kurz, es wird die Sache dieser "Philosophie der Freiheit" sein, das Interesse der  Menschheit in uns  überall zum obersten, beherrschenden Prinzip aller Wissenschaft zu machen, die Einzelwissenschaften in die ihnen durch die Natur der Sache zugewiesenen Schranken zurückzuweisen und sie wieder zu dem zu machen, was sie sein sollen: zu  Organen der Menschheit  mit ihren Idealen, in denen allein ihr aller Wert der umgebenden Wirklichkeit und deren Erkenntnis liegen kann! - Je mehr es der Philosophie gelingt, diesen ihren eigentlichen Beruf zu erfüllen, um so erfolgreicher wird sie allen pessimistischen Anwandlungen des Zeitalters den Boden entziehen und wieder Kraft und Frische zum  Leben  verbreiten!

LITERATUR - Max Wentscher, Der Pessimismus und seine Wurzeln, Bonn 1897