ra-2C. MengerW. SombartW. HasbachE. WachlerA. Weber    
 
HEINRICH DIETZEL
Über das Verhältnis der
Volkswirtschaftslehre zur Sozialwirtschaftslehre


"Man hat die Vorfrage zu entscheiden, ob die Nationalökonomie überhaupt den Rang einer selbständigen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf. Entweder man gesteht ihr diesen Rang zu - dann muß sie ihre  eigene  Methode haben, oder leugnet man ihre Selbständigkeit, so erkläre man sich offen darüber, ob man sie als Hilfswissenschaft der Psychologie, der Politik der Geschichte oder der Ethik angesehen wissen will."

"Ist die Nationalökonomie wirklich eine  ethisch-psychologische  Wissenschaft, so müssen die Auffassungen von  Wert, Gut, Arbeit  weit auseinander gehen, so weit wie die Anschauungen über ethische und psychologische Grundlehren - bekanntlich sehr weit! - divergieren können."

Da mit dem im Titel gebrauchten Ausdruck "Sozialwirtschaftslehre" sich leicht ein Mißverständnis verbinden könnte, so möchte ich zu dessen Verhütung eine Erklärung geben, die mein Ziel von vornherein klarstellt und zugleich die Neubildung des Ausdrucks motiviert. Meine Dissertation versucht eine Verteidigung der Aufgabe und der Methode, wie sie die ältere Doktrin der ökonomischen Theorie vindiziert, gegen die Angriffe der historisch-ethischen Schule der Gegenwart. Ich wünsche nun an die Stelle meiner Ansicht nach unzutreffender Bezeichnungen wie  Privatwirtschaftslehre, Tauschwerttheorie, Verkehrslehre  usw., die alle im Sprachgebrauch der historisch-ethischen Schule eine tadelnden Beigeschmack erhalten haben, einen Ausdruck einzuführen, der in einem Wort einen Komplex von Erscheinungen ähnlicher Natur zusammenfaßt, wie ihn der Begriff "Volkswirtschaft" umschreibt. Die  Volkswirtschaft  ist ein  Organismus,  der sich bildet, wenn ein Volk, bzw. die dasselbe bildenden, untereinander selbständig verkehrenden Einzelwirtschaften  in einem Einzelstaat organisiert  oder durch staatliche Wirtschaftsmaßregeln zur Einheit verbunden wird, die  Sozialwirtschaft  in unserem Sinne ein  Organismus,  der sich bildet, sobald eine Gruppe von Einzelwirtschaften in regelmäßige Verkehrsbeziehungen zu einander getreten ist. Die Ursache der Bildung dieses Organismus ist nicht der Staatswille oder einzelne staatliche Wirtschaftsmaßregeln, sondern das natürliche Bedürfnis der Menschen nach materiellem Besitz. Durch den Verkehr der Gesellschaft entstehen Komplikationen und bilden sich Kausalitätsreihen, die sich nie und nimmer aus dem Staatswillen und seinen Äußerungen erklären lassen, die zwar oft von ihm durchkreuzt, gehemmt, vernichtet werden können, die aber als Wirkungen bestrachtet, zum allerkleinsten Teil auf staatliche Organisation als Ursache zurückzuführen sind. Die sozialen Zusammenhänge sind nicht zu verstehen, wenn man immer an die Grenzpfähle der Territorien denkt (die nähere Ausführung des Gegensatzes siehe den Schlußabschnitt der Abhandlung). Ich hätte statt "Sozialwirtschaft" auch "Verkehrsgesellschaftwirtschaft" sagen können, doch schien mir der gewählte Ausdruck bequemer. Die Ausdrücke "Privatwirtschaftslehre" etc. enthalten alle nicht den Hinweis auf das unsichtbare Band, das die Gruppen der in regelmäßigen Verkehrsbeziehungen stehenden Wirtschaften umschließt, während derselbe in meinem Ausdruck hervortritt.


"Dies ist unsere Schwäche: Die isolierende Methode
erschwert das Studium einer sicheren Ordnung
der Phänomene, so daß die daraus resultierenden
Klassifikationen nicht einer gewisser Willkür
entbehren."
- Bastiat, Les Harmonies Économiques


Die Geschichte der Wissenschaften zeigt uns, daß für das gesamte Streben einer geistigen Kulturepoche die Axiome, die Methode und die Terminologie derjenigen Wissenschaft vom stärksten Einfluß zu sein pflegen, welche zur Zeit den ersten Rang unter ihnen einnimmt. Je mehr die Zivilisation fortschreitet, desto geringer wird die gefährliche Herrschaft der Axiome, während Methode und Terminologie der tonangebenden Wissenschaft noch bis heute die übrigen Wissenschaften belebend und anregend fortwirken.

Das Aufblühen der modernen Wissenschaft ist geknüpft an den Sieg der freien Forschung über die Axiome der Theologie. Die Humanisten erstritten dem Wissen ein unbedingtes Recht neben und gegen den Glauben. Es begann das Loslösen der Philosophie und Philologie aus dem Kreis der theologischen Dogmen. Für die Philosophie ein Akt der Revindikation [Rückforderung - wp] ihres früheren Rechts war es für die Philologie der Erwerb eines neuen. Die Anforderungen der Zeit gewährten den hochbegabten Geistern des 16. und 17. Jahrhunderts noch die Möglichkeit, beide Wissenschaften zu vereinigen und zu beherrschen; erst mit LEIBNIZ verschwand der letzte Vertreter des universalen Humanismus. Das klassische Zeitalter der exakten Forschung auf dem Gebiet der Sprach- und Geschichtswisenschaft ist angebrochen. Die philologisch-historische Richtung gewinnt das Interesse der leitenden Kreise der Wissenschaft und erstickt in Deutschland mit ihren mikrologischen Untersuchungen das Verständnis für die großen Aufgaben, welche das 18. Jahrhundert seinen Bürgern stellte. Noch heute dominiert sie in unseren Gymnasien; sie hat im Anfang unseres Jahrhunderts die Jurisprudenz (1) beherrscht und als sie hier unterlag, zog sie eine andere Wissenschaft in ihre Kreise -  die  Nationalökonomie.

Dieses Gebiet aber fand sie schon durchdrungen vom Geist einer anderen Wissenschaft, mit der sie nun um den Sieg auf diesem neutralen Boden zu ringen begann. Diese Wissenschaft, die ihr, zumundest in den romanischen Ländern, als Rivalin entstanden war, ist die moderne, materialistisch gefärbte Naturwissenschaft, die sich selbst erst der Herrschaft der Axiome der verschieenen philosophischen System hatte entwinden müssen.

Während die theologische Forschung offen als das letzte Ziel ebenso wie als den Ausgangspunt ihrer Argumentationen das Feststehen einer  transzendentalen,  persönlichen Gottheit als Axiom bekannt und gewollt hatte, während die philologische Richtung auf induktivem Weg das Walten  idealer  Mächte zu beweisen als ihre Aufgabe und sich selbst als die Pflegerin und Schützerin aller idealen Bestrebungen der Zeit betrachtet hatte, duldete die Naturwissenschaft im Kreise ihrer Schlüsse keine transzendentalen oder idealen Faktoren, keine unantastbare Prämisse eines persönlichen Gottes, mit dessen Annahme eben die  Möglichkeit  einer Erscheinung gegeben gewesen wäre, welche außerhalb des Kausalismus der Materie stehend, die Gewißheit jedes ihrer aufgrund des Kausalitätsgesetzes gewonnenen Resultate hätte erschüttern müssen, sondern suchte nur die Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen in der  realen,  greifbaren Welt. Das Endziel ihrer Forschung kümmert sie nicht, das Erkennen um des Erkennens willen, das Wissen als Selbstzweck ist ihr Prinzip - das absolute Prinzip aller exakten Forschung der Zukunft. Mit ihren Erfolgen wächst ihr Ansehen und die Materie gewinnt jetzt eine Bedeutung für die wissenschaftlichen Bestrebungen der Zeit, welche die Denker früherer Jahrhunderte mit tiefem Bedauern erfüllt hätte. Fast  gleichzeitig  aber mit der Naturwissenschaft hat die  Nationalökonomie  ein selbständiges Interesse für sich zu beanspruchen begonnen. An der Grenzscheide der alten und neuen Zeit erschien die Untersuchung ADAM SMITHs "Über die Ntur und Ursachen des Volkswohlstandes". Die Welt der Sachen erscheint jetzt auch noch von anderer Seite beleuchtet als die Ursache der Lebensgestaltung der Nationen. Die neue Wissenschaft breitet sich nun zunächst in den Ländern aus, welche die Naturwissenschaften ebenfalls am meisten begünstigen: in England, dem klassischen Land der induktiven Philosophie, und in Frankreich, dem Herrschaftsgebiet des naturwissenschaftlichen Materialismus. Aus seinen Wurzeln ensproß sie,  elle est venue au monde dans l'erreur meme  [und als sie auf die Welt kam, verfiel sie in den gleichen Fehler. - wp], ruft RONDELET (2) emphatisch aus. Dadurch aber wird der Einfluß der naturwissenschaftlichen Methode und Terminologie auf die jüngere, noch unreife Wissenschaft ein so bedeutender, daß man die Menschenwelt als ein ebenso fest gefügtes Gebilde anzusehen sich gewöhnt hat, wie die Natur, und Lehrsätze zu formulieren sucht, welche den exakten Gesetzen der dominierenden Wissenschaft analog sind.

Die Reaktion (3) gegen die Oberherrschaft der Naturwissenschaft war zwar auch in diesen Ländern heftig und gewaltsam, trat aber nur vereinzelt auf und blieb behaftet mit dem Makel der Häresie, während die orthodoxe Wissenschaft bis heute die durch die "naturwissenschaftliche" Methode vorgeschriebene Bahn eingehalten hat. Die deutsche Wissenschaft schlug aber, nachdem sie die SMITH-SAYschen Grundsätze mit deutschem Geist durchdrungen und fortgebildet hatte, in der Mitte unseres Jahrhunderts einen durchaus selbständigen Weg ein durch die  Rezeption der historischen Methode  und befreite dadurch die Nationalökonomie aus dem Anschauungskreis der Naturwissenschaft. Wir danken ihr die Emanzipation aus den formalistisch starren, farblosen Abstraktionen der Engländer ebenso wie die Überwindung der idealistischen Schwärmereien des französischen Optimismus. Wir sehen durch ihr Verdienst unsere Wissenschaft auf eine breitere Basis gegründet, auf edlere Ziele hingewiesen. Handelte es sich nur darum, zu entscheiden, ob die Lösung der gesellschaftlichen Probleme, welche sich die Nationalökonomie gerade unserer Tage zur  praktischen Aufgabe  stellt und stellen muß - die Lösung der unter der Herrschaft der freien Konkurrenz entstandenen Disharmonien zwischen Kapital und Arbeit, die Neuschöpfung von sozialen Institutionen, von volkswirtschaftlichen Organisatonsformen - besser durch die Anwendung der naturwissenschaftlichen oder der geschichtlichen Methode erfolgt, so würden wir ohne Besinnen der letzteren den Vorzug einräumen müssen. Aber gerade dieses Entweder-Oder ist es, was wir hier bekämpfen wollen. Ehe man diese Fragestellung annimmt, hat man die Vorfrage zu entscheiden, ob die Nationalökonomie überhaupt den Rang einer selbständigen Wissenschaft in Anspruch nehmen darf. Entweder man gesteht ihr diesen Rang zu - dann muß sie ihre  eigene  Methode (4) haben, oder leugnet man ihre Selbständigkeit, so erkläre man sich offen darüber, ob man sie als Hilfswissenschaft der Psychologie, der Politik der Geschichte oder der Ethik angesehen wissen will. Alle diese Herrschaftsansprüche finden ihre Vertreter, welche im Einzelnen, in der Voranstellung oder stärkeren Hervorhebung des einen oder anderen Moments, wohl differieren, aber sich gegenseitig unterstützen im Kampf gegen die verhaßte naturwissenschaftliche Methode und den absoluten Dogmatismus der älteren Nationalökonomie. - Unternehmen wir es nun, die so übereinstimmend verurteilte ältere Doktrin gegen die Anklagen zu verteidigen, welche die historisch-ethische Schule ihr in so reichem Maß und mit den scheinbar überzeugendsten Beweisen zuteil werden läßt, so wird es nötig, hier zuerst die  Gründe  anzugeben, welche unseren Versuch entschuldigen werden.

In erster Line gab den Anlaß zu einer Prüfung der erhobenen Einwände die Erkenntnis der Tatsache, daß wie bereits zu Anfang besprochen, jede neue Wissenschaft zunächst unter Vormundschaft gestellt war und sich selbst majorisieren mußte. Jede neue Wissenschaft hat diesen Kampf ums Dasein, um die Anerkennung der ihr allein und eigentümlich zufallenden Aufgabe und Methode gekämpft. Da wir ganz analoge Kämpfe in der Geschichte anderer, heutzutage als selbständig anerkannter Wissenschaften wahrnehmen, erscheinen mir berechtigt, uns hier mit aller Sorgfalt die Frage vorzulegen, ob nicht etwa die augenblickliche Herrschaft der historisch-ethischen Schule nur eine wenn auch  notwendige  Phase im Entwicklungsprozeß der ökonomischen Wissenschaft bildet, ehe wir in ihr das Endstudium ihrer Geschichte erkennen. Wir möchten das Prinzip der historisch-ethischen Schule, das Prinzip der Relativität auf sie selbst anwenden: daß die Überschätzung der logischen Virtuosenkünste RICARDOs und seiner noch abstrakteren Schüler MacCULLOCH und de QUINCEY etc., wie sie in England eine Reaktion durch MALTHUS, eine Modifikation durch JOHN STUART MILL veranlaßte, auch eine prinzipielle Gegnerschaft hervorrufen mußte, ist historisch erklärlich. Daß die Übertreibung eines ansich richtigen Prinzips den entgegengesetzten Irrtum veranlaßt, ist ein konstantes Phänomen des wissenschaftlichen Fortschritts! Daß die nach  praktischer Hilfe  ringende Zeit sich bald unbefriedigt abwenden mußte von den toten mathematischen Formeln der reinen ökonomischen Theorie und nach konkreten, nicht nach absoluten Lösungen der wirtschaftlichen Probleme verlangte, daß sich das Recht des Lebens vor dem Recht der Lehre geltend machte - es wäre wunderbar, wenn diese Phase nicht eingetreten wäre!

Ferner scheint nir aber die Ursache dieses von der historischen Methode oder allgemeiner gesagt der Methode der Induktion in der ökonomischen Wissenschaft errungenen fast vollständigen Triumphs in einem so engen Zusammenhang zu stehen mit der in diesem Grad sicherlich nicht berechtigten Abneigung unserer Zeit gegen abstrakte Erörterungen, mit einer bis jetzt in Deutschland glücklicherweise unerhörten Unterschätzung der Theorie als solcher, daß wir einem mißtrauischen Gefühl Raum geben, wenn wir die Methode der Deduktion auch von einem Gebiet verdrängt sehen, auf welchem sie zuerst mit so glänzendem Erfolg angewandt war. Gerade unsere Zeit, welche mit ihrer rapiden Ansammlung von stofflichem Wissen auf allen Forschungsgebieten die wissenschaftliche Arbeitsteilung (5) bis ins Extrem zu treiben gezwungen wird, sollte sich stets gegenwärtig halten, daß diesem Zerfließen des Wissens und der Einzelwissenschaften in tausend Bäche und Bächlein nur dadurch gesteuert werden kann, daß eine Konzentration zumindest  versucht  wird, welche den Zusammenhang der Einzeluntersuchungen wieder herstellt. In dieser Vereinfachung eben besteht der Fortschritt des menschlichen Wissens:  le sciences progressent en se simplifiant  [Wissenschaft schreitet voran indem sie vereinfacht. - wp] (LEIBNIZ) Der Weg zu dieser Vereinfachung aber ist allein der gefahrvolle steile Pfad der Abstraktion. So viel an uns liegt, werden wir versuchen, für eine Wissenschaft, die wie keine andere die Gefahr in sich birgt, aus einer Wissenschaft zu einer Gruppe mehr oder weniger zusammenhangloser Einzeluntersuchungen herabzusinken, die Methode zu retten, welche sie in den Augen des Jahrhunderts, das sie bewundernd entstehen sah, zu einer neuen selbständigen Wissenschaft erhob.

Weiterhin gibt uns aber die Betrachtung der unter der Herrschaft der Methode der Induktion für die reine ökonomische  Theorie  erzielten Resultate die Berechtigung einer Prüfung der Richtigkeit ihres Prinzips für die ökonomische Wisenschaft. Daß die Gestalt der heutigen national-ökonomischen Wissenschaft zu Befürchtungen für die Möglichkeit, den Zusammenhang dieser unendlichen Fülle von Detailuntersuchungen wieder herzustellen Anlaß gibt, wird kaum bestritten werden. Ich meine hiermit durchaus nicht den Teil der nationalökonomischen Arbeitskraft, der auf exakte historisch-statistische Erforschung der wirtschaftlichen Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart verwandt wird. Es liegt im Wesen dieser Untersuchungen, daß der innere Zusammenhang des Ganzen, so wertvoll sie im Einzelnen sein mögen und so notwendig und fruchtbringend die Durcharbeitung der "wirtschaftlichen Partie in der Historie" (KNIES, a. a. O., Seite 7) der deutschen Gründlichkeit erscheinen muß, vielleicht erst nach der Arbeit von Generationen herzustellen ist. Ganz anders sind die Anforderungen, welche wir an den grundlegenden  dogmatischen  Teil einer Wissenschaft zu erheben berechtigt sind. Mag man nun auch so weit gehen, der Nationalökonomie die Aufstellung von wirtschaftlichen  "Gesetzen"  zu untersagen, so wird doch als bescheidener Rest des stolzen dogmatischen Teils der älteren Doktrin die Lehre von den  Grundbegriffen  so lange bestehen bleiben müssen, als es überhaupt eine ökonomische Wissenschaft gibt. Hier werden wir einen einheitlichen Ausgangspunkt für die wissenschaftlich zu fixierenden Definitionen und einen festen Zusammenhang der Einzelforschungen untereinander fordern dürfen und müssen, wenn nicht der Umfang der wissenschaftlichen Terminologie prinziplos und nutzlos vermehrt werden soll. Weil nun das feste Ziel der Forschung durch die historisch-ethische Schule in eine unbestimmte Weite und Höhe gerückt ist und die Auffassung der Aufgabe der Nationalökonomie der freien Subjektivität des einzelnen Volkswirtschaftsgelehrten überlassen bleibt, so ist das Resultat der in der letzten Zeit zutage geförderten dogmatischen Untersuchungen, soweit wir es zu überschauen vermögen, durchaus negativ, wie wir im letzten Teil unserer Untersuchung der Lehre von den Grundbegriffen, an den betreffenden Abschnitten von ADOLPH WAGNER, "Politische Ökonomie. I. Grundlegung", und ROSCHER, "Grundlagen der Nationalökonomie", nachweisen werden. Solange aber ein aus der Aufgabe der Nationalökonomie abzuleitendes Prinzip, mittels dessen die Abgrenzung der unter die Betrachtung der ökonomischen Wissenschaft fallenden Begriffe bewerkstelligt werden kann, noch nicht gelungen ist, werden wir uns unabänderlich jenen nutzlosen Kraftvergeudungen wissenschaftlichen Denkens gegenübersehen, von denen die Unzahl der existenten und neu auftauchenden Werttheorien ein bereits berüchtigtes Beispiel bietet.

Diese wissenschaftliche Verwirrung ist aber eine unmittelbare Konsequenz der Auffassung der historisch-ethischen Schule. Ist die Nationalökonomie wirklich eine "ethisch-psychologische" Wissenschaft (6), so müssen die Auffassungen von "Wert", "Gut", "Arbeit" weit auseinander gehen, so weit wie die Anschauungen über ethische (7) und psychologische (8) Grundlehren - bekanntlich sehr weit! - divergieren können.

Ist es bis jetzt der historisch-ethischen Schule meines Erachtens nicht gelungen, den dogmatischen Teil neu aufzubauen, so stützt sie sich anderersetis in den Partien ihrer Erörterungen, welche sich mit den Erscheinungen beschäftigen, deren Erklärung wir als die spezifische und neue Aufgabe der Nationalökonomie im Einklang mit der älteren Doktrin nachweisen wollen, durchaus auf die geschmähte Methode RICARDOs. Sobald es sich um die apriorische Bestimmung sozialwirtschaftlicher Kausalitätsreihen handelt, z. B. in der Preis- und Lohntheorie, in der Lehre vom Geld und von den Banken, verschwindet das "Volksethose" und die "moralischen Potenzen" und an ihre Stelle treten der "Marktmensch" und sein "Eigennutz" als alleinige Faktoren des Räsonnements. Auch hier ist ein Wahlspruch der Kritik:  Destruam et aedificabo  [Zerstörung und Wiederaufbau! - wp] leider nur in seinem ersten Teil erfüllt. Solange wir aber an der Ansicht festhalten, daß außer einer Beschreibung der volkswirtschaftlichen Zustände und einer geschichtsphilosophischen Betrachtung derselben, außer einer Erörterung praktischer Organisationsfragen der Volkswirtschaft von Fall zu Fall die Erklärung der aus dem willkürlichen, vom Selbstinteresse geleiteten Zusammenstoßen der Einzelwirtschaften entstehenden gesetzmäßigen Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens eine noch zu lösende Aufgabe bildet, wird eine Untersuchung berechtigt sein, welche jene  Methode der Deduktion  zu verteidigen sucht, die bis jetzt allein für  diese Erklärung  brauchbare Resultate geliefert hat. Wir glauben damit auch eine Pflicht der Pietät gegen jenen Mann zu erfüllen, der diese Methode mit so vollendeter, seitdem nie wieder erreichter Meisterschaft handhabte, auf dessen "Grundgesetzen" sich das ganze Lehrgebäude der ökonomischen Theorie aufgebaut hat und sich, wie wir meinen, in alle Zeiten fortbauen wird: DAVID RICARDO. Ich wil den Versuch machen, die Berechtigung der Methode der Dedukton aus abstrakten Prämissen für die ökonomische Theorie nachzuweisen. Ich sehe die  Aufgabe  der ökonomischen  Theorie  in der  Analyse des wirtschaftlichen Lebens.  Die Aufgabe zerfällt in zwei Unterabteilungen:
    A. Die  Wirtschaftslehre.  Sie untersucht das Verhältnis der Menschen zur Sachgüterwelt, ohne Rücksichtnahme auf den Verkehr. Sie betrachtet das Güterleben allein im Innern der als isoliert gedachten Einzelwirtschaft.

    B. Die  Sozialwirtschaftslehre.  Sie hat die Aufgabe, ein systematisches Lehrgebäude aprioristischer Deduktionen der Wirkungen zu bilden, welche ursächlich aus den  wirtschaftlichen Handlungen  der Einzelwirtschaftssubjekte, d. h. deren zielbewußtem Streben nach Unterwerfung eines Teils der materiellen Welt unter ihren Willen, für die  Sozialwirtschaft,  d. h. der Organismus der in regelmäßigen Verkehrsbeziehungen zueinander stehenden Einzelwirtschaften sich ergeben müssen.
Ihr  Ziel  ist die Formulierung von allgemeinen Gesetzen des sozialwirtschaftlichen Lebens.

Ihre  Methode:  die Deduktion aus  Prämissen,  welche sie auf dem Weg der Abstraktion, mit dem Bewußtsein der theoretischen Notwendigkeit derselben, gewonnen hat. Die Prämissen sind folgende:
    a) Die Wirkungen der wirtschaftlichen Handlungen werden nur betrachtet unter der  Voraussetzung  der  absoluten Freiheit des Verkehrs. 

    b) Der Inhalt der wirtschaftlichen Handlungen des Einzelwirtschaftssubjekts wird als allein bestimmt angenommen durch dessen  vernünftiges Selbstinteresse. 
Der Streit dreht sich nun keineswegs um die Gültigkeit der Unterabteilung  A,  der abstrakten Betrachtungen des Verhältnisses der Menschen zur Welt der Sachen, sondern die Frage lautet immer: Soll sich auf der Grundlage der Lehre von der "Wirtschaft" (im Sinne von Unterabteilung  A)  eine  Volkswirtschaftslehre  oder eine  Sozialwirtschaftslehre  aufbauen? Ich meine:  beide. 

Wir vindizieren der Volkswirtschaftslehre den ethisch-psychologischen Charakter und die Relativität der Lösungen, welche sie mittels der Methode der Induktion gewinnt. Ich fordere für die Sozialwirtschaftslehre die Methode der Deduktion und absolute Lösungen.

Der Grund, warum sich die ältere Doktrin der historisch-ethischen Schule nie einigen kann, liegt darin, daß die letztere aus der Wissenschaft von der Sozialwirtschaft eine Wissenschaft von der Volkswirtschaft zu machen beabsichtigt und die erstere bekämpft, ohne zu fragen, ob nicht vielleicht neben der Volkswirtschaftslehre, die  sie  zu schaffen unternimmt, als selbständige gleichberechtigte Wissenschaft die Sozialwirtschaftslehre bestehen bleiben kann und muß.
LITERATUR Heinrich Dietzel, Über das Verhältnis der Volkswirtschaftslehre zur Sozialwirtschaftslehre, Berlin 1882
    Anmerkungen
    1) Genauso wie heute die historisch-ethische Schule der Nationalökonomie von "Volksethos" und den "konkreten Eigentümlichkeiten des nationalen Menschen", so sprach zu Beginn unseres Jahrhunderts die historische Schule der Rechtswissenschaft (SAVIGNY, EICHHORN, NIEBUHR) von den stillwirkenden Kräften der Volksüberzeugung und der Besonderheit des durch die Macht ihrer Impulse gebildeten nationalen Rechts.
    2) RONDELET, Du spiritualisme en économie politique, zitiert nach COHN, Bedeutung der Nationalökonomie, Berlin 1869
    3) zum Beispiel SISMONDI, Nouveaux principes oder MALTHUS, Principles of political economy, Introduction. - - - Der Plan für den Angriff gegen die deduktive Methode ist bei ihm schon vollständig skizziert. Zuerst der Haß gegen die  Abstraktion  als solche: "die prinzipielle Ursache des Irrtums ... der dauernde Versuch zu vereinfachen und zu generalisieren (Seite 5). Diese Neigung führt zu "rohen und unreifen Theorien". Der Hinweis auf die  Psychologie:  "ihre Resultate ... hängen ab von der Vermittlung solcher Variablen wie etwa ein Mensch zu sein"; die Hervorhebung des  moralisch-politischen  Charakters der Wissenschaft: "allgemeine Prinzipien - werden gefunden, damit sie besonders den großen allgemeinen Gesetzen in  Moral  und  Politik  ähneln, die sich auf bekannte Leidenschaften und Neigungen der menschlichen Natur gründen" (Seite 2).
    4) In der Vorrede (Seite 7) von KNIES' bekanntem Werk "Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode" ist die Abänderung des Titels (anstelle des Zusatzes: "vom Standpunkt der geschichtlichen Methode" steht in der neuen 2. Auflage: "vom geschichtlichen Standpunkt") damit motiviert, daß  "die historische Methode nur für die Historie vollständig paßlich und korrekt sein"  kann. Leider ist das hochbedeutende Werk, dessen Wert in seinen positiven Ergebnissen, in der Begründung einer Geschichtsphilosophie des wirtschaftlichen Volkslebens, ich ebenso bereitwillig anerkenne, wie ich die Kritik des "Absolutismus" der älteren ökonomischen Theorie für unzutreffend erachte, noch nicht weit genug gediehen, daß man erkennen könnte,  inwieweit  diese "historische" Methode "paßlich und korrekt" ist, bzw. ob eine  andere  Methode  und welche  an deren Stelle zu setzen ist. Vorläufig nehme ich von diesem negativen Zugeständnis eines der genialsten Vertreter der historischen Schule mit Freuden Kenntnis. Ich werde bei ihm noch auf weitere Zweifel stoßen (a. a. O., Seite 34).
    5) Mit welchen Gefahren die Arbeitsteilung unser ganzes wissenschaftliches Leben bedroht, hat mit trefflicher Satire RÜMELIN in seinen "Reden und Aufsätze II", Seite 97f gezeichnet. Die psychologischen Gründe dieser fast allgemeinen Erscheiung in einem Aufsatz von CARO, "La critique contemporaine" (Revue d. d. m. 1881)
    6) ROSCHER, a. a. O., Seite 3
    7) Siehe LASSON, Vierteljahrsschrift für Volkswirtschaft und Kulturgeschichte, 1874
    8) Siehe RÜMELIN, a. a. O. I, Seite 116 (Über die Lehre von den Seelenvermögen).