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RUDOLF STOLZMANN
Die soziale Kategorie
in der Volkswirtschaftslehre

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"Die soziale Kategorie ist vielmehr bis jetzt im Wesentlichen nur erst von der Volkswirtschaftspolitik d. h. von der Lehre, die da untersucht,  was werden soll,  und also die Idee, im philosophischen Sinne des Wortes, zum Gegenstand hat, auf den Schild erhoben worden. Hier hat allerdings in den letzten Jahrzehnten eine wunderbare plötzliche Wendung stattgefunden. Sozialisten aller Parteien, konservative Sozialisten, Sozialdemokraten, Staatssozialisten, kirchliche Sozialisten, Kathedersozialisten haben den Kampf gegen den Individualismus auf wirtschaftlichem Gebiet mit einer Schärfe und Hast begonnen, als wollten sie all das über Nacht nachholen, was auf der benachbarten politischen Arena schon Jahrhunderte lang ausgekämpft worden ist."

Vorrede

Die Grundzüge zur "sozialen Kategorie" sind das Ergebnis langjähriger Studien, deren abschließende Zusammenstellung seiner Zeit unterbrochen wurde, als ich im Jahre 1891 den ehrenvollen Ruf ins Reichsversicherungsamt erhielt, um dort meine ungeteilte Kraft in den Dienst einer großen Sache zu stellen, welche praktisch auf dasselbe Ziel geht, welches mich theoretisch schon vorher so ungemein angezogen hatte: die  Betätigung des sozialen Gedankens.  Alles, was ich seitdem in der sozialpolitischen Theorie und Praxis sah und hörte, hat mich in der Überzeugung bestärkt, daß ich mit der von mir eingeschlagene Methode auf dem richtigen Weg war. Ich habe deshalb meine karg bemessenen Mußestunden benutzt, um vorläufig wenigstens diesen allgemeinen und kritischen Teil zum Abschluß zu bringen, obgleich ich mir wohl bewußt bin, daß ich nur einen Torso liefere, der nach Form und Inhalt den Ursprung seiner sprungweisen Entstehung nicht verleugnen kann. Der nachsichtige Leser wird Gnade vor Recht ergehen lassen und ich muß ganz besonders die gelehrten und berufsmäßigen Vertreter des Faches bitten, von einem vielbeschäftigten Staatsbeamten, der nur stundenweise aus dem nervösen Geräusch des ewig gleich gestellten Dienstes sich zu stiller Einkehr sammelt, nicht eine akademisch abgeschlossene Leistung auf einem Gebiet zu beanspruchen, welches bisher leider der Regel nach nur von geschulter Professorenhand kultiviert wurde.

Ich sagte: bisher und leider, ohne damit einen Vorwurf nach irgendeiner Seite hin aussprechen zu wollen. Denn meine ganze Schrift gibt davon Zeugnis, daß niemand verehrungsvoller wie ich zum deutschen Professor aufschaut und auch den Männern der Praxis erschließt sich immer mehr und mehr das Verständnis für die Bedeutung der sozialtheoretischen Grundfragen. Was ich mit meinen Worten ausdrücken wollte, ist nur das mit Neid gepaarte Bedauern, daß Theorie und Praxis gerade auf diesem Gebiet nicht in so inniger Beziehung, ich möchte sagen: in  Personalunion  verbunden sind, als dies z. B. im medizinischen und naturwissenschaftlichen Fach der Fall ist, wo Professor und Praktiker manchmal kaum auseinanderzuhalten sind. Auch in der Jurisprudenz ist die Scheidung nicht so groß. Warum ist es in der Nationalökonomie anders? Liegt es in der Sache, liegt es in der Art der Vollbildung und in der Verteilung der Berufsbetätigungen oder in der Zerstreutheit der Anwendungsgebiete? Der Leser mag selbst entscheiden. Mag es sein, wie es wolle. Ich für meinen Teil wäre glücklich, wenn gerade die hier gewählte Methode, d. h. die Methode der sozialen Betrachtungsweise, welche, unter strengem Ausschluß jeder Parteitendenz und jeder politischen Stellungnahme, doch mitten in die weltbewegenden praktischen Fragen des nach Gestaltung ringenden Wirtschaftslebens hineingreift, ihren bescheidenen Beitrag dazu liefern möchte, graue Theorie und frisch fröhliche Praxis mit festerem Band aneinander zu schließen, zu ihrem  gegenseitigen  Nutzen und Frommen und zur Förderung der sozialen Wohlfahrt und des sozialen Friedens.



Einleitung

Die Notwendigkeit der sozialen Betrachtungsweise
für die Volkswirtschaftslehre

Zwei Kategorien beherrschen den Organismus, der sich, im Gegensatz zu engen Ökonomie des einzelnen Haushalts, die Volkswirtschaft, ja in höherem Flug die Weltwirtschaft nennt. Denn was will der stolze Name dieses Organismus und der Lehre, die ihn erklären will, nämlich der Volkswirtschaftslehre, sagen? Doch nichts anderes, als daß diese Volkswirtschaftslehre, die Nationalökonomie oder mit besserer moderner Bezeichnung: die Sozialökonomie, es unternimmt, dem aus zwei Elementarbegriffen kombinierten Doppelnamen auch wirklich gerecht zu werden. Sie unternimmt es, nicht nur die Technik und das Wesen der neben einander bestehenden Einzelwirtschaften, als eines losen Aggregates selbständiger, eigenen Gesetzen gehorchenden Sonderorganismen, in ihren rein "ökonomischen" Elementen zu untersuchen, sondern auch die "sozialen" Beziehungen und Gesetze aufzudecken, welche die Individualwirtschaften aus der höheren Einheit des sozialen Gesamtkörpers entlehnen, in welche sie hineingeboren werden und hineinwachsen, denen sie, ob sie es wollen oder nicht, gehorchen müssen und durch welche sie in ihrem eigenen natürlichen Wesen modifiziert und eigenartig umgewandelt werden.

Ist die Volkswirtschaftslehre dieser ihrer hohen Aufgabe denn nun tatsächlich gewachsen gewesen, ist es ihr wahrhaft gelungen, die soziale Kategorie als Element in ihr Fleisch und Blut aufzunehmen und in sich zu verarbeiten? Hat sie es überhaupt nur ernstlich versucht, das zu ergründen, was auf dem benachbarten wissenschaftlichen Gebiet der Staatslehre vor Jahrtausenden die großen Geister des Altertums so schön begriffen und zum erhabenen antiken Staatsideal ausgefühlt und ausgedacht haben: wonach der Mensch von Natur nicht nur ein Geschöpf wie die anderen Lebewesen, sondern im höheren Sinne des Wortes ein politisches Geschöpf, ein gesellschaftliches Wesen ist, das ein gut Teil seines eigenen Ichs abgibt an das höhere Gebilde der Gesellschaft, um von ihm mehr und Höheres zurück zu empfangen, als es hingegeben hat?

Nein, müssen wir antworten, die Volkswirtschaftslehre, soweit sie rein  dogmatischer  Natur ist und die Frage beantworten will: Was ist? hat die soziale Kategorie als selbständiges und allgemeines, der rein ökonomischen Kategorie koordiniertes Prinzip bisher kaum erkannt und aufgestellt, geschweige denn in klarer und bewußter Methode durch die einzelnen Materien der Volkswirtschaftswissenschaft hindurchgeführt. Die soziale Kategorie ist vielmehr bis jetzt im Wesentlichen nur erst von der Volkswirtschaftspolitik d. h. von der Lehre, die da untersucht,  was werden soll,  und also die Idee, im philosophischen Sinne des Wortes, zum Gegenstand hat, auf den Schild erhoben worden. Hier hat allerdings in den letzten Jahrzehnten eine wunderbare plötzliche Wendung stattgefunden. Sozialisten aller Parteien, konservative Sozialisten, Sozialdemokraten, Staatssozialisten, kirchliche Sozialisten, Kathedersozialisten haben den Kampf gegen den Individualismus auf wirtschaftlichem Gebiet mit einer Schärfe und Hast begonnen, als wollten sie all das über Nacht nachholen, was auf der benachbarten politischen Arena schon Jahrhunderte lang ausgekämpft worden ist. - Das für eine einzelne politische Partei in Beschlag genommen Wort "Sozialist" in seiner wahren und edlen Bedeutung sollte heute eigentlich ein Ehrenname geworden sein, nachdem Männer, wie RODBERTUS, SCHÄFFLE und ADOLF WAGNER der zunächst staunenden und stutzenden Welt vor Augen geführt, daß Staat und Volkswirtschaft das Beste ihres Wesens und Wirkens ihrem kommunistischen Charakter verdanken, daß sie tatsächlich längst im Sozialismus tief drinnen stecken, (1) wenn dieser Sozialismus auch, wie LASSALLE spottet, teilweise recht "anarchisch" ist. Muß es nicht heute geradezu lächerlich erscheinen, sich vor dem bloßen Worte "Sozialismus" wie Kinder vor dem schwarzen Mann zu fürchten? Hat nicht der Staat selbst unter der tatkräftigen, frischwagenden Ägide hochherziger Regenten und getragen von der Begeisterung der Edelsten aller Parteischattierungen, praktischen Sozialismus getrieben, das große Reformwerk der sozialpolitischen Gesetzgebung begonnen und es unverdrossen und unentwegt durch Lob und Tadel weitergeführt?

Wie weit ist doch die eigentliche  dogmatische  Volkswirtschaftslehre hier im Hintertreffen geblieben, wie wenig ist sie dem sozialen Zug der Zeit gefolgt, wie unpopulär ist sie geblieben und wie ist sie manchmal und bis heute von gewissen Richtungen neuerer Schulmethoden so geradezu verächtlich behandelt und beiseite geschoben worden! Und das ist nicht der Grund. Denn was soll man mit einer Wissenschaft anfangen, deren zum Teil veraltete und verknöcherte Theorien der Erfahrung und der Anwendung im praktischen Leben Hohn sprechen und in welcher gerade die grundlegenden Begriffe, wie Wert, Kapital, Kapitalzins, Grundrente, in ihrem Wesen völlig bestritten und verworren geblieben sind? Und doch wie notwendig ist die Erkenntnis dieser Begriffe, wie wenig ist eine gewisse Sorte stolzer "exakter" Herrn und "Praktiker" berechtigt, über sie zur Tagesordnung zu schreiten. Sie sind es nur zu oft, die ewig mit jenen Begriffen operieren und herumwerfen, aber der eine in dem, der andere in einem ganz anderen Sinne, so daß sie sich häufig gegenseitig nicht verstehen. Es ist richtig, daß das praktische Wollen und Handeln schließlich die Weltgeschichte macht. Das Verständnis der Dinge muß doch aber den vernünftigen Wollen vorausgehen. Selbst ein Genie, ein gottbegnadetes, darf sich nicht erlauben, zu wollen und zu handeln, ohne vorher gedacht und begriffen zu haben.

Gerade jetzt, wo nach teilweiser Durchführung der Sozialreform und nach Aufhebung des Sozialistengesetzes die nervöse Unruhe und das himmelstürmende Ungestüm einer gewissen inneren Einkehr und Sammlung gewichen zu sein scheint, wo eine gewisse Waffenruhe eingetreten ist, in der man auf beiden Seiten Musterung hält, ist vielleicht ein besonders günstiger Zeitpunkt eingetreten, wo auch auf theoretischem Gebiet jene ernstere nachholende Arbeit in ihrem Teil dazu helfen möge, den Boden zu ebnen, auf dem nachher weitergekämpft werden soll, die noch einmal das untersucht, was ist, um desto klarer zu erkennen, was werden soll. Nicht phantastisch philanthropische Belletristik und sensationelle Broschüren, die in Ausmalung immer neuer Utopien spekulieren, wie es bei uns im Jahr 2000 aussehen wird, können hier ferner helfen. Nein, es möge es uns vor allen Dingen erst klar werden: wie schaut es  jetzt  aus und weshalb ist es so? Selbsterkenntnis ist die Vorbedingung der Besserung, soziales Wissen die Vorbedingung des sozialen Wollens und Könnens. "Jedenfalls ... müßte es gerade in tief bewegter Zeit, wo der gute Bürger oft verpflichtet ist, Partei zu nehmen, allen redlichen Parteimännern erwünscht sein, im Gewoge der Tagesmeinungen wenigstens  eine  feste Insel wissenschaftlicher Wahrheit zu besitzen, die ebenso allgemein anerkannt wäre, wie die Ärzte der verschiedenartigsten Richtungen die Lehren der mathematischen Physik gleichmäßig anerkennen" (ROSCHER).

Ich will nun den schüchternen Versuch wagen, einige kleine Bausteine zu dieser Rettungsinsel beizuschaffen oder vielmehr auf sie nur anregend hinzudeuten; denn was ich beibringen werde, ist keine Erfindung aus meinem Haupt, es ist etwas Altes, Allbekanntes und, wie mir wenigstens scheint, im Grunde so ungeheuer Einfaches und Selbstverständliches, daß einem der Gedanke kommen muß: Wie hat man denn nur dieses Material so gar wenig ausgebeutet? Wenn ich also im Folgenden vorschlage, die soziale Kategorie in einigermaßen neuer Methode auch auf dem Boden der rein dogmatischen Volkswirtschaftslehre mehr wie bisher hervorzuheben und durch die einzelnen Materien systematisch und prinzipiell zu verfolgen, so meine ich bloß dem gegebenen sozialen Zug der Zeit zu gehorchen, die sich eben bemüht, mit ihrem geistigen Auge in die soziale Zukunft zu schauen. Dieses Auge ist nun gewissermaßen die Volkswirtschaftslehre; also muß sie vor allen Dingen selbst sozial sein; denn, sagt der Dichter: "wär' nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt' es nie erblicken"!
LITERATUR - Rudolf Stolzmann, Die soziale Kategorie in der Volkswirtschaftslehre, Berlin 1896
    Anmerkungen
    1) Vgl. RODBERTUS "Das Kapital", Vierter sozialer Brief, herausgegeben von KOZAK, Berlin 1884, in dem klassischen Abschnitt Seite 73f: Ableitung der Staatswirtschaft aus der Arbeitsteilung.