ra-2ra-2Gide / RistDie Arbeiterfrage    
 
ANTON MENGER
Das Recht auf den
vollen Arbeitsertrag

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    Vorrede / Einleitung
§ 1a Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag
§ 1b Das Recht auf Existenz
§ 1c Das Recht auf Arbeit
§ 2. Die deutsche Rechtsphilosophie
§ 3. William Godwin
§ 4. Charles Hall
§ 5. William Thompson
§ 6. Der Saint-Simonismus
§ 7. Pierre-Joseph Proudhon
§ 8. Rodbertus
§ 9. Marx
§ 10. Louis Blanc und Lassalle

"Indem nämlich unser Privatrecht die vorhandenen Vermögensobjekte, namentlich die Produktionsmittel, einzelnen Personen durch das Privateigentum zu beliebiger Benützung überweist, verleiht es diesen eine Machtstellung, kraft welcher sie ohne eigene Arbeit ein Einkommen beziehen und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verwenden können."

Vorrede zur ersten Auflage

Die vorliegende Schrift verfolgt den Zweck, die Grundideen des Sozialismus vom juristischen Standpunkt aus zu bearbeiten. Sie ist ein Fragment aus einem größeren Werk, in welchem ich den Sozialismus als ein Rechtssystem darzustellen versuche. Erst wenn die sozialistischen Ideen aus den endlosen volkswirtschaftlichen und philantropischen Erörterungen, welche den Hauptinhalt der sozialistischen Literatur bilden, losgeschält und in nüchterne Rechtsbegriffe verwandelt sind, werden die praktischen Staatsmänner zu erkennen imstande sein, wie weit die geltende Rechtsordnung im Interesse der leidenden Volksklassen unzubilden ist. In dieser juristischen Bearbeitung des Sozialismus erblicke ich die wichtigste Aufgabe der Rechtsphilosophie unserer Zeit; ihre richtige Lösung wird wesentlich dazu beitragen, daß sich die unerläßlichen Abänderungen unserer Rechtsordnung im Wege einer friedlichen Reform vollziehen.

Große Schwierigkeiten verursachte es mir, die allmähliche Entwicklung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag in der sozialistischen Literatur von der französischen Revolution bis auf die Gegenwart zu verfolgen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die geschichtliche Bearbeitung des Sozialismus sich in einem Zustand befindet, welcher der deutschen Wissenschaft nichts weniger als zur Ehre gereicht. Die älteren geschichtlichen Darstellungen von STEIN und MARLO beruhen noch auf einem freilich oberflächlichen und lückenhaften Quellenstudium. Die neueren Geschichtsschreiber des Sozialismus haben sich dagegen damit begnügt, REYBAUD, STEIN und MARLO zu exzerpieren oder einfach auszuschreiben, ohne auf die Quellen des englischen und französischen Sozialismus zurückzugehen, obgleich in diesem der Ausgangspunkg für die soziale Bewegung der Gegenwart zu suchen ist. Natürlich hat dieses allen Regeln der Geschichtsschreibung widersprechende Verfahren zur Folge gehabt, daß unsere geschichtlichen Darstellungen des Sozialismus einen fortwährend wachsenden Ballast von Irrtümern und Mißverständnissen mitschleppen und daß manche derselben, obgleich sie den Namen von sehr angesehenen Gelehrten tragen, geradezu den Eindruck einer Travestie auf den behandelten Gegenstand machen. - Die vorliegende Entwicklungsgeschichte einer der fundamentalsten sozialistischen Ideen ist überall, wo das Gegenteil nicht ausdrücklich bemerkt ist, unmittelbar aus den Quellen geschöpft.

Die fast absolute Unkenntnis des englischen und des französischen Sozialismus, namentlich der älteren Zeit, hat nicht wenig zu der übermäßigen Wertschätzung beigetragen, welche die Schriften von MARX und RODBERTUS gegenwärtig in Deutschland genießen. Wenn jemand dreißig Jahre nach dem Erscheinen von helmholtz1.htmlADAM SMITHs Werk über den Nationalreichtum die Lehre von der Arbeitsteilung wieder "entdeckt" hätte oder wenn heute ein Schriftsteller die Entwicklungstheorie DARWINs als sein geistiges Eigentum vortragen wollte, so würde man ihn für einen Ignoranten oder für einen Scharlatan halten. Nur auf dem Gebiet der Sozialwissenschaft, welche eben einer geschichtlichen Tradition noch fast völlig entbehrt, sind erfolgreiche Versuche dieser Art denkbar. Ich werde in dieser Schrift den Nachweis führen, daß MARX und RODBERTUS ihre wichtigsten sozialistischen Theorien älteren englischen und französischen Theoretikern entlehnt haben, ohne die Quellen ihrer Ansichten zu nennen. Ja, ich nehme keinen Anstand zu erklären, daß MARX und RODBERTUS, die man so gern als die Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus hinstellen möchte, von ihren Vorbildern an Tiefe und Gründlichkeit bei weitem übertroffen werden.

Wie mangelhaft der historische und der dogmatische Teil dieser Arbeit ist, weiß niemand besser, als ich selbst. Die juristische Bearbeitung des Sozialismus, dessen Schauplatz die ganze Welt und dessen Organe unzählige Schriftsteller, Parteien und Sekten sind, ist eben eine Aufgabe, welche die Kraft eines Einzelnen weit übersteigt und ich will mich gerne bescheiden, zu diesem großen Werk bloß Anfänge und Anregungen geben zu haben. Denn die wirkliche Lösung des Problems kann nur durch das Zusammenwirken zahlreicher Gelehrter aller Kulturnationen erreicht werden.


§ 1. Einleitung

Das Ziel der sozialen Bestrebungen unserer Zeit ist im Wesentlichen auf eine neue Ordnung des wirtschaftlichen Lebens der Menschheit gerichtet. Die Grundlage der sozialistischen Bestrebungen bildet eine scharfe Kritik unserer bestehenden ökonomischen Ordnung; in ihren Konklusionen laufen diese Angriffe auf gewisse rechtsphilosophische Postulate hinaus, welche eine tiefgreifende Abänderung unseres geltenden Vermögensrechts (des Sachen-, Obligationen- und Erbrechts) in sich schließen. Manche sozialistische System überschreiben freilich diese Grenze und bezwecken auch eine neue Ordnung des geschlechtlichen Lebens, die Abschaffung des Staats und der Religion usf.; aber nur jene Forderung einer gründlichen Umgestaltung unseres überlieferten Vermögensrechts kann als das gemeinsame Programm aller sozialistischen Schulen angesehen werden.

Betrachen wir nun das wirtschaftliche Leben, wie es uns von allen Seiten umgibt, so besteht sein wesentlicher Inhalt darin, daß die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse arbeiten, daß jede Arbeit auf einen Ertrag, jedes Bedürfnis auf Befriedigung gerichtet ist. Arbeit und Arbeitsertrag, Bedürfnis und Befriedigung sind in der Tat die beiden Kausalreihen, in welchen sich das wirtschaftliche Leben der Menschheit vollzieht. Das Ideal eines Vermögensrechts vom wirtschaftlichen Standpunkt wäre deshalb erreicht, wenn die Rechtsordnung bewirken könnte, daß jedem Arbeiter sein voller Arbeitsertrag, jedem Bedürfnis nach Maßgabe der vorhandenen Mittel die volle Befriedigung zuteil wird.

Unser geltendes Vermögensrecht, welches fast ausschließlich auf überlieferten Machtverhältnissen beruth, verzichtet von vornherein darauf, diese wirtschaftlichen Zwecke zu erreichen. Schon ursprünglich hat die Besiedlung der meisten Länder auf dem Weg der Okkupation und der Eroberung stattgefunden und auch später hat oft genug das Schwert die bestehende Vermögensverteilung wieder verändert. Als dann der Staat die Gesetzgebung über die vermögensrechtlichen Beziehungen auszuüben begann, begnügte er sich damit, die überlieferten Machtverhältnisse mit leichten Abänderungen zu sanktionieren. Es ist deshalb begreiflich, daß unser Vermögensrecht, das sich in einem ganz anderen als dem wirtschaftlichen Ideenkreis entwickelt hat, weder den Zweck verfolgt, dem Arbeiter seinen vollen Arbeitsertrag noch auch den vorhandenen Bedürfnisen ihre möglichst vollkommene Befriedigung zu gewährleisten.

Unser heutiges Vermögensrecht, dessen Mittelpunkt das Privateigentum bildet, gewährleistet  erstens  dem Arbeiter nicht den vollen Arbeitsertrag. Indem nämlich unser Privatrecht die vorhandenen Vermögensobjekte, namentlich die Produktionsmittel, einzelnen Personen durch das Privateigentum zu beliebiger Benützung überweist, verleiht es diesen eine Machtstellung, kraft welcher sie ohne eigene Arbeit ein Einkommen beziehen und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse verwenden können. Dieses Einkommen, welches die von der Rechtsordnung begünstigten Personen ohne persönliche Gegenleistung an die Gesellschaft empfangen, bezeichnen die Saint-Simonisten, die Anhänger von BUCHEZ und RODBERTUS als Rente, THOMPSON und MARX als Mehrwert; ich werde es das arbeitslose Einkommen nennen. Schon die gesetzlich anerkannte Existenz des arbeitslosen Einkommens beweist, daß unser Vermögensrecht sich gar nicht den Zweck gesetzt hat, dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag zu verschaffen.

Am klarsten tritt der Charakter des arbeitslosen Einkommens beim Miet-, Pacht- und Darlehenszins hervor. Hier beschränkt sich die Tätigkeit des Berechtigten wesentlich darauf, das arbeitslose Einkommen vom Verpflichteten in Empfang zu nehmen. Aber auch dann, wenn der Grund- und Kapitaleigentümer, selbst die Landwirtschaft, ein Gewerbe oder den Handel betreibt, muß ihm regelmäßig ein arbeitsloses Einkommen in der Form von Grundrente oder Kapitalgewinn (Profit) zufallen. Um dieses im einzelnen Fall festzustellen, braucht man vom Gesamteinkommen, welches der Selbstbetrieb abwirft, nur jenen Betrag abzuziehen, welchen der Grund- oder Kapitaleigentümer aufwenden müßte, um seine eigene Mitwirkung an der Produktion durch die Tätigkeit eines Stellvertreters zu ersetzen.

Unser heutiges Vermögensrecht setzt sich aber - und dieses ist der  zweite  Punkt - auch nicht den Zweck, allen Bedürfnissen nach Maßgabe der vorhandenen Mittel die volle Befriedigung zu verschaffen. Unsere privatrechtlichen Gesetzbücher enthalten vielmehr keinen einzigen Rechtssatz, der dem Einzelnen auch nur jene Sachgüter und Dienstleistungen zuweisen würde, die zur Erhaltung seiner Existenz unentbehrlich sind. Soweit nur unser Privatrecht in Frage kommt, wird dieses Verhältnis von MALTHUS etwas brutal, aber sehr richtig in folgender Stelle ausgedrückt, welche gerade durch ihre Aufrichtigkeit eine gewisse Berühmtheit erlangt hat.
    "Wer in einer bereits in Besitz genommenen Welt geboren wird, hat, wenn er die Mittel der Existenz weder von seinen dazu verpflichteten Verwandten erlangen, noch durch Arbeit finden kann, durchaus kein Recht auf Ernährung; tatsächlich ist er überflüssig auf der Welt. Am großen Bankett der Natur ist für ihn kein Kuvert aufgelegt. Die Natur befiehlt ihm, sich zu entfernen und sie säumt auch nicht, diesen ihren Befehl zu vollziehen." (1)
Was MALTHUS hier von der Ernährung sagt, gilt auch von der Befriedigung aller anderen Bedürfnisse.

Allerdings wird diesem Mangel des Privatrechts durch ein öffentlich-rechtliches Institut: die Armenversorgung, bis zu einem gewissen Grad abgeholfen, doch hat eine lange Erfahrung die Unzulänglichkeit dieses Hilfsmittels bewiesen. Erst in der neuesten Zeit ist Deutschland und Österreich damit beschäftigt, durch eine umfassende Gesetzgebung über die Kranken-, Unfall-, Invaliditäts- und Altersversicherung den Gedanken, daß jedes Mitglied der Gesellschaft auf die Befriedigung seiner Existenzbedürfnisse einen rechtlichen Anspruch besitze, wenigstens teilweise zu verwirklichen. Hiervon wird im weiteren Verlauf dieser Darstellung (§ 14) noch die Rede sein.

In durchgreifendem Gegensatz zu unserem heutigen Privatrecht steht nun in allen dargestellten Beziehungen das sozialistische Rechtssystem. Alles sozialistischen Vermögensrechte, wie sehr auch die Ansichten der verschiedenen Schulen abweichen mögen, verfolgen doch immer den Zweck, entweder den arbeitenden Klassen den vollen Ertrag ihrer Arbeit zu gewährleisten oder aber die Bedürfnisse des Einzelnen mit den vorhandenen Befriedigungsmitteln in einen richtigen Zusammenhang zu bringen. An die Stelle unserer auf Machtverhältnissen beruhenden Güterverteilung soll eben ein von wirtschaftlichen Zwecken beherrschtes Vermögensrecht treten.

Freilich ist klar, daß kein sozialistisches Vermögensrecht, wie utopisch auch dessen Voraussetzungen sein mögen, jene beiden fundamentalen Zwecke zu gleicher Zeit vollständig zu erreichen vermag, weil sich eben Arbeit und Bedürfnis in keiner Gesellschaftsverfassung vollständig decken werden. Will man den Gedanken, daß dem Arbeiter der volle Arbeitsertrag gebührt, konsequent durchführen, so werden einer solchen Absicht die zahlreichen Arbeitsunfähigen (Kinder, Greise, Kranke usw.) entgegenstehen, welche zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse ein arbeitsloses Einkommen beziehen müssen. Umgekehrt ist es höchst bedenklich, lediglich die Bedürfnisse der Einzelnen als Verteilungsmaßstab zu nehmen und diesen von der Arbeit, durch welche ja die Befriedigungsmittel geschaffen werden, völlig unabhängig zu machen. Die meisten sozialistischen Systeme trachten deshalb jene beiden Grundideen, welche in ihren Konsequenzen zu sehr abweichenden Resultaten führen, in möglichst widerspruchsloser Weise zu kombinieren.

Auf die Erreichung dieser beiden Zwecke ist nun die sozialistische Bewegung gerichtet, welche seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die Kulturvölker in immer steigendem Umfang ergriffen hat. So wie man die Ziele, welche die großen politischen Bewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts anstrebten in gewisse rechtsphilosophische Postulate zusammengefaßt hat, die man politische Grundrechte zu nennen pflegt, so kann man auch die letzten Zwecke des Sozialismus durch Aufstellung von ökonomischen Grundrechten kurz bezeichnen. Ich weiß sehr wohl, daß man auf die Anerkennung der politischen Grundrechte oft einen übermäßigen Wert gelegt hat, der mit ihrer geringen praktischen Wirksamkeit in einem auffallenden Mißverhältnis steht: dennoch ist die Aufstellung solcher Grundrechte auf wissenschaftlichem Gebiet nicht ohne Nutzen, weil sie die wichtigsten Zwecke der politischen und sozialen Bewegungen mit einem Schlagwort kennzeichnen.

Erkennt man nun den Satz als berechtigt an, daß jedem Arbeiter der volle Ertrag seiner Arbeit gebührt, so ergibt das das erste ökonomische Grundrecht:  das Recht auf den vollen Arbeitsertrag.  Stellt man ferner an die Rechtsordnung das Postulat, daß jedes Bedürfnis nach Maßgabe der vorhandenen Mittel seine Befriedigung finden soll, so ist damit, wie unten gezeigt werden wird, das zweite ökonomische Grundrecht:  das Recht auf Existenz,  anerkannt. Diese beiden ökonomischen Grundrechte bezeichnen die Grenzen, innerhalb deren sich jedes konsequente, sozialistische oder kommunistische System bewegen muß. Hierzu kommt noch als drittes ökonomisches Grundrecht das sogenannte  Recht  auf Arbeit, welches nichts als eine eigentümliche Modifikation des Rechts auf Existenz ist, die als Übergangsform zur sozialistischen Rechtsordnung eine größere historische Bedeutung erlangt hat. Ich will diese drei ökonomischen Grundrechte des Sozialismus hier in ihren wesentlichen Momenten darstellen.


a) Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag

Zahlreiche sozialistische Systeme vertreten die Ansicht, daß jedes Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch besitzt, daß ihm von der Rechtsordnung der volle Ertrag seiner Arbeit zugewiesen werde. (2) Ist also ein Sachgut durch die Arbeit einer einzigen Person hervorgebracht worden, so muß es auch dieser allein angehören. Ist aber das Sachgut durch gleichzeitiges oder sukzessives Zusammenwirken mehrerer Personen hervorgebracht worden - was unter der Herrschaft der Arbeitsteilung die weit überwiegende Regel bildet -, so muß jedem Arbeiter vom Tauschwert der Sache soviel zugewiesen werden, als er demselben durch seine Arbeit zugesetzt hat. Da unter der Herrschaft dieses Verteilungsprinzips der Arbeitsertrag an die Arbeiter vollständig verteilt wird, so ist ein arbeitsloses Einkommen (Grundrente und Kapitalgewinn) und dessen rechtliche Voraussetzung: das Privateigentum, unmöglich.

Wie aber soll der Tauschwert einer Sache, an deren Hervorbringung sich mehrere Personen beteiligt haben, unter die Mitwirkenden verteilt werden?

An sich ist es ganz wohl denkbar, daß auch in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung die historisch überlieferten Preise der Arbeit aufrecht erhalten und nur infolge der Beseitigung des arbeitslosen Einkommens um einen entsprechenden Betrag vermehrt werden. In der Tat würde auch eine völlig neue Bestimmung der Arbeitspreise, welche von allen historisch überlieferten Verhältnissen absieht und nur aufgrund eines allgemeinen Prinzips erfolgt, die Gesellschaft fast noch mehr erschüttern als die Einführung des sozialistischen Gesellschaftsordnung. Dessenungeachtet schlägt RODBERTUS, einer der Hauptvertreter des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag, vor, daß an die Stelle unseres Metallgeldes die Arbeitsstunde treten soll und daß jedem Arbeiter, welcher an der Hervorbringung einer Sache mitgewirkt hat, von deren Tauschwert so viel Arbeitsstunden zuzuweisen sind, als ein durchschnittlicher Arbeiter zu der auf die Sache verwendeten Arbeitsleistung bedarf. Dieses Verteilungsprinzip setzt also die Gleichstellung der Arbeitsstunden oder wenigsten der Arbeitstage aller Arbeiter voraus, soweit in denselben die durchschnittliche Arbeitsleistung wirklich erzielt worden ist. (3)


b) Das Recht auf Existenz

Zahlreiche sozialistische Systeme erkennen nicht die Arbeit, sondern das Bedürfnis als den grundlegenden Verteilungsmaßstab an. (4) Als unmittelbare Konsequenz dieser Auffassung ergibt sich das Verteilungsprinzip, daß jede Sache demjenigen gehören soll, der ihrer am dringendsten bedarf. Dessenungeachtet haben nur wenige Sozialisten diese Folgerung wirklich gezogen, darunter GODWIN, dessen Ansichten unten (§ 3) im Zusammenhang dargestellt werden sollen. Auch läßt sich nicht verkennen, daß die Bedürfnisse des Einzelnen viel zu unbestimmt, subjektiv und veränderlich sind, um daran die wichtigste aller Rechtsfolgen: die Verteilung der Güter, knüpfen zu können. Nur in kleinen, durch die engsten Bande der Zuneigung verknüpften Gemeinschaften (z. B. in der Familie) läßt sich jenes Verteilungsprinzip wirklich durchführen.

Diese Verteilung nach Maßgabe der Bedürfnisse und der vorhandenen Mittel ist immer zu verstehen, wenn so zahlreiche Kommunisten von einer  gleichen  Verteilung der Güter im kommunistischen Staat sprechen. Denn eine wirklich gleiche Verteilung der Produktions- oder Genußmittel kann der ungeheuren Verschiedenheit, welche in den Bedürfnissen des Einzelnen durch Alter, Geschlecht und inviduelle Beschaffenheit hervorgebracht wird, von niemand im Ernst angestrebt werden.

Unter den Bedürfnissen ragen durch ihre praktische Wichtigkeit jene hervor, von deren Befriedigung die Erhaltung der Existenz des Einzelnen abhängt und die man deshalb Existenzbedürfnisse nennen kann. (5) Sie haben einen allgemeinen, mehr objektiven Charakter und können deshalb allerdings als Verteilungsmaßstab dienen, wenngleich nicht zu verkennen ist, daß deren Umfang nach Zeit und Ort ein verschiedener sein wird. Die Existenzbedürfnisse sind nun die Grundlage des Rechtes auf Existenz, welches in den sozialistischen Systemen aller Zeiten eine so große Rolle spielt. Man kann dieses Recht so bestimmen, daß jedes Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch hat, daß ihm die zur Erhaltung seiner Existenz notwendigen Sachen und Dienstleistungen zugewiesen werden, bevor minder dringende Bedürfnisse anderer befriedigt werden.

Das Recht auf Existenz hat in den sozialistischen Systemen und in den praktischen Versuchen, welche man mit der kommunistischen Gesellschaftsordnung bisher gemacht hat, nach dem Lebensalter des Berechtigten einen verschiedenen Inhalt. Bei den Unmündigen geht es auf Erhaltung und Erziehung; bei den Erwachsenen geht es auf bloße Erhaltung, wogegen der Berechtigte zu entsprechender Arbeitsleistung verpflichtet ist; bei Personen, welche wegen Alters, Krankheit oder anderer Gebrechen arbeitsunfähig sind, geht es auf Versorgung. (6) In einer konsequent durchgeführten sozialistischen Ordnung würde sich das Recht auf Existenz direkt gegen die wirtschaftende Gemeinschaft richten und für den Berechtigten die Vermögensrechte unseres heutigen Privatrechts ersetzen.

Während eine konsequente Durchführung des Rechts auf den vollen Arbeitsertrag jedes arbeitslose Einkommen und damit auch das Privateigentum unmöglich macht, läßt sich die Fortdauer der privatrechtlichen Ordnung neben dem Recht auf Existenz recht wohl denken. Die Ansprüche aller Staatsbürger auf Befriedigung ihrer Existenzbedürfnisse sind in diesem Falle gleichsam als eine Hypothek zu betrachten, welche auf dem Nationaleinkommen ruht und die berichtigt werden muß, bevor einzelnen begünstigten Personen ein arbeitsloses Einkommen gewährt werden kann. In der Tat wird sich im weiteren Verlauf dieser Darstellung (§ 14) ergeben, daß die sozialen Bestrebungen unserer Zeit darauf gerichtet sind, einerseits das Recht auf Existenz in gewissem Umfang zu verwirklichen und andererseits das Gebäude unserer privatrechtlichen Rechtsordnung aufrecht zu erhalten. Eine vollständige Durchführung des Rechts auf Existenz würde allerdings vom arbeitslosen Einkommen, welches heute den Grund- und Kapitaleigentümern kraft ihres Besitzes zufällt, einen so bedeutenden Teil in Anspruch nehmen und das Privateigentum seines wirtschaftlichen Nutzens so sehr entkleiden, daß sich dieses bald in Kollektiveigentum verwandeln müßte.

Ebenso wie mit dem Privateigentum ist das Recht auf Existenz auch mit dem Recht auf den vollen Arbeitsertrag vereinbar, wie denn dieses letztere überhaupt das sozialistische Gegenstück des Privateigentums bildet. Auch in einer Rechtsordnung, welche das arbeitslose Einkommen vollständig beseitigt hat, könnte man jeden Staatsbürger verpflichten, täglich eine bestimmte Zahl von Stunden zur Deckung seiner Existenzbedürfnisse zu arbeiten, während der volle Ertrag der übrigen Arbeitsstunden innerhalb gewisser Schranken seiner freien Verfügung überlassen wäre. Diese Kombination der Rechte auf Existenz und auf den vollen Arbeitsertrag, welche Selbstsucht und Gemeinsinn, Freiheit und Zwang vereinigt, wäre namentlich für die Übergangszeit zu empfehlen, wo die sozialistischen Institutionen innerhalb der individualistisch erzogenen Volksmassen zu wirken hätten.
LITERATUR Anton Menger, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung, Stuttgart 1891
    Anmerkungen
    1) ROBERT MALTHUS, An essay on the principle of population, 2. Ausgabe, 1803, Seite 531. In der 3. Auflage vom Jahre 1806 (Bd. 2, Seite 383) und in den späteren Ausgaben des Essay wurde diese berühmte Stelle, welche in der sozialistischen Literatur so oft erwähnt wird, von MALTHUS wieder weggelassen.
    2) Vgl. namentlich unten § 4 (CHARLES HALL), § 5 (WILLIAM THOMPSON), § 8 (RODBERTUS). Siehe auch KARL KAUTSKY, Die Verteilung des Arbeitsertrages im sozialistischen Staat in RICHTERs Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 2. Jahrgang, 1881, Seite 88 - 98.
    3) Vgl. unten §§ 8 und 13
    4) Vgl. z. B. MORELLY 1753, BRISSOT 1780, CABET 1848, LOUIS BLANC 1850, SCHRAMM in der "Zukunft", 1878, Seite 497-507
    5) Vgl. darüber die Auführungen in CARL MENGER, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre 1871, Seite 88f
    6) Über die Gestaltung des Rechts auf Existenz in den amerikanischen Sozialistengemeinden vgl. unten § 13, Note 7 - 9.