ra-2 Böhm-BawerkA. VoigtR. StolzmannR. StammlerK. Diehl    
 
GUSTAV SCHMOLLER
Über einige Grundfragen
des Rechts und der Volkswirtschaft

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"Nur die Erhaltung eines breiten Mittelstandes, nur die Erhebung unserer unteren Klassen auf eine etwas höhere Stufe der Bildung, des Einkommens und des Besitzes kann uns davor bewahren, in letzter Instanz einer politischen Entwicklung entgegenzusehen, die in einer abwechselnden Herrschaft der Geldinteressen und des 4. Standes bestehen wird. Nur die soziale Reform kann den preußischen Staat in den Traditionen erhalten, die ihn groß gemacht haben, nur sie erhält die Aristokratie der Bildung und des Geistes an der Spitze des Staates, nur sie bietet uns Gewähr dafür, daß der Macht und dem Glanz des neuerstandenen deutschen Reiches auch die innere Gesundheit in der Zukunft entsprechen wird."

Vorrede

Als ich mit der Aufzeichnung dieses Sendschreibens an Herrn von TREITSCHKE begann, glaubte ich in ein, höchstens zwei Boden das Wesentliche sagen zu können. Unter der Hand aber wuchs mir dasselbe; ich sah hauptsächlich, daß ich auf die grundlegenden Fragen etwas näher eingehen müsse, wenn die Polemik nicht eine oberflächliche bleiben solle. Die Form eines offenen Sendschreibens und der direkten Anrede war nun freilich nicht mehr passend; aber eine nochmalige Umarbeitung hätte die Publikation auf Monate verzögert. Und es erschien doch wünschenswert, sie so rasch als möglich auf TREITSCHKEs Angriffe folgen zu lassen. Überdies hätte ich bei nochmaliger Bearbeitung vielleicht noch weniger als jetzt die Muse gefunden, die Gedanken auf die es mir ankommt, in einer solchen Form und mit den historischen Ausführungen zu entwickeln, daß ich selbst zufrieden gewesen wäre; denn es wären dann notwendig die Ansprüche sehr viel höhere gewesen.

Der Schwerpunkt der Schrift liegt jetzt nicht mehr in der Polemik, sondern in der prinzipiellen Ausführung von einigen allgemeinen Gedanken über die Grundlagen der Volkswirtschaft und ihr Verhältnis zu den Prinzipien des Recht und der Gerechtigkeit. Diese Gedanken sind bei mir in der Hauptsache schon vor 10 - 12 Jahren entstanden, als ich vor dem Eintritt in das akademische Berufsleben neben meinen volkswirtschaftlichen hauptsächlich philosophischen Studien lebte. Nachdem ich 1864 in ein praktisches Lehramt eingetreten war, fühlte ich vor allem das Bedürfnis durch praktische und verwaltungsrechtliche, statistische und rechtsgeschichtliche Studien meinen allgemeinen Theorie einen sicheren Boden zu geben. So kam es, daß ich diese allgemeineren Gedanken wohl öfter für mich und für Vorlesungen zu Papier, aber nicht zu einem Abschluß brachte, der mit die Veröffentlichung als passend erscheinen ließ. Immer aber sehnte ich mich aus den exakten Detailstudien zurück zu jenen allgemeineren Fragen; von Semester zu Semester hoffte ich endlich einmal die Zeit zu finden, die Lücken meiner Studien auf philosophischem Gebiet auszufüllen und damit, sowie mit dem seither erworbenen historischen Wissen zur definitiven Aus- und Durcharbeitung jener allgemeinen Probleme zu kommen; ich hatte gerade TREITSCHKE versprochen, ihm unter dem Titel "Die Grundfragen und Grundlagen der Nationalökonomie" einmal eine Reihe von Artikeln für die preußischen Jahrbücher mit der Ergebnis dieser Studien zu liefern.

Nun nötigt mich der Streit mit ihm diese Gedanken als Streitschrift gegen ihn an die Öffentlichkeit zu bringen - und zwar in einer Form, an der mancherleich auszusetzen ist. Mit anderweitigen Geschäften überhäuft, hauptsächlich mit der Führung der augenblicklich ziemlich beschwerlichen und mancherlei Schwierigkeiten bietenden Rektoratsgeschäfte der hiesigen Universität betraut, konnte ich an diesem Sendschreiben niemals in Zusammenhang arbeiten. Es konnte da von neuen eingehenden Studien so wenig die Rede sein, wie von einer vollendeten formellen und systematischen Darlegung der Gedanken. Ich mußte das, was ich für das Wichtigste hielt, in die Polemik einflechten, viele Ausführungen weglassen, die ansich zwar von Bedeutung, aber für diese Streitschrift irrelevant erschienen. Ich muß, wo ich gern ein fertiges Bild gezeigt hätte, der Welt eine Skizze vorlegen.

Aus dieser Entstehungsgeschichte entschuldige und erkläre der Leser auch die deutsche Gelehrtenunsitte der zahlreichen Anmerkungen;, erkläre er sich, warum ich weder auf den Nachweis des Zusammenhanges meiner Gedanken mit meinen Vorgängern noch auf eine Auseinandersetzung mit ganzen oder halben Gegnern - abgesehen von TREITSCHKE selbst, eingehen knnte. Der sachkundige Leser findet es ja von selbst, wo ich mich an unsere älteren deutschen Philosophen, wo ich mich an LOTZE, an LAZARUS, wo ich mich an ROSCHER, STEIN, ARNOLD, TRENDELENBURG, JHERING anlehne, wo und wie weit ich mich mit RODBERTUS, SCHÄFFLE, HERMANN RÖSLER, DÜHRING oder LANGE berühre, wo ich von diesen abweiche.

Das Problem der Gegenwart in sozialer Beziehung liegt im Ringen gewisser rechtlicher und sittlicher Ideale, treten sie nun in reiner oder verzerrter Form auf, seien sie verfrüht oder nicht, mit den Sätzen einer überlieferten Volkswirtschaftslehre und den praktischen Forderungen eines dem Tag dienenden, den besitzenden Klassen bequemen Geschäftsganges, der vor allem ungestört bleiben will. Gewiß in bester Absicht, aber nach meiner Überzeugung unter dem Druck ganz einseitiger Vorstellungen und Befürchtungen hat ein großer Teil der deutschen Gelehrtenwelt sich in diesem Kampf ausschließlich auf die konservative, auf die Seite der Besitzenden gestellt. Je monarchischer ich nun fühle, je mehr ich all mein Sinnen und Denken eins weiß mit dem Staate Hohenzollern, mit der Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches und seinem Kampf gegen die antistaatlichen Tendenzen des Ultramontanismus und der Sozialdemokratie, umso mehr fühle ich mich verpflichtet, mit unbedingtem Freimut Zeugnis für das abzulegen, was ich als das Berechtigte in der heutigen Bewegung des vierten Standes ansehe, für das, was nach meiner Ansicht uns auch allein die normale Weiterentwicklung unserer freiheitlichen Institutionen garantieren kann,  für die soziale Reform.  Nur die Erhaltung eines breiten Mittelstandes, nur die Erhebung unserer unteren Klassen auf eine etwas höhere Stufe der Bildung, des Einkommens und des Besitzes kann uns davor bewahren, in letzter Instanz einer politischen Entwicklung entgegenzusehen, die in einer abwechselnden Herrschaft der Geldinteressen und des 4. Standes bestehen wird. Nur die soziale Reform kann den preußischen Staat in den Traditionen erhalten, die ihn groß gemacht haben, nur sie erhält die Aristokratie der Bildung und des Geistes an der Spitze des Staates, nur sie bietet uns Gewähr dafür, daß der Macht und dem Glanz des neuerstandenen deutschen Reiches auch die innere Gesundheit in der Zukunft entsprechen wird.

Daß ich mit den hier vorgetragenen Gedanken auf irgendeinen großen Erfolg in der Öffentlichkeit sofort zu rechnen hätte, bilde ich mir nicht ein. Die Welt ist für den Moment mit anderen Dingen beschäftigt; die öffentliche Meinung, das heißt der größere Teil der Presse macht es, weil sie den sozialpolitischen Fragen noch ratlos und zerfahren gegenübersteht, mit denselben wie der Vogel Strauß, wenn ihm etwas Unbehagliches in Sicht kommt, und sie kann dies umso leichter tun, wenn zeitweise die Krisis ihren akuten Charakter zu verlieren scheint, wie gegenwärtig. Aber umso sicherer hoffe ich, daß im engeren Kreis derjenigen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, meine Widerlegung TREITSCHKEs nicht unbeachtet bleiben, daß sie manchen Zweifelnden bekehren, daß sie die jährlich steigende Zahl derer, die zur Fahne der sozialen Reform schwören, an ihrem Teil etwas vermehren wird.

Was Herr von TREITSCHKE selbst betrifft, so maße ich mir nicht an, ihn zu überzeugen, daß seine leitenden Ideen unhaltbar oder auch nur daß sie übertrieben und einseitig seien; ich bin zufrieden, wenn er mir zugibt, daß ich ihn ebenso loyal und anständig angegriffen habe, wie er uns behandelt hat. Es war das wenigstens meine Absicht und ich hoffe sie auch erreicht zu haben. Wie er glaubte, uns angreifen zu müssen, so glaubte ich auf diesen Angriff nicht schweigen zu dürfen. Ein ehrlicher anständiger Kampf der Überzeugung und Prinzipien kann der Sache nicht schaden, er kann sie nur fördern.



Einleitung

Im Juli- und Septemberheft der preußischen Jahrbücher von 1874 haben Sie unter dem Titel "Der Sozialismus und seine Gönner" Ihre Ansichten über die soziale Frage und speziell über die Sozialdemokratie sowi über die wissenschaftlichen und praktischen Streitigkeiten, welche die deutsche Nationalökonomie gegenwärtig bewegen, niedergelegt. Ihre Absicht war dabei, vom hohen Standpunkt des politischen Historikers aus zu Gericht sitzen über alle diese Parteiungen und Richtungen; jede einzelne sollte in die ihr gebührende Schranke zurückgewiesen, die Manchesterschule sollte mit dem Verein für Sozialpolitik versöhnt, beide sollten zum gemeinsamen Kampf gegen die Sozialdemokratie ermahnt werden.

So vieles Wahre und Beherzigenswerte nun auch Ihre beiden Essays enthalten, so wenig scheinen sie mir ihren Zweck zu erreichen; ja sie enthalten eine Reihe von Angriffen, wie von theoretischen Ausführungen, die ich, wie alle meine näheren Freunde und Gesinnungsgenossen, für nicht gerechtfertigt und in der scharfen Fassung, wie sie formuliert sind, für so unzeitgemäß halte, daß ich, so schwer es mir fällt, gegen Sie aufzutreten, eine Entgegnung nicht unerlassen kann.

Seit ich in das öffentliche und wissenschaftliche Leben eintrat, war ich gewohnt, auf Sie zu blicken, wie auf einen Führer, auf den stets Verlaß ist; in allen Hauptfragen der Politik fühlte ich mich einig mit Ihnen, in manchen hatte ich das Bewußtsein, gerade von Ihnen Wichtiges gelernt zu haben; ich bin seit über 10 Jahren ihr steter Mitarbeiter an den Jahrbüchern gewesen; gerade in sozialpolitischen Fragen schienen wir noch vor kurzer Zeit einig; Sie sagten mir sofort und freudig die Mitunterzeichnung des Aufrufes zur ersten Versammlung des "Vereins für Sozialpolitik" in Eisenach (Herbst 1872) zu; galt es doch einen gemeinsamen Feldzug für eine idealere Auffassung volkswirtschaftlicher Probleme. Und nun soll und muß die literarische Fehde beginnen, doppelt schwierig für mich, dessen Namen nicht die Wirkung hat, wie der Ihrige, tausende von gläubigen Lesern schon durch seine Autorität zu überzeugen, für mich, der nicht fähig ist, wie Sie, Hörer und Leser durch den dithyramnischen Schwung glänzender Rethorik hinzureissen.

Aber ich kann - so sehr ich sonst literarische Fehden hasse - die Antwort nicht vermeiden um der Bedeutung der Sache willen.

Sie meinten, ich werde mich nach der Lektüre der zweiten Hälfte Ihrer Ausführungen überzeugen, daß wir praktisch nahezu auf demselben Standpunkt stehen und daß deswegen eine Erwiderung überflüssig sei. Nun ist allerdings Ihr zweiter Essay, wesentlich anders gehalten, er zeigt deutlich, daß er in ganz anderer Stimmung geschrieben ist, daß Sie uns viel näher stehen, als es nach dem ersten den Anschein hat. Aber der Antwort enthebt er mich nicht. Gewiß halte ich viele Ihrer Konsequenzen für richtig, wenn ich auch auf andere Punkte als Sie den Nachdruck legen möchte und teilweise von anderen Prämissen aus zu denselben Konsequenzen komme. Vieles, was Sie über die heutige deutsche Sozialdemokratie, über das Manchestertum, über die geschichtliche Entwicklung von Staat und Volkswirtschaft, von Recht und Eigentum, über die Notwendigkeit einer Aristokratie der Bildung und Gesittung sagen, ist mir aus der Seele gesprochen. Aber ein tief klaffender Widerspruch in den Grundanschauungen, der bleibt. Ich habe erst aus diesen Ausführungen ersehen, daß wir in Hauptpunkten von wesentlich verschiedenen Grundanschauungen und Prinzipien des Staates, der Volkswirtschaft, der geschichtlichen Entwicklung ausgehen; Sie haben mich von der Unrichtigkeit der meinigen nicht nur nicht überzeugt, sondern mich aufs Wesentlichste darin bestärkt. Es handelt sich da um Gegensätze, die für die ganze weitere geistige und politische Entwicklung der Gegenwart von fundamentalter Bedeutung sind, - die also ansich der Erörterung wert sind, die in ihren Wurzeln aufgedeckt auch die praktischen Punkte, in denen wir differieren, erst ins rechte Licht stellen. Eine Auseinandersetzung in dieser Richtung muß stattfinden; das ist kein Streit zwischen Ihnen und mir, es ist der Streit von Prinzipien, die immer wieder aufeinander platzen werden. Ich halte mich aber verpflichtet gerade jetzt und gerade Ihnen gegenüber diesen wissenschaftlichen Streit aufzunehmen, weil Sie sich hauptsächlich gegen meinen Vortrag über "die soziale Frage und den preußischen Staat" (1) wenden und weil in demselben (das war bei einem Vortrag von 50 Minuten, der hauptsächlich für Damen berechnet war, unvermeidlich) manche Resultate gegeben sind ohne Begründugn, manche flüchtigen Andeutungen ohne Ausführung. Daß darüber eine gewisse literarische Clique herfallen würde, wie die Hunde über ein gehetztes Wild, das wußte ich vorher; das würde mich nicht zu einer Antwort reizen. Auch wenn Leute von BAMBERGERs leichtem Geblüt in die Welt posaunen, es sei das eine sozialistische Brandrede gewesen, so berührt mich das wenig. BAMBERGERs Kenntnis des Geld- und Bankwesens ist ja groß, fast so groß, wie seine Gewandthei und Geschicklichkeit als Redner und politischer Parteimann; aber was darüber hinausgeht - besonders in tieferen nationalökonomischen Fragen, das sind Seifenblasen, die heute mit grünem, morgen mit blauem, übermorgen mit roten Rauch angefüllt sind. In der eigenen Partei lächelt man darüber, weil man sich nicht offen ärgern kann, daß er in derselben Stunde lange Artikel zur Verteidigung und Verherrlichung des Gründertums schreibt, während es sein Freund LASKER von der Tribüne herab der Verachtung und der Entrüstung preisgibt. Man weiß, wie radikal sozialistisch er noch 1868 schrieb, man weiß, daß er unter Umständen auch einmal wieder für LOUIS BLANC schreiben wird, wie 1848. Warum auch nicht:  on revient toujours à ses premiers amours  [immer wieder zurück zur ersten Liebe - wp]. Kurz mit BAMBERGER scherzt man über solche Dinge, - aber man erwidert ihm nicht ernsthaft. Anders liegt es, wenn ein Mann wie Sie, ein Freund, ein Gelehrter von so verwandter Denkweise und Bildung einen mißversteht. Da muß man antworten, die Begründung der Resultate, die Ausführungen zu den Andeutungen geben, die man in aphoristischer Form in die Welt gehen ließ.

Es wird mich dies freilich nötigen, auf manches einzugehen, was nicht ganz direkt zur Kontroverse zwischen uns gehört, was Sie niemals leugnen werden; ich muß mir rechtsphilosophische und volkswirtschaftliche Exkurse erlauben, um meine Ansichten ordentlich zu begründen. Aber dadurch hoffe ich unsere Unterhaltung über das Niveau eines Professorengezänks zu erheben, hoffe ich Ihnen zu beweisen, daß sich meine Theorien mit dieser Unterlage anders ausnehmen, als wenn ich sie in einem Singakademievortrag zum Besten gebe.

Ich halte mich außerdem verpflichtet, gerade Ihnen zu antworten und entgegenzutreten, weil ich eine Betonung der Punkte, auf die Sie in Ihren Essays das meiste Gewicht legen, gerade aus Ihrem Mund in der Gegenwart für sehr verderblich halte. Wenn die, welche in ihren Interessen durch bestimmte Reformen verletzt werden, auf eine soziale Reformpartei, wie sie der Verein für Sozialpolitik nach und nach schaffen will, hauen, so ist das begreiflich. Wenn aber ein Mann ihrer Bildung kommt und der Welt verkündet, daß diese Leute jugendliche Schwärmer seien, so ist das von ganz anderer Wirkung.

Ihre Erklärung in den Jahrbüchern wird von der Masse ganz anders aufgefaßt, als Sie sie beabsichtigten. Sie liest nichts aus derselben heraus, als daß die Welt, wie sie bestehe, die beste der Welten sei, daß alle die Toren seien, die etwas daran bessern wollen, daß die Rohheit und Brutalität des Arbeiterstandes ausschließlich ihm selbst zur Last zu legen sei, daß es auf eine Reform unserer Sitten, unserer Geschäftsgewohnheiten, unseres Rechts viel weniger ankomme, als darauf eventuell den Knüppel in die Hand zu nehmen und jedem auf den Kopf zu schlagen, der das, was da ist, nicht auch recht und vernünftig finde. Selbst durchaus konservativ-kirchliche Publizisten, wie Herr von UNGERN-STERNBERG (2) bezeichnen kopfschüttelnd das als die wesentlichste Wirkung Ihres Angriffes auf uns; während vereinzelte Führer der liberalen Sache gerade aus der starken Betonung der Legitimität jeder bestehenden Gewalt, jeder bestehenden Eigentumsordnung Veranlassung nehmen, offen zu erklären, daß Sie damit die letzte Brücke, die Sie mit dem Liberalismus verknüpft, abgebrochen hätten. (3)

Diese Wirkung liegt wie gesagt nicht sowohl in Ihren Ausführungen ansich, als darin, daß Sie die eine Seite Ihres Gedankengangs besonders prägnant betont, die andere nur nebenbei und sehr abgeschwächt hervorgehoben haben. Sie liegt außerdem darin, daß Sie in Ihrer Polemik nicht streng getrennt haben zwischen den von Ihnen bekämfpten verschiedenen Richtungen, zwischen der heutigen deutschen Sozialdemokratie und dem Sozialismus, dann zwischen diesem und dem seit 3 Jahren in Eisenach sich versammelnden "Verein für Sozialpolitik", endlich zwischen diesem und vereinzelten Aussprüchen vereinzelter Mitglieder desselben; der oberflächliche Leser - und der ist immer in der Majorität - wirft nun all das durcheinander; er hat nur den einen behaglichen Gesamteindruck, mit dem er sich beruhigt wieder auf das Faulbett der Alltäglichkeit hinlegt: auch der große TREITSCHKE - der das doch verstehen muß, hat all das zusammen für Verbrechen oder Jugendfaseleien erklärt - also fertig!

Gegen diese Wirkung noch mehr als gegen Ihre Gedanken halte ich es für meine Pflicht energisch aufzutreten, indem ich Ihre eigenen Aussprüche dagegen ins Feld führe, indem ich streng scheide zwischen Sozialdemokratie, Sozialismus, Verein für Sozialpolitik und meiner Wenigkeit, indem ich nachweise, wie jeder dieser Faktoren sich ausnimmt, wenn man ihn ihm Zentrum seiner Ansichten aufsucht und beurteilt und nicht nach einzelnen mißverständlichen Worten.

Und das ist der letzte Grund, der mich zu einer Antwort nötigt; ich halte die faktische Zeichnung, die Sie von den in Betracht kommenden Richtungen und Persönlichkeiten geben zu einem guten Teil nicht für richtig. Sie geben - nach meiner Meinung - teilweise keine historischen Porträts, sondern Karikaturen; unabsichtlich natürlich; in einzelnen Fällen erscheint Ihre Zeichnung nur so, weil  Sie  vom Betreffenden gar nicht ex professo [ausführlich - wp] reden, sondern nur irgendein Wort, eine Theorie von ihm tadeln wollten; Sie können dem nun aber, der von sich überzeugt ist, daß Sie eine total falsche Skizee von ihm in die Welt hinaussandten, nicht verübeln, wenn er dagegen protestiert, zumal wenn es sich dabei um Urteile handelt, die nicht an der Person hängen bleiben, sondern eine ganze wissenschaftliche Schule treffen. Außerdem aber scheinen mir manche Ihrer Porträts wie Ihrer Urteile einseitig, weil sie auf ungenügender Information aufgebaut sind. Sie behandeln mich und meine Freunde so sehr vornehm und von oben herab, als junge idealistische Leute, die nie etwas von der Welt gesehen, die ohne es selbst zu wissen ins sozialistische Lager hinübertaumelten, als hitzige Schüler von KNIES, die dessen gute Gedanken bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Ich will darüber mit Ihnen nicht rechten; es kommt ja nicht  mir  zu, darüber zu urteilen, ob die spätere objektive Geschichte der heutigen wissenschaftlichen und praktischen Bewegung Ihnen recht geben wird; ich möchte auch deswegen mit Ihnen darüber nicht rechten, weil ich nicht bitter werden möchte, Ihnen gegenüber nie das Gefühl freundschaftlicher Hochachtung auch nur einen Moment abstreifen möchte. Aber dazu gibt mir die Art, wie Sie uns behandeln, ein Recht, Sie daran zu erinnern, daß wir alle dem Spezialstudium, das neben der allgemein philosophischen und historischen Grundlage der Frage doch das Fundament des Urteils in diesen Dingen bildet, wohl ebensoviele Jahre gewidmet haben, als Sie Wochen, daß jeder von uns wohl die deutschen Industriebezirke, viele auch die Schweizer, belgischen, englischen und französischen eingehender studiert, emsiger durchwandert hat, als Sie. Sie müßten allwissend sein und übermenschliche Kräfte besitzen, wenn Sie bei Ihren großen und zahlreichen publizistischen und historischen Leistungen auch in diesen nationalökonomischen Fragen zuhause sein könnten, überall die Quellen gelesen, die Zustände eingehehnd studiert haben wollten. Die wiederholte Lektüre Ihrer Esays hat in mir immer mehr den ersten Eindruck bestätigt: es sitzt hier ein äußerst begabter Richter zu Gericht, der es unternahm einen sehr verwickelten großen Prozeß plötzlich zu entscheiden, aber trotz allen Geistes deswegen kein so gerechtes Urteil sprechen kann, als mancher Unbegabtere, weil er einen sehr großen Teil der Vorakten nicht mehr Zeit hatte zu lesen.

Ich beginne mit dem Unwesentlichsten, mit einer Zurückweisung, derart, wie Sie uns, d. h. mich und meine Gesinnungsgenossen darstellen.


I. Was Sie uns sagen lassen
und was wir wirklich behaupten

Sie geben Ihren Essays sden Titel "Der Sozialismus und seine Gönner". Mit dieser Gönnerschaft meinen Sie uns, die Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik, jedenfalls BRENTANO und mich. Im Munde eines Mannes, der den Sozialismus so gründlich verabscheut, wie Sie das tun, ist das ein schwerwiegender Vorwurf. Freilich können Sie für sich anführen, der Vorwurf sei nachgerade so gewöhnlich geworden, daß er nichts mehr auf sich habe. Jeder beschuldigt das, was ihm nicht mehr paßt, des sozialistischen Anstrichs. Ich erinnere daran, daß sogar ADAM SMITH (4) zunächst vom englischen  Common Sense  seines Zeitalters der Verachtung aller Formen, aller Autorität und sozialer Unterordnung beschuldigt wurde. Die Manchesterleute heißen seit langem alles, was sich nicht bequem auf die Formel Leistung und Gegenleistung reduzieren läßt, Sozialismus oder Kommunismus: Fabrikinspektoren und allgemeine Schulpflicht, Assoziation und Einkommenssteuer (5). Sie selbst geben in Ihrem zweiten Artikel zu, daß "der Spitzname Kathedersozialismus die wohlmeinenden Lehren gemäßigter Männer nicht richtig bezeichne." Sie wissen, daß wir in den sozialdemokratischen Organen fast ausschließlich angegriffen, nur ausnahmsweise gelobt werden, Sie wissen, daß wir nicht mehr Sozialisten sind, als BLANQUI und SISMONDI, JOHN STUART MILL und THÜNEN, als HILDEBRAND und LORENZ STEIN, als die ganze jüngere Nationalökonomie in England (CLIFFE LESLIE, J. M. LUDLOW, BEESLY, CROMPTON, HARRISON), als die belgische Nationalökonomie EMILE de LAVELEYEs (6). Sie wissen, daß unser Sozialismus sich darauf beschränkt, die Kritik der sozialistischen Literatur teilweise berechtigt zu finden, gegen das Dogma des absoluten Individualismus und der unbedingten Berechtigung des Egoismus Front zu machen, die Prinzipien der Sitte und des Rechts in der Volkswirtschaft anzuerkennen. Sie wissen, daß wir seit Jahren immer wieder erklärt haben, "jeder lade den Vorwurf der Ignoranz oder der absichtlichen Täuschung auf sich, der uns schlechthin "Sozialisten" nenne (7)"; - aber  Sie  bleiben dabei, es ist journalistisch ein guter zündendender Titel, - wir sind die  Gönner des Sozialismus;  wir sollen ja Ihrer Ansicht nach für einen Kommunarden, der uns mit Petroleum bedroht, nur die süßlich sentimentale Antwort haben: Lieber Freund, in deiner Drohung steckt ein edler Kern unergründlicher politischer Weisheit. Sie verwechseln uns da offenbar mit BISMARCK; er, nicht wir, war es, der sagte, in der Pariser Kommune stecke ein gewisser berechtigter Kern. (8) Was sind nun Ihre Beweise aufgrund deren Sie uns als Gönner des Sozialismus bezeichnen?

Ich schicke voraus, daß Sie dieselben ausschließlich dem Buch BRENTANOs über die Gewerkvereine und meinem bereits erwähnten Vortrag über die bitzer1.htmlsoziale Frage und den preußischen Staat entnehmen. Wir haben nun unsere Ansichten wiederholt in anderen Schriften und Reden näher ausgeführt; Sie konnte aus einer Reihe unserer neuesten Publikationen, die in Ihren eigenen Jahrbüchern stehen, sehen, daß die Deutung, welche Sie einzelnen unserer Worte geben, nicht die ganz zutreffende ist. Sie können sich also nicht wundern, wenn wir deshalb etwas erstaunt, ja verletzt sind, obwohl wir andererseits einsehen, daß diese Ihre Darstellung daher kommt, daß Sie von uns besonders im ersten Essay gar nicht eingehender reden wollten. Nur war dann der Titel Ihres Essays ein falscher.

Das Erste, was Ihnen an uns verdächtig erscheint, wodurch wir Ihnen der Gefahr ausgesetzt scheinen, dem Sozialismus zu verfallen, ist das angebliche Ausgehen von den natürlichen Gleichheit der Menschen (Juliheft, Seite 74). Bewußt oder unbewußt seien wir, meinen Sie, noch von ROUSSEAU und den Irrlehren des 18. Jahrhunderts in dieser Beziehung angesteckt. Ich halte diesen Vorwurf für vollständig ungerechtfertigt. In der Einleitung zu meiner Rede sage ich ausdrücklich, man dürfe nicht  alle  Verschiedenheit der Vermögensverteilung aus der natürlichen Ungleichheit der  Individuen,  sondern ebenso sehr aus der der  Stämme,  der  Gesellschaftsklassen,  der  Gruppen  von Individuen ableiten. Ich erwähne ausdrücklich, daß die Gegensätze heute viel größer seien als im Anfang der Kultur, daß die Stellung des Individuums innerhalb seiner gesellschaftlichen Klasse in der Hauptsache von der ungleichen individuellen Begabung beherrscht werde, daß nur das Aufsteigen in höhere Klassen noch von anderen Ursachen abhängig sei.

Der Unterschied zwischen Ihrer und meiner Auffassung liegt ganz woanders: Ihnen erscheint die Ungleichheit der Individuen ausschließlich als eine Naturtatsache (Seite 73 - 74 des Juliheftes), Sie stellen sich damit auf den antik platonischen Standpunkt, der von den drei Ständen der Gesellschaft sagt: die Natur macht diese Unterschiede, wie sie Gold, Silber und Kupfer unterscheidet. Ich sehe in der Ungleichheit der Individuen ebensosehr ein Produkt von Kultur-, als von Natureinflüssen. Darüber, wer in dieser Beziehung recht habe, wollen wir weiter unten rechten.

Ebensowenig als ich geht BRENTANO von der ursprünglichen Gleichheit der Menschen aus. Sein ganzes Buch über die Gewerkvereine baut sich auf einer Polemik gegen diesen Satz auf. Die ältere englische Nationalökonomie hatte so argumentiert, als ob sich im wirtschaftlichen Leben stets gleiche Kräfte gegenüber ständen. Dagegen macht die heutige Nationalökonomie Front (9). Und speziell BRENTANOs Ausführung geht darauf hinaus zu zeigen, daß für die Begabteren die freie Konkurrenz, für die minder Begabten die Vereinigung oder die Assoziation das Richtige sei.

Ihr zweiter Vorwurf ist, wir forderten den Genuß aller Güter der Kultur für alle Menschen; wer diesen Satz aufstelle ohne die sofort die Beschränkung hinzuzufügen, soweit die Gliederung der Gesellschaft es erlaube, meinen Sie, sei ein gewisser Demagog oder ein eitler junger Mensch.

Wir sagen aber nicht nur nicht, was Sie uns sagen lassen, sondern wir fügen auch, soweit wir es zu sagen scheinen, jene Beschränkung hinzu.

BRENTANO bezeichnet am Schluß seines zweiten Bandes den Zustand als ein vielleicht unerreichbares Ideal, in dem die gesamten Segnungen der Kultur der gesamten Menschheit zuteil würden. Das ist doch etwas anderes als eine kommunistische Teilung des Vermögens nach Köpfen. Ich selbst bilde mir ein - und tausenden noch in bescheidenerer Lage sich Befindlichen werden ebenso fühlen - an allen Segnungen der Kultur Teil zu nehmen, ohne groß mit Geld und Gut gesegnet zu sein. Die Beschränkung, überdies, die Sie fordern, liegt ganz unzweifelhaft in den sechs vorhergehenden Seiten BRENTANOs, in denen er ausführt, daß wenn man den Arbeitsvertrag und die Gewerkvereine richtig ausbilde, gar keine Ursache sei, eine andere Organisation der Gesellschaft als di heute bestehende mit gebildeten Unternehmern und in Gewerkvereinen organisierten Arbeitern auch für die Zukunft zu wünschen.

Mir werfen Sie kumulativ vor, ich forderte die Heranziehung aller Menschen zu allen Gütern der Kultur (Seite 89 des Juliheftes) und daneben eine Verteilung nach dem Verdienst (ebd. Seite 106). Danach würde ich zwei sich vollständig ausschließende Theorien zugleich aufstellen; ich würde nicht bloß ein fanatischer Sozialpolitiker, sondern auch ein Mensch ohne Logik sein. Was die Theorie der Verteilung nach dem Verdienst betrifft, so zitieren Sie mich nicht genau; ich fordere weder schlechthin eine Einkommensverteilung nach dem Verdienst, - das Wort kommt bei mir gar nicht vor, obwohl Sie es mit Anführungszeichen als meinen Ausspruch mitteilen - noch fordere ich die Ungeheuerlichkeit einer Ausführung dieses Postulats durch die Staatsgewalt, wie aus Ihrer Polemik (Seite 107) scheinen könnte, da Sie - unter Anführung meines Namens zugleich die Verteilung des Einkommens nach Verdienst und die Belohnung der Einzelnen durch eine allmächtige Staatsgewalt angreifen. Was ich an der Stelle, die Sie wohl in Erinnerung hatten, sage, ist nur, das Rechtsgefühl der Masse verteidige jede bestehende Eigentumsordnung, die auch  nur ganz ungefähr  mit den Tugenden, den Kenntnissen und Leistungen der Einzelnen wie der verschiedenen Klassen im Einklang stehe. Von einer Teilung aller Güter an alle spreche ich überhaupt nirgends. Auf Seite 326 - der Stelle wohl, die Sie dabei meinen - schildere ich wie notwendig am Anfang der Kultur eine recht ungleiche Vermögensverteilung sei, um jene älteren Aristokratien zu schaffen, die ich als die Pioniere der Kultur bezeichne. Ich gehe dann über auf die Frage, wie heute eine gleichmäßige Vermögensverteilung wirken würde, und nicht eil ich großes Gewicht auf das Argument lege, sondern weil es in allen manchesterliche Angriffen auf den Sozialismus das einzige Hauptargument ist, füge ich dann hinzu, auch heute noch produzierten wir dazu noch lange nicht genug; - um aber zu zeigen, daß  ich  auch bei einer sehr viel größeren Produktion eine solche gleichmäßige Verteilung verwerflich fände, sage ich, sie sei heute unmöglich "ganz abgesehen  von der Ungerechtigkeit ungleiche Leistung gleich zu belohnen."  Ich füge dann gleich hinzu, um was es sich mir für die Gegenwart zu handeln scheine, nämlich darum, daß eine große Zunahme des Wohlstandes nicht von einer Verschlechterung der Lage der unteren Klassen begleitet sein dürfe; denn, sage ich, es scheine das Ziel der historischen Entwicklung, alle Ausbeutung und Klassenherrschaft mehr und mehr zu beseitigen, alle Menschen nach und nach zu den höheren Gütern der Kultur  herbeizurufen.  In diesem Herbeirufen kann nach dem vorher und nachher Bemerkten nichts anderes liegen, als die Forderung des Hinarbeitens auf eine gewisse Einheit der Gesittung und Gesinnung in jedem Volk, die ich allerdings im Gegensatz zu Ihren Anschauungen für absolut erstrebenswert und für sehr schwer erreichbar halte bei zu großer Vermögensungleichheit. Ich komme darauf zurück.

Wenn ich endlich noch beifüge, daß ich Seite 338 bei einer Besprechung des Materialismus sage, - nur eine materialistische Weltauffassung, die vergessen habe, daß das höchste menschliche Glück ein schönes Familienleben und ein reines Gewissen auch in bescheidener Lebenslage sich erreichen lasse, komme konsequenterweise zu den Forderungen der Sozialdemokrati, zur Forderung einer gleichmäßigen Güterverteilung, so hat der unbefangene Leser, an den ich appelliere, das ganze Material vor sich, aufgrund dessen Sie mich
    1) des Kommunismus, des tierischen Verteilungsprinzips "Jedem dasselbe" und
    2) der grob  "sinnlichen"  Lehre von der Einkommensverteilung nach dem Verdienst beschuldigen.
Bei einigen anderen Angriffen nennen Sie keine Namen, lassen aber keinen Zweifel, daß Sie uns, die angeblichen Gönner des Sozialismus, die Sozialreformer, die akademischen Nationalökonomen damit meinen. Auch diesen Angriffen gegenüber kan ich nur den kräftigsten Protest entgegensetzen: keiner von uns hat das je gesagt, was Sie uns da, wenn auch etwas verblümter imputieren. Sie machen aus einer Mücke einen Elefanten - in Fragen, bei denen es eben gerade und ausschließlich auf die Zahl, auf die Größenverhältnisse ankommt.

Wenn die neueste Nummer der Konkordia nachweist, daß in den meisten Berliner Brauereien eine 15 - 18-stündige Arbeit verlangt wird, wenn Ähnliches auch noch dutzendfach anderwärts vorkommt, wenn die ärztlichen Berichte, die Rekrutierungsberichte aus unseren Fabrikdistrikten übereinstimmend die Verkrüppelung breiter Schichten der Gesellschaft durch zu angestrengte Arbeit nachweisen, wenn dann die Kathedersozialisten es noch nicht wagen für 12 oder 10-stündige Arbeit aller Erwachsenen zu plädieren, sondern das nur für Frauen und Kinder verlangen, was in England längst Rechtens ist, - wenn daneben das weitgehendste, was man je in vernünftigen Arbeiterkreisen verlangt hat, eine 8-stündige Arbeit ist, und die, welche das erlangen, sich auf medizinische und industrielle Autoritäten berufen können, welche sich sehr zweifelhaft darüber geäußert haben, ob sich nicht mit 8 - 10-stündiger Arbeit auf die Dauer mehr leisten lasse, als mit einer 12- und mehrstündige, - dann behaupten Sie, die Lehre von einer zukünftigen 4 - 6-stündigen Arbeit halle von  allen  Kathedern (10) wider (Seite 90 des Juliheftes). Bitte, nennen Sie mir ein einziges, und ich will Ihnen recht geben. Ich habe - und ich lese die sozialdemokratische Presse seit Jahren ziemlich aufmerksam - in keinem Arbeiterblatt je etwas derartiges gelesen, geschweige denn sonst irgendwo. Das Bild, mit dem Sie durch Ihre beiden Essays hindurch ängstliche Seelen graulich machen, das Bild einer rohen fanatischen, in Kot und Laster sich wälzenden Arbeitermasse, die gewillt ist, 20 Stunden des Tages den freien Künsten des Schlafens, Trinkens und Redehaltens zu widmen und nach der Weise privatisierender Gentleman nur zu genießen, existiert in der Tat nur in der Phantasie gewisser Publizisten und - gewisser Geldkreise. Nicht bloß die Not, wie Sie selbst sagen, wird die Masse jederzeit hiervon abhalten; ebensosehr wird und die Gesittung, die Gewöhnung an Arbeit und Tätigkeit, die schwererkämpfte Idee der Ehre der Arbeit, die kein Kulturvolk plötzlich verlieren kann, davor bewahren, daß wir je einen solchen Arbeiterstand erhalten.

Ich komme zu einem anderen Punkt.

Wenn ich mir (Seite 338) die Frage vorlege, ob die geistige Luft, die sittliche Atmosphäre, welche den Materialismus und andere schlimme Eigenschaften des Arbeiterstandes erzeuge, nicht ebenso sehr ein Produkt der höheren Klassen, als des Arbeiterstandes selbst sei, also beide Komplexe von Ursachen nebeneinander erwähne, wenn ich an anderer Stelle (11) genau auseinanderzusetzen suche, daß das Gesetz der Kausalität uns nie veranlassen dürfe, nur äußere Einflüsse auf das psychologische und sittliche Leben zu statuieren, daß die Selbstverantwortlichkeit stets so weit anzunehmen sei, als jeder Mensch ein angeborenes Gefühl für Recht und Unrecht habe, daß sie in dem Maße steige, als dieses Gefühl beim Einzelnen ausgebildet sei (12), dann sagen Sie (Seite 104 des Juliheftes), es sei die gefährlichste Übertreibung der modernen Sozialreformer (damit kann nur  ich  gemeint sein), daß sie der Gesellschaft die  alleinige  Verantwortung für die Sitten der arbeitenden Klassen zuwälzen wolle.

Wenn Sie (Seite 95 des Juliheftes) allen Nationalökonomen als Erbfehler matten Eudämonismus vorwerfen, der heute vollends an keiner festen sittlichen Weltanschauung ein Gegengewicht finde, so lasse ich diesen Vorwurf in seiner Allgemeinheit dahingestellt; den Verein für Sozialpolitik trifft er jedenfalls nicht; nur die Verleumdung könnte das behaupten. Wenn Sie dann aber wieder speziell an uns (13) sich wenden und sagen, wir kämen  unvermerkt  zu einer sinnlichen Schätzung des Lebens, wir befreundeten uns, ohne es selber gewahr zu werden, mit der tief unsittlichen Lehre, alle harte Arbeit für Schande und Unglück zu halten, so sage ich Ihnen kalt, - da täuscht Sie Ihr Gedächtnis; Sie können hierfür auch nicht die Spur eine Beweises vorbringen; - mir ist unbekannt, daß je der Sozialismus die Arbeit zur Schande erklärt hat, ich weiß von allen hervorragenden Vertretern des Sozialismus nur das Gegenteil. Aber daß wir je etwas derartiges behauptet, dagegen protestiere ich aufs heftigste; es ist mir überdies ganz unverständlich, wie man irgendjemandem in der Welt vorwerfen kann, gefährliche unsittliche Theorien zu verbreiten, von denen der Betreffende doch selbst noch nichts bemerkt habe. -

Schließlich will ich noch den Vorwurf erwähnen, wir sollen wie die Sozialisten Pessimisten sein - Pessimisten in der Beurteilung der Gegenwart, wie in der Auffassung der Geschichte überhaupt.

Darüber, ob wir mit unserer Kritik die Gegenwart zu trübe beurteilen, läßt sich natürlich streiten; kein exakter Beweis läßt da  pro  oder  contra  anführen. Aber daran will ich wenigstens erinnern, daß ich erst vor ganz kurzer Zeit in Ihren Jahrbüchern (Bd. XXXI, Heft 1) speziell um den Vorwurf des Pessimismus zu entkräften jenen Essay über den Einfluß der heutigen Verkehrsmittel erscheinen ließ. Ich habebdort mit vollen Farben und unbedingt die Wunder der heutigen Technik, die Fortschritte des Wohlstandes, die auch dem Ärmsten zugutekommen, gepriesen; aber ich habe zugleich zu zeigen gesucht, wie leicht gerade in einer Zeit ungeheuren materiellen Fortschritts ein harter Egoismus und sittliche Übelstände bilden; ich habe zu zeigen gesucht, daß die Menschheit in unseren Tagen ein neues ungeheures Wohnhaus bezogen habe, daß sie darin vorerst einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft recht schlechte Keller- und Mansardenwohnungen angewiesen habe, daß es aber recht töricht wäre, darum zu wünschen, die ganze Gesellschaft lebte wieder in den alten erbärmlichen Hütten. Ist das Pessimismus? Ist das ingrimmige Bitterkeit? Ist das "schonungsloses Verdammen unserer sozialen Ordnung"?

Aber Ihre Geschichtsphilosophie, rufen Sie; - ich soll den Werdegang der Geschichte als eine ewige Krankheit schildern, eine volkswirtschaftliche Erbsündenlehre aufstellen, um nichts fruchtbarer und um vieles trostloser als die theologische; ich bin der SCHOPENHAUERschen Philosophie verdächtig, die ihre jämmerliche Willensschwäche nur durch maßlosen Dünkel verdecke.

Wie ich bei Ihnen in diesen Geruch gekommen bin, weiß ich nicht; ich habe mich nie öffentlich über SCHOPENHAUER ausgesprochen, ihn privatim allerdings oft als Stylisten und Logiker anerkannt (seine klassische Abhandlung über die 4fache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund ist jedem zu Studium zu empfehlen), als Metaphysiker aber habe ich ihn immer verurteilt. Was aber die von Ihnen so schrecklich geschilderte Theorie von der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Organisationsformen betrifft, so finden komischerweise andere Leser gerade eine optimistische Auffassung darin. CONSTANTIN RÖSSLER (14) faßt den Inhalt jenes vielgeschmähten Vortrags dahin zusammen: "Die soziale Frage ist so alt wie die Gesellschaft; aber sie war in jedem gesellschaftlichen System eine andere. Der Grad des Übels erscheint aber in jeder folgenden Epoche vermindert." Ist das pessimistisch? ist es die Lehre von einer ewigen Krankheit, wenn ich sage:
    "die Geschichte entrollt, wenn wir näher zusehen vor unseren Blicken einen Stufengang von sozialen Organisationsformen, von Epochen des sozialen Lebens und des sozialen Rechts, von denen jede schwer mit der andern gerungen hat, bis sie sie verdrängt. Jede folgende streift die Spuren der Gewalt, der brutalen Herrschaft und rohen Ausbeutung, die in älterer Zeit ausschließlich geherrscht hat mehr und mehr ab und kommt zu einem edleren Verhältnis der wirtschaftlichen Klassen untereinander, erkennt die Gleichberechtigung der Menschen mehr an, fordert mehr eine sittliche Wechselwirkung der verschiedenen, betont eine Verpflichtung der höherstehenden Klassen zu Hebung der unteren."
Aber Ihre Lehr vom Ursprung der volkswirtschaftliche Organisation aus der Gewalt und dem Unrecht, entgegnen Sie; - halt. sage ich, hier muß zunächst wieder festgestellt werden, was ich behaupte; Ihr mit Anführungszeichen (Seite 73 des Juliheftes) versehenes Zitat aus meinem Vortrag "die wirtschaftliche Klassenbildung entspringt aus Unrecht und Gewalt" ist richtig; aber es ist eine von mir selbst verfehlte Wiedergabe dessen, was ich unmittelbar vorher richtiger, anders und eingehender sage. Ich beginne oben auf Seite 325 mit dem Satz: "Die Gewalt ist die Ursache der sozialen Klassen, der Ungleichheit des Besitzes usw."; ich sage absichtlich Gewalt schlechthin, weil ich nicht in jeder Gewalt Unrecht sehe und füge dann hinzu:  "Auch  die Schuld und das Unrecht, mit dem man begonnen, hört nicht auf." Der Sinn meiner Worte - das geht aus dem ganzen übrigen Vortrag unzweifelhaft hervor - ist der: Mit Gewalt wird stets begonnen; die Gewalt aber ist nur dann nicht Unrecht, wenn sie zur Erziehung der Unterworfenen benutzt wird, wenn sie geadelt wird durch ideale Zielpunkte. Daher erscheint mir allerdings die Gewalt in der ältesten Zeit der Geschichte vielfach als Unrecht; sie streift mir aber diesen Tade in dem Maße ab, als sie sich ihrer Pflichten bewußt wird. Daß auch heute noch viel Gewalt existiert, die sittlich nicht berechtigt ist, die ihre Pflichten noch nicht erfüllt, die sich aus einer Naturgewalt noch nicht vollständig in eine moralische Gewalt verwandelt hat, das behaupte ich allerdings; hätte ich darin Unrecht, so wäre die Welt absolut vollkommen, das Ziel der Weltgeschichte wäre bereits erreicht. Ebenso glaube ich, daß nach dem Gesetz der Kausalität alles heutige Unrecht mit dem früheren zusammenhängt, daß eine ununterbrochene Kette von den ersten Scheußlichkeiten der ältesten Geschichte bis zu den jüngsten Mißhandlungen unmündiger Kinder in unseren Fabriken herabreicht, daß der Einzelne auch in diesen Dingen oftmals unrichtig handelt und dann möglicherweise dafür büßen muß, wenn auch sein Tun viel weniger sein Unrecht, als das seiner Vorfahren ist; (15) - und deswegen spreche ich von einer gleichsam tragischen Schuld; ich entlehnte mein Bild absichtlich nicht der kirchlichen Dogmatik, um jeden Zusammenhang mit der theologischen Erbsündenlehre abzuweisen; ich entlehnte es der Tragödie, die sich auf dem Begriff der Gerechtigkeit und der einfach menschlichen Kausalzusammenhänge aufbaut und mit Sühne und Läuterung abschließt.

Ich sage nirgends, wie Sie mir imputieren [unterstellen - wp], daß das Unrecht erst nach  Jahrtausenden  im langsam erwachenden Rechtsgefühl der höheren Stände eine  niemals  genügende Sühne finde, sondern ich sage ausdrücklich auf derselben Seite, daß die ersten Anfänge von Sitte und Recht schon den Neubau der sittlichen Kultur gegenüber dem Rohbau der Naturgewalten aufführten, daß also hiermit schon die Sühne beginne; ich betone daneben, daß die aristokratische Ungleichheit der Vermögensverteilung das einzige Mittel sei, rohe Naturvölker zur Arbeit und zur Gesittung zu erziehen, daß sie "das absolut notwendige große Instrument des technischen und geistigen Kulturfortschritts sei."

Der Fehler, dessen ich schuldig bin, ist der, daß ich in jenem Vortrag nicht klar von Anfang an, die Gewalt, die dem Egoismus, der Leidenschaft, den tierischen Trieben dient, von der Gewalt schied, die sich durch ideale Zwecke adelt. Dieser Fehler scheint mir aber viel geringer als der, in den Sie im Eifer des Gefechtes verfallen, jede Gewalt als solche, auch die des Kannibalen, für berechtigt zu erklären. Wenn Sie von jeder Unterwerfung des Schwachen durch den Starken sagen, es hafte daran nicht mehr Unrecht, nicht mehr tragische Schuld, als an jeder Tat unseres sündhaften Geschlechts, - so heben Sie damit jeden Unterschied von Recht und Unrecht auf. Entweder ist dann alles unrecht oder gar nichts, was Menschen tun. Und Sie scheinen mir dann auch in ihren folgenden Ausführungen sich abwechslungsweise auf die zwei widersprechenden Sätze zu stützen: Alles ist sündhaft, und nichts, was ist, entbehrt der Berechtigung. Ich finde einzelnes sündhaft, - anderes nicht; ich beklage Einzelnes, was ist und zunächst nicht anderes sein kann, weil ich hoffe durch meine Klage zur Besserung beizutragen.

Doch genug dieser Berichtigungen. Kommen wir zur Hauptsache.
LITERATUR: Gustav Schmoller, Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft - offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich Treitschke - Jena 1875
    Anmerkungen
    1) Abgedruckt in Preußische Jahrbücher, Bd. XXXIII, Seite 323 - 342.
    2) In der süddeutschen Reichspost Nr. 239, Dienstag 13. Oktober 1874.
    3) Ich hatte zuerst erwartet, Ihre Angriffe auf uns werden in der Partei großen Beifall finden und Leute vom Schlage BRAUNs und BAMBERGERs haben Ihnen ja auch nachdrücklich zugejubelt. Wenn nun die Zeitungen aber ohne Widerspruch verkünden, "daß innerhalb der weitesten Kreise des Nationalliberalismus die bezüglichen Aufsätze der Preußsischen Jahrbücher mit Entrüstung und Widerwillen gelesen werden", so scheint der oben von mir angeführte aus sicherer Quelle stammende Ausspruch doch nicht bloß vereinzelt in der Partei dazustehen.
    4) Er hat freilich auch das ketzerische Wort ausgesprochen, daß der Grundeigentümer ernte, wo er nicht gesät. Über den oben angeführten Ausspruch siehe HERMANN, Miniaturbilder aus dem Gebiet der Wirtschaft, Seite 140
    5) Vgl. die Verhandlungen des 7. Kongresses deutscher Volkswirte; nicht bloß FAUCHER, sogar MICHAELIS erklärte, das Einkommenssteuerprinzip gehe dicht an die Grenze des Kommunismus.
    6) Dessen eben erschienenes Buch "De la propriété et de ses formes primitives" durchaus auf einem uns verwandten Standpunkt steht, ja in gewissem Sinne noch weiter geht, als der Verein für Sozialpolitik.
    7) SCHÖNBERG in der Tübinger Zeitschrift 1872 ,Seite 416
    8) In der Sitzung des Reichtstags vom 2. Mai 1871 bei der ersten Beratung des Gesetzentwurfs über die Vereinigung von Elsaß-Lothringen mit dem deutschen Reich.
    9) Siehe dazu auch meine Ausführungen "Geschichte der deutschen Kleingewerbe", Seite 666, wo ich die Elite des Handwerkerstandes, des Mittelschlag [den Durchschnitt - wp] und die Hefe desselben unterscheide.
    10) Da Sie daneben mit Vorliebe von Sozialisten des Katheders reden, so kann wohl kein anderes, als ein akademisches Katheder damit gemeint sein.
    11) Vortrag über die Resultate der Bevölkerungs- und Moralstatistik. Heft 123 der Virchow-Holtzendorfschen Sammlung.
    12) Wie gegen Ihren Satz: "So elend ist keiner, daß er im engen Kämmerlein die Stimme seines Gottes nicht vernehmen könnte"; geschrieben ist der Ausspruch der Konkordia (Nr. 42 des Jahres 1874): "sittlich und geistig verwahrlosten Proletariermassen von den Gütern des inneren Lebens vorzureden, ist ebenso müssig als einem Blinden die erhabene Schönheit des Sternenhimmels zu demonstrieren; - der Arbeiterstand hat diese Güter nicht, weil er sie nicht kennt, und er kennt sie nicht, weil er zu wenig Gelegenheit hat, sie kennen zu lernen. Dies muß, so unangenehm es auch den Meisten zu hören ist, immer und immer wieder erinnert werden." Ihre Annahme, jeder Arbeiter sei in der Hauptsache für seine Fehler selbst verantwortlich, - da jeder in seinem Kämmerlein seinen Gott vernehme, scheint mir mehr als alles andere zu zeigen, wie fern Sie dem wirklichen Arbeiterleben stehen.
    13) Sie sagen da, wir redenten  so viel  von  "sittlichem Pathos";  dieser unglückliche mißverständliche Ausdruck wurde ein  einziges Mal  von uns gebraucht; im Aufruf zu ersten Eisenacher Zusammenkunft, unter dem auch Ihr Name steht.
    14) Zeitschrift für preußische Geschichte, Bd. XI. Seite 370
    15) Auch Sie sprechen (Historisch-politische Aufsätze, Neue Folge, Teil II, Seite 74) von der Nachwirkung alter Schuld in der Geschichte, von einer Gerechtigkeit, die die Sünden der Väter langsam vergessend mit einer unversöhnlichen Härte an den Söhnen heimsuche.