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OTTO LIEBMANN
Kant und die Epigonen
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"Was nun den Gründer dieser vier großartigen Hauptrichtungen unserer modernen Philosophie (Fichte, Herbart, Fries, Schopenhauer) anlangt, so ist er ohne Zweifel der bedeutendste Denker der christlichen Menschheit. Kant vereint in sich alle jene Eigenschaften, mit denen der wirklic große Philosoph ausgestattet sein soll: Tiefe und Größe der Auffassung, Klarheit und Schärfe des Denkens, Besonnenheit und Nüchternheit in der Ausführung und - was vor Allem not tut - Wahrhaftigkeit."

"Treffen wir nun bei der Verfolgung [bestimmter Gedanken] auf irgendeinen Punkt, der uns als Inkonsequenz, also als unverträglich mit den eigenen Prinzipien, also als Fehler erscheint, so werden wir berechtigt sein, abzubrechen; denn nur solange hat ein System Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit, als es aus richtigen Prinzipien auf richtige Weise Konsequenzen gezogen hat; begeht es irgendwo eine Inkonsequenz, so trifft dies zwar nicht die vorhergehende Gedankenreihe, aber alles Folgende."

"Wessen Besonnenheit aber so weit geht, daß es ihm auffällt, wie diese, vermeintlich uns bekannte, in der Tat aber fremde, Welt doch wiederum so fest und unauflöslich an uns gefesselt ist, daß sie ohne uns und wir ohne sie selbst  Nichts  sein würden, der ist schon im Zentrum der Philosophie angelangt. Ihm ist klar geworden,  daß Subjekt und Objekt die unzertrennlichen Faktoren und notwendigen Korrelata der Erkenntnis sind,  die sich ebensowenig scheiden und vereinzeln lassen, als die Pole des Magneten; - eine einfache Wahrheit, die aber ebenso wichtig, als oft vernachlässigt ist."

Es ist bekanntlich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen; eine Wahrheit, die, wenn sie geeignet ist, den menschlichen Ehrgeiz niederzuschlagen, andererseits dem redlichen Streben nach Erkenntnis als Ansporn dient, insofern sie allen blinden Autoritätsgötzendienst auf ein unschädliches Maß zu reduzieren imstande ist.

Wenn der menschliche Geist in irgendeiner Sphäre seine Tätigkeit so stark und einseitig angespannt, seine Gedanken so bis in die feinsten Nuance entwickelt hat, daß die Mehrzahl der Denkenden kaum imstande ist, ihm zu folgen, viel weniger ihn zu überbieten; dann glaubt er sich wohl zu der Überzeugung berechtigt: es bleibe hier nichts mehr zu denken übrig, er habe den ganzen Inhalt dieser Sphäre durchaus erschöpft, dann ist er aber auch gewiß jenem Gebiet nahe, das vom Erhabenen nur einen Schritt entfernt liegt. - In solchen Epochen ist es für den selbständigen Forscher das Geratenste, dem allgemeinen Mißtrauen dadurch Worte zu verleihen, daß er mit prinzipiellem Zweifel vor allem die Grundlagen untersucht, auf denen das ganze stolze Gebäude ruht. Denn es steht zu befürchten, daß, wenn  diese  nicht ganz zuverlässig sein sollten, der ganze Bau eines Tages zusammenstürzen und die in seinen Hallen versammelte Menge verschütten könnte; oder mit anderen Worten, daß bei der Vernichtung dessen, was den Maßgebenden als die höchste, unzweifelhaft barste Wahrheit gilt, die Idee der Wahrheit selbst und der Glaube an sie möchte vernichtet werden. Solches Unglück verhütend, sind schon oft redlich Zweifelnde zu Förderern der Menschheit geworden. - GOETHE sagt:
    Wenn wir den Zweifel nicht hätten,
    wo wäre denn frohe Gewißheit?
Dies gilt vor allen Dingen für jene Sphäre geistiger Tätigkeit, welche einerseits die wichtigste ist, weil in ihr diejenigen Gegenstände betrachtet werden, die uns am meisten am Herzen liegen, welche aber andererseits dem Irrtum und Zweifel am meisten ausgesetzt ist, weil sich in ihr der Geist fast gar nicht auf irgendeinen freundlich unterstützenden Führer verlassen kann, fast durchweg auf den eigenen Takt angewiesen ist, - für die Philosophie. Gerade in ihr ist schon häufig jene, oben beschriebene, Epoche eingetreten, wo man glaubte  fertig zu sein;  gerade in ihr ist aber auch eben so oft durch eine gründliche Revolutioin Kehraus gemacht, der Boden zu ganz neuem Bau geebnet worden.

Ich glaube nun nicht vereinzelt mit meiner Meinung zu stehen, wenn ich unsere Zeit für eine solche halte, in der aus dem angegebenen Grund ein allgemeines Mißtrauen gegen philosophische Untersuchungen herrscht. Jedenfalls muß uns die Tatsache befremden, daß, währen die Spekulation in einer Reihe von berühmten Systemen alles geleistet zu haben scheint und meint, was in diesem Fache geleistet werden kann, doch die Mehrzahl der Gebildeten sehr wenig ergriffen, sehr gleichgültig gegen den Geist jener Systeme, teils sich indifferent verhält, teils sich eher zu den oberflächlichen, grund- und bodenlosen Meinungen des Materialismus hinneigt. Zufall ist das nicht, denn es gibt keinen Zufall. Es dürfte daher wohl der Mühe wert sein, nähere Aufklärung über diese Erscheinung zu suchen.

Nun läßt sich freilich zunächst nicht leugnen, daß die Schwierigkeit der Abstraktionen, welche in jenen Systemen verlangt werden und die Absonderlichkeit ihrer letzten Resultate auf den Ungeübten abschreckend wirken; auch reizt ihr äußerliches Gewand, die schwankende, teils übertrieben bildliche, teils lapidare Terminologie - im Vorübergehen betrachtet - eher zum Spott, als zum näheren Eingehen. Und vor allem muß die große Differenz, die zwischen den einzelnen Systemen herrscht und die Gehässigkeit, mit der ihre Gründer und Anhänger gegeneinander polemisieren, ihrer Würde und damit Wirksamkeit, in den Augen des Unparteiischen Eintrag tun, ja sie vernichten. Man erinnere sich nur daran, mit welcher Begeisterung man einstmals den naturphilosophischen Orakelsprüchen SCHELLINGs lauschte, welche nachher HERBART für "metaphysischen Unsinn" erklärt hat, mit welchem Staunen man der, aus nieverlöschender Triebkraft die ganze Welt umfassenden,  HEGEL Dialektik  nachschaute, welche ARTHUR SCHOPENHAUER, der erst neuerdings beachtete, nicht verächtlich und gehässig genug zu behandeln weiß. Wenn man nun außerdem auf die Polemik FRIESens gegen FICHTE, SCHELLING und HEGEL, HERBARTs gegen jenen und diese und SCHOPENHAUERs gegen alle zusammen, endlich gar auf die Streitereien und das Schulgezänk ihrer Anhänger und Halbanhänger unter sich und gegen andere Rücksicht nimmt, so breitet sich vor unseren Augen ein so unentwirrbares Chaos von Meinungen, ein so mit Dorngesträuch durchaus verwachsende Terrain aus, daß es für den ferner Stehenden wie eine schier unmöglich Aufgabe gelten kann, sich hier durchzuschlagen oder gar zu orientieren. "Der Eine verachtet, der Andere lacht; beides bringt Ärger. Und der Unbefangene Dritte muß trauern über den Zwiespalt und seine Folgen." (1)

So unterscheidet sich der babylonische Turmbau der deutschen Philosophie unseres Jahrhundert vom biblischen leider nicht bloß dadurch, daß seine Baumeister wirklich bis in den Himmel gelangt zu sein glaubten, sondern auch dadurch, daß außer der  Sprach verwirrung eine  Gedanken verwirrung von ihm ausgegangen ist.

Aber diese Einwände sind nur  populärer  Natur, d. h. nicht als stichhaltig nachgewiesen. Für uns dagegen kann es sich nur darum handeln, die Sache  wissenschaftlich  zu erfassen, ab ovo [vom Ei weg - wp] zu beginnen. - Eine Kritik aller einzelnen System wäre da freilich das ausführlichste Verfahren, aber deshalb keineswegs das gründlichste. Halten wir uns vielmehr an das, was wir oben gesagt gesagt haben, daß in solchen Epochen zunächst die  Grundlagen,  die  Prinzipien  zu untersuchen seien. Wenn wir nämlich finden, daß die verschiedenen modernen Systeme der Philosophie von einem gemeinsamen Anfangspunkt ausgehen, so muß das Resultat einer genauen Untersuchung dieses Anfangspunktes selbst jedenfalls entscheidend für unser Urteil über alle jene an ihn anknüpfenden Richtungen sein, wir werden einen sicheren Standpunkt gewonnen, den Kern der Angelegenheit  in nuce  [in einer Nuss - wp] gefaßt haben.

Wo nun dieser gemeinsame Anfangspunkt liege, darüber können wir uns lange Untersuchungen sparen; denn das ist längst festgestellt und allgemein anerkannt: Er liegt in der  Kantischen Philosophie.  "KANT beherrscht die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, wie LEIBNIZ die des achtzehnten" sagt einer der geistreichsten Geschichtsschreibe der Philosophie. (2) Und "daß  er  der philosophische Reformator unseres Zeitalter sei, daß in ihm alle Systeme der Gegenwart wurzeln," ist auch von seinen Gegnern geradezu und offen bekannt worden. (3) Es liegt vielleicht nahe, jenes oft zitierte Epigramm SCHILLERs auf KANT zu erwähnen:
    Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung
    Setzt! - Wenn die Könige bauen, haben die Kärrner gut zu tun.
Ich möchte jedoch ausdrücklich bemerken, daß in diesem Distichon [Zweiteiler - wp], sowohl der Zeit der Abfassung, als namentlich seinem Inhalt nach, unter den Kärrnern nur die JÄSCHE, BECK, BOUTERWECK, KRUG usw., auch REINHOLD, verstanden sein können, d. h. jene im äußeren Formenwesen der kantischen Lehre befangenen subalternen [untertänigen, unselbständigen - wp] Köpfe, welche sich besonders  Kantianer  nannten, weil ihre Hauptkategorie das "autos epha" [der Führer hat gesprochen. - wp] war. Diejenigen hingegen, auf welche wir eben hinblicken und deren Systeme man bisher die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts genannt hat, nämlich FICHTE, SCHELLING, HEGEL, HERBART, FRIES und SCHOPENHAUER, müssen als große Architekten anerkannt werden. Sie hängen zwar einerseits von der Kantischen Philosophie so sehr ab, daß sie ohne diese nicht nur unverständlich, sondern auch unmöglich wären, andererseits aber haben sie doch die Konsequenzen jener gemeinsamen Grundlehre so weit und so verschieden ausgebildet, daß sie als selbständige Denker anzusehen sind. Nach ihrer verschiedenen Auffassung des Kritizismus gruppieren sie sich in  vier  Hauptrichtungen, - welche wir - vorläufig, um der Sache nur überhaupt einen Namen zu geben - die  idealistische, realistische, empirische  und  transzendente  nennen wollen; Namen, die im Verlaufe dieser Abhandlung ihre Rechtfertigung wohl finden werden. Die  idealistische  ist durch FICHTE, SCHELLING und HEGEL, die  realistische  durch HERBART, die empirische durch FRIES, die  transzendente  durch SCHOPENHAUER vertreten. Um allen etwaigen Einwänden zuvorzukommen, wollen wir gleich hier nachweisen, daß ihre Abhängigkeit von KANT nicht bloß eine ihnen äußerlich beigelegte, sondern von ihnen selbst anerkannte ist; und das geschieht wohl am besten mit ihren eigenen Worten:
    FICHTE, der Gründer der idealistischen Richtung, an dessen Philosophie unmittelbar SCHELLING anknüpft, von welchem wiederum HEGEL ausgeht, erklärt: "Er wisse es, daß er nie etwas werde sagen können, worauf nicht schon KANT unmittelbar oder mittelbar, deutlicher oder dunkler gedeutet habe." (4)

    HERBART gesteht geradezu: "Mit einem Wort: Der Verfasser ist [d. h. Ich bin] Kantianer." (5)

    FRIES "findet für seinen Zweck die gehaltreichsten Vorarbeiten "in den Kantischen Kritiken der Vernunft, diesen ersten philosophischen Meisterwerken." (6)

    SCHOPENHAUER endlich sagt: "KANTs Philosophie ist die einzige, mit welcher eine gründliche Bekanntschaft bei dem hier Vorzutragenden geradezu vorausgesetzt wird. - Denn KANTs Lehre bringt in jedem Kopf, der sie gefaßt hat, eine fundamentale Veränderung hervor, die so groß ist, daß sie für eine geistige Wiedergeburt gelten kann." (7)
Was nun den Gründer dieser vier großartigen Hauptrichtungen unserer modernen Philosophie anlangt, so ist er ohne Zweifel der bedeutendste Denker der christlichen Menschheit. KANT vereint in sich alle jene Eigenschaften, mit denen der wirklic große Philosoph ausgestattet sein soll: Tiefe und Größe der Auffassung, Klarheit und Schärfe des Denkens, Besonnenheit und Nüchternheit in der Ausführung und - was vor Allem not tut - Wahrhaftigkeit. Er ist eben so sehr Feind aller dunklen, phantastischen Scheinphilosophie, als jenes seichten, leicht zufriedengestellten Denkens, welches sich begnügt, die Oberfläche mit einem Netz von Nominaldefinitionen übersponnen zu haben, ohne daß es in jene Tiefe dringt, von der es keine Ahnung hat. - Daher ist es auch bezeichnend, wie er gerade  die  Sätze aufnimmt, in denen der schottische Skeptiker aller Erkenntnis vernichtet zu haben meinte, und, indem er sie mit schonungsloser Strenge bis in ihre äußerste Tiefe verfolgt, in ihnen vielmehr das eigentliche Fundament allen Vorstellens, Denkens und Erkennens finde, - dasjenige, wodurch die unleugbare Tatsache der Erfahrung erst bedingt und ermöglich wird. - Seine Philosophie ist die spät gereifte Frucht einer langen, einsamen, ernsten Arbeit; man sieht es ihr an, daß sie der Siegespreis eines angestrengten, beharrlichen Kampfes ist und lebendig spricht aus allen ihren Zeilen.

So ist denn nun auch seine Lehre, im höchsten Sinne des Wortes,  epochemachend;  sie verhält sich zu allen vorangegangenen Versuchen zur Aufstellung einer fest gegründeten Weltanschauung vollkommen negativ und widerlegend, zu allen nachfolgenden schlechthin positiv und grundlegend. Wer  sie  nicht verstanden hat, für den sind die vorkantischen Philosophen noch vollberechtigt und die nachkantischen unerklärlich. Dabei ist sie durchweg  bescheiden,  so an Form, wie an Inhalt. An Form, - denn sie bringt alle ihre tiefsinnigen Erkenntnisse mit keuscher ungeschminkter Aufrichtigkeit, ohne Bombast, Selbstlob und Posaunengetön. Wohltätig sticht sie hierin ab von so manchem hochfahrenden Wort ihrer Nachfolger, die nicht einmal alle die gebotene Pietät gegen ihre gemeinsame  alma mater  [nährende Mutter - wp] beachtet haben. Bescheiden an Inhalt, - denn was ist denn ihr einfaches, anspruchsloses Thema? Es ist die Durchführung der Regel, daß die menschliche Spekulation, bevor sie an großartige, weitschauende Gedankenkonstruktionen geht, sich erst darüber Rechenschaft geben muß, wie weit ihre Kräfte reichen; es ist die Beantwortung der Frage: Was kann ich überhaupt erkennen? - Ruhig und sicher beantwortet sie dieselbe und weit alle Anmaßung des eigenen Denkens in die Grenzen zurück, die sie sich selbst setzt. Zum Wahlspruch hat sie sich das Wort des PERSIUS auserkoren:
    "Tecum habita et noris,
    quam sit tibi curta suppelex." (8)
    [Bei der Beurteilung anderer auf seine eigenen Fehler sehen,
    damit man nicht zu streng verfährt. - wp
    ]
Aber dieser bescheidene Inhalt ist von so höchster, weitesttragender Wichtigkeit, daß er alle überschwänglich, hochtrabende Pseudo-Philosophie vernichtet. Er ist daher durchaus bedeutend; deshalb ergreift er uns zuweilen durch die mächtige Wahrheit seiner Gedanken so innig, daß wir, unsere Lektüre unterbrechend, in ein stilles, sinnendes Staunen versinken über die wahrhaft erhabene Tiefe dieses Geistes. Und wenn nun diese selbige, in aller ihrer wahrhaften Größe so bescheidene Lehre nicht allein den überschwänglichsten Scheinphilosophemen Daseinsrecht hat verleihen müssen, sondern auch selbst so arg verkannt worden ist, daß man sie für die übermütigste von allen halten durfte, so sehen wir hierin allein das Mißverständnis ihrer Schüler und Interpreten. Nicht- oder Halbphilosophen, wie GOETHE, der sich dieser Lehre durchaus nicht kongenial fühlte, (9) und FRIEDRICH HEINRICH JACOBI, welcher allein das philosophische Interim zwischen Dogmatismus und Kritizismus auszufüllen imstande war, hielten Nebengedanken für die Hauptsache. - Wer aber mit voller intellektueller Hingabe den wahren, einfachen Grundgedanken dieser Philosophie erfaßt, sich ihres eigentlichen Kerns bemächtigt, der kommt zur Überzeugung: "Ihre Grundsätze werden unumstößlich bleiben; ihre Irrtümer sind gering an Zahl gegen ihre Wahrheiten." - So steht sie da in ihrer reinen, erhabenen Größe, - ein bleibendes Ehrendenkmal des Menschengeistes. -

Aber wenn wir für die Wahrheiten dieser Lehre ein offenes Auge haben, so dürfen wir andererseits für ihre Absonderlichkeiten und Fehler nicht blind sein.

Zunächst war es eine natürliche Folge seiner gründlichen scholastischen Gelehrsamkeit, daß KANT mit einer Menge von unwesentlichem Außenwerk seine rein, echte Wahrheit überkleidete; jenes Übermaß von buntscheckigen lateinischen, griechischen und lateinisch-griechischen Terminis, die er mit strengem Fleiß und Ordnungssinn, ja mit steifer Pedanterie anordnet, umkränzen den soliden Bau seiner Gedanken wie Rokokoschnörkel, aus denen man hie und da den gepuderten und bezopften Magister leibhaftig hervorblicken sieht. Gerade diesen pedantischen Formel- und Wortkram trifft HEINE (der sich übrigens in seiner Polemik gewöhnlich als  gamin  [Bengel - wp] zeigt) mit richtigem Takt in Versen:
    "Er mach ein verständig System daraus;
    Mit seinen Nachtmützen und Schlafrocksfetzen
    Stopft er die Lücken des Weltenbaus."
Aber dieses Außenwerk ist unschädlich. Die  Kantianer,  im alten Sinne, erblickten darin die Hauptsache und schmückten ihre zielich unbedeutenden Machwerke damit aus, in der Meinung, sich dadurch als echte Schüler des Meisters zu manifestieren. Vor dem frischen hauch des lebendigen Geistes ist diese Spreu längst zerstoben.

Etwas viel Bedenklicheres ist dagegen aus derselben Ursache entsprungen: Es ist aus dem Dogmatismus auch ein falscher Begriff oder vielmehr ein Unbegriff mit herübergeschleppt worden, der nicht nur die eigene Lehre KANTs entstellt und verfälscht, sondern auch an allem dem Unheil Schuld ist, das seine Nachfolger angerichtet haben. Er erbt sich fort bis ins dritte und vierte Glied;  er  hat dazu beitgetragen, daß die Kantische Philosophie so schnell verdrängt, so halb für veraltet angesehen worden ist, daß man die Wahrheit dieser Lehre noch immer durch geschliffene und gefärbte Gläser betrachtet, mag man diese auch, wie SCHOPENHAUER, für Starbrillen ausgeben. Er ist es, dessen Kritik allein Gegenstand dieser Abhandlung sein wird.

Doch wir wollen unserem Gedankengang nicht vorgreifen.

Der Plan für unsere Untersuchung ist einfach. Es handelt sich darum, den inneren Zusammenhang der genannten vier philosophischen Hauptrichtungen mit der Kantischen Philosophie zu erkennen und dann aus der Kritik dieser letzteren den Maßstabe für die Beurteilung jener zu gewinnen. Nun besteht aber aller innere Zusammenhang verschiedener Gedankenrichtungen allein darin, daß sie, bevor sie divergieren, eine Strecke zusammengehen, d. i. eine Reihe von Gedanken gemeinsam haben. Dennoch müssen wir also jede dieser Richtungen soweit verfolgten, daß wir jene Reihe von Gedanken, welche sie mit der kritischen Philosophie gemeinsam hat, genau erfassen. Hierzu wiederum wird nötig sein, daß wir vor allem den Kantischen Gedankengang im Großen betrachten, seinen spekulativen Zusammenhang prüfen und uns von seiner Unumstößlichkeit und Gewißheit überzeugen. Treffen wir nun bei dieser Verfolgung der Kantischen Gedanken auf irgendeinen Punkt, der uns als Inkonsequenz, also als unverträglich mit den eigenen Prinzipien, also als Fehler erscheint, so werden wir berechtigt sein, abzubrechen; denn nur solange hat ein System Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit, als es aus richtigen Prinzipien auf richtige Weise Konsequenzen gezogen hat; begeht es irgendwo eine Inkonsequenz, so trifft dies zwar nicht die vorhergehende Gedankenreihe, aber alles Folgende.

Sollten wir nun eine solche Inkonsequenz in der Kantischen Philosophie finden, so würde der weitere Gang unserer Betrachtung folgender sein müssen: Wir legen der Reihe nach den Gedankengang einer jeden von den vier abhängigen Richtungen so dar, daß man deutlich sieht, wie und worin sie mit der Kantischen Spekulation zusammenhängt, welche Gedanken sie mit jener gemein hat und von wo aus sie zu divergieren beginnt. Jede muß daher ebenso, wie vorher die Kantische Philosophie selbst, genau verfolgt, rein objektiv dargelegt werden, wobei es fürs Erste sehr darauf ankommt, daß wir unsere Kritik nicht im Mindesten einmischen, sondern als unparteiische Richter uns rein passiv, zuhörend verhalten. - Aber wie lange? Das ganze System eines jeden zu skizzieren wäre ziemlich weitläufig. Doch dies fordert auch gar nicht einmal die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit. Haben wir nämlich vorher in der Kantischen Spekulation einen Fehler entdeckt, so werden wir bei der Betrachtung jedes einzelnen Tochtersystems nur so lange von unserer Kenntnis jenes Fehlers abstrahieren müssen, bis wir eine klare Überzeugung darüber gewonnen haben, wie weit es der  unverbesserten  Grundlehre folgt, in welchem Punkt es abweicht und nach welcher Richtung es sich selbständig weiter entwickelt. Dann aber werden wir berechtigt sein, mit der Frage hervorzutreten:

Wie verhält sich diese Philosophie zu jenem Fehler?

Es ergeben sich in dieser Beziehung drei mögliche Fälle:
    Entweder nämlich das vorliegende System  erkennt jenen Fehler nicht als solchen, sondern läßt ihn unangetastet stehen; 

    Oder es  erkennt ihn als Fehler, weiß ihn aber nicht zu entfernen, korrigiert also die Kantische Philosophie in diesem Punkt nicht; 

    Oder endlich  es erkennt ihn als Fehler, entfernt ihn und korrigiert damit die Kantische Philosophie. 
Sollte dieser letzte Fall irgendwo eintreten, so wäre insofern unsere Frage genügend erledigt. Wo  aber einer von den ersten beiden Fällen vorliegt, da werden wir berechtigt sein, das betreffende System zu verlassen und auf Kant zurückzugehen. 

Das ist der einfache Leitfaden unserer kritischen Untersuchung.

Wenn wir diese drei Fälle, so in dürre Worte gefaßt, betrachten, möchte es fast scheinen, als ob der  zweite  Fall kaum denkbar wäre. Denn, wenn ein Philosoph von so hervorstechenden Anlagen, wie es ohne Zweifel jeder der Genannten ist, einmal im System, von welchem er eingestandener Maßen ausgeht, einen solchen Fehler, eine bare Inkonsequenz entdeckt hätte, - wie wäre es dann möglich, daß er darüber hinwegginge, ohne jene in diesem Punkt zu korrigieren? - Dennoch sind selbst die beiden bedeutendsten Nachfolger KANTs in diesem Falle! Man bedenke hierbei nur im Allgemeinen, wie es in der Geschichte der menschlichen Geistestätigkeit gar nichts Seltenes ist, daß bedeutende Männer der festen Überzeugung lebten, sie hätten die Fehler ihres Vorgängers alle verbessert, während ihnen doch entweder dieser oder jener entschlüpft war oder der Schaden, den sie geheilt zu haben meinten, an einer anderen Stelle unversehens wieder aufbrach. Es liegt zudem Nichts näher, als über dem scheinbar Großen das scheinbar Kleine zu vergessen. Und während der begeisterte Schauer mit erklärlicher Unbedachtsamkeit die vor ihm ausgebreitete, herrliche Landschaft bewundert, ist vielleicht ein einziger verwitterter Stein die Veranlassung, daß im nächsten Augenblick er selbst und mit ihm alle göttlichen Gedanken aus dem Himme des Enthusiasmus in sehr materielle Tiefen hinabstürzen.

Ob das  dritte,  einzig richtige Verfahren bisher von irgendjemand befolgt worden ist, darüber wollen wir hier noch nichts verraten, da es  bis jetzt  noch ganz problematisch geblieben ist ob und inwiefern dasselbe praktisch zur Anwendung kommen konnte.

Unser kritisches Werkzeug, mit welchem wir uns in jenes verwachsene Wirrsal hineinzuwagen gesonnen sind, haben wir gezeigt. Es ist einfach aber scharf genug, um uns durch alles Gestrüpp den Weg zu bahnen. Deshalb können wir getrost auf unsere Wanderung gehen.

Vorher nur noch ein paar Worte auf die Reise!

"Mit Recht", sagt BACO von VERULAM, "wird die Wahrheit die Tochter der Zeit genannt." (10) Und nach einem alten Spruch soll, wer die Tochter haben will, es mit der Mutter halten. Deshalb ist der Inhalt jeder echten Philosophie gleichsam die Quintessenz des Geistes ihrer Zeit. Sie findet nur das Wort für die Ansichten, Bestrebungen und Ideale, welche unwillkürlich und unbewußt schon in allen Gebieten des geistigen Lebens gären, darauf harren, daß sie erfaßt und ausgesprochen werden. Aber der menschliche Geist ist, wie sein Objekt, durchaus mannigfaltig, vielseitig; und so können denn dieselben Probleme von verschiedenen Punkten aus betrachtet und ergriffen werden. Der Geist geht nicht in langweiliger und eintönig gerader Schnur, sondern  per ambages  [in Umschweifen - wp] seinem Ziel entgegen. Selbst der Irrtum und die Einseitigkeit dienen dazu, desto sicherer die umfassende Wahrheit zu finden. "Es ist nicht wahr", sagt LESSING in der  Erziehung des Menschengeschlechts,  "daß die kürzeste Linie immer die gerade sei." So muß die Summe dessen, wodurch die Zeit bewegt wird, erst nach allen Seiten durchlebt sein, ehe der spekulative Gedanke das Fazit ziehen kann. Aber um diese Aufgabe zu lösen, dieses Fazit zu ziehen, dazu gehört ein gewisser subjektiver Geistesgehalt, eine, ich möchte sagen "immer und überall  fragende"  Gemütsverfassung - welche die des  Philosophen  ist; eine ernste, ruhige Versenkung - intensive Besonnenheit. So verschieden dann auch die gefundenen Resultate ausgehen mögen, - jene Geistesverfassung ist allen wahren Philosophen gemeinsam. Wie könnten sie auch sonst darauf kommen, sich jenen gemeinsamen Titel beizulegen? Sie, die nach Prinzip, Methode und Ziel ihres Denkens so sehr voneinander abweichen? - Und lätß sich der wesentliche Inhalt jener Geistesverfassung nicht zusammenfassen und klar aussprechen? - Vielleicht! Versuchen wir es!

Wer zu der Einsicht gekommen ist, daß diese ganze unendliche Welt, diese herrliche, lebendige, tausendfältige Natur mit ihren nie vergehenden Kräften und immer wiederkehrenden Gestalten, mögen wir sie nun lieben oder bewundern oder erforschen, mögen wir sie in Wort und Bild wiedererzeugen oder im Experiment belauschen und mit der Schärfe des Gedankens zerlegen - vom unendlichen, gestirnten Nachthimmel herab bis zum armen, mikroskopischen Infustionstierchen - daß diese, im täglichen Umgang uns scheinbar näher tretende, Natur doch immer uns  gegenüber steht, unser  Objekt  ist; eine fremde Sprache redend, in allen unseren empirischen Erkenntnissen nur extensiv nach ihrem "Wie", nimmer aber intensiv nach ihrem "Was" uns bekannter wird, - daß sie, vom enthusiastischen Dichter und Künstler liebend umfaßt, doch nur in dessen  Phantasie  zu verständlich menschlichem Leben erwarmt, wie der Marmor des Pymalion, während sie in der Tat nie zutraulicher wir, immer - Objekt, fremdes Objekt bleibt, - wer, sage ich,  diese  Einsicht erlangt hat, wen  dieser  Gedanke in Staunen versetzt, der ist auf dem Wege zur Philosophie, ja er ist schon Philosoph. Es sieht ein, daß unsere vermeintliche  Bekanntschaft  mit der Welt nichts anderes ist, als  gewohnte Unbekanntschaft;  weshalb auch NOVALIS (der, wie alle Mystiker, ein gewisses Analogon von philosophischer Einsicht hat) den Menschen "den herrlichen  Fremdling  mit den sinnvollen Augen" nennt. - Wessen Besonnenheit aber so weit geht, daß es ihm auffällt, wie diese, vermeintlich uns bekannte, in der Tat aber fremde, Welt doch wiederum so fest und unauflöslich an uns gefesselt ist, daß sie ohne uns und wir ohne sie selbst  Nichts  sein würden (nicht im empirischen Sinn, sofern wir ein leibliches Stück von ihr sind usw., sondern im transzendentalen, sofern weder ein Denken ohne Gedachtes, noch ein Gedachtes ohne Denken irgendetwas wäre) - der ist schon im Zentrum der Philosophie angelangt. Ihm ist klar geworden,  daß Subjekt und Objekt die unzertrennlichen Faktoren und notwendigen Korrelata der Erkenntnis sind,  die sich ebensowenig scheiden und vereinzeln lassen, als die Pole des Magneten; - eine einfache Wahrheit, die aber ebenso wichtig, als oft vernachlässigt ist.

Das ist das  objektiv  Gemeinsame, der Blick aufs Ganze, der alle echten Philosophen auszeichnet!

Was nun aber das  subjektiv  Gemeinsame, den Frieden und die Harmonie der einzelnen philosophierenden Individuen untereinander anlangt, so verweisen wir auf den Meister KANT. Er sagt: "Es kann sein, daß nicht alles  wahr  ist, was ein Mensch dafür hält (denn er kann irren); aber in allem was er sagt, muß er  wahrhaft  sein (er soll nicht  täuschen):  es mag nun sein, daß sein Bekenntnis bloß innerlich (vor Gott) oder auch ein äußeres sei. Die Übertretung dieser Pflicht der Wahrhaftigkeit heißt  Lüge."  - "Das Gebot: du  sollst  (und wenn es auch in der frömmsten Absicht wäre)  nicht lügen,  zum Grundsatz in die Philosophie als eine Wahrheitslehre innigst aufgenommen, würde allein den ewigen Frieden in ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft sichern können." (11)

Jener  Blick ins Ganze  und diese  Wahrhaftigkeit  - sie sind der wesentliche Kern der wahrhaft philosophischen Geistesverfassung nach seiner subjektiven und objektiven, nach seiner theoretischen und seiner praktischen Seite. - Möge und der Leser beim Wort nehmen!

Und nun zur Sache!
LITERATUR - Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, Stuttgart 1865
    Anmerkungen
    1) HERBART, Über philosophisches Studium, 1807
    2) KUNO FISCHERs "Geschichte der neuen Philosophie, Bd. III, Vorrede, Seite Xf. Zu vergleichen hiermit ist desselben Verfassers äußerste lichtvolle Rede: "Über die beiden kantischen Schulen in Jena", 1862
    3) J. U. WIRTH, Die spekulativen Ideen Gottes, § 105
    4) FICHTE, Über den Begriff der Wissenschaftslehre, 1798, Vorrede, Seite V
    5) HERBART, Allgemeine Metaphysik, Vorrede, Seite XXVII
    6) FRIES, Neue Kritik der Vernunft, 1807, Vorrede, Seite XLIX
    7) SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Vorrede Seite XII und XXIV
    8) KANTs "Kritik der reinen Vernunft", Vorrede
    9) GOETHEs Annalen von 1794
    10) FRANCIS BACON, Novum Organum I, Seite LXXXIV
    11) KANT, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktates zum ewigen Frieden in der Philosophie, 1796, Schlußsatz.