A. CartellieriLeninH. ArendtK. KautskyG. Ratzenhofer | |||||
Revolutionärer Geist und historischer Sinn
Der Wunsch, die Brücken zur Vergangenheit abzubrechen, beinhaltet jedoch nicht bloß eine Verneinung der Kontinuität in der Entwicklung, die solche absolute Unterbrechungen ausschließt, sondern auch eine Verurteilung, welche die vorangegangene Periode über ihre Überbleibsel in der Gegenwart hinaus auch in den Grundlagen ihres bereits abgelaufenen Daseins treffen will, das als unvernünftige und ungerechte Wirklichkeit dem rationalen und gerechten Zukunftsideal gegenübergestellt wird. Diese absolute Gegenüberstellung von Wirklichem und Vernunftgemäßem schließt dann auch schlechthin historischen Sinn aus: denn die Geschichte begreifen, heißt, sie für sich wieder schaffen und erleben. Wie wäre aber ein Wiedererleben dessen möglich, wofür alle Sympathie fehlt, und wie, es verstehen, ohne es innerlich zu rechtfertigen? Ebendeshalb ist die revolutionäre Mentalität ihrem Wesen nach in einem gewissen Maß unvereinbar mit historischem Sinn. Gilt das aber immer und von jedem revolutionären Intellekt oder von jeder revolutionären Epoche? Und wie ist, wenn wir hier einer Differenzierung begegnen, diese zu erklären? Typischerweise stoßen wir auf eine solche, wenn wir zwei philosophische Bewegungen einander gegenüberhalten, die beide Ausdruck, Lehre und Führung zweier großer Umwälzungen darstellen: die Philosophie des 18. Jahrhunderts, welche die Revolution des dritten Standes in Frankreich gegen die Feudalordnung vorbereitet und begleitet, und die Philosophie des kritischen Kommunismus, die im 19. Jahrhundert als Theorie und Wegweiserin der proletarischen Klassenbewegung auftritt. Die Philosophie des 18. Jahrhunderts war in höchstem Maß anti-historisch, und dieser ihr Grundcharakter tritt zweifach in Erscheinung. Zunächst in der Richtung des Intellektualismus, dessen Träger die Enzyklopädisten sind; und sodann in der des Sentimentalismus, dessen Repräsentant ROUSSEAU ist. Für diesen und jene besteht ein Gegensatz zwischen Natur und Geschichte, und jene liefert die kritischen Maßstäbe bei der Beurteilung dieser. Aber der Intellektualismus stellt uns in seiner schärfsten systematischen Formulierung, in CONDILLACs "Essai sur les origines des connaissances humaines" (1746), den Menschen dar als Ergebnis eines mechanischen Spiels seiner Empfindungen und deren Wirkungen, so daß er die Erklärung seines Wesens außerhalb seiner selbst, in der äußeren Welt, suchen muß und daher die Norm seines natürlichen Zustandes in den Empfindungen von Schmerz und Vergnügen findet, die ihn zu utilitaristischen Erwägungen hinleiten. Der ROUSSEAU'sche Sentimentalismus wieder zeigt uns den Wilden, der insofern ein Naturmensch ist, als er "vit en lui-meme", in seiner Innerlichkeit lebt und noch nicht als "l'homme sociable, toujours hors de lui" sein wahres Ich verloren hat. Intellektualismus und Sentimentalismus jedoch ähneln einander in der Überzeugung, daß der Begriff des (noch nicht von der Geschichte künstlich veränderten) Naturzustandes den leitenden Gedanken in der Idealkonstruktion einer vernunftgemäßen Gesellschaft abgeben kann und muß, und daß diese zu verwirklichen ist, indem man sie anstelle der absurden, geschichtlich gewordenen Gesellschaftsordnung treten läßt. HELVETIUS und ROUSSEAU gelangen von verschiedenen Ausgangspunkten zu dem analogen Schluß: daß das Vernunftgemäße das Wirkliche zu ersetzen habe und daß das Produkt der bloßen Geschichte als unvernünftig zu verdammen ist. HELVETIUS' Ideal ist die Herrschaft des Gemeinnutzens, das ROUSSEAUs die Herrschaft des Gemeinwillens. Jener ist dem Interesse Aller Einzelnen (der Addition der widerstrebenden Einzelinteressen), dieser deren Willen entgegengesetzt. Aber keiner von beiden läßt sich bei der Frage, wie die tatsächliche Wirklichkeit durch die vorgestellte Norm zu ersetzen ist, von historischen Erwägungen beeinflussen. Der Eine sucht die Neuordnung von außen her, der Andere aus dem Innern des Gewissens, keiner aber im Anschluß an die gegebenen geschichtlichen Voraussetzungen und auf dem Weg eines allmählichen mühsamen Aufstiegs und harten Kampfes gegen das zu Verdrängende. HELVETIUS erklärt: die Fehler jeder Nation seien auf solche in der Gesetzgebung zurückzuführen, insofern als diese es nicht verstünde, den Gemeinnutzen mit den Sonderinteressen zu vereinigen; die soziale Erziehung hänge von der Weisheit des Gesetzgebers ab, der die Fähigkeit haben muß, die Gewissen der Individuen mit Hilfe der Gesetze zum Guten zu führen, die ansich tabula rasae sind und passiv die Anregungen aus der Erfahrung her aufnehmen. Eine weise Magistratur vorausgesetzt, sei auch schon eine Gesetzgebung, Moral und Religion gegeben, fähig, eine einträchtige Zusammenarbeit der Menschen zu bewirken und so die ideale Gesellschaftsordnung in die Welt der Tatsachen zu überführen (3). Daß diese weisen Gesetzgeber Söhne einer verrotteten Gesellschaft sind und daher kraft der Prinzipien des Sensualismus selbst ungmöglich die Fähigkeit haben könnten, sich den Einflüssen der Umwelt, in der sie leben, zu entziehen, darum kümmert sich HELVETIUS keineswegs. Denn dies erkennen, hieße einerseits den materialistischen Sensualismus verleugnen und andererseits die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Abhängigkeit der Menschen von den geschichtlichen Bedingungen anerkennen. Das aber lag HELVETIUS vollständig fern.
Ein stolzer Gedanke, in der menschlichen Tat die freie Schöpferin der sozialen Welt zu erblicken, indem er sich das Reale entweder als Hindernis vorstellt, das man beseitigen, oder als Materie, die man kneten kann, stets aber als außerhalb des menschlichen Geistes befindlich, nicht als lebendige Kraft, die im Innern selbst, während er sie bekämpfen will, zugleich Gegenwirkungen entfaltet. Diese Scheidung von Äußerem und Innerem, die wir bei ROUSSEAU, der im Gewissen ein Prinzip in sich freier und von der Außenwelt unabhängiger Tätigkeit setzt, als logisch anerkennen müssen, erscheint allerdings widerspruchsvoll und absurd beim sensualistischen Intellektualismus. Denn dieser macht aus dem Geist und allen seinen Betätigungen, die Konstruktion eines Ideals mit eingeschlossen, in Produkt der Umstände, das zu ihnen im Verhältnis von Wirkung zur Ursache steht. Aber mag nun diese Umwandlung des Gegensatzes zwischen Realität und Ideal in einer Scheidung zwischen außerhalb und innerhalb des Geistes Befindlichem logisch sein oder nicht, jedenfalls eignet ihr historische Diskontinuität. Findet eine Projektion der Verwirklichung des Ideals auf die Zukunft statt, so tritt die Scheidung zwischen Wirklichkeit und Ideal in zeitlicher Aufeinanderfolge zutage: statt des Gegensatzes zwischen lebendigen nebeneinanderwirkenden Energien wird ein Nacheinander von Phasen, eine Sonderung von Zuständen bemerkbar. Die Wirklichkeit, deren Zerstörung es gilt, wird in die Vergangenheit, der zu schaffende Idealzustand in die Zukunft verlegt; zwischen beiden aber, die für sich vollendet und toto coelo [vollständig - wp] voneinander getrennt gedacht werden, bildet die Konzeption des Ideals eine Zwischenphase, die gleichzeitig eine Scheidelinie statt ein Verbindungsglied ist. Die Trennung erfolgt außerdem so vollständig, daß der Augenblick der Zerstörung des Vergangenen vom Augenblick des Aufbaus der Zukunft gesondert wird. Diese zwei Momente, fallen miteinander zusammen und sind identisch, sobald es sich um eine innere Gestaltung handelt, in der jede Grenzverwischung ein Fortschritt, jeder Bandenbruch eine Freiheitsbestätigung ist; sie fallen aber auseinander, wenn die Zusammenhänge und Grenzen sich außerhalb der Menschheit konkretisieren. Die Menschheit erscheint dann in der Funktion eines Baumeisters, der das alte Gebäude niederreißen muß, wenn er ein neues errichten will. Die Projektion der Vergangenheit außerhalb der Menschheit geschieht derart, daß die Vergangenheit sich zur Gänze in der konservativen, die Zukunft in der revolutionären Klasse verkörpert; und diese letztere wirft sich zur Alleinvertreterin der in fortschrittlicher Entwicklung befindlichen Menschheit auf, während sie der ersteren die Rolle einer hindernden Außenwelt zuweist. In der französischen Revolution beansprucht dann auch, wie MARX hervorhebt, "eine Klasse, der Repräsentant aller zu sein, und gelangt zu einer universalen Rolle, während eine andere Klasse umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in sich konzentriert (8). Aber diese von MARX festgestellte Tatsache, daß der dritte Stand als Stand der Befreiung "par excellence" auftreten konnte, weil "ein anderer Stand der offenbare Stand der Unterjochung" war, ist mit dem weiteren Umstand zusammenzuhalten, daß der Zukunftsstaat als Staat der Freiheit par excellence und umgekehrt die Vergangenheit als solcher der Unterdrückung par excellence vorgestellt wird. Die Gegenwart bezeichnet die Scheidelinie zwischen der Projektion der Unterdrückung in die Vergangenheit und der Freiheit in die Zukunft: diese Vorstellungen aber weisen in jeder Beziehung das Merkmal der Diskontinuität auf, der scharfen Trennung zwischen zeitlichem Neben- und Nacheinander. Das 18. Jahrhundert ist daher seinem Wesen nach anti-historisch; und während die Idee des Fortschritts immer schärfer und zuletzt herrschend hervortritt, zerreißt ihr hauptsächlichster Vertreter in Frankreich, CONDORCET, die Kontinuität des historischen Prozesses vom Mittelalter ab, das ihm eine einzige Abirrung vom Weg des Fortschritts ist. Eine doppelte Unterbrechung also (vom Anfang des Mittelalters und von dem der Neuzeit), die nur begriffen werden kann, indem - im Widerspruch mit CONDORCETs Theorie selbst - das Leben der Menschheit am kritischen Punkt in zwei Teile zerlegt wird: der eine, der aus der Vergangenheit herstammt, und der andere, der zur Zukunft hinstrebt. Die Gegenwart bildet die Scheidelinie; die Einheit und Kontinuität des Lebens verschwinden, welche die Menschheit als stets vorhanden und in steter Entwicklung und Betätigung begriffen erscheinen lassen, sodaß sie, auch in ihren Wandlungen, nie die Vergangenheit außerhalb ihrer selbst hat, sondern stets in sich, als lebendige Kraft, die sich nur in Form eines inneren Kampfes bewähren kann. Und es ist charakteristisch, daß die Diskontinuität - die der ganzen Unterscheidung von Epochen durch CONDORCET anhaftet, weil die Tatsachen, die den Übergang aus einer dieser Epochen zu anderen bezeichnen, keine einheitlich verbundene Reihe darstellen - noch schärfer zutage tritt in dem Punkt, wo die revolutionäre Mentalität, den Blick in die Zukunft gerichtet hat, sich anmeldet. Diese Mentalität zieht dem Fortschritt, der sonst als historischer Begriff par excellence erscheinen würde, das Prinzip der Geschichtlichkeit unter den Füßen weg. Die Philosophie dagegen, welche die Voraussetzungen und den Rahmen für die sozialistischen Lehren im 19. Jahrhundert liefert, ist ganz und gar von historischem Geist belebt. Sicher ist die Tatsache nicht bedeutungslos, daß LASSALLE ebensowohl wie MARX und ENGELS eine starke Beeinflussung von HEGEL her erfahren haben. Von ihm haben sie das historische Prinzip der Entwicklung und ihres dialektischen Rhythmus. LASSALLE hat es in seiner Auffassung der Geschichte als der Entwicklung des Geistes zur Freiheit hin verwendet; (9) MARX und ENGELS haben aus ihm die Überzeugung geschöpft, daß die Geschichte "Eins und Alles" ist (10). Derselben HEGELschen Linken gehörte aber auch FEUERBACH an, von dem das Zitat im Eingang dieses Aufsatzes stammt und der in analogen Äußerungen gezeigt hat, daß ihm geschichtlicher Sinn vollständig abging. "Alles" - schrieb er 1843 - ist von Grund aus zu erschöpfen ... Kein Faden soll am alten Regiment ganz bleiben (11); während gleichzeitig MARX ausführte:
FEUERBACH hatte im religiösen Phänomen gesehen: daß was der Mensch außerhalb seiner selbst projiziert, das innere Wesen seines Geistes ist: der Mensch löst den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit in der Unterscheidung einer wirklichen und einer vorgestellten höheren Welt auf (14). MARX aber vervollständigt diesen Denkproze: nicht nur angesichts des religiösen Problems, sondern stets und in jedem Fall innerer Zerrissenheit bringt die Menschheit ihre inneren Gegensätze in äußeren Scheidungen zum Ausdruck; immer vollzieht sie jene Selbstentfremdung, die FEUERBACH als Wesen der Religion aufgezeigt hat, stets wenn sie in Widerspruch zu sich selbst gerät, objektiviert sie und stellt, was ihrer Subjektivität innerlich zugehört, außerhalb ihrer selbst vor. So bedeutet z. B. das Stehenbleiben beim Materialismus eine absurde Auffassung des Verhältnisses zwischen Erziehung und der Verschiedenheit der Menschen, die einen Teil der Gesellschaft ausmacht und über die Gesellschaft selbst stellt; so verleitet die Zerreißung der Einheit des Gesellschaftslebens zu einer Zerreißung auch der historischen Kontinuität, indem jede Klasse mit ihrer Ideologie bei einem einzigen Moment der Geschichte stehen bleibt und die historischen Kategorien für ewige ausgibt. Was da mangelt, sagt MARX, ist der Begriff der umwälzenden Praxis; die einheitliche Vision der Menschheit, als einer in ständigem inneren Kampf sich entfaltenden Tätigkeit, in der die ständige Verwandlung der Widersprüche in Wahrheit und in Überwindung der Selbstzerrissenheit die Voraussetzung und das Wesen des Lebens selbst ausmacht. Diese Auffassung aber, erklärt MARX, eignet den eigentlichen Revolutionären, die zur wahren Erklärung der Welt insofern gelangen, als sie sie verändern wollen (15). Nach ihm aber ist das revolutionäre Denken allein fähig, den wahren historischen Begriff (die nach MARX einzig wahre Anschauung der Wirklichkeit) zu erfassen und sich zueigen zu machen, indem es entgegen jeglicher Selbstentfremdung des Menschlichen zur Behauptung von dessen Innerlichkeit zurückkehrt. So vermöge es aus der Sonderung der Elemente die Auffassung ihrer Einheit zu gestalten, aus der Unterbrechung des zeitlichen Nacheinander die Vorstellung von dessen Kontinuität. MARX nimmt damit das Prinzip VICOs wieder auf: das Wahre wandelt sich mit dem Tatsächlichen; die Wirklichkeit ist in der Praxis enthalten. Aber so wie die Wirklichkeit nur mit der Totalität der Praxis gegeben ist, so läßt sich das Wahre nicht in bruchstück- und teilweiser Anschauung des Tatsächlichen erfassen. In der Anschauung des Tatsächlichen alles Tatsächliche enthalten sein: wird dessen Ganzheit zerrissen und ein Tei in Gegebenes, außerhalb der Entwicklung der menschlichen Praxis Stehendes, von der es ein innerlich zugehöriges Element bildet, verwandelt, so geht das Wahre verloren. Kurz, dieses ist nur erreichbar, wenn der Mensch die Einheit und Kontinuität der Menschlichkeit erfaßt, indem er deren Gesamtentwicklung als innere Entfaltung begreift, die sich unter ständiger Selbstverneinung und ständiger Selbstüberwindung durchsetzt. Gewiß will MARX mit dieser Betrachtung der Geschichte als des inneren Prozesses der Menschheit, sich keineswegs HEGELs Philosophie des Geistes anschließen und die ganze Natur auf das Geistige zurückführen; gleichermaßen aber will er die umgekehrte, vom Materialismus versuchte Ableitung bekämpfen; und gegenüber und über jeder Scheidung zwischen Objekt und Subjekt will er mit FEUERBACH die Wirklichkeit beider in ihrer von der menschlichen Praxis geschaffenen Einheit betonen. Die Praxis ist Entwicklung, sie ist Geschichte, die ihren Ursprung von einem ständigen Impuls des Bedürfnisses nimmt; und die Bedingungen, die dieses hervorrufen, mögen sie nun von Natur aus gegeben oder durch die Resultate vorangegangener menschlicher Tätigkeit geschaffen sein, sind nicht außerhalb der Menschheit: insofern sie entweder in deren Geistesleben eintreten, um es in Bewegung und Tätigkeit zu setzen, oder Ausdruck und Produkt dieses Lebens und dieser Tätigkeit sind. Ein Produkt, das zugleich Produzent, Schöpfer und Geschaffenes ist im unendlichen Prozeß einer umwälzenden Praxis. Die Entwicklung der Menschheit vollzieht sich im Wege ihrer Tätigkeit; in dieser findet sich, um LABRIOLAs Ausdruck zu gebrauchen, der Mensch, der selbst entwickelt oder schafft, gleichzeitig als Ursache und Wirkung wieder, als Urheber und Folge seiner sukzessiven Daseinsbedingungen. In diesem Sinne will MARX jegliche Außenprojektion der menschlichen Praxis, ihrer Ergebnisse oder ihrer Zwecke überwinden; in diesem Sinne hält er die Revolutionären für allein im Besitz der wahren Geschichtsauffassung, indem sie keine Scheidung zwischen Außen- und Innenwelt vornehmen und daher die Einheit und Kontinuität die Menschheitsgeschichte zu erfassen vermögen (16). Zweifellos haben nun bei der Bildung dieser Theorie die Bedingungen der geistigen Umwelt MARXens mitgewirkt. Die HEGELsche Dialektik mit ihrer Bewegung mittels von Verneinungen führte zur vollständigen Erkenntnis der Funktion des Übels in der Geschichte: eine revolutionäre Bewegung durfte fürderhin an keinen Bruch mit der Vergangenheit denken, wenn jegliche geschichtliche Bewegung ihre eigene Negation aus sich selbst erzeugen würde. Vergangenheit und Übel waren nicht mehr der Zukunft und dem Guten fremd, deren Urheber sie selbst wurden, indem sie ihre dialektische Voraussetzung schufen. Und auch der Begriff des Bedürfnisses, den FEUERBACH zur Erklärung der Gesamtentwicklung der menschlichen Tätigkeit eingeführt hatte, floß in dieselbe Richtung. Ist das Bedürfnis das Bewußtsein von einem Mangel oder einer Schranke, so sind es dieser Mangel und diese Schranke, die aus der Außen- in die Innenwelt übertragen und sodann mit der zu ihrer Überwindung entfalteten Tätigkeit zu einer Einheit verbunden werden. Aber andererseits sind auch die historischen Bedingungen, unter denen das Proletaria sich der Bourgeoisie gegenüberstellt, von denen verschieden, unter denen sich der dritte Stand im 18. Jahrhundert der feudalen Gesellschaft entgegenstellt; und sie bestimmen dann auch eine Verschiedenheit der Auffassungen. Im 18. Jahrhundert ist die historische Funktion des Feudalismus erschöpft; der neuen Klasse, die ihre Rechte erobern will, leisten die anderen Widerstand, um ihre Herrschaft aufrecht zu erhalten; zwischen der konservativen und der revolutionären Klasse besteht keinerlei Interessengemeinschaft; ja, die freie Entwicklung des dritten Standes hat die Zerbrechung des feudalen Jochs zur Voraussetzung. So kann dann die feudale Klasse durch einige Zeit in sich das Übel und die Vergangenheit verkörpern, der dritte Stand aber die Zukunft und das Gute: zwischen beiden besteht eine vollständige Scheidung und Gegensätzlichkeit. So ist dann die Konsequenz einer revolutionäre Denkweise, die anti-historisch par excellence ist. Im 19. Jahrhundert dagegen ist sich das Proletariat des gemeinsamen Ursprungs mit der Bourgeoisie vollbewußt. Nicht nur ist die Erinnerung an die Solidarität gemeinschaftlich bestandener Kämpfe um die Emanzipation vom Feudaljoch noch nich erloschen: es besteht auch das Bewußtsein, daß die Entwicklung der Bourgeoisie die nachherige Entwicklung des Proletariats bedingt. Der herrschenden Klasse fällt die Erfüllung einer Aufgabe im Interesse der Beherrschten zu, insofern als weder diese noch jene zur Fülle und Reife ihrer Entwicklung gelangt ist, und beide wissen, daß sie sie zusammen erreichen werden. Die Theoretiker des Sozialismus behaupten eben folgende Filiation [Ableitung - wp]: das Proletariat wird durch den industriellen Kapitalismus geschaffen und diesem verdankt es auch sein Klassenbewußtsein. So entsteht dieser rebellische Sohn, der dem Vater nach dem Leben trachtet, der Dämon, den der Zauberer nicht mehr beherrschen kann nachdem er ihn gerufen hat. Aber auch in diesem Kampf kann das Proletariat, da es sich als Sohn des Kapitalismus fühlt, gegen den es sich empört, diesen nicht als sich fremd betrachten und jedes Band der Kontinuität mit ihm zerreißen wollen. Auch fordert es sein Interesse, den Kapitalismus anzufeuern und ihn auf die Bahn der Vollentwicklung zu bringen, die zugleich die Bedingung seiner eigenen Entwicklung ist.
Fragen wir nun, an diesem Punkt angelangt, ob der anti-historische Geist der revolutionären Denkweise wesenseigen ist, so müssen wir mit "Nein" antworten und erkennen, daß eine bejahende Antwort vielmehr von historischen Verhältnissen (den geistigen und gesellschaftlichen Voraussetzungen) abhängt, die entweder vorhanden sind oder fehlen. Doch ist nicht zu übersehen, daß es historische Umstände gibt, die den revolutionären Geist festigen, bei deren Mangel derselbe überhaupt nicht in Erscheinung treten kann und die naturgemäß ihn immer in dem Sinn beeinflussen, daß er jene Diskontinuität und jenen Bruch der aufeinanderfolgenden und nebeneinander bestehenden Elemente setzt, die den Anti-Historizismus ausmachen. Der revolutionäre Geist tritt nicht in Erscheinung, insoweit er einfach Entwicklung erstrebt, sondern insofern er auf Widerstand stößt. Wer Neuerungen unternimmt, gerät dadurch ebenso in eine Angriffstellung, wie, wer an der Erhaltung des Bestehenden interessiert ist, sich den Umgestaltungen entgegenstemmt. Nun will die konservative Tendenz auf dem Gebiet der Theorie sich zu ihrer Stütze nicht auf das Klasseninteresse berufen, sondern auf ein Universalprinzip, das historische Recht. Aus der Legitimität der Vergangenheit leitet sie im Namen der Geschichte die Illegitimität einer anders gearteten Zukunft ab: VICOs Prinzip, daß das Wahre sich in Tatsächliches verwandelt, wird einseitig angewendet, in dem als Tatsache nur gilt, was bereits in lebendige Institutionen überführt, was fortan in gewissem Sinne objektiviert ist, was gegenüber dem Ideal die Realität darstellt (18). Diese Negation der Berechtigung des Ideals, der Subjektivität, die aus dem Bereich des Wahren ausgeschlossen wird, weil sie nicht dem Bereich des Tatsächlichen angehört, zeitigt hinwiederum auf der anderen Seite eine entgegengesetzte Einseitigkeit: auch hier wird Tatsächliches und Wahres einander gegenübergestellt, das Reale als unvernünftig erklärt und diese seine Vernunftwidrigkeit zur Bedingung erhoben für das Streben nach der Realität des Vernunftgemäßen. Und da die konservative Klasse in sich die Vergangenheit verkörpert, so wird der revolutionären Klasse, und ihr allein, der Anspruch eingeräumt, in sich die Zukunft zu verkörpern. Im gleichen Sinn wirkt auch das Bedürfnis nach reinlicher Herausschälung des Ideals. Soll das Ideal seine Energie und seinen Zauber voll entfalten können, so muß es als rein von jeder Erdenschwere des Realen erscheinen: seine Umrisse zeichnen sich viel schärfer und heller ab, wenn das von ihm ausstrahlende Licht auf den dunklen Hintergrund der Wirklichkeit auffällt (19). Der Vertreter der erneuernden Idealitäten aber muß seinerseits, um diese zu formulieren und zu wollen, in sich den inneren Kampf gegen die Herrschaft der Vergangenheit siegreich ausgefochten, sich von den Fesseln, die ihn an sie knüpfen, befreit, sie veräußerlicht und seinem Innern, dem sie früher zugehörten, entfremdet haben. FEUERBACH drückt dies so aus:
Die Katastrophentheorie, zu der sie oft gerne neigen, versetzt den kritischen Punkt des Übergangs aus der Vergangenheit zur Zukunft (Prähistorie und Menschheitshistorie) in einen Augenblick der Zukunft; aber wenn auch jene Gegenwart, die die absolute Trennung zwischen den beiden Phasen bezeichnen soll, auf einen Augenblick projiziert wird, der erst eintreten soll, so erscheint doch seine charakteristische Funktion der Sonderung nicht weniger betont im Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit. ENGELS und MARX waren sich der Ursachen dieser einseitigen Ansichtsweisen wohl bewußt. Schon 1846 sagten sie, daß man oft durch äußere Umstände gezwungen ist, das richtige Wort zu unterdrücken. Sie sprachen damit damals schon aus, was ENGELS in einem seiner Briefe als Greis wiederholt hat. Die "äußeren Bedingunen", d. h. das Bedürfnis nach einer Herausarbeitung des Trennenden um des Kontrastes willen zu den gegnerischen Tendenzen. Aber wie schon oben bemerkt, ohne die letzteren gäbe es gar keinen revolutionären Geist; diesem erscheint demgemäß als solchem eine Tendenz zum Anti-Historizismus wesenseigen. Dem revolutionären Geist als solchem, d. h. als kämperischem, in dem die Antithese entschiedene und konkrete Formen annehmen muß. Zweifellos aber handelt es sich dabei mehr um eine praktische, als um eine theoretische Notwendigkeit. Im Revolutionär kann somit ein Dualismus vorhanden sein, von doktrinärer Auffassung und Kampftätigkeit; von einer Universalanschauung des Wahren, das mit der Tat sich in die historische Kontinuität der Gesamtmenschheit wandelt, und einer Teilauffassung, die der Sonderung der Momente folgt, wenn der Revolutionär aus der Rolle des menschlichen Betrachters des Ganzen zu der eines tätigen Elements in einer gegebenen Geschichtsphase übergeht.
1) LUDWIG FEUERBACH, Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen Curriculum vitae, 1835: Vorlesungen über Geschichte der neueren Philosophie (Werke Bd. II, Leipzig 1846, Seite 400/401. 2) Mitunter wird die ideale Erneuerung als Rückkehr zur Antike dargestellt; allein das genügt keineswegs, um jener auch nur den Schein einer rückschrittlichen Tendenz zu geben. Denn 1. gelangt man nicht auf dem Weg des Umsturzes zu einer geschichtlichen Vergangenheit, die auch auf regelmäßig fortlaufendem Weg erreichbar ist; mit so einem Sprung erreichbar ist nur ein prähistorischer Zustand. 2. Sodann aber pflegt man sich die Antike also ohne jede andere als eine gegensätzliche Beziehung zur Gegenwart vorzustellen. Gerade dieser Umstand aber läßt in der sogenannten "Antike" eine Idealvorstellung erkennen, die mit Hilfe antithetischer Betrachtung der Gegenwartswirklichkeit konstruiert und dann in die Ursprungsperiode projiziert wird, um dem Bild, das man von der Zukunft entwirft, eine größere Überzeugungskraft zu verleihen. So die Zyniker, so ROUSSEAU und andere. 3) Vgl. hierüber meine Schrift "Le teorie morali e politiche die C. A. Helvetius", Padua 1904. 4) MARX über FEUERBACH (1845), abgedruckt in FRIEDRICH ENGELS, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1888, Seite 69. 5) ROUSSEAU, Profession de foi. 6) ROUSSEAU, Emile, V. 7) ROUSSEAU, Contrat social, II. 6 8) Vgl. MARX, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843 (Aus dem literarischen Nachlaß von Marx, Engels und Lassalle, hg. von FRANZ MEHRING, Bd. 1, Seite 394f). 9) LASSALLE, Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volkes, 1862 (Reden und Schriften, hg. von BERNSTEIN, Bd. 1, Seite 425f. 10) ENGELS, Die Lage Englands (in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern) 1844. 11) Briefe an RUGE, abgedruckt im "Literarischen Nachlaß von Marx", Bd. 1, Seite 378. 12) Brief an RUGE, September 1843 (a. a. O., Bd. 1, Seite 380 und 383). 13) MARX über FEUERBACH, a. a. O., Seite 69f 14) MARX über FEUERBACH, a. a. O., Seite 70f. 15) MARX über FEUERBACH, a. a. O., Seite 70. 16) Vgl. ANTONIO LABRIOLA, Del materialismo storico, Roma 1896, Seite 99f. Vgl. über diese Erklärung der Geschichtsphilosophie, deren Umrisse MARX in den Thesen über Feuerbach gezeichnet hat, auch ARTURO LABRIOLA, Marx nell' economia e come teorico del socialismo und Kap. IX meines Buches: Il materialismo storico in Friedrich Engels, Genua 1912. 17) MARX, Schutzzoll oder Freihandelssystem (aus dem literarischen Nachlaß, Bd. II, Seite 431). 18) Dieser Auffassung huldigt die theokratische Schule in Frankreich (de MAISTRE, de BONALD u. a.), sowie die historische Juristenschule in Deutschland, die MARX umschreibt als "eine Schule, welche die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert, ... die jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist" (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, aus dem literarischen Nachlaß, a. a. O., Bd. I, Seite 386. 19) Hier ist meines Erachtens der Keim zu GEORGES SORELs Mythentheorie gelegen. 20) FEUERBACH, Fragmente zur Charakteristik usw. (Werke II, Seite 409) 21) So läßt er gegenüber jener "Wirklichkeit, welche nach allen Seiten hin ein unlebendiges Produkt vergangener Jahrhunderte", entstehen: eine neue "Kraft, die historische Wirklichkeit nach eigenem Willen wieder in Fluß zu bringen, ... eine Gegenwart, eine nicht mehr nur historische, eine neue, eine selbsterworbene Lage der Dinge (LESSING, in "Reden und Schriften", hg. von BERNSTEIN I, Seite 402f); und in der Festrede über die Philosophie FICHTEs vindiziert er dem deutschen Volk die Bestimmung, "sich aus dem bloß geistigen Volksbegriff einen nationalen Boden, ein Territorium zu schaffen, sich aus dem Denken ein Sein zu erzeugen", ein "Sein, (das) aus dem reinen Geist selbst erzeugt, mit nichts Geschichtlichem, nichts Naturwüchsigem und Besonderem verwachsen, - nur ... des reinen Gedankens Ebenbild sein kann und hierin die Notwendigkeit jener Bestimmung zur höchsten und vollendetsten Geistigkeit und Freiheit trägt." (a. a. O., Bd. I, Seite 460) |