ra-2Nationalökonomie und WillensfreiheitMax Weber - Roscher und Knies    
 
WILHELM ROSCHER
Zur Lehre vom Zusammenhang zwischen
Nationalökonomie und Rechtswissenschaft


"Daß ein Jurist,  um seiner Aufgabe zu genügen,  volkswirtschaftliche  Einsicht besitzen muß, wird heutzutage wohl niemand mehr bezweifeln, der nicht sehr hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Die Stellung der Nationalökonomie zu den Rechtsgelehrten hat in dieser Hinsicht ganz ähnliche Phasen durchgemacht, wie die Stellung der Chemie und Physik zu den Ärzten."

"Schon der Hauptzweck seines Fachs, Streitigkeiten zu verhüten oder zu schlichten, zwingt den Juristen zur genauesten Abwägung seiner Worte. Daher pflegen sich die guten juristischen Begriffserklärungen und Distinktionen ebenso sehr durch Schärfe und Klarheit auszuzeichnen, wie die guten philosophischen durch Tiefe."

Die nachfolgenden Betrachtungen sind einer Vorrede entlehnt, welche auf den übereinstimmenden Wunsch des Verfassers und Verlegers in die "Nationalökonomisch-zivilistischen Studien" von H. DANKWARDT einleiten sollte. Also in das Werk eines Schrifstellers, dessen ebenso umfangskleine wie inhaltsschwere Arbeiten den Zweck verfolgen, durch gegenseitige Erklärung und Befruchtung der Volkswirtschaftslehre und Jurisprudenz die höhere Rechtsgeschichte und Gesetzgebungspolitik zu fördern. Hierbei wurde vom Autor der Vorrede ein Dreifaches vorausgesetzt. Einmal, daß, wie jedes Leben überhaupt, so auch das Leben jedes Rechts. und Wirtschaftssubjektes, also jedes Einzelnen, jeder Gemeinde, jedes Volkes usw., ein organisches Ganzes ist, dessen verschiedenartige Äußerungen im Innersten zusammenhängen. Daß eben darum zweitens, wer dieses Ganze verstehen will, es von allen wichtigeren Seiten her beobachtet haben muß. Daß endlich drittens keine dieser Seiten für sich allein zu verstehen ist, sondern nur aus dem Ganzen heraus und namentlich mit steter Beziehung auf die zunächst benachbarten und verwandten Lebensgebiete. (1)


1.

Recht und Wirtschaft sind zwei gleich ursprüngliche, gleich notwendige, dem innersten Kern der menschlichen Natur (insbesondere auch der Sittlichkeit, dem Gewissen,) gleich nahe Lebensgebiete. Und zwar sind die  Gegenstände,  welche von der Rechts- und von der Wirtschaftslehre behandelt werden,  fast durchaus dieselben.  Jener Verkehr der Menschen durch gegenseitige Leistungen, worauf die Wirtschaft die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gründet, ist auch der Schauplatz und Anlaß der zahllosen Streitigkeiten, welche das Recht entweder zu verhüten oder zu schlichten sucht. Wie fast jedes Kapitel der vorzugsweise sogenannten Nationalökonomie im Zivilrecht seine Parallele hat, so fast jede Lehre der Finanzwissenschaft ihre Parallele im Staatsrecht. Freilich wird derselbe Gegenstand von Rechts- und Wirtschaftslehre aus sehr  verschiedenen Gesichtspunkten  angesehen. Für die wirtschaftliche Auffassung ist immer die Rücksicht auf das menschliche Verkehrsbedürfnis Hauptsache, für die juristische Auffassung das "Mißfallen am Streit" (HERBART). Hierdurch erklärt sich der scheinbare Widerspruch, der zwischen so mancher juristischen und volkswirtschaftlichen Definition desselben Begriffes obwaltet und worauf der Unterricht, um den Zuhörer nicht zu verwirren, ernstliche Rücksicht nehmen muß.

So gilt im Lehnsrecht bekanntlich der Lehnsherr als Eigentümer des Lehngutes; der Vasall hat nur ein dingliches Recht daran. Umgekehrt ist für den Nationalökonomen der Vasall die bei Weitem wichtigere Person, wenigstens seit dem Erblichwerden der Lehngüter. Der Vasall befriedigt aus dem Lehngut unendlich viel mehr Bedürfnisse, auch in der Regel wichtigere Bedürfnisse, als der Lehnsherr; so hängt auch die Befriedigung der Volksbedürfnisse im Allgemeinen viel mehr von der richtigen Benutzungsart des vasallischen, als des lehnsherrlichen Rechtes ab. Gleichwohl hat der juristische Standpunkt auf der entgegengesetzten Seite noch immer seine praktische Bedeutung: nämlich für gewisse Streitfälle, wo es darauf ankommt, daß einer Partei, dem Eigentümer, alle denkbaren Rechte am Lehngut zustehen, welche dam anderen Teil nicht ausdrücklich zugewiesen sind. Von großer Wichtigkeit z. B. nach dem Aussterben der Vasallenfamilie! Daß nun dieses prinzipale Recht eben dem Lehnsherrn zusteht, kann geschichtlich aus dem Ursprung des Lehnswesens gar leicht erklärt werden; ebenso leicht, wie heutzutage das umgekehrte (nationalökonomische) Verfahren bei der Auflösung des ganzen Verhältnisses, wo die Allodifikationsgesetze [Beendigung des Lehnsverhältnisses - wp] dem Lehnsherrn nicht gestatten, seinen Vasallen hinauszuzahlen, sondern umgekehrt. - Wo die volkswirtschaftliche und juristische Auffassung scheinbar miteinander streiten, da findet man eben regelmäßig, daß jene die jüngere ist: sehr natürlich, weil der Jurist durch seinen Beruf vorzugsweise auf die Auslegung von Gesetzen, Verträgen usw., als auf die Vergangenheit gewiesen ist, der Nationalkökonom auf die Erkenntnis und Befriedigung von Bedürfnissen, d. h. auf Gegenwart und Zukunft.

So spielt in der juristischen Begriffserklärung des Papiergeldes der Zwangskurs desselben eine Hauptrolle, der allerdings für den Augenblick jeden Streit über Annahme oder Nichtannahme beendet. "Ein Papie, welches derjenige, der auf Geld ein Recht hat, nicht nehmen muß, sondern zurückweisen darf, ist kein Papiergeld; das Papiergeld hat seinem Begriff nach einen Zwangskurs." (THÖL, Handelsrecht I, § 51). Der nationalökonomischen Auffassung steht das bleibende und allgemeine Bedürfnis der Zirkulation im Vordergrund, also die stete Einlösbarkeit des Papiergeldes mit selbständigen Werten, (nicht bloß Kreditwerten!). Ihr ist ein Zwangskurs, der wirklich als solcher geltend gemacht werden muß, eine Krankheit des Papiergeldes.

Dies führt auf einen tiefer liegenden Unterschied der beiden Auffassungsweise. Der Jurist  als solcher  hat jedes rechtmäßige Gesetz, auch wenn er dessen Inhalt mißbilligt, prinzipgetreu auszulegen und auf alle Streitfragen, welche darunter gehören, anzuwenden. Von seiner Seite würde jede Kritik des Gesetzes, die nicht etwa bloß auf dessen Einklang oder Widerspruch mit anderen Gesetzen ginge, schon ein Verlassen des rein juristischen Standpunktes sein, eine Hereinziehung politischer, nationalökonomischer usw. Gesichtspunkte. Der Nationalökonom hingegen, der immer an das Bedürfnis der verkehrenden Menschen denkt, kann  als solcher  gar nicht umhin, jedes von ihm behandelte Gesetz darauf anzusehen, ob es wirklich diesem Bedürfnis entspricht.

Am auffallendsten zeigt sich, wie schon A. F. RIEDEL bemerkt hat, der scheinbare Gegensatz beider Anschauungsweisen beim Kapitaldarlehen. Der Jurist  muß  hier, um des Friedens willen, einen wesentlichen Unterschied machen zwischen der Verleihung fungibler [gattungsmäßige Bewertung - wp] und nichtfungibler Kapitalien, während der Nationalökonom die Wesentlichkeit dieses Unterschiedes nicht zugeben kann. Der Jurist also  muß  den Schuldner als Eigentümer des geliehenen Geldkapitals ansehen,  muß  ihn die Gefahr desselben tragen lassen, weil sonst im Falle des Streites zwischen Gläubiger und Schuldner der böse Wille des letzteren Ausflüchte vorschützen könnte, die bei der fungiblen Natur des Geldes  niemals  sicher zu widerlegen wären. Sobald freilich die Befriedigung des Gläubigers unterbleibt, nicht wegen Böswilligkeit, sondern wegen Unfähigkeit des Schuldners, da zeigt sich sofort die Richtigkeit der nationalökonomischen Auffassung, welche den Gläubiger noch immer als Eigentümer und Gefahrträger des verliehenen Kapitals betrachtet und namentlich hieraus die ihm gebührende Zinszahlung erklärt. Es ist bekannt, welchen großen Fortschritt in volkswirtschaftlicher Hinsicht CLAUDIUS SALMASIUS dadurch gebahnt hat, daß er die juristisch wohlbegründete Lehre von der in der mutui datio [Wechselgabe - wp] liegenden Veräußerung bekämpfte.

Man könnte in solchen Fällen meinen, daß die Rechtswissenschaft bei der äußeren Form der Sache stehen bliebe, während die Nationalökonomie es mit deren wesentlichem Inhalt zu tun hätte: wenn nicht der Gegensatz zwischen Form und Inhalt selbst ein so fließender wäre. Jede Wissenschaft stellt eben dasjenige in den Vordergrund, was  für sie  das Wesentlichste ist.


2.

Daß ein Jurist,  um seiner Aufgabe zu genügen,  volkswirtschaftliche  Einsicht besitzen muß, wird heutzutage wohl niemand mehr bezweifeln, der nicht sehr hinter der Zeit zurückgeblieben ist. Die Stellung der Nationalökonomie zu den Rechtsgelehrten hat in dieser Hinsicht ganz ähnliche Phasen durchgemacht, wie die Stellung der Chemie und Physik zu den Ärzten. Vor hundert Jahren hielt die große Mehrzahl der Mediziner diese beiden Naturwissenschaften für eine Art von Kuriosität, deren Nutzen auf ganz bestimmte Einzelzwecke beschränkt sei. Vor fünfzig Jahren gab man ihre Unentbehrlichkeit für den medizinischen Forscher bereits zu. Und heutzutage wird kein wissenschaftlicher Arzt mehr ohne sie ausgebildet! - Wie der Publizist nicht bloß staatsrechtlicher Kenntnisse bedarf, sondern auch politischer (und finanzieller, d. h. nationalökonomischer!), so kann der Zivilist der volkswirtschaftlichen Einsicht nicht entbehren.

So insbesondere jeder  Forscher  auf dem Gebiet des Zivilrechts. Hier ist keine Forschung möglich ohne Rechtsgeschichte; die pragmatische Rechtsgeschichte aber, die mehr sein will, als eine äußerliche Zusammenstellung von Zitaten, setzt ein lebendiges Verstehen der menschlichen Bedürfnisse voraus, deren streitlose Befriedigung die Gesetze und übrigen Rechtsanstalten bezweckt haben und mit deren Veränderung auch im Großen und Ganzen die Veränderung der Gesetze usw. parallel läuft. Die Juristen sprechen so oft von einer Selbstentwicklung der Rechtsinstitute, gerade wie die Theologen oder Philosophen von einer Selbstentwicklung der Dogmen oder Ideen. Man täusche sich aber nicht über die rein bildliche Natur dieser Ausdrücke, die immer von einer starken Abstraktion des in seinen Stoff versenkten Forschers zeugen. In der Wirklichkeit sind es doch immer nur die Menschen, von und in welchen die Rechtsinstitute, Glaubenssätze und Philosopheme gebildet und verändert werden. Was diese Menschen dabei gedacht und empfunden, erstrebt und erreicht haben, das ist der Gegenstand der historischen Forschung; und in Bezug auf das Zivilrecht fällt er, wie schon gesagt, zum überwiegenden Teil zusammen mit der Entwicklung der volkswirtschaftlichen Bedürfnisse und Befriedigungsmittel. - Ebenso leuchtet ein, wie der  Gesetzgeber,  um segensreich zu wirken, das genaueste Verständnis aller menschlichen Bedürfnisse und aller Mittel, wodurch sie befriedigt werden können, besitzen muß, wenn er es unternehmen will, ihre Befriedigung auf eine unstreitige Art zu regulieren. Ohne dieses Verständnis wird seine Gesetzgebung sicher keine nachhaltige sein; ja, es ist sehr die Frage, ob sie überhaupt mehr sein kann, als eine bloß papierne.

Aber selbst von der bescheideneren Sphäre des  Richters und Anwaltes  gilt etwas ganz Ähnliches. Man hat nie bezweifelt, daß selbst der gelehrteste Jurist, um wahrhaft nützlich zu sein, praktischer Lebenserfahrung bedarf. Er muß die menschlichen Verhältnisse, die er als Anwalt im friedlichen Streit verteidigen, als Richter auf unanfechtbare Weise entscheiden soll, auch "praktisch" kennen, d. h. in ihrem Hervorgehen aus menschlichen Bedürfnissen und in ihrer Rückwirkung auf menschliches Wohl und Weh. Soll der Jurist diese praktische Kenntnis lediglich aus eigener Erfahrung nehmen - wie spät, wie lückenhaft, mit welchem teuren Lehrgeld für ihn selbst oder doch für seine Klienten usw. wird sie erlangt werden! Zum Glück ist das aber auch gar nicht nötig. Wir haben eine Wissenschaft, die in systematischer, d. h. für den Unterricht wohl geeigneter Form den größten Teil jener praktischen Lebenskenntnis zusammenfaßt: das ist eben die Nationalökonomie! Sie bildet für die große Mehrzahl der Rechtsfragen eben die systematisch ausgearbeitete Wissenschaft von der "Natur der Sache".

Auch die  altrömischen Juristen  verdanken ihre klassische Vortrefflichkeit zum Teil ihrer Einsicht in volkswirtschaftlichen Dingen. Man ist heutzutage gewohnt, diese letztere Seite ihres Verdienstes gering zu schätzen; relativ jedoch, im Vergleich mit der übrigen Nationalökonomie des Altertums, war sie durchaus nicht gering. Zur Gründung der römischen Weltherrschaft haben die wirtschaftlichen Eigenschaften der Römer vielleicht ebensoviel beigetragen, wie die politischen und militärischen: wie denn überhaupt keine nachhaltige, d. h. wahre Staats- und Kriegsmacht ohne tüchtige wirtschaftliche Unterlagen bestehen kann. Ich erinnere beispielsweise an den streng berechnenden Ordnungssinn der Römer, der zwar einem HORAZ mißfiel, auf dem aber die schon in CICEROs Zeit so wohltätig entwickelte Macht der römischen Buchhaltung beruhte. Ferner an die Vortrefflichkeit des Kreditwesens, das POLYBIOS so hoch über das gleichzeitige karthagische erhebt. An die frühzeitige Abstreifung der meisten, auf mittlerer Kulturstufe gewöhnlichen Eigentumsschranken, wodruch im Guten wie im Bösen Roms Entwicklung zur Reife so mächtig beschleunigt wurde. An die hohe Bedeutung der rationellen Landwirtschaft und ihrer, noch jetzt bewunderungswerten, Literatur. Endlich auch an die unverkennbar nationale Fähigkeit und Neigung der Römer zu großen Unternehmungen, was sich ebenso gut in ihren Bankiergeschäften und Wegbauten, wie in ihren Staats- und Kriegshändeln äußert. Von all diesem waren die klassischen Juristen gleichsam die geistigen Erben und jedenfalls die volkstümlich originalsten, systematischsten und praktischsten Männer, die sich in Rom mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt haben. Gewiß nicht ohne theoretischen Erfolg, wovon unter anderem die berühmte Stelle des PAULLUS über die Natur des Geldes ein so glänzendes Zeugnis ablegt. Aber auch eine Menge anderer Stellen über Wert, Marktpreis, Vermögen etc., wie das neuerdings namentlich GOLDSCHMIDT in seinem Lehrbuch des Handelsrechts und KNIES in seiner Lehre vom Geld und Kredit gezeigt haben.

Nicht weniger bedeutsam ist der  Nutzen des Rechtsstudiums  für Theorie und Praxis der  Volkswirtschaftslehre.  Wie die große Mehrzahl der Rechtsgeschäfte einen wirtschaftlichen Inhalt und Zweck hat, so muß beinahe jede wirtschaftliche Handlung gewisse Rechtsformen voraussetzen. Nun soll zwar jeder selbständige Mensch verstehen, sich in solchen Rechtsformen zu bewegen: allein der Jurist als solcher ist Meister darin. Dies gilt namentlich vom  Verständnis  und der Auslegung  der Gesetze.  Und welch unermeßliche Bedeutung haben die Gesetze in jedem hoch kultivierten Staat nicht bloß für die praktische Entwicklung der Volkswirtschaft, sondern schon für die bloße Erkenntnis ihrer Zustände! Selbst auf den niederen Kulturstufen, wo der Einfluß der Gesetzgebung extensiv und intensiv geringer ist, so z. B. im Mittelalter der neueren Völker, verdanken wir unsere Kenntnis des volkswirtschaftlichen Lebens zum weit überwiegenden Teil Quellen juristische Art und neueren rechtshistorischen Untersuchungen.

Hierzu kommt der große  methodologische Nutzen,  welchen das Durchmachen einer guten juristischen Schule dem Volkswirt gewährt. Schon der Hauptzweck seines Fachs, Streitigkeiten zu verhüten oder zu schlichten, zwingt den Juristen zur genauesten Abwägung seiner Worte. Daher pflegen sich die guten juristischen Begriffserklärungen und Distinktionen ebenso sehr durch Schärfe und Klarheit auszuzeichnen, wie die guten philosophischen durch Tiefe. Das Ideal der Definierkunst würde erreicht werden durch Vereinigung beider Eigenschaften, die leider nur allzuoft einander ausschließen. Nun ist es aber gerade für die historische und praktische Behandlung der Volkswirtschaftslehre mit ihrem Streben nach lebendiger Fülle besonders schwer, gute Definitionen zu machen; sie gewinnt daher besonders viel bei der Selbstkontrolle durch juristische "Trockenheit", d. h. durch Schärfe. Wie schon LEIBNIZ der Rechtswissenschaft ein gewisses "Rechnen mit Begriffen" zugeschrieben hat, so bildet, meine ich, das juristische Studium für alle Wissenschaften vom Volksleben eine ähnlich wichtige und heilsame Vorschule, wie die reine Mathematik für alle Naturwissenschaften. Ich wenigstens bekenne offen, daß mir in meiner Studentenzeit keine staatswissenschaftliche oder nationalökonomische Vorlesung auch nur von ferne so viel Nutzen gebracht hat, wie die deutsch-rechtlichen Vorlesungen von ALBRECHT. Es ist darum kein bloßer Zufall, geschweige denn ein Umweg, daß sich unsere deutsche Volkswirtschaftslehre aus den sogenannten Kameralien [veraltete Bezeichnung für Staatswissenschaft - wp] und diese wieder aus der Rechtswissenschaft heraus entwickelt haben.

Daran knüpft sich schließlich noch eine wichtige Rücksicht auf die  praktische Ausübung  der Volkswirtschaftslehre. Ich bin gar kein Freund davon, die künftigen Verwaltungsbeamten in abgesonderten "staatswirtschaftlichen" Fakultäten auszubilden. Das praktische Genie bedarf zwar keiner schulmäßigen Anleitung zur Praxis, aber für gewöhnliche Menschen ist es entschieden der kürzeste Weg, um die vorzugsweise sogenannten "Geschäfte" "praktisch" anfassen zu lernen, wenn sie entweder eine kaufmännische oder eine juristische Schule durchmachen. Nun darf niemand die erstere unterschätzen, mit ihrer stets klare Übersicht von Soll und Haben, ihrer Vorausberechnung aller eigennützigen Triebfedern auf Seiten der Menschen, mit welchen man zu tun hat. In jedem größeren Finanzministerium sollte wenigstens  ein  gelernter Kaufmann sein und das gesamte Rechungs- und Kassenwesen des Staates kann noch sehr viel lernen von gut eingerichteten Privatkontors. Allein für die große Mehrzahl der Verwaltungsämter wird man gewiß keine kaufmännische Bildung wündchen; ebensowenig, wie z. B. eine militärische, die ja auch auf ihrem Gebiet, d. h. wo es auf unbedingtes Befehlen und Gehorchen ankommt, so notwendig ist. Für Männer, deren Amt es ist, Menschen gesetzlich zu regieren, besteht sicher die beste Schulung zur "Praxis" in der juristischen Gewohnheit, zwischen den Klippen widerstrebender Willen das schmale, von beiden Seiten anerkannte Fahrwasser des Rechtsweges aufzusuchen. Alles "praktische" Gebaren beruht doch am Ende darauf, daß man die Hindernisse richtig vorausberechnet hat, welche sich der Verwirklichung einer Idee entgegenstellen. Und Rechtsgründe der Gegner sind doch Gottlob, wenigsten bei tüchtigen Völkern, immer eins der vornehmsten solcher Hindernisse.

So glaube ich denn, mit  einem  Wort, Jurisprudenz und Nationalökonomie zwei ebenbürtige Schwestern nennen zu dürfen, gleich nah der gemeinsamen Mutter - Wahrheit, und dem gemeinsamen Arbeitsgebiet - dem Volks- und Menschheitsleben. Jede ist selbständig in ihrem Prinzip und bedarf doch zu dessen rechter Ausführung der andern. Wie ARNOLD treffend bemerkt, so hat der bloße Jurist eine gefährliche Neigung, das Walten der Naturgesetze zu unterschätzen; ebenso leicht unterschätzt der bloße Nationalökonom den Faktor des freien Willens. Die Rechtswissenschaft ohne Volkswirtschaftslehre kommt nur zu leicht auf solche Ausartungen, wovor die Sprichwörter warnen: "Fiat justitia, pereat mundus! [Gerechtigkeit soll herrschen und wenn die ganze Welt untergeht. - wp] "Qui jure suo utitur, neminem laedit!" [Wer sein Recht ausübt, tut niemandem Unrecht. - wp] "Summum jus summa injuria!" [Das strengste Recht ist das größte Unrecht. - wp] Aber es ist nur die entgegengesetzte Einseitigkeit und ebenso falsch, wenn man das Recht als bloßes Mittel zur guten Einrichtung der Volkswirtschaft betrachten wollte. "Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben." (KANT, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Seite 181)
LITERATUR Wilhelm Roscher, Zur Lehre vom Zusammenhang zwischen Nationalökonomie und Rechtswissenschaft in Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkt, Leipzig und Heidelberg 1878
    Anmerkungen
    1) Vgl. meine Grundlagen der Nationalökonomie, 13. Auflage, Seite 31f