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LUDWIG BÜCHNER
Kraft und Stoff

"Die Ewigkeit der Welt selbst macht jedes schaffende Prinzip unnötig. Das vergebliche Suchen der Philosophen nach einer Ursache der Welt ist ein Rückschreiten in das Unendliche und gleichbedeutend mit dem Besteigen einer endlosen Leiter, wobei die Frage nach der Verursachung der Ursache die Erreichung eines letzten Endzieles unmöglich macht. Jedenfalls ist ein Bestehen der Welt mit allen ihren Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, mit ihren ewig einander ablösenden Prozessen von Entwicklung und Rückbildung von Ewigkeit her für den menschlichen Verstand leichter begreiflich, als die ursachlose Entstehung einer als vollkommen gedachten Schöpferkraft aus einem ursachlosen Nichts."

"Was keinen Anfang oder kein Ende in der Zeit oder im Raum hat, kann auch keinen in der Existenz haben."

"Die Neuzeit erkannte, daß es keine unwägbaren Stoffe gibt, und entdeckte die Einheit, Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit des kraftbegabten Atoms. Dies ist die Phase der Einheit und Untrennbarkeit von Kraft und Stoff, in welcher man eingesehen hat, daß alle uns bekannten Kräfte oder Kraftwirkungen nur aus Zuständen oder Bewegungen der feinsten Teilchen der bestehenden Materie hervorgehen."

"Geht man auf den Grund, so erkennt man bald,
daß es weder Kräfte noch Materie gibt. Beides sind
von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommene
Abstraktionen der Dinge, wie sie sind.  Vereinzelt 
haben sie keinen Bestand." - Emil Dubois-Reymond


Eine der einfachsten und zugleich folgewichtigsten Entdeckungen der heutigen, mit so großen Erfolgen gekrönten Naturforschung bildet die untrennbare Einheit von Kraft und Stoff. Eine Kraft, die nicht an den Stoff gebunden wäre, die frei über dem Stoff schweben, und denselben nach Willkür lenken oder gestalten würde, wie man dieses früher für möglich hielt, ist eine ebenso unwahre oder haltlose Vorstellung, wie diejenige eines Stoffes ohne Kraft, oder, was dasselbe ist, ohne Form oder Bewegung . Alle Naturkundigen der Gegenwart sind einstimmig in der Verwerfung einer solchen Vorstellung, wofür zahlreiche, bestimmte Aussprüche der besten Autoritäten angeführt werden könnten. Kraft und Stoff sind daher im Grunde ganz dieselbe Sache, nur unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet oder Abstraktionen vom Wirklichen. Sie können nur im Gedanken oder sprachlich voneinander getrennt werden, während sie in der Natur oder in Wirklichkeit ein und dasselbe snd. "Körper und Kraft lassen sich nur im Gedanken trennen; in Wirklichkeit machen sie eins aus." (ADOLF MAYER) "Wie das Wasser unter den Händen davon fließt, so löst sich die Vorstellung des Stoffs auf, sobald man sie von der Vorstellung der Bewegung oder der Kraft, ebenso wie von derjenigen der Form zu trennen sucht." (AUGUSTE LAUGEL)

Nur der Aberglaube, oder die Unwissenheit früherer Jahrhunderte konnte die Existenz von Kräften in der Natur, welche unabhängig vom Stoff wären, für möglich halten, während die heutige Wissenschaft die Annahme derartiger Möglichkeiten gänzlich aus ihrem Bereich verbannt hat. Ein wirklicher Begriff von dem, was Kräfte an und für sich sind oder sein könnten, oder was Kraft außerhalb des Stoffes sein könnte, geht uns ebenso ab, wie ein Begriff von dem, was ein Stoff oder Stoffe ohne Kräfte sein würden. Wir können, streng genommen, heutzutage nicht mehr, folgend dem bisherigen Sprachgebrauch, von  Licht  reden, sondern nur von einem leuchtenden, wellenartig bewegten Stoff oder Körper; nicht von Wärme, sondern nur von einer äußerst raschen, zitternden, drehenden oder fortschreitenden Bewegung der kleinsten Teilchen eines Körperstoffes; nicht von  Schwere,  sondern nur von einem Körper, der durch Massenanziehung einen mechanischen Druck ausübt, usw. Die ehemalige Lehre von den sogenannten "Imponderabilien", d. h. von als unwägbare, für sich bestehende Stoffe vorgestellten, angeblich mitgeteilten Kräften, wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, ist heutzutage vollständig verlassen. Alle diese Kräfte sind nichts anderes, als verschiedenartige Bewegungszustände, des den Raum in einem ununterbrochenen Zusammenhang erfüllenden Stoffs. Auch der in der Art seiner Fortbewegung dem Licht ähnliche  Schall  ist kein Gehörstoff, welcher dem Ohr durch die Luft zugetragen wird, sondern nur die bewegte Luft selbst, welche die ihr mitgeteilte Bewegung auf die Organe unseres Ohrs überträgt. Die Schwingungen, welche der Ton in der Luft erzeugt, können sogar chemische Zerlegungen von Substanzen, welche durch sehr schwache chemische Verwandtschaften verbunden sind, auf rein mechanische Weise hervorbringen. In einem noch höheren Grad gilt dies von den Schwingungen des Lichts, welche die auffallendsten chemischen Wirkungen hervorzubringen imstande sind. Auch dürfte die Zeit nicht mehr fern sein, wo man imstande sein wird, nicht bloß die sogenannten  lebendigen  Kräfte, wie Wärme, Licht, Elektrizität, Magnetismus, sondern auch die sogenannten  ruhenden  oder Spannkräfte, wie chemische Verwandtschaft, allgemeine Massenanziehung, Kohäsion oder Zusammenhangskraft, aus Bewegungsfähigkeit oder aus Bewegung selbst herzuleiten.

Danach muß man einem ausgezeichneten modernen Schriftsteller (ADOLF MAYER) Recht geben, wenn er sagt, der Gedanke, die Kraft habe  außer  den Körpern, denen sie anhängt oder ihnen die Fähigkeit zu ihrem eigentümlichen Verhalten verleiht, ein gesondertes Dasein, enthalte etwas so ganz Ungeheuerliches oder Unfaßbares, daß es nahezu einer Beleidigung des gesunden Menschenverstandes gleichkommt, dabei noch länger zu verweilen.

Welche allgemeine, unsere Weltanschauung bestimmende Folgerung läßt sich aus dieser ebenso einfachen wie natürlichen Erkenntnis ziehen? Daß die bisherige Annahme, als habe eine als für sich bestehend gedachte Schöpferkraft Natur und Welt aus sich selbst oder aus dem Nichts hervorgebracht, mit dem ersten und einfachsten Grundsatz einer auf Logik und Erfahrung gebauten Naturbetrachtung in einen unversöhnlichen Widerspruch gerät.

Weder konnte die Kraft den Stoff, noch der Stoff die Kraft erschaffen, da wir gesehen haben, daß eine getrennte Existenz der beiden eine Unmöglichkeit ist. Noch unmöglicher ist die Vorstellung eines  Nichts,  welches nicht bloß ein erfahrungsmäßiges, sondern auch ein logisches Unding ist. Niemals kann Nichts zu Etwas oder Etwas zu Nichts werden.

Daraus folgt aber weiter mit absoluter Gewißheit, daß die Welt nicht, wie die religiöse Weltanschauung lehrt,  erschaffen  sein kann, sondern daß sie  ewig  ist. Wollte man dennoch eine solche Weltschöpfung annehmen, so müßte man vor allen Dingen nachweisen, wie es möglich oder denkbar ist, daß Etwas aus Nichts entstehen kann, was eine Unmöglichkeit ist. Man müßte ferner nachweisen, wie es möglich oder denkbar sei, daß die als Weltursache gedachte Schöpferkraft  vor  ihrer Schöpfung existiert habe, ohne zu schaffen oder in irgendeiner Weise tätig zu sein, was eine noch größere Unmöglichkeit ist. Die Vorstellung einer untätigen Schöpferkraft ohne reale Existenz außer ihr ist gleichbedeutend mit der Vorstellung einer Kraft ohne Stoff. Will man aber im Einklang mit gewissen Schöpfungsmythen ein ursprüngliches Chaos oder eine ungeordnete Stoffmasse annehmen, in welche die Schöpferkraft zu einer bestimmten Zeit Ordnung und Vernunft gebracht hat, so gibt man den Begriff der Schöpfung als solchen auf und kehrt zur Ewigkeit der Welt zurück, welche, wie noch näher gezeigt werden wird, jedes schaffende oder ordnende Prinzip ausschließt oder unnötig macht. Auch gibt man dabei den Grundsatz der Unzertrennlichkeit von Kraft und Stoff auf.

So bliebe nur eine dritte Möglichkeit übrig, d. h. die ebenso unnötige, wie ungeheuerliche Vorstellung, es sei die Schöpferkraft plötzlich und ohne eine bestimmte Veranlassung aus dem Nichts emporgetaucht, habe die Welt geschaffen (woraus?) und sei mit dem Moment der Vollendung wieder in sich selbst versunken, habe sich also gewissermaßen an die Welt hingegeben oder im All aufgelöst. Philosophen und Nichtphilosophen haben von je diese Vorstellung mit Vorliebe behandelt, weil sie auf diese Weise die allzu unbestreitbare Tatsache einer einmal festgesetzten und unabänderlichen Weltordnung mit dem aus uralter Unwissenheit verwachsenen und, wie es scheint, unausrottbaren Glauben an ein übernatürliches oder außerweltlich schaffendes Prinzip zu vereinigen zu können glaubten. Auch die meisten religiösen Vorstellungen lehnen sich mehr oder weniger an diese Idee an, nur mit dem Unterschied, daß sie den Weltgeist nach der Schöpfung zwar ruhend, aber doch als fortbestehende höhere Macht denken, welche nach Art eines absoluten menschlichen Herrschers die gegebenen Gesetze jederzeit wieder aufheben oder abändern kann, oder welche ein Vergnügen daran findet, von Zeit zu Zeit in den Gang der Ereignisse ordnend und helfend oder strafend und richtend einzugreifen. Für diejenigen, welche das Welträtsel mittels des religiösen Glaubens auflösen, mag dies genügen. Für diejenigen aber, welche Vernunft und Logik zur Richtschnur ihres Denkens nehmen, ist jene Vorstellung ebenso unannehmbar, wie die bereits widerlegten. Schon die Anwendung des endlichen Zeitbegriffs auf die Schöpferkraft enthält eine Ungereimtheit; eine noch größere ihre Entstehung aus dem Nichts. Eine Schöpferkraft, die sich selbst schafft oder aus dem Nichts emporzieht, gleicht auf ein Haar dem Freiherrn von Münchhausen, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Sumpf zog. Legt man aber der Schöpferkraft, um dieser Schwierigkeit zu entgehen, das Merkmal der Ewigkeit bei, so ist dieses nur ein anderer Ausdruck für die Ewigkeit der Welt selbst, welche, wie schon erwähnt, jedes schaffende Prinzip unnötig macht. Das vergebliche Suchen der Philosophen nach einer Ursache der Welt ist ein Rückschreiten in das Unendliche und gleichbedeutend mit dem Besteigen einer endlosen Leiter, wobei die Frage nach der Verursachung der Ursache die Erreichung eines letzten Endzieles unmöglich macht. Jedenfalls ist ein Bestehen der Welt mit allen ihren Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten, mit ihren ewig einander ablösenden Prozessen von Entwicklung und Rückbildung von Ewigkeit her für den menschlichen Verstand leichter begreiflich, als die ursachlose Entstehung einer als vollkommen gedachten Schöpferkraft aus einem ursachlosen Nichts.

Schon das Merkmal der Vollkommenheit schließt die Möglichkeit der Schöpfung aus, da ein vollkommenes Wesen ein zugleich sich selbst genügendes ist und daher jedes Antriebes oder Anlasses zur Veränderung seines Zustandes entbehrt, während der Übergang eines solchen Wesens zur Weltschöpfung notwendig den Begriff der Unvollkommenheit oder Selbstbeschränkung einschließt. Auch ist das von den Theologen geforderte Fortbestehen Gottes oder des Weltschöpfers neben und außer seiner sich selsbt überlassenen Schöpfung eine ganz undenkbare Sache - ein dualistisches, aus Gott und Welt zusammengeflicktes Ungeheuer. (1)

Wenn also die Annahme einer in menschlicher Weise gedachten Schöpferkraft auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt; wenn es ferner keine Kraft ohne Stoff und keinen Stoff ohne Kraft gibt; wenn schließlich diese beiden, wie noch gezeigt werden wird, unsterblich oder unvernichtbar sid, so kann uns wohl kein ernsthafter Zweifel darüber bleiben, daß die Welt als solche nicht geschaffen oder durch eien außer ihr stehenden Willen ins Leben gerufen sein kann, sondern daß sie ewig ist. Was keinen Anfang oder kein Ende in der Zeit oder im Raum hat, kann auch keinen in der Existenz haben. Was nicht vernichtet werden kann, konnte auch nicht geschaffen werden. Mit anderen Worten: die Welt als solche ist ursachlos, unentstanden und unvergänglich. -

So einfach und selbstverständlich uns heute und beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse die Unzertrennlichkeit der Begriffe von Kraft und Stoff erscheinen mag, so ist dies doch nicht immer so gewesen, und es ist dem menschlichen Verstand erst nach dem Durchlaufen mehrerer und verschiedener Phasen der Erkentnis oder des Irrtums gelungen, zur einfachen Wahrheit durchzudringen. Denn die einfachste Ansicht von einer Sache ist gerade diejenige, auf welche der menschliche Geist sehr oft zuletzt verfällt. In der ersten Phase stellte man sich Kraft und Stoff als gänzlich getrennte und verschiedene Dinge vor und gab den für sich bestehenden Naturkräften oder deren Erscheinungsweisen, welche man aus der Tätigkeit besonderer überirdischer Wesen (Götter) herleitete, auch besondere Namen. So erhielten Erde, Himmel, Luft, Wasser, Winde, Flüsse, Licht, Feuer, Sonne, Finsternis, Tag und Nacht usw. jedes seinen besonderen Geist oder Gott. So war z. B. bei den Griechen ZEUS der Gott des Donners und Blitzes, APOLLO der Gott des Tages, ARTEMIS die Göttin der Nacht. URANUS repräsentierte den Himmel, GÄA die Erde, POSEIDON das Meer, HEPHAISTOS das Feuer, AEOLUS die Winde, VENUS die Kraft der Anziehung usw. Ähnliche Anschauungen nährten die alten Inder, Chinesen, Ägypter, Perser usw.

Auch die griechischen Philosophen, obgleich einige unter ihnen (die sogenannten Materialisten oder Kosmophysiker) bereits sehr geläuterten und den heutigen nahe kommenden Anschauungen huldigten, machten in ihrer Mehrzahl eine strenge Unterscheidung zwischen Kraft und Stoff und ließen den letzteren, welchen sie einer eigenen Bewegung für unfähig hielten, von Außen her bewegen - eine Anschauung, welche sich durch den mächtigen Einfluß der aristotelischen Philosophie noch bis in die letzten Jahrhunderte hinein erhielt. - Auf diese erste Phase folgte die zweite, in welcher an die Stelle der vollständigen Trennung von Kraft und Stoff eine unvollständige Trennung beider Begriffe trat. Die Kraft wird dabei als etwas mit dem wägbaren Stoff Verbundenes, aber doch im Grunde davon ganz Verschiedenes, aber doch im Grunde davon ganz Verschiedenes und selbst als ein unwägbarer Stoff, als eine sogenannte  Imponderabilie,  gedacht. Aus dieser Vorstellung floß beispielsweise die jetzt ganz beseitigte Emanations- oder Emissionstheorie des Lichts, wonach dasselbe aus unendlich kleinen, mit ungeheurer Geschwindigkeit fortgestoßenen, unwägbaren Körperteilchen bestehen sollte, oder die Lehre vom Wärmestoff, sowie vom elektrischen oder magnetischen Fluidum. Auch der Glaube an das ehedem so berühmte  Phlogiston  oder den Feuerstoff, welcher die Ursache der Verbrennung bilden sollte und weclher erst am Ende des vorigen Jahrhunderts durch die Entdeckung des Sauerstoffs beseitigt wurde, gehört hierher; desgleichen die Seele des Bernsteins, welche schon der altgriechische Philosoph THALES für die Ursache von dessen eigentümlicher Anziehungskraft erklärt hatte, und Ähnliches. - Erst die dritte Phase oder diejenige der Neuzeit erkannte, daß es keine unwägbaren Stoffe gibt, und entdeckte die Einheit, Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit des kraftbegabten Atoms. Dies ist die Phase der Einheit und Untrennbarkeit von Kraft und Stoff, in welcher man eingesehen hat, daß alle uns bekannten Kräfte oder Kraftwirkungen nur aus Zuständen oder Bewegungen der feinsten Teilchen der bestehenden Materie hervorgehen. Überall wo Stoff ist, da ist auch notwendig Kraft im Zustand von Bewegung, Spannung oder Widerstand und umgekehrt.

Übrigens zeigen, wie nicht anders möglich, alle diese Phasen untereinander mannigfache Übergänge. Am schwierigsten gestaltete sich die Beseitigung der dualistischen oder zweiheitlichen Vorstellungen von Kraft und Stoff auf dem Gebiet der Lehre vom Leben, welche wegen der zusammengesetzten und daher schwerer zu durchschauenden Verhältnisse des organischen Stoffwechsels dem Durchbruch einer besseren Einsicht am meisten Widerstand entgegensetzen mußte. Hier vertraten eine ganze Reihe nach und nach einander ablösender "Lebensgeister" unter verschiedenen Namen die Stelle der Imponderabilien in der nicht-organischen Natu, bis sie sich schließlich in der lange Zeit hindurch die Wissenschaft beherrschende, aber jetzt vollständig aufgegebenen Lehre von der  Lebenskraft  auflösten. Leider spukt dieses abgelebte Gespenst der Lebenskraft, von welchem ein späteres Kapitel eingehender handeln wird, immer noch in manchen unklaren, namentlich philosophischen Köpfen. Solange dies der Fall ist, kann man nicht sagen, daß die Wissenschaft vom Leben die zweite der geschilderten Phasen bereits vollständig überwunden hat, während die physikalischen und chemischen Eigenschaften längst in das dritte und letzte Stadium übergetreten sind. Die Chemie kann heutzutage einfach als die Mechanik der  Atome,  d. h. der kleinsten Teilchen chemischer Elemente und Grundstoffe, die Physik als Mechanik der  Moleküle  oder zusammengesetzter Atome bezeichnet oder angesehen werden.


Die Zweckmäßigkeit

    "Entwicklung heißt oder ist die Hand
    der Vorsehung. - William L. Garrison

Einer der wichtigsten Haltpunkte für die Meinung derjenigen, welche, wie die Theologen, aus der natürlichen Ordnung der Dinge auf die Existenz eines die Welt beherrschenden großen Ordners und Gesetzgebers, welcher das Glück und Wohlsein dieser Welt zu seiner Aufgabe gemacht hat, schließen, ist von jeher die sogenannte  Zweckmäßigkeit  in der Natur gewesen und ist es noch. Jede Blume, die ihre schillernde Blüte entfaltet, jeder Stern, der die Nacht erhellt, jede Wunde, die heilt, jede Einrichtung oder jedes Geschehen oder jedes Erzeugnis der Natur gibt den Zweckmäßigkeitsgläubigen Anlaß, entweder, wie es die Theologen tun, die unergründliche Weisheit des angeblichen Schöpfers und Erhalters aller Dinge zu bewundern und zu preisen, oder, wie es die Philosophen tun, daraus auf die Existenz eines metaphysischen, d. h. übernatürlichen, mit verschiedenen Namen bezeichneten Urgrundes aller Dinge zu schließen.

Die heutige Naturforschung und Naturphilosophie hat sich von diesen leeren und nur die Oberfläche der Dinge beschauenden Zweckmäßigkeitsbegriffen ziemlich allgemein befreit und überläßt dergleichen kindliche Gedankenspiele denjenigen, welche die Natur mehr mit den Augen des Gefühls als mit denjenigen des Verstandes betrachten, oder welche nicht imstande sind, ihr Denken von einem altgewohnten Druck und Einfluß anthropomorphistischer, d. h. nach menschlichem Vorbild gearteter Vorstellungen zu befreien. Denn dieselbe hat sich durch zahllose Erfahrungen davon überzeugen müssen, daß die angebliche Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen nichts anderes ist oder sein kann, als eine notwendige und selbstverständliche Folge oder Begleiterin des natürlichen Daseins und Geschehens. Der Zweckmäßigkeitsglaube bedenkt nicht oder sieht nicht ein, daß ein anderes Ergebnis schon von vornherein durch die Natur oder Umstände ausgeschlossen war, und daß unzweckmäßige oder unpassende Dinge oder auch nur Versuche hierzu im Laufe der Zeit und natürlicher Entwicklung an ihren eigenen Mängeln zugrunde gehen mußten, oder daß - mit anderen Worten - die zweckmäßige Einrichtung nur ein einzelner Fall unter tausenden von nicht oder weniger zweckmäßigen ist, welche deswegen unfähig waren, sich zu erhalten. Die Natur ist gewissermaßen ihr eigener Arzt, und gerade in ihrem gesetzmäßigen Wirken liegt das natürliche Heilverfahren, wodurch Unzweckmäßiges beseitigt wird und Zweckmäßiges übrig bleibt.

Die Betrachtung ist so einfach und klar, daß sie sich nüchternen und vorurteilsfreien Geistern auch ohne weiteres Eingehen auf wissenschaftliche Erörterungen mit Notwendigkeit aufdrängen muß. In der Tat ist dieselbe schon im ersten Jahrhundert nach CHRISTUS vom Verfasser des berühmten römischen Lehrgedichts "Über die Natur der Dinge", von LUCRETIUS CARUS, mit klaren Worten ausgesprochen worden:
    "Denn nicht haben fürwahr die Uranfänge der Dinge
    Sich mit weisem Bedacht gefügt zur jetzigen Ordnung
    Oder, durch Satzung gezwungen, geregelt ihre Bewegung; Sondern da sie, unenendlich an Zahl und sich stetig verwandelnd
    , Wurden getrieben durchs All, von zahllosen Stößen erschüttert,
    Kamen sie, jede Art der Bewegung und Bindung versuchend,
    Endlich dahin, sich zu einen zur jetzigen Ordnung des Weltalls.
Aber auch ganz abgesehen von dieser durchschlagenden Betrachtung sind wir schon deswegen nicht berechtigt, von Zweckmäßigkeit zu reden, weil wir ja die Dinge nur in dieser einen, uns vorliegenden Gestalt und Verfassung kennen und keine Ahnung davon besitzen, wie sie uns in einem davon ganz verschiedenen Zustand erscheinen würden. Um darüber ein berechtigtes Urteil haben zu können, müßten wir imstande sein, einen Vergleich zwischen dieser und irgendeiner anderen, ganz anders eingerichteten Welt oder Ordnung der Dinge anzustellen - was eine Unmöglichkeit ist. Aber möchte auch die Welt eingerichtet sein, wie sie will, immer würden wir sie - vorausgesetzt, daß wir darin existieren könnten - in einer gewissen Weise zweckmäßig eingerichtet finden. In der Tat ist dieses auch so sehr der Fall, daß die verschiedensten Zustände unter verschiedenen Umständen uns als zweckmäßig erscheinen, je nachdem unsere Persönlichkeit sich ihnen angepaßt hat. Dem Nordländer erscheint die Kälte, dem Südländer die Hitze angenehm oder nützlich; der Araber liebt die Wüste, der Schiffer das Meer, der Jäger Wald und Berge, der Ackerbauer das Feld, der Städter Häuser und Menschen. Also scheint jedem Einzelnen nur das zweckmäßig, was ihm in Bezug auf seine individuellen oder persönlichen Anschauungen oder Bedürfnisse angenehm oder von Nutzen ist oder was zu seinem Wesen paßt. Zudem hat unser Verstand nicht einmal nötig, sich an der ihm vorliegende Wirklichkeit genügen zu lassen. Denn welche natürliche Einrichtung, welches Naturding gäbe es, das er sich nicht in der einen oder anderen Weise besser oder zweckentsprechender eingerichtet denken könnte? Ja, es gibt Natureinrichtungen sehr hoch entwickelter Art, von denen sich geradezu wissenschaftlich nachweisen läßt, daß sie auf dem Wege allmählicher Entwicklung und Anpassung noch lange nicht zu jenem Grad der Vollkommenheit gelangt sind, den sie haben müßten, wenn sie nach Zweckmäßigkeitsrücksichten erschaffen worden wären. So erscheint das anscheinend höchst künstlich eingerichtete Organ des Sehens oder unser Auge dem Laien als ein Wunder an Zweckmäßigkeit oder als eine Veranstaltung höchster überlegendster Weisheit zum Zweck des Sehens, während die Prüfung des Forschers darin eine ganze Reihe von großen Fehlern und Unvollkommenheiten entdeckt hat. Schon der Umstand, daß so viele Menschen Brillen und Ferngläser brauchen, beweist die Unvollkommenheit des Auges. Würde ein menschlicher Optiker ein in ähnlicher Weise gefertigtes Instrument liefern, so würde man es ihm, wie HELMHOLTZ bemerkt, als schlechte Arbeit zurückgeben. Die Ursache dieses Verhältnisses liegt darin, daß das Auge (wie alle Organe oder Einrichtungen des Tier- oder Pflanzenkörpers überhaupt) durch zahllose Abstufungen von Unvollkommenheit hindurch aus einem einfachen, empfindenden, unter der Haut gelegenen Nerven durch eine langsame Anhäufung und Befestigung kleiner Vorteile allmählich bis zu seiner letzten hohen Ausbildung gelangt ist - eine Ausbildung, welche aber, wie gezeigt, selbst im vollkommensten Auge noch lange nicht vollständig ist.

Dasselbe gilt von dem mit den nutzlosen großen Ohrmuscheln versehenen Ohr oder Gehörgang, dessen innere Einrichtung fast ebensoviele Fehler erkennen läßt, wie diejenige des Auges, so daß wir keine sehr tiefen und keine sehr hohen Töne hören können, sowie mehr oder weniger von allen übrigen Sinnesorganen, welche ursprünglich nichts weiter sind oder waren, als Teile der äußeren Hautdecke, in welcher sich Empfindungsnerven ausbreiteten, und welche sich nach und nach bis zum jetzigen Grad ihrer Ausbildung entwickelt haben - ein Vorgang, welcher sich heute noch in allen seinen Stadien am bebrüteten Hühnerei beobachten läßt.

Der untersten Stufe des Lebens ist die Sinnestätigkeit sogar ohne besondere Sinneswerkzeuge und ohne Nerven möglich. Diese Tatsachen beweisen, wie HÄCKEL bemerkt, daß auch die vollkommensten Sinnesorgane nicht das künstliche Erzeugnis eines voraus bedachten Schöpfungsplanes, sondern daß sie gleich allen anderen Organen des Tierkörpers das unbewußte Erzeugnis der natürlichen Züchtung im Kampf ums Dasein sind.

Aus all dem geht hervor, daß die Augen uns nicht deshalb geschenkt worden sind, damit wir mit denselben sollen sehen können, ebensowenig wie wir die Füße erhalten haben, um damit gehen zu können. Wir sehen und gehen vielmehr,  weil  wir Augen und Füße haben. Der Gebrauch ist nicht der Ursprung, sondern das Resultat, die Folge der Dinge. Das Sehen existierte nicht  vor  dem Auge oder die Sprache  vor  der Zunge, sondern das Gegenteil fand statt. Aus demselben Grund können wir nicht sagen, daß der Hirsch oder das Reh ihre langen Beine erhalten haben, um schnell laufen zu können, sondern sie laufen schnell,  weil  sie sich unter millionenfachen gegenseitigen Reibungen oder Begegnungen so entwickelt haben; hätten sie sich anders entwickelt oder entwickeln könen, wir würden sie nicht weniger zweckmäßig oder zweckentsprechend gefunden haben.

Dazu kommt der bekannt Einfluß des von DARWIN aufgedeckten Kampfes ums Dasein, d. h. jenes ununterbrochenen gegenseitigen Wettbewerbs, welchen alle organischen Wesen sowohl untereinander, als auch den Lebensbedingungen gegenüber unterhalten, und welcher es bewirkt, daß nur solche Formen Aussicht auf dauernde Erhaltung haben oder hatten, welche sich in irgendeiner Weise durch einen, wenn auch Anfangs noch so geringen Vorteil ihren Mitwesen gegenüber auszeichneten und diesen Vorteil auf ihre Nachkommen zur allmählichen Weiterbildung vererbten.

Was jetzt in der Welt vorhanden ist, ist, wie bereits bemerkt, nur der Überrest unendlich vieler Anfänge und zahlloser Entwicklungsprozesse. - Schon einige hundert Jahre vor CHRISTI Geburt ist dieser Gesichtspukt von dem griechischen Philosophen EMPEDOKLES mit bewunderungswürdigem Scharfblick erfaßt und dementsprechend gelehrt worden, daß bei der Gestaltung der Materie zur Form früher viele unregelmäßige oder regellose Formen existiert haben mögen, welche sich zum Teil nicht erhalten konnten und erst nach und nach durch Wettbewerb eine zweckmäßige Beschaffenheit erlangten.

Mit dieser Auseinandersetzung wird wohl auch jenem bekannten Einwand begegnet, daß die naturalistische Weltanschauung alles aus dem bloßen  Zufall  ableitet, während doch dieser niemals imstande ist, zweckmäßige Bildungen hervorzubringen. Man werfe, so wendete bereits CICERO den pantheistischen Philosophen seiner Zeit ein, einen Haufen Buchstaben oder Lettern noch so oft oder vielfach durcheinander, so wird doch daraus niemals ein Gedicht, wie z. B. die  Jlias  oder die  Odyssee,  entstehen. Gewiß nicht! denn dies wäre ein ganz undenkbarer Zufall oder ein großes Los unter unzähligen Nieten. Aber ein solcher Zufall, wie er hier vorgestellt wird, existiert in der Natur nicht, welche in letzter Linie alles auf natürliche und gesetzmäßige Weise geschehen läßt. Was wir jetzt noch Zufall nennen, beruth lediglich auf einer Verkettung von Umständen, deren innere Zusammenhänge und letzte Ursachen wir bis jetzt nicht zu enträtseln vermögen. Der Zwang zu einer Wahl zwischen Gott oder Zufall, welcher uns immer entgegengehalten wird, existiert daher gar nicht. Es gibt noch ein Drittes oder die allmähliche Entstehung des Zweckmäßigen im natürlichen Verlauf der Dinge durch die beschriebenen Vorgänge der Auslese, Anpassung usw. Bei den gegebenen Naturverhältnissen ist eine ganz unberechenbare Anzahl zweckmäßiger Mechanismen oder Formen oder Veranstaltungen möglich oder denkbar, von welchen einige wirklich werden, wenn damit auch noch lange nicht gesagt ist, daß sie die denkbar zweckmäßigsten sein müssen. Es genügt nicht, wenn sie nur soweit zweckmäßig sind, um unter bestimmten Verhältnissen existieren zu können. In der Tat stimmt dies auch vollkommen mit der Wirklichkeit und mit den stets wechselnden Erzeugnissen und Zuständen der natürlichen Erd- und Weltgeschichte. Man höre also endlich einmal auf, mit dem seichten und abgedroschenen Gemeinplatz des Zufalls oder blinden Letternwurfs den Verteidigern des Bestehens einer natürlichen Weltordnung entgegenzutreten; es beweist ein solcher Einwurf nur einen Mangel an Wissen und Mangel an Überlegung.

Wenn nun nach all dem nicht wohl bezweifelt werden kann, daß die Natur nicht nach selbstbewußten Zwecken oder Absichten handelt, sondern einer blinden Notwendigkeit gehorcht, so liegt es in der Natur der Sache, daß sie bei einer solchen Tätigkeit auch eine Menge von Dingen oder Einrichtungen ins Leben rufen oder ihr Dasein gestatten muß, welche, wenn wir den Zweckbegriff zum Maßstab ihrer Beurteilung nehmen, als im höchsten Grad verkehrt, nutzlos, ungereimt oder unvollkommen erscheinen müssen. In der Tat sind wir dann auch, sobald wir die Natur einmal unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit zu betrachten anfangen, mit Leichtigkeit imstande, solche Zweck- und Nutzlosigkeiten, solche Ungereimtheiten oder Unvollkommenheiten nicht nur überall in Menge aufzudecken, sondern auch nachzuweisen, wie die Natur, wenn sie durch äußere oder innere Schwierigkeiten in ihrem blinden Wirken gestört wird, sich die auffallendsten Fehler und Verkehrtheiten zuschulden kommen läßt. Sie weiß oft nicht das kleinste sich ihr entgegenstellende Hindernis zu überwinden oder in zweckmäßiger Weise zu beseitigen und verwickelt sich eben infolge ihrer gänzlichen unfreien Tätigkeit jeden Augenblick in ganz unnötige oder unlösbare Schwierigkeiten oder Verlegenheiten, denen ein bewußter Verstand oder auch eine unbewußte, aber von Zweckmäßigkeitsrücksichten bestimmte oder geleitete Tätigkeit unfehlbar entgangen sein würde.

Man denke zum Beweis des Gesagten an die Unmasse  schädlicher  Pflanzen und Tiere und ihre oft unbegrenzte Fruchtbarkeit oder Lebensfähigkeit, gegen welche der Mensch einen ununterbrochenen, aufreibenden und so oft erfolglosen Kampf zu unterhalten gezwungen ist. Hunderte von fleischfresenden Tieren, sagt GARRISON in einem vortrefflichen, vor der philosophischen Gesellschaft von Chicago gehaltenen Vortrag, machen unsere Wälder und Ströe unsicher, während über dreitausend Schlangenarten Mensch und Tier mit Gift und Tod bedrohen. Welcher vernünftige Grund könnte wohl mit der Erschaffung einer Klapperschlange verbunden sein? Um aus unserer Erde ein Elysium zu machen, hat die göttliche Allmacht die Luft mit Hornissen, Wespen, Mücken und Moskitos erfüllt!

Aber auch unter den nicht direkt schädlichen Pflanzen oder Tieren gibt es kaum ein oder ein halbes oder ein Drittel Prozent, von dem der Mensch, zu dessen Nutzen doch alles erschaffen sein soll, einen wirklichen Vorteil zieht. Alle übrigen sind indirekt schädlich, indem sie Erde und Luft der Nahrung berauben, welche nützlicheren Wesen kätte zukommen dürfen.

Man denke ferner an das große Heer der  Krankheiten,  welches eine so entsetzliche Summe von Schmerz, Elend und Verzweiflung über die arme Menschheit gebracht hat und fortwährend bringt, daß im Vergleich damit alles Böse, was die Menschen einander selbst angetan haben (und es ist dessen wahrlich mehr als Genug) in den Hintergrund tritt. Wenn man aber zur Entschuldigung der Schöpferweisheit anführt, daß sie zur Bekämpfung der Krankheiten auch Heilmittel und Heilpflanzen geschaffen habe, so beschuldigt man dieselbe - abgesehen davon, daß es vollkommene oder ihren Zweck unter allen Umständen erreichende Heilmittel gar nicht gibt - einer baren Lächerlichkeit, indem man annimmt, daß dieselbe ein Übel zugleich mit seinem Gegenübel geschaffen hat, anstatt die Erschaffung beider zu unterlassen.

Auch besteht gar kein vernünftiges Verhältnis zwischen den wirklichen Heilpflanzen und ihren Standorten. So fehlt der Chinabaum, welcher das beste Fiebermittel liefert, gerade in jenen Sumpfgegenden, wo man seiner am meisten benötigt, während er in beinahe unzugänglichen Gebirgsgegenden und noch besser dort gedeiht, wohin ihn der Mensch seitdem verpflanzt hat. Aber noch besser wäre es gewesen, wenn die Erschaffung der Fieber-Alge, ohne welche auch der Chinabaum weniger notwendig gewesen sein würde, unterblieben wäre.

Man denke ferner an jene Unmasse von Grausamkeiten und Entsetzlichkeiten, wie sie die Natur mit Hilfe von Überschwemmungen, Erdbeben, Blitz, Feuer, Hagel, Vulkanen, Stürmen usw. täglich und stündlich an ihren eigenen Kindern oder Geschöpfen ausübt, und welche, wenn ein Mensch auch nur den hundertsten Teil derselben gegen seine Mitmenschen ausüben wollte, die Anklage schwersten Verbrechtertums begründen würde? Warum ist die Existenz von Millionen von Wesen nur dadurch möglich, daß sie andere Millionen ihrer Mitgeschöpfe in der grausamsten Weise umbringen oder quälen? Warum ist die Natur ein allgemeines, von Blut und Greueln jeder Art erfülltes Schlachtfeld und besteht mehr als die Hälfte aller tierischen Wiesen aus sogenannten Parasiten oder Schmarotzern, welche nur auf Kosten ihrer Mitgeschöpfe zu leben imstande sind? Kann es göttliche Güte oder Barmherzigkeit gewesen sein, welche der Katze oder der Spinne ihre Grausamkeit verlieh und den Menschen selbst, die sogenannte Krone der Schöpfung und das angebliche Ebenbild Gottes, mit einer Natur begabte, welche ihn fähig macht, jede Art der unglaublichen Greuel gegen sein eigenes Geschlecht zu üben?

Zu welchem Zweck, fragt GARRISON, wurde der Tiger in einer Weise mit Klauen, Zähnen, Sinne und großer Körperkraft ausgerüstet, daß er andere Tiere und selbst Menschen töten und verschlingen kann? Und warum hat die Antilope die Fähigkeit erhalten, durch die Schnelligkeit ihrer Füße dem Tiger zu entgehen? Weniger Sorge für den Tiger würde weniger Sorge für die Antilope nötig gemacht haben. Warum sollte überhaupt ein Tier bestimmt sein, andere Tiere zu fressen oder gefressen zu werden?

Welchen denkbaren Vorteil oder welches Vergnügen könnte die Gottheit aus diesem durch die Welt verbreiteten unaufhörlichen Gemetzel gewinnen? Man sagt uns, daß Gott die Tiere und jedes Ding "zur Erhöhung seines eigenen Ruhmes" geschaffen hat, was beweisen würde, daß derselbe in hohem Grad ein Freund von Blutvergießen wäre, und daß er weiter, ehe er die Schöpfung vornahm, nicht so ruhmvoll war, wie er zu sein wünscht.

Allerdings behaupten die Theologen, daß all das nur eine Folge des Sündenfalls und durch die moralische Verderbnis der Menschheit auf künstliche Weise in die ursprünglich reine und unschuldige Natur hineingebracht worden ist. Sie wissen freilich nicht oder wollen nicht wissen, daß die Naturgesetze zu allen Zeiten dieselben gewesen sind, und daß die Vorwesenkunde zahlreiche und unwiderlegliche Beispiele krankhaft veränderter Tier- und Menschenknochen aus sogenannt vorsintflutlicher Zeit aufzuweisen hat. Die Krankheit ist, wie dieses auch aus sonstigen inneren Gründen nicht anders sein kann, so alt wie das organische Leben überhaupt und das von Krankheit und Übeln nicht erreichte  Paradies  ist für das klare Auge der Naturforschung nichts weiter, als ein von der kindlichen Phantasie der Völker ausgedachter Mythos, welchr aus der unbefriedigten Sehnsucht des menschlichen Gemüts nach einem besseren Zustand der Dinge hervorging.

Wie will es der Theologe erklären, daß die Frommen und Gläubigen nicht mehr gegen Unglücksfälle, Krankheit und Tod geschützt sind, als die Ketzer und Ungläubigen? Oder daß der Blitz zehnmal so viele Kirchen mit ihren hohen Spitzen trifft, als Wirtshäuser oder schlechte Häuser? Oder daß er den Priester am Altar niederschmettert und die gläubigen Kirchenbesucher durch Brand und Schrecken tötet? Freilich haben die Theologen eine Erklärung bei der Hand, welche durch das bekannte Wort ausgedrückt und verzuckert wird: "Wen Gott liebt, den züchtigt er", so daß das Übel nur eine verkleidete Wohltat wäre und demnach alles, Gutes und Schlechtes, nur zum Besten des Menschen dient. Aber Gott züchtigt nicht bloß diejenigen, welche er liebt, sondern auch diejenigen, welche er nicht liebt. Also Züchtigung auf alle Fälle für Gerechte und Ungerechte, wie es einem liebevollen Vater zukommt! Warum hat Gott überhaupt die Menschen erschaffen, welche ihm doch wie die Theologen behaupten, fortwährend nur Kummer und Verdruß bereiten? Oder warum hat er sie, wenn er sie doch erschaffen wollte oder mußte, nicht gleich so erschaffen, daß sie ihm und sich selbst zum Vergnügen und Glück da sind?

Man denke schließlich und zuletzt an die  Mißbildungen  und  Mißgeburten,  welche gegen das angeblich zweckmäßige Handeln der Natur das denkbar stärkste Zeugnis ablegen und welche der einfache Menschenverstand von jeher so wenig mit dem Glauben an eine wohltätige Schöpferkraft zu vereinigen vermochte, daß man dieselben früher als ein Zeichen des Zornes der Götter ansah, und daß selbst heute noch ungebildete Leute in ihnen eine Strafe des Himmels erblicken. Ein nicht weniger gewichtiges Zeugnis legen die sogenannten  rudimentären  oder verkümmerten Organe ab, welche der Lehre von der Zweckmäßigkeit und der Schöpfungstheorie ein nicht zu lösendes Rätsel aufgeben, da sie nicht bloß unnütz oder zwecklos, sondern zum Teil recht schädlich sind, und welche nur durch die Deszendent- oder Abstammungstheorie erklärbar sind. Wenn die Gegner dieser Theorie, sagt HÄCKEL, das Gewicht dieser Tatsachen begreifen könnten, so müßten sie dadurch zur Verzweiflung gebracht werden.

Der Mensch ist gewohnt, in sich selbst den Gipfelpunkt der Schöpfung zu erblicken und die Erde und alles, was auf ihr webt und lebt, so zu betrachten, als sei es von einem gütigen Schöpfer zu seinem Nutzen und Wohnsitz erschaffen worden. Ein Blick auf die Geschichte der Erde und auf die geographische Verbreitung des Menschengeschlecht kann ihn in dieser Hinsicht Bescheidenheit lehren. Wie lange bestand die Erde ohne ihn! und wie lange glänzten alle Schönheiten des Himmels und der Erde, ohne daß ein mit Vernunft begabtes Geschöpf dieselben sehen und bewundern konnte! Warum mußten jene endlosen vormenschlichen Zeiträume vergehen, wenn der Mensch wirklich das letzte Ziel der Schöpfung war? "Die Menschen", sagt HELMHOLTZ, "pflegen die Größe und Weisheit des Weltalls danach abzumessen, wieviel Dauer und Vorteil es ihrem eigenen Geschlecht verspricht; aber schon die vergangene Geschichte des Erdballs zeit, einen wie winzigen Augenblick in seiner Dauer die Existenz des Menschengeschlechts ausgemacht hat." Aber nicht bloß seine zeitliche Existenz auf der Erde ist winzig, sondern auch seine räumliche Ausbreitung über dieselbe im Verhältnis zur Größe der Erdoberfläche, welche nru an einzlnen verhältnismäßig kleinen Stellen imstand ist, ihm eine einigermaßen passende Wohnstätte zu bereiten. Der weitaus größte Teil der Erdoberfläche ist Wasser-, Sand- oder Eiswüste. Zwei Drittel sind mit Wasser bedeckt, das übrige Drittel ist nur an einzelnen Stellen Menschen bewohnbar. Aber auch dieses in der Regel nicht ohne angestrengte Kulturarbeit und ohne fortwährenden aufreibenden Kampf gegen die Ungunst der Naturverhältnisse, gegen Hunger, Krankheit, Klima, wilde Tiere usw. Warum brüten tagtäglich alles versengende Sonnenstrahlen über den ungeheuren Sandwüsten Afrikas, während der arme Polarmensch in ewiger Kälte und halber Dunkelheit erstarrt? warum hier Not, dort Überfluß? warum hier Fruchtbarkeit, dort Unfruchtbarkeit usw. usw. Warum verderben Fröste, Regen, Ungeziefer, Sonnenbrand usw. so häufig alles, was der um seine Existenz ringende Mensch mit der größten Anstrengung und Aufbietung aller Kräfte den Elementen abgerungen zu haben glaubt? Welche Einbildungskraft wäre so träge, um nicht zahllose Verbesserungsmöglichkeiten an Boden, Klima, Verteilung von Wasser und Land usw. ausfindig zu machen? Wahrlich - unsinnig müßte derjenige sein, der im Ernst behaupten wollte, die Erde sei von einer abweisenden und allgütigen Vorsehung als passender Wohnplatz für den Menschen eingerichtet worden! Nur die äußerste Anstrengung seiner Körper- und Geisteskräfte macht es dem Menschen überhaupt möglich, unter fortwährender Bedrohung durch tausend Gefahren auf derselben zu existieren. Und diese Kräfte hat ihm nicht ein gütiger Schöpfer verliehen, sondern sie sind das letzte Resultat jener langsamen und mühsamen Entwicklung durch natürliche Ursachen.

Hören wir, wie der von theologischer Sophistik nicht vergiftete Verstand eines Anhängers des freidenkerischsten und verbreitetsten Religionssystems der Erde, des Buddhismus, diese Dinge beurteilt. Als die christlichen Missionare den verstorbenen König von Siam, MAHA MOUGHUT, der selbst über theologische Dinge schrieb, sagten, daß das höchste Wesen den Regen fallen läßt, damit die Menschen ihr Feld bebauen können, antwortete er: "Aber der Regen fällt unregelmäßig, an einigen Stellen zuviel, an anderen zu wenig. Ein großer Teil fällt ins Meer auf auf Gebirge. Manchmal reißt das Wasser Städte fort, während ein anderesmal zu wenig da ist, um nur den Reis wachsen zu lassen. Viele Gegenden der Erde sind ganz unfruchtbar und unfähig, das Leben zu unterhalten." Als man ihm antwortete, daß Gott die Erde für den Menschen und dessen Wohl geschaffen hat, wies er darauf hin, daß es verborgene Risse gibt, auf denen Schiffe stranden und feurige Berge, welche dem Menschen nur Schaden bringen. Er erinnerte ferner an Krankheiten und Epidemien, und als man ihm bemerkte, daß Gott damit die Menschen für ihre Sünden straft, entgegnete Er, daß Epidemien durch schlechte oder giftige Luft erzeugt werden, und daß die reichen Leute durch das Verlassen einer kranken Gegend der Strafe entgehen können. Der Schüler des Buddhismus konnte nicht begreifen, wie ein höchstes Wesen menschliche Eigenschaften und Leidenschaften haben kann, und warum es sich nur Wenigen offenbart? warum Irrtum und falsche Religionen existieren? wie sich jeder menschliche Keim in ein unsterbliches Wesen verwandeln kann? usw. Als man ihm sagte, da das  Weib  Gottes zweite Schöpfung und Meisterstück war, antwortete er: "Dann haltet sie in Ehren und nicht in Unterwürfigkeit!" BUDDHA, sagte er, lehrt ganz andere Dinge und sucht die Menschen auf Erden glücklich und weise zu machen, statt sie auf ein phantastissches Jenseits zu verweisen, usw.

Schließlich betrachtet der Mensch auch einmal sich selbst und legt sich die Frage vor, ob er nicht, wenn durch Gott zu Glück, Wohlsein und Erkenntnis geschaffen, an Körper und Geist hätte gebildet werden können? Warum bleibt er bezüglich seiner körperlichen Eigenschaften hinter denjenigen so vieler Tiere zurück, während er doch mit ihnen die Bedürfnisse seines ewig verlangenden Magens teilt? Warum ist seine Sinneswahrnehmung und dementsprechen sein Erkenntnisvermögen so eingeschränkt? Warum ist sein Leben so kurz, sein Durst nach Wahrheit so groß, wenn derselbe nicht befriedigt werden kann? Warum hindern ihn tausend und abertausen natürliche Hindernisse an der freien Entfaltung seiner Kräfte? Warum ist er der Gewalt, Bosheit und jeder Art von Ungerechtigkeit preisgegeben und dazu verdammt, das Weltelend fortwährend auf seinen Schultern zu trage? Niemand wird imstande sein, auf diese Fragen vom theologischen oder einem Zweckmäßigkeitsstandpunkt aus eine ausreichende Antwort zu geben.

Ebensowenig ist von diesem Standpunkt aus eine Antwort auf die Frage möglich, warum - wie die neuere Physik oder Lehre von den Naturkräften sicher nachgewiesen hat -, unserer Erde eine allerdings noch so ferne Zeit bevorsteht, in welcher die auf ihr vorhandenen Kraftvorräte durch steten Wärmeverlust nach außen und ein allmählicher Temperaturausgleich sich erschöpfen oder zur beziehungsweisen Untätigkeit verdammt sein werden, womit selbstverständlich alles auf der Erde Lebende in Tod, Nacht und Vergessenheit zurücksinken wird. Auch astronomische Gründe lassen wohl keinen Zweifel darüber, daß unser gesamtes Planetensystem, so wie es zeitlich entstanden ist, auch innerhalb einer bestimmten, wenn auch noch so entfernten Zeit wieder zugrunde gehen muß und wird, indem die Sonne, die Quelle aller irdischen Kraft, aufhören wird, zu leuchten, und indem die Planeten infolge allmählicher Abkürzung ihrer Umlaufszeiten sich wieder mit der Sonne - ihrer Wiege und ihrem Grab - im Chaos der Urelemente vereinigen werden. Alles Große, was die Menschen je auf Erden geleistet haben, muß damit notwendig wieder in den Schoß ewiger Vergessenheit versinken. In welchem Licht erscheinen nun einer solchen Tatsache gegenüber all jene hochtrabenden philosophischen Redensarten von allgemeinen Weltzwecken, welche sich in der Schöpfung des Menschen verwirklichen Sollen, von der Menschwerdenung Gottes in der Geschichte, von der Geschichte der Erde und der Menschheit als Selbstenthüllung des Absoluten, von der Ewigkeit des Bewußtseins, der Freiheit des Willens usw. usw.! Was ist das ganze Leben und Streben des Menschen gegenüber diesem ewigen, widerstandslosen, nur von eiserner Notwendigkeit oder unerbittlicher Gesetzmmäßigkeit getragene Gang der Natur? Das kurze Spiel einer Eintagsfliege, schwebend über dem Meer der Ewigkeit und Unendlichkeit!

Allerdings ist nicht zu vergessen, daß mit dem Untergang unserer kleinen Erde und ihrer Bewohner nicht das Schicksal der unermeßlichen und ewigen Welt selbst besiegelt ist, und daß zur selben Zeit, in welcher unser eigenes Geschlecht in Kälte und Öde dahinstirbt, an tausend und abertausend anderen Punkten des Weltalls, wie wir mit Recht annehmen dürfen, der Zustand der Dinge bis zu einem Punkt herangereift sein wird, wo ein neues Geschlecht lebender, in den Grundprinzipien körperlicher und geistiger Bildung uns gleicher und ähnlicher und, gleich uns, dem schließlichen individuellen wie allgemeinen Untergang geweihter Wesen oder Gebilde seinen Anfang oder Fortgang nimmt. Der Untergang unserer Erde mit allem, was darauf ist, erscheint daher dem großen Ganzen gegenüber von nicht größerer Bedeutung, als der Tod eines einzelnen Individuums auf der Erde selbst; und die Woge des Lebens, welche jetzt über unsere Erde dahinzieht, ist, wie PROKTOR ebenso schön wie wahr sagt, "nur eine sanfte Kräuselung im Meer des Lebens innerhalb des Sonnensystems, und dieses Meer des Lebens selbst ist wieder nichts mehr, als eine unbedeutende Welle im Ozean des ewigen Lebens im ganzen Weltall." Gleich der Gattin des ODYSSEUS, welche bei Nacht wieder auftrennte, das ihre fleißigen Hände am Tag gesponnen hatten, gefällt sich die Natur in einem ewigen Aufbauen und Zerstören, dessen Anfang gleich seinem Ende, und dessen Ende gleich seinem Anfang ist. Der Mensch aber, welcher diesem Naturzwang ohnmächtig gegenüber steht und mit jedem Schritt, den er in der Erkenntnis der Naturgesetze vorwärts tut, gewissermaßen an seiner moralischen Selbstvernichtung oder an seinem Nirvana arbeitet, kann sich nur damit trösten, daß sein Geschlecht in dem kleinen Stückchen des Weltkreislaufs, welchen dasselbe zu übersehen imstande ist, innerhalb gewisser Grenzen der Vervollkommnung entgegenstrebt, und daß jeder Einzelne durch sein bloßes Dasein seinen schuldigen Beitrag dazu liefert. Es kann keinen anderen zweck des Daseins im Einzelnen, wie im Ganzen geben, als das Dasein selbst; und jedes vorhandene Ding oder Leben erfüllt voll und ganz seine Aufgabe, indem es innerhalb seiner individuellen Sphäre Teil nimmt am ewigen Leben des in ununterbrochenem Kreislauf sich bewegenden Ganzen oder des Weltalls.
LITERATUR: Ludwig Büchner, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung, Leipzig 1902
    Anmerkungen
    1) Man vergleiche meine Schrift über den Gottesbegriff, Seite 21 - 24.