p-4 Grundlegung der PsychologieArthur Kronfeld    
 
LUDWIG BINSWANGER
Einführung in die Probleme
der allgemeinen Psychologie

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"Wie wir seit Kant wissen, tragen wir selbst die Erklärbarkeit in die Natur hinein, d. h. wir formen sie  so lange  um, bis sie erklärbar wird. So setzt die Naturwissenschaft voraus, daß die Natur kausal erklärbar ist, und während sie tatsächlich die Natur begrifflich erst so umformt, daß eine erklärbare Natur aus ihr wird, glaubt sie stattdessen nur vorhandende Kausalzusammenhänge aufzudecken."

Ein Einwand, der sich gegen das logische Verfahren des Generalisierens als solches wendet, ist der, daß es nie und nimmer das  Individuum  oder überhaupt das  Individuelle  erfassen kann. Dieser Einwand ist absolut richtig, denn wir wissen zur Genüge, daß ein naturwissenschaftlicher Begriffe niemals die Individualität eines Objekts in sich aufnehmen kann. Von der Abstraktion vom Individuellen geht ja die ganze logische Methode der Naturwissenschaften aus. In der Psychologie empfinden wir das umso mehr, als wir durchdrungen sind von der  Einmaligkeit, Ein(s)heit  und  Einzigartigkeit  unserer eigenen und fremder Individualität."

"Mit dem Ausdruck  Raum  meint Bergson hauptsächlich die Betrachtung der Bewußtseinsvorgänge unter der Kategorie der Quantität (des Maßes, des starren räumlichen Nebeneinander). Für ihn ist der Raum das einzige  konsequente Milieu,  in welchem jede Heterogenität oder Qualität aufgehoben und alles in quantitative Beziehungen aufgelöst ist."


II. Die naturwissenschaftliche Darstellung
des Psychischen

Wir haben oben erwähnt, daß jede Wissenschaft die  Bearbeitung  eines  Materials  ist, und daß sich sowohl an die Bearbeitung als an das Material gesonderte Probleme knüpfen. Wir können jetzt hinzufügen, daß es noch einen dritten Problemkreis gibt, nämlich denjenigen, der sich auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Material und Bearbeitung bezieht. Indem wir statt Material auch (wirklicher) Gegenstand, statt Bearbeitung auch Methode sagen können, stehen wir also vor dem Problem des Verhältnisses zwischen (wirklichem) Gegenstand und Methode einer Wissenschaft.

Daß Gegenstand und Methode einer Wissenschaft sich wechselseitig beeinflussen, ist eine allgemein anerkannte Tatsache. Nur darüber herrschen Meinungsverschiedenheiten, ob der Gegenstand von der Methode abhängt oder umgekehrt die Methode vom Gegenstand. So sagt STUMPF: "Durchgreifende Unterschiede der Methode wurzeln doch zuletzt immer in Unterschieden der Gegenstände" ("Zur Einteilung der Wissenschaften", Seite 4). RICKERT in den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", ist anderer Ansicht: Verschiedene Gegensände, wie das Psychische und das Physische, vertragen sehr gut dieselbe (allgemeine) Methode. Im Verlauf dieser Arbeit wiederum werden wir sehen, daß und wie sowohl die Methode den Gegenstand, als auch der Gegenstand die Methode bedingt. Vom Ausdruck "Methode" werden wir jedoch im folgenden absehen, da er zu wenig bestimmt ist. Enthält er doch außer der Arbeitsweise den "Weg", die Richtung, das Ziel, den Zweck und die Aufgabe einer Wissenschaft (Vgl. JONAS COHN, Grundfragen der Psychologie, Seite 208). Halten wir uns hingegen an den Ausdruck "Arbeitsweise", so weiß ein jeder, daß wir nur die Art und Weise untersuchen wollen, wie die Psychologie ihr Material, ihren Gegenstand begrifflich "bearbeitet". Ziel und Zweck der Bearbeitung interessieren uns zunächst noch gar nicht.

Auch der Begriff der wissenschaftlichen Arbeitsweise jedoch bedarf noch der näheren Klärung. Die Methodologie unterscheidet hier zwischen wissenschaftlicher  Untersuchung  oder Forschung und wissenschaftlicher  Darstellung.  Nicht als ob hier aber zwei getrennte Arbeitsweisen vorlägen! Unter Darstellung verstehen wir mit RICKERT (Grenzen, 19) lediglich "die logische Form, die mit Notwendigkeit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit annehmen" oder "die Form, in der der die Resultate der wissenschaftlichen Untersuchung gewissermaßen niedergelegt werden". Dies Form aber bezeichnen wir als  Begriff "Begriffsbildung in unserem Sinne bildet immer einen wenigstens relativen  Abschluß  einer Untersucchung, d. h. im Begriff stellt sich das als fertig dar, was durch die Forschung geleistet ist." Mit anderen Worten: Bei der Darstellung handelt es sich um die "logische Struktur der Begriffe, mit denen eine Wissenschaft ihr Material darstellt" (Grenzen, 147), keineswegs also nur um die "sprachliche Formulierung der Gedanken"!

Wenn wir uns nun der Arbeitsweise der Psychologie zuwenden, so fragen wir nach der Art und Weise, wie die Psychologie ihr Material in notwendige, allgemeingültige Begriffe bringt, mit einem Wort nach der Begriffsbildung in der Psychologie.

Es leuchtet sofort ein, daß das Material der Psychologie im Gegensatz zu demjenigen der Naturwissenschaft von zwei grundverschiedenen Seiten aus oder nach zwei grundverschiedenen Zwecken begrifflich analysiert werden kann, wonach wir ohne weiteres zwei grundverschiedene Darstellungsweise in der Psychologie, kurz zwei grundverschiedene  Psychologien  erhalten.

Die Verschiedenheit, die wir hier im Auge haben, ist seit Beginn der Reaktion gegen die "naturwissenschaftliche" Psychologie viel erörter worden. Den klarsten und kürzesten Ausdruck dafür glauben wir aber bei SIGWART gefunden zu haben: "Die Analyse der  psychologischen Begriffe  in einfache Elemente hat zu ihrer Voraussetzung die  bewußte Beziehung unserer inneren Vorgänge und Zustände auf unser einheitliches Ich  und kann nur diejenigen gegebenen Akte und Affektionen ausscheiden wollen, welche für unser Bewußtsein nicht weiter in unterscheidbare Bestandteile zerlegbar sind." (Logik II, 4. Auflage, Seite 187)

Diese  Art der begrifflichen Bearbeitung oder Darstellung bestimmt auch ihren Gegenstand schon inhaltlich näher; nach ihr wären Gegenstand der Psychologie nicht einfach die real ablaufenden, nicht-körperlichen Vorgänge in einzelnen Individuen, sondern diese Vorgänge in ihrer  bewußten  Beziehung auf unser Ich, "unsere" inhaltlich bestimmtenn inneren Erlebnisse rein als solche; mit einem neueren Fachausdruck: unsere Erlebnisse als  "phänomenologische Einheiten".  Die Darstellung, mit der wir es hier zu tun haben, führt zu einer  Phänomenologie  der Erlebnisse, als Grundlage sowohl einer reinen Logik (HUSSERL), als auch einer empirischen, jedoch nicht-naturwissenschaftlichen Psychologie (PFÄNDER, JASPERS u. a.). Wir halten uns aber bei ihr noch nicht auf, da wir ja zuerst auf die naturwissenschaftliche Darstellungsweise der Psychologie zu sprechen kommen wollen. Die Aufgabe der letzteren wird gekennzeichnet durch das folgende Zitat, das sich an das obige unmittelbar anschließt:
    "Die Aufgaben dieser Begriffsanalyse sind genau zu unterscheiden von den Aufgaben  der Erklärung  des inneren Geschehens aus  vorausgesetzten  einfachen Elementen." Diese Aufgaben suchen nur die  Bedingungen  aufzuzeigen, "unter denen sich bestimmte psychische Phänomene entwickeln". Die Angabe dieser Bedingungen aber kann nicht dazu dienen, "die psychischen Phänomene ihrem Inhalt nach zu bestimmen, sondern ist für die Begriffsanalyse nur ein  Hilfsmittel,  die Vorstellung innerer Zustände zu beleben und festzuhalten."
Noch deutlicher wird der Unterschied beider Darstellungsweise gekennzeichnet in folgendem: "Die Aufgabe,  die inneren Vorgänge nach ihrem Werden  zu betrachten und die Gesetze zu finden, nach denen sie aus äußeren Bedingungen oder auseinander hervorgehen und sich kombinieren (9), ist aber eine wesentlich andere, als den  Inhalt dessen,  was wir in jedem Moment mit Bewußtsein als ein von uns Erlebtes auffassen, zu zerlegen und das Unterscheidbare in scharfe Begriffe zu bringen" (Sigwart II, 191)

Die Aufgabe der Erklärung aus vorausgesetzten Elementen, der Betrachtung gewisser Vorgänge nach ihrem Werden, die Aufgabe, die Gesetze für die Bedingungen des Auftretens und Auseinanderhervorgehens jener Vorgänge zu finden, sie alle stellen nun das dar, was wir mit einem Wort als die Aufgaben der  Naturwissenschaft  zu betrachten haben (10). Wir werden später bei der Besprechung des generalisierenden Verfahrens der Naturwissenschaft noch näher auf diese Darstellungsweise zu sprechen kommen; hier wollen wir uns nur gleich wieder umsehen, wie dieser Aufgabenkreis seinen Gegenstand bestimmt, auf seinen Gegenstand zurückwirkt. Gegenstand der Naturwissenschaft (zunächst einmal von den "Körpern") ist nämlich nicht die Körperwelt, "wie sie als empirische Wirklichkeit unmittelbar gegeben ist", sondern der Begriff der Körperwelt, "wie ihn die Naturwissenschaft mehr oder weniger bereits  bearbeitet  hat" (vgl. RICKERT, Grenzen 141). Oder, bestimmter ausgedrückt: "Physische Gegenstände also, oder Gegenstände der Naturwissenschaft, wodurch diese definiert wird, sind weder Erscheinungen, noch Erscheinungskomplexe", sondern  "die aus den Erscheinungen erschlossenen, in raumzeitlichen Verhältnissen angeordneten Träger gesetzlicher Veränderungen"  (STUMPF, 16). Machen wir uns das an einem Beispiel klar! In seinem bekannten Buch über "Wissenschaft und Hypothese" kommt POINCARÉ bei der Betrachtung der Theorien der modernen Physik auf die Licht- und Äthertheorie FRESNELs zu sprechen, wobei er erklärt: "Keine Theorie schien gefestigter wie diejenige FRESNELs, welche das Licht den Ätherschwingungen zuschrieb. Man zieht ihr jetzt jedoch die MAXWELL'sche Theorie vor. Soll damit gesagt sein, daß das Werk FRESNELs vergeblich war? Nein, denn das Ziel FRESNELs war nicht zu erforschen, ob es wirklich einen Äther gibt, ob seine Atome sich wirklich in dem einen oder anderen Sinn bewegen; sein Ziel war: die optischen Erscheinungen vorauszusehen." Die physikalischen Theorien drücken lediglich  Gleichungen  aus, die richtig bleiben, solange die in ihnen ausgesprochenen Beziehungen der Wirklichkeit entsprechen. "Sie lehren uns vorher wie nachher, daß eine gewisse Beziehung zwischen irgendeinem Etwas und irgendeinem anderen Etwas besteht; nur daß dieses Etwas früher  Bewegung  genannt wurde und jetzt  elektrischer Strom  heißt" (Wissenschaft und Hypothese, Seite 161f).

Ich glaube, hieraus wird klar, was es bedeutet, die Gegenstände der Naturwissenschaft lediglich als die Träger gesetzlicher Veränderungen zu bezeichnen, und was es bedeutet, auch die Gegenstände der Psychologie in diesem Sinne aufzufassen. Gegenstand der Psychologie sind dann nicht mehr die psychischen Vorgänge, so wie sie uns "unmittelbar" gegeben sind, sondern die psychischen Vorgänge, so wie sie eine nach naturwissenschaftlicher Darstellungsweise verfahrende Psychologie bereits begrifflich bearbeitet hat; also z. B. "die Empfindungen", "die Vorstellungen" usw.. Wenn STANLEY HALL ("Die Begründer der modernen Psychologie") als die "Begründer der modernen Psychologie" LOTZE und FECHNER, HELMHOLTZ und WUNDT nennt, so zielt er dabei auf die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Methode in der Psychologie ab. Diese reicht in ihren Anfängen weit über jene Autoren hinaus; ich brauche nur an HOBBES und die englischen Assoziationspsychologen zu erinnern, an HUME und HARTLEY, später an JAMES MILL und JOHN STUART MILL (von dem bekanntlich der Ausdruck  mental chemistry  stammt), an SPENCER und JAMES; in Frankreich an TAINE, in Deutschland an WOLFF, WAITZ, HERBART und seine Schule, an ZIEHEN und neuerdings vor allem an BLEULER (vgl. seine "Naturgeschichte der Seele und ihres Bewußtwerdens"). Ihnen allen verdanken wir, daß die Existenzberechtigung einer naturwissenschaftlichen Psychologie heute vernünftigerweise nicht mehr bestritten werden kann.

Die Identifizierung der Methoden der Körperwissenschaften und der Psychologie, die dazu führt, daß man von einer Naturwissenschaft der Körper und einer Naturwissenschaft der seelischen Gebilde reden kann, wird nun aber merkwürdigerweise gerade von eine Autor bekämpft, den wir oben mit Recht als einen der Begründer der modernen naturwissenschaftlichen Psychologie bezeichnet gefunden haben, nämlich von WUNDT. So sehr WUNDT empirischer Psychologe ist, so sehr er an der Spitze derjenigen steht, die ganze Erklärungsprinzipien aus der Naturwissenschaft auf die Psychologie übertragen haben (ich erinnere nur an das Prinzip der Kausalgesetzlichkeit und dasjenige der Erhaltung der Energie), so wenig darf er doch als Verfechter der naturwissenschaftlichen Psychologie vom rein methodologischen Standpunkt aus betrachtet werden; denn der mittelbaren oder begrifflichen Erkenntnisweise der Naturwissenschaft stellt er die unmittelbare oder anschauliche Erkenntnisweise der Psychologie gegenüber. Er wird hierin unterstützt von DILTHEY, der die Objekte der "inneren Wahrnehmung" ebenfalls als unmittelbar gegeben bezeichnet (Seite 1340). Beide Autoren werden zu dieser Ansicht geführt teil durch erkenntnistheoretische Erwägungen, wie wir sie schon oben kennengelernt haben, teils durch das Bestreben, die Psychologie zur Grundlage der Geisteswissenschaften zu machen. Für WUNDT ist die Psychologie nicht die Naturwissenschaft von den seelischen Tatsachen, sondern die Wissenschaft  der unmittelbaren Erfahrung.  Nicht in Bezug auf das Material, auf "die ansich einheitliche Erfahrung", anerkennt er eine "prinzipielle Verschiedenheit der psychologischen und naturwissenschaftlichen Methoden", wohl aber in Bezug auf die Methode im engeren Sinne, auf die wissenschaftliche Darstellungsweise (vgl. "Grundriß der Psychologie", § 1 und § 2).

Wir haben schon oben mit RICKERT aus erkenntnistheoretischen Gründen WUNDTs Auffassung abgelehnt und lassen uns durch sie nicht daran irremachen, daß es in der Psychologie eine Methode gibt, die man auch hinsichtlich der Darstellungsweise als eine naturwissenschaftliche bezeichnen darf. Es gibt demnach eine naturwissenschaftliche Psychologie im strengsten Sinne des Wortes, nenne man sie nun  erklärende  oder  konstruktive  Psychologie (DILTHEY) oder, nach der rein logischen Seite,  generalisierende  Psychologie (RICKERT). Wir sehen in ihr nicht  die  Psychologie, sondern  eine Seite, eine Aufgabe  der Psychologie. Diese Aufgabe ist diejenige aller Naturwissenschaft. Wir wollen sie noch einmal präzisieren, diesmal mit den Worten WINDELBANDs: "Die Naturwissenschaft zerlegt die Wahrnehmungsgebilde in ihre Elemente und isoliert diese durch reale oder ideale Teilung, durch Experiment oder Analyse, um das Verhalten der einzelnen in ihrer Gesetzmäßigkeit zu studieren. Das tun Physik, Chemie und Psychologie jeweils in ihrer Weise. Deshalb aber erfolgt die Rekonstruktion der Erfahrung in diesen Disziplinen nach dem Prinzip der  mechanischen Kausalität,  d. h. die komplexen physischen und psychischen Gebilde werden so begriffen, daß das Ganze als das Ergebnis seiner Teile und durchgängig durch sie bestimmt angesehen wird."

Aber auch hiermit ist unserer späteren Aufgabe noch nicht Genüge getan. Wir müssen die naturwissenschaftliche Darstellungsweise der psychischen Vorgänge und die nähere Bestimmung des Gegenstandes der Psychologie durch diese Darstellungsweise noch im einzelnen verfolgen. Wir folgen dabei den Ausführungen RICKERTs über  "die generalisierende Erkenntnis des Seelenlebens"  in seinen "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" (Seite 147f):

Auch RICKERT setzt das psychologische Material bereits als "wissenschaftlich zugänglich" voraus und frägt nur nach der logischen Struktur der Begriffe, mit denen die Psychologie dieses Material darstellt. (Wie die Psychologie sich ihr Material, "die psychischen Vorgänge", inbesondere in fremden Individuen, wissenschaftlich zugänglich macht, beschäftigt uns, wie erwähnt, erst später.) Daß "Untersuchung" und "Darstellung" gerade in der Psychologie aber faktisch nocht weniger als anderswo geschieden werden können, weiß natürlich RICKERT sehr gut; das hindert ihn aber nicht, sie begrifflich scharf zu trennen. Er befürwortet ferner keinesfalls eine "unkritische Übertragung" der Methode der Naturwissenschaft auf die der Psychologie, da die Eigenarten der Methoden im  einzelnen  sich "immer an den Eigenarten des zu bearbeitenden Materials zu entwickeln haben"; hingegen frägt er (und der Beantwortung dieser Frage ist das ganze Buch gewidmet), ob es nicht einen viel tieferen prinzipiellen Gegensatz der wissenschaftlichen Arbeit gibt als den Unterschied zwischen der Begriffsbildung in der Psychologie und derjenigen in den Körperwissenschaften (11)

RICKERT stellt nun fest, daß die seelischen Voränge ebenso wie die physischen in einer extensiv und "intensiv" unübersehbaren anschaulichen Mannigfaltigkeit bestehen, ein "heterogenes Kontinuum" darstellen, das die Psychologie  "in Begriffe zu bringen"  die Aufgabe hat. Dabei ist aber zu beherzigen, daß, wie überall, so auch hier, der "Inhalt der wissenschaftlichen Begriffe" streng zu scheiden ist vom "Inhalt der wirklichen Bestandteile des Materials, für den die Begriffe  gelten  sollen"; also daß zu scheiden sind die Begriffselemente und die realen Bestandteile des jeweiligen Materials. Diese Scheidung ist stets im Auge zu behalten.

Wenn es sich demnach ergibt, daß die Psychologie ebenso wie die Körperwissenschaften das ihr zur Bearbeitung vorliegende Material in Begriffe zu bringen hat, so ist damit nach der neueren Begriffslehre (12) gesagt, daß eine unmittelbare oder anschauliche Erkenntnisweise in der Psychologie ebensowenig das Ziel ist wie in den Körperwissenschaften. Damit ist aber nicht gesagt, daß es eine anschauliche Reproduktion körperlicher und seelischer Vorgänge überhaupt nicht gibt; aber wissenschaftliche Psychologie in dem Sinne, daß sie "das gesamte Seelenleben" in seiner "ganzen Inhaltlichkeit" darstellen soll, ist "ohne begriffliche Umformung, welche die Psychologie vorzunehmen hat, sobald sie eine  Wissenschaft vom gesamten Seelenleben sein  will, kann nur eine generalisierende sein, sobald einmal zugegeben ist, daß sie es mit einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit seelischer Vorgänge zu tun hat. Selbst wenn es sich nur darum handelt, "die Totalität des eigenen Seelenlebens" in eine Theorie zu bringen, "so müssen schon bei der primitven Beschreibung die allgemeinen  Wortbedeutungen  so gewählt werden, daß sie die gegebene Anschauung generalisierend vereinfachen". Diese Wortbedeutungen müssen dann "ebenso wie in den Körperwissenschaften durch eine Umsetzung in die Form von Urteilen zu genau bestimmten Begriffen gemacht werden." RICKERT verkennt keineswegs "die Schwierigkeiten einer Objektivierung des psychischen Materials" und die daraus folgende Schwierigkeit, "die psychologischen Begriffe scharf gegeneinander abzugrenzen", und auch er hält es für "eine wesentliche Aufgabe der Psychologie, zunächst einmal durch Begriffsbestimmung eine möglichst eindeutige Terminologie zu schaffen"; aber aus all dem folgt noch nicht, daß die Art dieser Begriffsbildung von der körperwissenschaftlichen in ihrer logischen Struktur prinzipiell verschieden ist.

Schwieriger liegen die Verhältnisse, wenn wir auf das dritte Moment des körperwissenschaftlichen Begriffs, "die unbedingt allgemeine  Geltung",  stoßen. Eine solche ist nur durch "Unterordnung unter allgemeine Gesetzesbegriffe" zu erlangen, und gerade dies ist immer wieder bestritten worden. Wenn dieser Einspruch berechtigt wäre, so würden, wie RICKERT bemerkt, die "psychologischen Begriffe dann zwar nicht unbedingt allgemein, wie die Gesetzesbegriffe, wohl aber in dem Sinn, wie die Begriffe der deskriptiven Zoologie oder Botanik  gelten,  nämlich mit Rücksicht auf den Zweck, zu dem sie gebildet sind, "das ganze Seelenleben in ein geschlossenes Begriffssystem einzufangen." Aber selbst wenn psychologische Gesetzesbegriffe überhaupt nicht möglich sein sollten, so wäre die Geltung psychologischer Begriffe doch eine allgemeinere und den Körperwissenschaften ähnlichere als diejenige der Begriffe der Zoologie und Botanik. Denn allein dadurch, daß der Psychologie sein Begriffssystem nur "an einem kleinen Teil des Seelenlebens", nämlich seinem eigenen, bilden muß, dieses Begriffssystem aber doch gelten soll für eine Mannigfaltigkeit, "die niemals direkt zu beobachten ist", sucht auch die Psychologie zur Allgemeinheit und Bestimmtheit ihrer Begriffe eine unbedingte Geltung hinzuzufügen, und das heißt nichts anderes, als daß der Gehalt der psychologischen Begriffe dem Gehalt von mehr als empirisch allgemeinen Urteilen "logisch äquivalent sein muß".

Wenn somit nachgewiesen ist, daß sowohl die Ziele der psychologischen Begriffsbildung als auch "die Mittel, mit denen sie ihre Zwecke zu erreichen sucht", im allgemeinen dieselben sind wie diejenigen der Körperwissenschaften (der Naturwissenschaft im üblichen Sinn), so bleibt noch die Frage, wie es in der Psychologie mit dem Ideal einer abschließenden Theorie bestellt ist. Da ist dann zu sagen, daß die Psychologie "noch zu wenig ausgebaut ist, um eine allgemeingültige logische Erörterung ihrer letzten Ziele zu ermöglichen"; jedoch hat das mit "sachlichen Eigentümlichkeiten des Psychischen" zu tun und bezieht sich nicht auf die Frage der logischen Struktur einer solchen abschließenden Theorie.

Auf die Versuche, "das psychische Leben in einen Zusammenhang mit den körperlichen Vorgängen, d. h. mit Hilfe physiologischer Theorien in ein geschlossenes Begriffssystem zu bringen", geht RICKERT nicht ein, weil solche Versuche ohne weiteres das Vorhandensein einer nach naturwissenschaftlicher oder generalisierender Methode gebildeten psychologischen Begriffsbildung erweisen (13).  Wir  brauchen nicht darauf einzugehen, weil wir eine Verquickung psychologischer mit physiologischen Begriffen als außerhalb des Gebietes der Psychologie liegend und mit LIPPS als ganz unstatthaft für eine Wissenschaft, die  Psychologie  heißen will, erachten. Umso mehr interessiert uns die Frage nach der Möglichkeit, das psychische Sein  ohne  Rücksicht auf seine Abhängigkeit von der Gesetzmäßigkeit des physischen Seins in ein Begriffssystem zu bringen. Denn gerade  diese  Möglichkeit wird bestritten, wenn man der Psychologie die Möglichkeit von Theorien und Gesetzesbildung bestreitet.

Eine solche Möglichkeit hat den Versuch zur Grundlage, "das gesamte Seelenleben unter  einen  einheitlichen Begriff zu bringen, ebenso wie die letzte Naturwissenschaft die Körperwelt unter den Begriff des Mechanismus zu bringen versucht". Wenn sich  ein  letzter Begriff dieser Art nicht finden läßt, wie es tatsächlich der Fall ist, "so daß sich der Parallelismus im Prinzip als  undurchführbar  erweist", so wird man doch zu "Elementen", d. h. "einfachen Bestandteilen des Seelenlebens" zurückgreifen und deren Zahl so klein wie möglich zu wählen. Psychologische Theorien von solcher Struktur kennen wir, z. B. diejenige, die alles Seelenleben als aus  "Empfindungen"  bestehend denkt, und deren Beziehungen zueinander unter den Begriff der Assoziation fallen sollen. Aber auch wenn diese "Assoziationspsychologie" heutzutage immer mehr an Boden verliert, existieren doch noch andere, ähnlich gebildete psychologische Theorien, zu denen auch diejenigen gehören, welche "Gefühle", "Willensakge" und "Vorstellungen" oder nur Vorstellungen und Gefühle als "letzte" Arten psychischer Vorgänge nebeneinander gelten lassen. Eine solche Psychologie steht dann auf dem Standpunkt, den die Physik einnimmt, "solange sie Licht, Schall, Elektrizität usw. nicht unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen vermag".

Haben wir es also hier mit keinem prinzipiellen Unterschied zwischen der Begriffsbildung einer reinen Psychologie und derjenigen der Körperwissenschaft zu tun, so besteht ein solcher sicherlich doch darin, daß es der Psychologie wohl auf immer verwehrt sein wird, nach Analogie der Naturwissenschaft jede qualitative Mannigfaltigkeit einfacher Dinge" beizubehalten. Jedoch ändert auch dieser Unterschied nichts an der Zuteilung der Psychologie zu den Naturwissenschaften; denn wenn das Vorhandensein einer "quantifizierenden Begriffsbildung" als das entscheidende Kriterium für die Frage anzusehen wäre, ob eine Wissenschaft im logischen Sinne Naturwissenschaft ist, so dürfte eine große Anzahl von Körperwissenschaften auch nicht mehr zur Naturwissenschaft gerechnet werden, wie ohne weiteres ersichtlich ist.

Eine wichtige Frage bleibt noch die nach dem  Zusammenhang,  in dem das Psychische auftritt, und die nach dem Gegensatz zu den Körperwissenschaften, der  hieraus  noch abzuleiten ist. RICKERT sucht nachzuweisen, daß es sich hier um eine "allgemeine Einheitsform" handelt, "die überall zu konstatieren ist, und eine solche weist nicht nur das Psychische auf". Nur muß man bei der ganzen Frage darauf hinweisen, "daß die Struktur der psychologischen Begriffe eventuell mehr der der biologischen als der der physikalischen Wissenschaft verwandt ist"; denn auch die Biologie strebt nach einem Begriffssystem, "das für alle verschiedenen biologischen Einheiten gilt". Auch ist nicht zu vergessen, daß es gerade in der Psychologie Forschungszweige gibt, "die einer allumfassenden Theorie des Seelenlebens mehr oder weniger fernstehen", und "die Mannigfaltigkeit eines Teils des Seelenlebens für sich in ein spezielles Begriffssystem zu bringen" bestrebt sind. Aber auch das hat seinen guten Sinn und kommt auch in vielen Naturwissenschaften vor. "Das für besondere Gebiete Gefundene muß gültig bleiben, wie sich schließlich auch die umfassendste Theorie gestalten mag." (14)

Mit all diesen letzten Argumenten kann wohl nachgewiesen werden, daß sich die Psychologie "von den höchsten Zielen der theoretischen Physik" trennt, "nicht aber von den Zielen  der  Naturwissenschaften, die niemals in der theoretischen Physik aufzugehen vermögen, wie z. B. die Biologie". Daran kann auch der Gegensatz zwischen "Erklären" und "Beschreiben" nichts ändern, da er sich "als relativ herausstellt". (Hierin stimmt RICKERT mit NATORP, MÜNSTERBERG, SCHELER u. a. überein, während DILTHEY seine  beschreibende  Psychologie scharf von der  erklärenden  Psychologie trennt.)

Hier haben wir nun einen kurzen Abriß des begrifflichen Umformungsprozesses vor uns, den sich die "anschauliche Wirklichkeit" der seelischen "Welt" ebenso gefallen lassen muß, wie die Körperwelt, wenn sie in die Form des naturwissenschaftlichen Begriffssystems eingehen soll. Schon beginnend bei der primitiven  Beschreibung,  entfernt sich dieser Prozeß umso mehr vom heterogenen Kontinuum der anschaulichen Mannigfaltigkeit, jeweiter er von der allgemeinen  Wortbedeutung  durch die Form des  Urteils  zu bestimmten  Begriffen,  von diesen zur unbedingten Geltung des  Gesetzes  fortschreitet. In den "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", insbesondere im ersten Kapitel: "Die begriffliche Erkenntnis der Körperwelt", hat RICKERT diesen begrifflichen Umformungsprozeß, von dem wir hier nur einen dürftigen Extrakt geben konnten, meisterhaft entwickelt. Wenn auch seine Anschauungen im einzelnen nicht oder noch nicht zur allgemeinen Anerkennung durchgedrungen sind, so bleibt ihm doch das Verdienst, die "Kluft, die zwischen der Wirklichkeit und der Naturwissenschaft besteht", in Deutschland wenigstens, am eingehendsten und nachdrücklichsten aufgezeigt und betont zu haben. In Frankreich ist ihm darin HENRI BERGSON vorausgegangen, von dessen scharfsinnigen Ausführungen ihm jedoch "so gut wie nichts" bekannt war, als er an dem genannten Werk schrieb (vgl. 2. Auflage, Einleitung, Seite IX). Beide Forscher liegen im Kampf um die Ausrottung eines wissenschaftlichen Vorurteils, des "Glaubens" nämlich, "die Naturwissenschaft sei in der Lage, mit ihren Begrifffen die Wirklichkeit selbst, in der wir leben und handeln, zu erfassen" (ebd.); daß RICKERT und BERGSON mit dieser Grundanschauung nicht allein stehen, haben wir bereits gesehen. An SIGWART, STUMPF, POINCARÉ, DILTHEY, WINDELBAND schließen sich jedoch noch viele andere Namen an. Hier wollen wir nur noch MÜNSTERBERG erwähnen, der dem Problem gerade in seiner Anwendung auf die Psychologie den schärfsten Ausdruck gegeben hat, der uns begegnet ist. MÜNSTERBERG sieht ebenfalls schon in der  Beschreibung  den Keim der  Konstruktion.  Was DILTHEY erklärende oder konstruktive Psychologie nennt, um sie von seiner "beschreibenden oder zergliedernden" Psychologie abzutrennen, nennt MÜNSTERBERG (Grundzüge der Psychologie I, Seite 30) daher folgerichtig auch beschreibende Psychologie. "Alle Beschreibung fällt prinzipiell der konstruktiven Psychologie zu und läßt sich nicht von der Erklärung trennen"; in der "anti-konstruktiven" Psychologie (DILTHEYs u. a.) "geibt es nichts zu beschreiben, sondern nur zu verstehen". Auf das Verstehen kommen wir später ausführlich zu sprechen, hier bleiben wir beim Beschreiben und Erklären. Wie SIGWART und RICKERT an die Spitze der naturwissenschaftlichen Beschreibung die begriffliche Auflösung "des Geschehens" in vorausgesetzte einfache Elemente stellen, so kann nach MÜNSTERBERG die Psychologie "ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn aller Bewußtseinsinhalt sich aus Elementen zusammensetzt" (Seite 332). Diese Auflösung macht die naturwissenschaftliche Erklärung ja erst möglich; denn wie wir seit KANT wissen, tragen wir selbst die Erklärbarkeit in die Natur hinein, d. h. wir formen sie so "lange" um, bis sie erklärbar wird. "So setzt die Naturwissenschaft voraus, daß die Natur kausal erklärbar ist, und während sie tatsächlich die Natur begrifflich erst so umformt, daß eine erklärbare Natur aus ihr wird, glaubt sie stattdessen nur vorhandende Kausalzusammenhänge aufzudecken. Genau so denkt und arbeitet die beschreibende (= naturwissenschaftliche, generalisierende, erklärende oder konstruktive / P. H.) Psychologie" (Seite 332). Auch die Psychologie hat die Aufgabe, die psychischen Objekte begrifflich  umzuformen,  und sie tut dies auch, obwohl sie selbst glaubt, "wirklich Vorhandenes aufzudecken". Sie darf sich auch nicht schrecken lassen durch die Einwendungen des "naiven Bewußtseins". Solche Einwände stehen auf demselben Niveau wie eine Polemik gegen den physikalischen Atomismus, "dem ja auch das Bedenken gegenübersteht, daß die Atome nicht farbig und tönend und duftend sind und somit nicht wahr sein können. Solange die Atome noch klingen und duften, hat der Physiker seine Aufgabe nicht erfüllt; erst wenn ihr Wirklichkeitsverhalten abgestreift ist, tritt die physikalische Wahrheit hervor. In gleicher Weise hat der psychologische Wille in der Tat nichts zu wollen. Das psychologische Bearbeitungsprodukt soll wahr, aber nicht wirklich sein.  Der psychologische Wille, der noch will, ist nicht besser als das physikalische Atom, das noch duftet und leuchtet"  (Seite 332).

Hier haben wir das naturwissenschaftliche Ideal der Psychologie, wir können auch sagen, das Ideal einer naturwissenschaftlichen Psychologie, vor uns. Für unsere Arbeit bedeutet dieses Ideal keineswegs Ziel und Ende, sondern Ausgangspunkt und Anfang.


Zweites Kapitel
Die sachlichen Eigentümlichkeiten
des Psychischen

Gegen eine Psychologie, welche ihr Material wie physische Objekte oder Dinge behandelt, welche diese Objekte nach Analogie der Körperwissenschaften begrifflich umformt, so daß die Anschauung immer mehr verloren geht, und welche dann aus jenen Begriffen Gesetze und Theorien zum Zweck der Erklärung ableitet, sind eine schier unübersehbare Menge von Einwänden erhoben worden. Da diese Einwände vorwiegend von den "sachlichen Eigentümlichkeiten des Psychischen" (15) ausgehen, rechtfertigt sich die Überschrift dieses Kapitels.

Wenn man das begrifflich generalisierende Verfahren als Grundlage einer psychologischen Wissenschaft nicht gelten lassen will, denkt man mehr oder weniger bewußt an die  Kluft,  die durch ein solches Verfahren zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit entsteht. Man sagt, durch ein solches begrifflich verallgemeinerndes und vereinfachendes Verfahren treffe man das Psychische nicht, gelange man zu keiner "adäquaten Wiedergabe" desselben, man "töte" das Psychische oder "bringe es zur Erstarrung" usw. Wer die neuere, hier oftmals gestreifte Begriffslehre kennt, muß dem durchaus zustimmen. Wir erinnern uns an die strenge Unterscheidung zwischen dem "Inhalt der wissenschaftlichen Begriffe" und dem Inhalt der "wirklichen Bestandteile des Materials, für das die Begriffe gelten sollen", kurz an die ganze "Umformung", welche das Material durch die begriffliche Bearbeitung erleidet. "Wissenschaften entfernen sich im Ganzen immer vom Leben und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück", dessen war sich schon GOETHE klar bewußt ("Maximen und Reflexionen", Bd. 39, Seite 78). Warum wetterte er so gegen die Physiker und Mathematiker? Weil ihre Methode nicht "dem Anschauen gemäß" sei, weil sie "das Anschauen in Begriffe, die Begriffe in Worte verwandeln" und mit diesen Worten, "als wären's Gegenstände", umgehen und verfahren (vgl. "Entwurf einer Farbenlehre", Bd. 40, Seite 77). Und warum war ihm NEWTON so verhaßt? Weil man seinen "Irrtum" nur im Konversationslexikon zu lesen brauchte, "um die Farbe fürs ganze Leben los zu sein" ("Maximen und Reflexionen", Bd. 39, Seite 92). Nur wer an einem, heute wohl kaum mehr ernst zu nehmenden, Begriffsrealismus festhält, kann noch glauben, die Naturwissenschaft spiegle die Wirklichkeit wider.

Wenn man nun das naturwissenschaftlich-generalisierende Verfahren für die Psychologie ablehnt, so denkt man in erster Linie an die sachlichen oder inhaltlichen Eigentümlichkeiten des Psychischen und etwa auch an seine wissenschaftliche  Erforschung:  Der  "freie  und  schöpferische"  Charakter des Psychischen, sein konstantes Auftreten in einem kontinuierlichen Zusammenhang, seine  Nicht-Identifizierbarkeit Nicht-Quantifizierbarkeit, Nicht-Objektivierbarkeit,  seine  Nicht- Erklärbarkeit,  kurz seine  Nichtzugehörigkeit zur "Natur"  werden immer und immer wieder betont. Es ist schwer, einige Übersicht über alle diese Argumente zu erlangen; wir müssen es aber trotzdem versuchen, denn es liegt uns daran, zu wissen, was wir tun und was wir erreichen, wenn wir in der Psychologie generalisierend verfahren, und insbesondere zu wissen, was wir dabei  nicht  tun und  nicht  erreichen.


I. Die "inhaltliche Wirklichkeit" des Seelenlebens (DILTHEY)
und das generalisierende Verfahren

"Sonderbar, daß das Innere des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden ist. Die sogenannte Psychologie gehört auch zu den Larven, die die Stellen im Heiligtum eingenommen haben, wo echte Götterbilder stehen sollten." Dieser schmerzliche Ausruf HARDENBERGs (NOVALIS, Schriften, Bd. 2, Seite 190) wird dem Sinn nach auch heute noch der begrifflich abstrahierenden und generalisierenden Psychologie entgegengeschleudert. Geistlos und dürftig wird sie auch heute noch gescholten, unfähig, "die mächtige inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens" zu umspannen und seine Eigenart zu erfassen.

WILHELM DILTHEY, den wir hier im Auge haben, hat schon im Jahre 1865 im Anschluß an die Bestrebungen der romantischen Naturphilosophie einer "realen" Psychologie oder  Realpsychologie  das Wort geredet, "welche den  Inhalt  unserer Seele selber zu ordnen, in seinen Zusammenhängen aufzufassen, soweit möglich zu erklären unternimmt" ("Das Erlebnis und die Dichtung", 4. Auflage, Seite 307). Wir finden diese Auffassung nicht zufällig in seinem NOVALIS ausgesprochen; denn NOVALIS selbst gebraucht den Ausdruck "realer" Psychologe (BAADER sei ein realer Psychologe, welcher "die echte psychologische Sprache" spreche. NOVALIS, Schriften, Bd. 3, Seite 35). Später hat DILTHEY seine Auffassung von der Psychologie oder besser seine Forderung an die Psychologie, die er nunmehr im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen oder "konstruktiven" Psychologie "beschreibende und zergliedernde" Psychologie nennt, ausführlicher dargelegt. Seine "Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie" (1894) sind seither berühmt geworden.

DILTHEY fordert hier eine Psychologie, die "in das Netz ihrer Beschreibungen einzufangen vermöchte, was diese Dichter und Schriftsteller mehr enthalten als die bisherige Seelenlehre" (Seite 1323). Er anerkennt die "inhaltliche Überlegenheit" der "reflektierenden Literatur" über die damalige Psychologie, verkennt aber natürlich nicht deren "Unvermögen zur systematischen Darstellung" (Seite 1322). Daher erwächst der neuen beschreibenden und zergliedernden Psychologie, deren "Gang ein analytischer, nicht ein konstruktiver" ist, die Aufgabe, die inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens  systematisch  zu bearbeiten. Die Psychologie hat sich "dem intuitiven Verständnis der ganzen Zusammenhänge" "verallgemeinernd und abstrakt ebenfalls zu nähern" (Seite 1323). Wir werden auf diese Auffassung noch zurückkommen, bemerken aber schon hier, daß also auch diese Psychologie nicht ohne ein Verallgemeinern und Abstrahieren auskommt.

Denselben Gedankengang finden wir bei JASPERS, nur auch angewandt auf die Pathopsychologie. Seine "verstehende Psychologie" deckt sich in ihrer Aufgabe mit DILTHEYs beschreibender Psychologie. Auch er findet "das Beste" an psychologischen Erkenntnissen nicht in der bisherigen wissenschaftlichen Psychologie, sondern außerhalb derselben, "in den Schriften der bedeutenden philosophischen Essayisten" (der Franzosen und vor allem NIETZSCHEs); auch er beklagt aber, daß man nirgends diese Erkenntnisse zusammenhängend und  systematisch  bearbeitet habe.

Wir wollen diese "inhaltliche Wirklichkeit" des Seelenlebens, die wir bei den Dichtern und Schriftstellern viel besser und umfangreicher behandelt finden als bei den wissenschaftlichen Psychologen, hier noch nicht näher ins Auge fassen, sondern uns nur fragen, was denn mit jenem Beiwort "inhaltlich" gemeint sei. Bis jetzt war nur immer die Rede von realen psychischen Vorgängen, von einer seelischen Wirklichkeit im Gegensatz zur körperlichen Wirklichkeit. Was fügt denn das Beiwort "inhaltlich" zu jener Wirklichkeit noch hinzu?

Bisher haben wir tatsächlich das Seelenleben nur von  einer  Seite betrachtet. Wir haben von der Methode gesprochen, die gestattet, das Seelische nach Analogie des Körperlichen begrifflich zu analysieren, einfache Begriffselemente aufzusuchen, diese zu kombinieren, um schließlich zu allgemeinen Gesetzen über die Art und Weise des Entstehens und Vergehens, der Zusammensetzung und Trennung seelischen Geschehens zu gelangen. Wir schlossen uns dabei der Auffassung RICKERTs an, daß diese Methode nur eine  generalisierende  sein kann. Was diese Methode leisten kann, das ist, wie wir gesehen haben, nichts anderes, als daß sie uns die  Bedingungen  aufzuzeigen vermag, nach welchen sich das seelische Geschehen aus  vorausgesetzten  einfachen Elementen  entwickelt,  d. h. aus Elementen, die wir begrifflich konstruieren, nicht etwa als solche in unserem Bewußtsein vorfinden oder erleben. Wenn wir das Gefühl einer Dissonanz erleben, erleben wir nicht einen "gemischten Ton", sondern einen nicht weiter reduzierbaren inneren Vorgang, den wir nur sprachlich so und so schildern können. Die genannte Methode aber frägt nach den Bedingungen, von denen das Zustandekommen jenes inneren Vorgangs abhängt, also im obigen Fall nach den Tonempfindungen, die vorausgesetzt werden müssen, damit das Gefühl der Dissonanz  entsteht.  Aber ebensowenig wie wir in der Vorstellung "weiß" die einzelnen Spektralfarben erleben, erleben wir in einem Gefühl der Dissonanz die einzelnen Töne. Der Ausdruck "inhaltliche Wirklichkeit des Seelenlebens" meint nun aber gerade den Inhalt dessen, was wir als ein von uns bewußt  Erlebtes  innerlich  wahrnehmen  (SIGWART) oder, so müssen wir hinzufügen, als ein von uns oder anderen Erlebtes  erschließen.  Er meint den Inhalt unserer Freuden und unserer Schmerzen, unserer Phantasien und unseres Denkens, unserer Bestrebungen und unserer Wünsche, unserer Erinnerungen und unserer Pläne usw. Diese Inhalte unseres seelischen Erlebens zu erfassen, ist die generalisierende Psychologie im bisherigen Sinn tatsächlich nicht imstande. Sie wird zu einer "Psychologie ohne Seele", zu einer "Larve anstelle eines echten Götterbildes". Daher sehen sie die beschreibende und zergliedernde Psychologie, die Akt- und Funktionspsychologie und die Phänomenologie am Werk, den Platz auszufüllen, den die konstruktive, erklärende oder naturwissenschaftliche Psychologie offen läßt. Auf diese Unterscheidung näher einzugehen, wird aber erst im nächsten Kapitel der Ort sein.

Ein anderer Einwand, der sich gegen das logische Verfahren des Generalisierens als solches wendet, ist der, daß es nie und nimmer das  Individuum  oder überhaupt das  Individuelle  erfassen kann. Dieser Einwand ist absolut richtig, denn wir wissen zur Genüge, daß ein naturwissenschaftlicher Begriffe niemals "die Individualität eines Objekts in sich aufnehmen" kann (RICKERT). Von der Abstraktion vom Individuellen geht ja die ganze logische Methode der Naturwissenschaften aus (vgl. RICKERT, Grenzen, inbes. Kap. 1). In der Psychologie empfinden wir das umso mehr, als wir durchdrungen sind von der  Einmaligkeit, Ein(s)heit  und  Einzigartigkeit  unserer eigenen und fremder Individualität. Eine Psychologie, die das Individuum als Ganzes, eben als In-dividuum nicht in das Gebiet ihrer Darstellung aufzunehmen vermag, scheint uns leicht als wenig leistungsfähig. Wir muten ihr aber mit dieser Forderung tatsächhlich eine Leistung zu, welche ihrem  Wesen  als naturwissenschaftlicher Psychologie widerspricht, und welche wir bisher nur von der historischen Biographie, überhaupt von der Geschichte, und von der Kunst erwarten durften.

Das Individuelle im Sinne des Einen, Einmaligen, Einzigartigen RICKERTs ist lediglich der Ausgangspunkt, von welchem die Naturwissenschaft  ausgeht,  um zu ihren allgemeinen Begriffen zu gelangen. Auf diesem Weg wird es aber sehr rasch seiner Individualität im obigen Sinne entkleidet, oder mit anderen Worten: vom  Inhalt  wird es immer mehr zur bloßen  Form.  Das sehen wir z. B. deutlich an dem Ausdruck: "individuelle Differenzen" (WILLIAM STERN). Es handelt sich hier um Verschiedenheiten  an  den Individuen, um Merkmale, die vom Individuum losgelöst und soweit verallgemeinert werden, bis sie mit anderen Merkmalen verglichen werden können. Das einzelne Merkmal, z. B. das sanguinische Temperament oder das visuelle Gedächtnis, wird so zu einer bestimmten  Form  eines individuellen Daseins oder Ablaufs, und ist selbst, als Begriffsinhalt, nichts Individuelles mehr. Seit langem hat man, insbesondere auch in der Geschichtsphilosophie, von solchen "individuellen Formen" gesprochen. Beweis dafür sein eine Stelle bei WILHELM von HUMBOLDT, Gesammelte Schriften, Berlin 1913, die deutlich zeigt, wie auch aus dem einmaligen Lauf der Weltgeschichte Merkmale abgesondert werden können, um Begriffsinhalt einer generalisierenden oder naturwissenschaftlichen Darstellung zu werden: "Selbst wenn die Materie des Handelns dieselbe wäre, so wird dasselbe verschieden durch die individuelle Form, die nur eben hinreichende oder überschießende Kraft, die Leichtigkeit oder Anstrengung, und alle die unnennbaren kleinen Bestimmungen, welche das Gepräge der Individualität ausmachen und die man in jedem Augenblick des täglichen Lebens bemerkt. Eben diese aber gewinnen, als Charaktere von Nationen und Zeitaltern, auch eine weltgeschichtliche Wichtigkeit, und die Betrachtung der Geschichte der Griechen, Deutschen, Franzosen und Engländer zeigt z. B. deutlich, welchen entscheidenden Einfluß nur die Verschiedenheit der Weile und Stetigkeit in ihrem Gedanken- und Empfindungsgang auf ihre eigenen und die Schicksale der Welt gehabt hat" (Betrachtungen über die bewegenden Ursachen in der Weltgeschichte, 1818, III, Seite 365). Wir sehen, hier wird das Individuum aufgelöst in eine  Summe  "unnennbar kleiner Bestimmungen" oder Formen, kleinster Teilchen also, die nur durch das Ausmaß ihrer Kraft, Schnelligkeit oder Beweglichkeit dem Ganzen ein besonderes Gepräge geben, ähnlich wie Zahl, Kraft, Geschwindigkeit der Atome dem bestimmten Molekül das Gepräge geben. Durch die Unterordnung möglich vieler einzelner Merkmale unter formale, räumliche und zeitliche Allgemeinbegriffe wie Bewegung, Dauer, Kraft usw. kommt man so weit, das Individuum immer mehr zu "entindividualisieren", d. h. es aus einem einmaligen unteilbaren Qualitativen in eine Summe quantitativ abgestufter Teilchen ("Verlaufsformen") umzuwandeln. Das "individuelle Gepräge" besteht dann nur noch in einem durchaus  zufälligen,  d. h. nicht mehr erklärbaren, sondern schlechthin als gegeben hinzunehmenden quantitativen Plus oder Minus der einzelnen Teile. So begreift das naturwissenschaftliche generalisierende Verfahren das Individuum, und wir sehen auch hier wieder leicht, daß dieses Begreifen eben  kein  Begreifen des Individuums ist, da das eigentlich Individuelle hier nur immer weiter hinausgeschoben, niemals aber "eingefangen" ("begriffen") werden kann.

Das generalisierende Verfahren führt so immer zum Mechanismus und damit zur "Naturnotwendigkeit" und reicht nur so weit als diese reichen. Kein Geschichtsphilosoph, der diesen Namen mit Recht verdient, wird sich aber mit der naturwissenschaftlichen Erklärung des historischen Geschehens zufriedengeben. So sehen wir auch bei HUMBOLDT neben dem Begriff der Naturnotwendigkeit den der Freiheit treten. Ohne auch nur im Entferntesten in metaphysische Erörterungen über diesen Begriff eintreten zu wollen, müssen wir doch sehen, welche Rolle er in der (nicht-naturwissenschaftlichen) Psychologie zu spielen berufen ist. Vorerst kann es sich jedoch nur um ein kurzes Streifen dieses Problems handeln. Wir werden es unter den verschiedensten Namen, wie denjenigen der Subjektivität, des unmittelbaren Bewußtseins, der Intentionalität, Spontaneität, des Akt- und Funktionsbewußtseins später wiederfinden.


II. Das Freie, Schöpferische im Seelenleben

a) Historische Vorbemerkungen
(Leibniz und die Anfänge der deutschen Ästhetik)

Schon DILTHEY weist auf die "beachtenswerte Wendung" hin, welche die psychologische Untersuchung bei WUNDT genommen hat, der, wie übrigens auch WILLIAM JAMES und SIGWART, immer mehr  "das Freie, Schöpferische im Seelenleben"  betone. DILTHEY übersieht hierbei BERGSON, auf den wir weiter unten zu sprechen kommen werden. Anknüpfen aber wollen wir wieder an HUMBOLDT.

Von jeher war es der Begriff des  "Genies",  an welchem man die Unzugänglichkeit der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und die Notwendigkeit der Anwendung nicht-naturwissenschaftlicher Begriffe am meisten zu verspüren glaubte. Das Verständnis des genialen Individuums trotzte und trotzt noch heute am sichtbarsten der Anwendung der naturwissenschaftlichen Begriffskategorien, so sehr auch prinzipiell für jedes menschliche Individuum dasselbe gilt. Wie jeder, der mit dem Begriff der Natur und des Mechanismus Ernst macht, so sieht auch HUMBOLDT, daß gerade hier eine  andere  "Ordnung der Dinge" in Frage kommt. "Daß die Wirksamkeit des Genies und der tiefen Leidenschaft einer, vom mechanischen Naturgang verschiedenen Ordnung der Dinge angehört, ist unverkennbar; allein streng genommen ist dies mit jedem Ausfluß der menschlichen Individualität der Fall. Denn dasjenige, was derselben zugrunde liegt, ist etwas ansich Unerforschbares, Selbständiges, seine Wirksamkeit selbst Beginnendes, und aus keinem der Einflüsse, welche es erfährt (da es vielmehr alle durch Rückwirkung bestimmt), Erklärbares" (Seite 365).

Bereits hier finden wir einige Hauptbegriffe zum Thema des Freien, Schöpferischen im Seelenleben: Selbständigkeit, Selbstbeginn, Selbstbestimmung, wofür sonst auch der  eine  Ausdruck  "Autonomie gebraucht wird. Noch sind diese Begriffe recht vage, und sie schrecken uns durch das Dogma der  Unerforschbarkeit.  Schon jetzt aber sei dieses Dogma kein Schrecken mehr, sondern ein Ansporn zu seiner Überwindung! Schon in einer viel früheren Schrift (1794) hatte HUMBOLDT ferner erklärt, daß das wahrhaft Genialische wirkliche  Erfindung  ist und einem eigenen Wesen für sich mit eigenem  organischen Leben  gleicht ("Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur", Schriften, Bd. 1, Seite 317). Schon an diesem Beispiel leuchtet das Zentralproblem auf, das die neuere allgemeine Psychologie zu lösen sich abmüht. Das Zusammentreffen des Autonomen, Freien, Schöpferischen, organisch Produktiven des Geistes mit der starren Naturnotwendigkeit gilt es psychologisch zu begreifen. Was uns der  Historiker  von diesem Problem zeigt, ist durchaus nur Beschreibung und Schilderung, welche den entscheidenden Punkt schließlich doch immer im Dunkeln liegen lassen muß, daß sie bei den "Äußerungen" oder Rück wirkungen  des Individuums zu verharren gezwungen ist, zum eigentlich "Inneren", Wirkenden, Schöpferischen aber nicht durchzudringen vermag; denn, wie der große RANKE in seinem  Wallenstein  einmal resigniert einschaltet: "etwas Hypothetisches bleibt im Dunkel menschlicher Antriebe und Ziele immer übrig" ("Meisterwerke IX, Seite 451). Anders der  künstlerische  Genius, der geniale Menschendarsteller in der Dichtung. Er wird uns jenen "Punkt", wo Freiheit und Naturnotwendigkeit zusammentreffen, wenigstens ahnen, miterleben lassen, was auch dem Historiker nur dann gelingt, wenn und insofern er Künstler ist. Niemand hat, soweit wir sehen, diesen Punkt prägnanter hervorgehoben als der junge GOETHE, und zwar mit einem Hinweis auf den genialsten Menschenschöpfer, auf SHAKESPEARE. "Seine Stücke", sagt GOETHE, "drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Willens mit dem notwendigen Gang des  Ganzen  zusammenstößt" ("Zum Schakespears Tag", 1771, Bd. 36, Seite 6f).

Von diesem Problem nun hat die generalisierende Psychologie keine Ahnung, und zwar geht ihre Methode nicht nur an ihm vorbei, vielmehr läßt sie es gar nicht aufkommen. Das seelische Individuum wird hier zum Sammel- und Schauplatz für das mechanische Spiel der seelischen Elementarteilchen, heißen diese nun "Eindrücke", Empfindungen oder sonstwie. Von den Stoikern bis zu den englischen, französischen und deutschen Assoziationspsychologen zieht sich dieser "psychologische Passivismus" hindurch. Erst durch LEIBNIZ hat er einen Stoß erhalten, der ihn bis heute zwar nicht umgeworfen, aber immer mehr in die Verteidigungsstellung zurückgedrängt hat. LEIBNIZ ist der erste moderne Geist, der, ähnlich wie im Altertum ARISTOTELES, die Seele als eine  schöpferische Kraft,  als eine  Energie  gesehen und damit den psychologischen Aktivismus begründet hat (Vgl. DESSOIR, Abriß einer Geschichte der Psychologie, Seite 122f und "Geschichte der neueren deutschen Psychologie", 2. Aufl. Seite 33f). Vergessen wir vor allem nicht, daß LEIBNIZ' Monaden als selbständige, selbsttätige oder spontane, mit "vorstellungsbildender Kraft" ausgestattete geistige "Individuen" gedacht sind, welche sogar die Empfindungen oder wie immer man die niederste Stufe im Seelenleben bezeichnen will, nicht durch äußere Einwirkung empfangen, sondern durch Selbsttätigkeit  erzeugen.  Die aktivistische Psychologie LEIBNIZ' entspringt nun zwar keineswegs aus der Betrachtung und dem Verstehenwollen des Genies und der genialen Schöpfung, sondern aus seiner gesamten spiritualistischen Metaphysik; aber es ist leicht verständlich, daß die wissenschaftliche Untersuchung der "Wirksamkeit des Genies" in der Folge hier immer wieder anknüpfte und von hier die Begriffe herholte, die zu seinem Verständnis als schöpferischer, autonomer, erfindender und gestaltender Indivivualität nötig waren. So sind die Grundelemente des LEIBNIZ'schen  Denkens  einesteils in die spätere deutsche  Ästhetik  übergegangen, andererseits aber auch in die spätere  Psychologie,  insbesondere in die Psychologie TETENS' und KANTs; denn, wie wir schon am Beispiel HUMBOLDTs gezeigt haben, ist es ein kleiner Schritt von der Wirksamkeit des Genies zur "tiefen Leidenschaft" und schließlich zu einem  jeden  "Ausfluß der menschlichen Individualität". Was dem Genie als schöpferischer Individualität zugetraut wird, das wird zunächst auf das emotionale oder affektive Gebiet und schließlich auf eine jede seelische Regung, auf einen jeden seelischen Vorgang übertragen. Diesen historischen Prozeß zu verfolgen, ist eines der interessantesten Kapitel der deutschen Geistesgeschichte. Hier muß es uns jedoch genügen, einige der Hauptetappen dieses Prozesses festzuhalten.

Die ersten Anfänge einer selbständigen deutschen Ästhetik reichen immerhin in eine Zeit zurück, da LEIBNIZ in weiten Kreisen noch unbekannt war. Die Hauptquelle für die Kenntnis seiner Philosophie, die "Nouveaux Essais sur l'entendement humain", erschienen erst 1765, fast 50 Jahre nach seinem Tod. Schon einige Jahrzehnte früher (16) aber hatte jener Kampf im deutschen Geistesleben eingesetzt, in dem das schöpferische Genie und sein wichtigstes Organ, die  Einbildungskraft  oder  Phantasie,  in das ihnen gebührende Recht wieder eingesetzt und die Alleinherrschaft der ästhetischen  Vernunftregeln  gestürzt wurde. Es ist der uns aus der Geschichte der deutschen Literatur wohlbekannte Streit der Schweizer (BREITINGER und BODMER) gegen den "glatten" Rationalisten GOTTSCHED, an dessen Sturz sich "die Erneuerung des deutschen Geistes, der Durchbruch des lange vergrabenen Lebens zur Oberfläche" (GUNDOLF) anschloß. Nicht die Befolgung der von der Vernunft aufgestellten Kunstregeln macht, nach den Schweizern, den Dichter, vielmehr muß dieser eine der schöpferischen Kraft der Natur ähnliche Kraft besitzen. "Dem Dichter alleine", sagt einmal BREITINGER, kommt "der Name des Poeten, eines Schöpfers zu, weil er nicht allein durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mitteilt, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinne sind, gleichsam erschafft, das ist, aus dem Stand der Möglichkeit in den Stand der Wirklichkeit hinüberbringt, und ihnen also den Schein und den Namen des Wirklichen mitteilt" (aus dem 3. Abschnitt der Critischen Dichtkunst). Nicht Nachahmung der wirklichen Natur ist die Hauptaufgabe des Dichters; sondern "aus der Welt der möglichen Dinge" muß er seine Originale hernehmen (ebd.) Das Mögliche, das "Wahrscheinliche", insbesondere in der Form "des Wunderbaren", ist die Hauptdomäne des Dichters. Zur Darstellung derselben bedarf er aber einer von der Vernunft gänzlich verschiedenen Tätigkeit, eben der Einbildungskraft oder Phantasie. Die Gesetze der Kunst können daher nicht aus der Vernunft abgeleitet werden, "vielmehr müßten diese aus den Werken der größten Dichter abgezogen werden, welche einerseits jene schöpferische Kraft in vollstem Maße besessen und andererseits die Natur . . . am besten erfaßt hätten" (KURZ, Geschichte der deutschen Literatur II, Seite 470). Die Vorbilder aber, an denen die Schweizer jene Gesetze "abzogen", waren vor allem MILTON und SHAKESPEARE. Das Prinzip des Wunderbaren bei den Schweizern führt in seiner Begründung und seinen Konsequenzen "zu der ersten dogmatischen Rechtfertigung der Phantasie, der Poesie überhaupt, SHAKESPEAREs (GUNDOLF, Shakespeare und der deutsche Geist, 3. Auflage, Seite 97; vgl. überhaupt Seite 95 - 102).

So sehen wir bei den Schweizern Studium und Auffassung des dichterischen Genies auf das Engste verbunden mit der Anerkennung eines "schöpferischen Prinzips im Seelenleben", das sich keiner Vernunftregel beugt (17). Noch ist dieses Prinzip aber beschränkt auf ein kleines Gebiet seelischer Betätigung, auf die dichterische Produktion. Nicht lange jedoch, und es ist zu einem  Grundvermögen  der Seele erhoben. Schon bei WOLFF und dem von den Schweizern entscheidend beeinflußten Begründer der wissenschaftlichen Ästhetik in Deutschland, bei BAUMGARTEN, finden wir das "Dichtungsvermögen" oder die "Dichtkraft" keineswegs mehr auf die Schöpfungen der dichterischen Phantasie beschränkt, sondern auf jegliche Kombination einzelner Vorstellungselemente zu neuen Gestaltungen (Vorstellungen, Begriffen) aus gedehnt (vgl. SOMMER, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik, Würzburg 1892, Seite 15f). Am bestimmtesten aber wurde diese Wendung von BAUMGARTENs Schüler GEORG FRIEDRICH MEIER (Psychologie, 1757) vollzogen, der sich folgendermaßen über das Dichtungsvermögen ausspricht: "Manche glauben, daß dieses Erkenntnisvermögen nur die poetischen Erdichtungen erzeugt." In Wahrheit erstreckt sich seine Wirksamkeit viel weiter. "Nämlich wir dichten oder erdichten, wenn wir Teile verschiedener Einbildungen und Vorstellungen solcher abgesonderter Begriffe, die wir von unseren klaren Empfindungen abgesondert haben, uns zusammen als einen Begriff vorstellen." Hier ist der Begriff des Dichtungsvermögens auf das Deutlichste auf die Entstehung von Begriffen überhaupt angewandet. "Gleichsam durch eine Schöpfung" setzt die Seele aus ihren Materialien neue Vorstellungen zusammen (vgl. SOMMER, Seite 55). Die "schöpferische Tätigkeit der Seele" wird von MEIER nicht weniger deutlich hervorgehoben als von LEIBNIZ, jedoch ist es erst TETENS, in dessen System der Begriff der "Dichtkraft" unter deutlicher Nachwirkung von LEIBNIZ eine zentrale Stellung einnimmt (18).


b) J. N. TETENS

dessen Hauptwerk "Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" 1777 erschienen ist, ist in der Philosophiegeschichte bekannt als Vorläufer KANTs, sofern er das psychologische Problem des Verstandes bis zu der Grenze hingeführt hat, wo es sich mit dem "transzendentalen" berührt (CASSIRER). In der Geschichte der Psychologie wird er als derjenige genannt, durch den die schon von MENDELSSOHN, SULZER u. a. vorbereitete Dreiteilung der seelischen Erlebnisse in Denken, Fühlen und Wollen entscheidend durchgeführt wurde. In unserem Zusammenhang ist er vor allem wichtig als Verwerter LEIBNIZ'scher Ideen über die Natur der Seele, insbesondere des Verstandes, und als einer der scharfsinnigsten Gegner der Assoziationspsychologie. Dieses Gegnerschaft betätigt er weniger im Hinblick auf das Gebiet des künstlerischen Schaffens oder der unmittelbaren Tätigkeit der Vorstellungsverknüpfung als im Hinblick auf die höchsten Produkte des Verstandes, "wo dieselbe Denkkraft einen höheren Flug in den allgemeinen Theorien nimmt und Wahrheiten zu Wissenschaften zusammenheftet", vor allem in der mathematischen Physik. Und zwar ist hier besonders wichtig der Fortschritt, den seine Lehre vom Urteil enthält. Unter ausdrücklicher Anknüpfung an LEIBNIZ vollzieht er hier die nie mehr aufzuhebende Trennung zwischen denjenigen objektiven Verbindungen von Vorstellungen, die sich auf das räumliche Getrenntsein oder das zeitliche Nacheinander beziehen, und solchen, die die dynamischen Verhältnisse der "Dependenz", der Verbindung von Grund und Folge und von Ursache und Wirkung, enthalten. Mit einer anderen Wendung: er trennt auf das Schärfste die Begriffe der räumlichen oder zeitlichen Sequenz und der logischen Konsequenz. "Denn es ist etwas anderes, Ideen bloß in einer bestimmten Folge und Verbindung zusammenzunehmen oder aus der einen auf die andere zu schließen. Die Ähnlichkeit oder das assoziative Beisammen der Vorstellung mag der psychologische Anlaß eines derartigen Schlusses sein, aber sie enthält nicht seinen sachlichen Grund: dieser liegt vielmehr in einer eigenen Tätigkeit des Verstandes: im "tätigen Hervorbringen eines Verhältnisgedankens aus einem anderen, welcher mehr ist als zwei Verhältnisse nacheinander gewahrnehmen" (vgl. CASSIRER, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie, und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2, Seite 567 - 572). Wir würden heute, etwa in der Kunstsprache von THEODOR LIPPS und EDMUND HUSSERLs, sagen, daß TETENS bereits besondere "Weisen des Bewußtseins", besondere intentionale Akte für die urteilende Auffassung oder Apperzeption anerkennt gegenüber dem bloßen  Haben  von "Vorstellungen".

Doch beschränken sich TETENS' Untersuchungen, die zum Teil ausgesprochen experimenteller Natur sind, keineswegs auf die Lehre vom Urteil oder von den wissenschaftlichen Wahrheiten. Auch anerkennt eine "selbsttätige Phantasie" in  jeder  Vorstellungsverbindung; erweitert er doch, wie eben schon erwähnt, die Grenzen der Dichtkraft, indem er sie, wie G. F. MEIER, durchaus auf das ganze psychologische Gebiet ausdehnt. Dabei wendet er sich scharf gegen die seit LOCKE blühende Assoziationspsychologie und  deren  Auffassung vom Dichtungsvermögen: "Man umfaßt die ganze Macht dieses bildenden Vermögens der Seele nicht, wenn man die Auflösung und Wiedervermischung der Vorstellungen dahin einschränkt, daß sie bei jenen nur bis auf solche Bestandteile gehen müßte, die man einzeln gewonnen kennen müßte, wenn sie abgesondert, jedes für sich, dem Bewußtsein vorgehalten würden, und das Vermischen der Vorstellungen als ein Zusammensetzen aus solchen teilen ansieht, die einzeln genommen bemerkbar sind; das ist, wie ich wohl weiß, die gewöhnlichste Idee vom Dichtungsvermögen" (zitiert nach SOMMER, Seite 274f). Viel eher als die Mechanik gibt ihm die Chemie ein Bild der schaffenden Vorgänge der Seele oder die Optik: "Aus der Mischung der gelben und der blauen Lichtstrahlen im prismatischen Sonnenbild entsteht ein grünes Licht, welches vom einfachen Grünen darin verschieden ist, daß es wieder in blaue und gelbe Strahlen zerteilt werden kann; die ursprünglich grünen Strahlen sind dagegen unauflöslich. Aber dennoch ist es für unsere Empfindung ein einfaches Grün. Etwas ähnliches läßt sich in unseren Vorstellungen antreffen" (zit. nach SOMMER, ebd.)

Wir brauchen hier nur an das frühere Beispiel von der Empfindung der Dissonanz zu erinnern, um zu zeigen, daß wir uns noch heute ähnlicher Argumente bedienen wie TETENS. Zwischen der Wirksamkeit des Dichtungsvermögens bei den niederen Verstandesleistungen und der Wirksamkeit der Phantasie, wenn sie "mit ihrer ganzen Kraft in einem MILTON oder KLOPSTOCK in der Stunde der Begeisterung arbeitet", anerkennt TETENS nur graduelle, nicht aber qualitative Unterschiede (vgl. SOMMER, Seite 260 - 279).

Nachdem wir nun den Gedanken des Schöpferischen im Seelenleben bis nahe an KANT mit einigen wenigen Streiflichtern beleuchtet haben, wenden wir uns wieder der modernen Psychologie zu, KANTs Psychologie einer späteren Schilderung vorbehaltend, wo sie nicht nur auf ihren "schöpferischen" Grundzug hin, sondern im Zusammenhang der gesamten Funktionspsychologie dargestellt werden kann. Nur im Vorbeigehen sei noch FICHTEs und SCHELLINGs Psychologie erwähnt. "FICHTEs Bewußtseinswissenschaft betont", um DESSOIRs (Seite 162) Charakterisierung zu zitieren, "wider die verbreitetste Art der Vermögenspsychologie die Einheitlichkeit und stets sich erneuernde Betätigung des Seelengrundes, indem sie den Geist als eine Energie betrachtet, die ihre Gestaltungen aus sich selber hervortreibt. Sie stellt der Assoziationslehre ein schöpferisches Ich gegenüber; sie nimmt nichts als ein Gegebenes hin, sondern erweist alles als etwas durch eine Tat Erworbenes." Ähnlich SCHELLINGs spekulative Entwicklungspsychologie. Sie "sucht die Einheit des Seelischen gegenüber einer Vielheit gleichzeitig wirksamer Vermögen aufrechtzuerhalten, indem sie mit gutem Grund das Bewußtseinsleben als ein rastloses Werden, Sichverschmelzen und Auseiananderfließen darstellt" (DESSOIR, Seite 166). LOTZE, der am ehesten KANT mit der gegenwärtigen Psychologie verbindet, wird uns später noch wiederholt beschäftigen.


c) HENRI BERGSON

Die verschiedensten Elemente des deutschen Denkens un von LEIBNIZ bis zu SCHELLING (und SCHOPENHAUER) finden wir bei demjenigen Denker, der als einer der ersten und am eindringlichsten wieder in unserer Zeit das Freie und Schöpferische im Seelenleben betont hat, bei BERGSON. Insbesondere herrscht auch bei ihm die Analogie vor zwischen dem Leben und Weben des Bewußtseins und dem organischen Leben. Der Lebensbegriff erhält hier seine besondere Prägung vom Bewußtseinsbegriff her, wie etwa später bei SIMMEL. Umgekehrt wird aber auch der Bewußtseinsbegriff von der Seite der biologischen Begriffe her beeinflußt.

BERGSONs Erstlingswerk, für uns sein Hauptwerk, "Les données immédiates de la conscience", erschien 1888.

Es ist ein lehrreicher Beleg für die Erscheinung, daß dieselben Gedanken in den verschiedensten Zeiten und Sprachen immer wieder neu auftreten, wenn wir zunächst wiederum des HUMBOLDT'schen Ausspruchs gedenken, das wahrhaft Genialische gleiche einem eigenen Wesen für sich mit eigenem organischen Leben, und wenn wir dann auf die eindringliche Lehre BERGSONs stoßen, daß unsere inneren Zustände überhaupt wie Lebewesen (êtres vivants) zu betrachten seien, unaufhörlich begriffen in Bewegung, Gestaltung, Entwicklung, Verschmelzung, Durchdringung und Organisierung (19). Und zwar denkt auch BERGSON hier vor allem an die affektive Seite des Seelenlebens. "Le sentiment lui-même est un être qui vit, qui se dévelope, qui change par conséquent sans cesse" [Das Gefühl selbst ist ein Wesen, das lebt, sich entwickelt und sich ständig verändert. - wp] (Bergson, a.a.O., Seite 100); aber auch der Verstand (l'intelligence) ist in seinen Tiefen "organisée et vivante [Organisation und Leben - wp] (Seite 103). Was daraus etwas Totes und Starres, Allgemeines und Unpersönliches macht, das Lebendige, Organische, Schöpferische an ihm vernichtet, das ist die  Sprache "Le mot aux contours bien arrêtes, le mot brutal, qui emmagasine ce qu'il y ade stable, de commun et par conséquent d'impersonell dans les impressions de l'humanité, écrase out tout au moins recouvre les impressions délicates et fugitives de notre conscience individuelle." [Das Wort schafft Konturen, das Wort ist brutal, weil es die Eindrücke des Menschen zwar stabil und gemeinsam, aber auch unpersönlich macht und damit die feinen und flüchtigen Eindrücke des individuellen Bewußtseins beseitigt. - wp] (Seite 100) "La pensée demeure incommensurable avec le langage" [Denken und Sprache sind miteinander inkommensurabel. - wp] heißt es ein andermal (Seite 126). Im deutschen Geistesleben haben wir hierfür SCHILLERs klassischen Ausspruch:  "Spricht  die Seele, ach, so spricht schon die Seele nicht mehr!" BERGSON geht mit großem Geschick den Gründen hierfür nach. Seine Untersuchung gipfelt in einer scharfen Kritik der Assoziationspsychologie.

Das Bewußtseinsleben zeigt sich unter einem zweifachen Aspekt, je nachdem man es direkt betrachtet oder "durch Brechung im Raum" (par réfraction á travers l'espace, Seite 104). Mit dem letzteren Ausdruck meint BERGSON hauptsächlich die Betrachtung der Bewußtseinsvorgänge unter der Kategorie der Quantität (des Maßes, des starren räumlichen Nebeneinander, der Intensität, der distinkten Multiplizität usw.). Für ihn ist der Raum das einzige "konsequente Milieu", in welchem jede Heterogenität oder Qualität aufgehoben und alles in quantitative Beziehungen aufgelöst ist. BERGSON weiß sich hier im Gegensatz zu KANT, dessen "Irrtum" es gewesen sei, auch die  Zeit  für ein homogenes Milieu zu halten (Seite 178). Die Zeit, als reelle, konrete, unmittelbar erlebte Zeitwirklichkeit (durée réelle, durée vraie, durée vécue [wirkliche, echte, gelebte Dauer - wp] setzt sich nach BERGSON aus Momenten zusammen, die sich miteinander innerlich organisch verflechten; übersieht man dies, homogenisiert oder quantifiziert man auch die Zeit, so drückt man sie aus in der Form des Raums, ja man verwechselt sie im Grunde mit dem Raum. Auf das Ich angewandt heißt dies, daß es "unmittelbar" nur erfaßt werden kann unter dem "Aspekt" oder unter der Kategorie der  durée vécue;  betrachtet man es unter dem Aspekt des Raums, so erhält man nur eine "symbolische" Vorstellung vom Ich. Wir wollen gleich näher untersuchen, was das bedeutet.

An und für sich betrachtet haben die tieferen Bewußtseinslagen keinerlei Beziehung zur Quantität (Seite 104); sie sind reine Qualität, vermischen sich so miteinander, daß man nicht sagen kann, ob sie eins oder mehrere sind. Schon durch die sprachliche Fixierung entkleidet man sie ihres wahren Charakters oder objektiviert man sie, d. h. man macht dann aus einem fließenden Ineinander, aus lauter Prozessen (progrés, Seite 99) isolierte Objekte oder Dinge. Dies geschieht nun umso mehr, je mehr sic hdas Leben in Gemeinschaft und sein hauptsächlichstes Kennzeichen, die Sprache, entwickeln; den "l'intention d'un espace homogéne est déja un acheminement á la vie sociale" [Der homogene Raum ist bereits der erste Schritt zum sozialen Leben. - wp]. Mit der Entwicklung der Sprache verstärkt sich der Strom, der unsere Bewußtseinsvorgänge "von innen nach außen" trägt: "petit a petit ces etats se transforment en objets et en choses; ils ne se detachent pas seulement les uns des autres, mais encor de nous. [Nach und nach werden Objekte und Dinge verwandelt und nicht nur voneinander gelöst, sondern auch von uns. - wp] (Seite 105). Wir betrachten sie dann nur noch in dem homogenen Milieu, in welchem wir ihr Bild zur Erstarrung gebracht haben, und durch das Wort hindurch, das ihnen seine "banale Färbung" verleiht. So bildet sich ein zweites Ich, welches das ursprüngliche überdeckt. Dieses zweite, oberflächliche Ich mit seinen distinkten Charakteren genügt den Anforderungen des sozialen Lebens wohl besser; ja eine oberflächliche Psychologie mag sich auch mit ihm begnügen, vorausgesetzt, daß sie sich beschränkt, die fertigen Tatsachen zu studieren, und darauf verzichtet, deren  Bildungsweise  kennenzulernen.

Die Unterscheidung zwischen einer Psychologie der fertigen Bewußtseinstatsachen (des faits une fois produits) und einer Psychologie ihrer Bildungsweise (des mode de formation) ist auf das Engste verknüpft mit der Anerkennung des freien schöpferischen Charakters des Seelischen; denn wie anders will man am fertigen Produkt den freien schöpferischen ("produzierenden") Akt studieren, wenn nicht anhand der Bildungsweise dessen, was er produziert? Nur darf man nicht glauben, daß es sich hier um das Problem der "genetischen" (= kausalgenetischen) Psychologie handelt. Wir fragen hier ja keineswegs nach der  Entstehungsweise  der seelischen Tatsachen aus andern oder nach ihrer  Erklärung  aus "vorausgesetzten" Elementen, sondern nach ihrer "Bildungsweise"; es handelt sich lediglich um einen Übergang von der "statischen" zur "dynamischenn" Betrachtung des Seelenlebens. Die erstere ist unter keinen Umständen fähig, der Schwierigkeiten Herr zu werden, die sich unweigerlich auftürmen, wenn man das konkrete lebendige Ich darstellt als "une association de termes qui, distincts les uns des autres, se juxtaposent dans un milieu homogéne" [Eine Kombination von Begriffen, die sich in einem homogenen Milieu gegenüberstehen. -wp] (Seite 106).

Die dynamische Betrachtung oder der Dynamismus führt bei BERGSON keineswegs aus der Naturkategorie heraus; sondern mit dem Mechanismus zusammen, dessen Gegenpart er ist, bildet er die beiden einander entgegengesetzten "Systeme der Natur". Wir wollen hier aber nicht auf die metaphysische Seite dieses Problems eingehen, sondern uns damit begnügen, den gegensätzlichen "Gang der Betrachtung", die gegensätzliche Methode, wie sie sich in jenen beiden Schlagwörtern ausspricht, festzustellen.

Gehen wir, der dynamischen Methode folgend, vom Willensakt aus, so erkennen wir leicht den Fehler der Assoziationspsychologie wie jeder statistischen Psychologie: er besteht eben darin, zuerst das qualitative Element des Aktes zu eliminieren, um von ihm nur zurückzubehalten, was er "Geometrisches" und "Unpersönliches" enthält (Seite 123); dem so entfärbten (décoloré) Gedanken dieses Aktes muß man dann natürlich, um ihn von andern unterscheiden zu können, irgendeine spezifische Unterscheidung "angliedern" (associer). "Mais cette association est l'oeuvre du philosophe associoniste qui étudie mon esprit, bien plutôt que de mon esprit lui-même" [Aber dieser Zusammenhang ist das Werk eines Assoziationsphilosophen, der meinen Geist studiert und nicht mein Geist selbst. - wp] (Seite 124).

Diese nachträgliche Angliederung eines solchen spezifischen Merkmals ist für uns so selbstverständlich geworden, daß wir Mühe haben, sie wieder rückgängig zu machen und zu verstehen, was BERGSON meint. Ein Beispiel ist daher wohl am Platz:

Ich atme, sagt BERGSON, den Geruch einer Rose ein, und sogleich kommen mir vage Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis. Diese Erinnerungen sind nun tatsächlich keineswegs durch den Geruch der Rose  hervorgerufen  worden, sondern ich atme die Erinnerungen im Geruch selber ein (je les respire dans l'odeur même); der Geruch ist all dies für mich (elle est tout cela pour moi). Andere werden ihn anders einatmen. - Wird nun eingewendet, nein, es handelt sich immer um denselben Geruch, der jeweils nur mit verschiedenen Vorstellungen assoziiert ist, so kann man sich ja in dieser Art ausdrücken; nur darf man dann eben nicht vergessen, daß man von den verschiedenen Eindrücken, welche die Rose auf jeden von uns macht, gerade das eliminiert, was diese Eindrücke Persönliches haben (wir könnten auch sagen: Individuelles!); man hat nichts anderes davon zurückbehalten als den objektiven Aspekt (l'aspect objectif), nämlich das, was am Geruch der Rose dem Gemeinbesitz (domain commun) angehört und damit dem "Raum". Nur unter dieser Bedingung hat man überhaupt der Rose und ihrem Geruch einen Namen geben können. Um unsere persönlichen Eindrücke dann noch voneinander unterscheiden zu können, blieb natürlich nichts übrig, als zum Begriff (idée générale) "Rosengeruch" spezifische Merkmale hinzuzufügen. Und nun kommt man und sagt, daß unsere verschiedenen, unsere persönlichen Eindrücke daher rühren, daß wir mit dem Rosengeruch verschiedene Erinnerungen assoziieren! Aber dieses Assoziation existiert nur in unseren Köpfen als Mittel für die  Erklärung  (procédé d'explication, Seite 124). - Eine knappere, schärfere Kennzeichnung des Verfahrens der Assoziationspsychologie ist schwerlich zu finden. Hier am ehesten muß klar werden, was unter  données immédiates de la conscience  [unmittelbaren Daten des Bewußtseins -wp] und unter unmittelbarem Aspekt desselben zu verstehen ist. Hier handelt es sich nicht um die Vielheit des Nebeneinander (multiplicité de juxtaposition), sondern um die Vielheit der gegenseitigen Verschmelzung oder Durchdringung (multiplicité de fusion ou de pénétration mutuelle). Wir bemerken auch welche Bedeutung bei BERGSON das Verfahren der Verallgemeinerung oder Entindividualisierung, als das Generalisieren, bekommt. Es veräußerlicht, objektiviert das Seelische oder es "homogenisiert" es. Alle diese Ausdrücke bedeuten bei BERGSON dasselbe; denn zwischen der Fähigkeit, ein homogenes Milieu wie den Raum zu denken, und der Fähigkeit, in Begriffen zu denken, existiert für ihn eine innige Wechselbeziehung (une corrélation intime, Seite 125). Begriffliche und sprachliche Verallgemeinerung, Auflösung des Persönlichen in Unpersönliches und Veräußerlichung im Sinne des räumlich gedachten Nebeneinander, all das kommt auf dasselbe hinaus. Daraus nun aber, daß wir diese veräußerlichten Elemente "vom Ganzen" trennen, folgt noch lange nicht, daß sie darin enthalten waren (20); denn im Schoße es Ganzen (au sein du tout) nahmen sie keineswegs Raum ein und suchten sich durchaus nicht durch Symbole auszudrücken; hier durchdrangen sie sich und verschmolzen sie miteinander. Dieses "fait lui-même", dieses ursprüngliche Bewußtsein oder Ich, in welchem nur Verschmelzung und gegenseitige Durchdringung herrschen, werden wir nun näher betrachten. Bei aller Betonung der Analogie zwischen seelischem und biologischem Geschehen verkennt BERGSON doch nicht diejenige Verschiedenheit beider, welche sie wiederum auf das Schärfste trennt. Zwar lebt jede Vorstellung im Bewußtsein wie eine Zelle im Organismus; alles, was den Allgemeinzustand des Ich modifiziert, modifiziert auch sie selbst. Aber während die Zelle einen bestimmten Ort im Organismus einnimmt,  füllt  eine Vorstellung, die wirklich uns gehört, unser Ich vollständig aus' ("une idée vraiment nôtre remplit notre moi tout entier" [die Idee, die unser ganzes Ich erfüllt - wp], Seite 103). So merkwürdig diese Auffassung vom mechanistischen Standpunkt aus sein mag, so grundlegend ist sie für die dynamische, überhaupt für die aktpsychologische Auffassung vom Seelenleben. Sie wird uns künftighin nie mehr verlassen. Aber was ist damit nun eigentliche gesagt und wieweit reicht diese Ansicht vom Seelenleben?

Die doppelte Darstellung (aspect) des Bewußtseins, einmal in der Form des homogenen Raums, des Nebeneinander und des Allgemeinbegriffs, zum andern in der Form der Durchdringung und Verschmelzung (der durée vécue), hat zur Folge eine gewisse Spaltung oder Trennung des einen und selben Ich. Bei der ersteren Darstellung kommt (auch für uns selbst, für die Ansicht von unserem eigenen Ich) das "konventionelle" Ich (le moi conventionel) heraus, oft auch oberflächliches, zweites oder Sozial-Ich genannt, bei der letzteren hingegen das fundamentale, tiefere, wahre Ich. Beide zusammen konstituieren aber, wie BERGSON nicht müde wird zu betonen, "une seule et même personne" [eine einzige Person - wp] (Seite 95). Das eine und selbige Ich berührt mit seiner "Oberfläche" die Außenwelt, entfernt sich aber immer mehr von ihr in seinen tieferen Lagen. Zur Oberfläche aber gehören die wechselnden Empfindungen (sensations), die trotz aller gegenseitigen Verschmelzung doch etwas von den sie objektiv verursachenden Vorgängen der Außenwelt, also den sogenannten äußeren Reizen, behalten. Das innere Ich hingegen (le moi intérieur) ist dasjenige, welches fühlt und in Affekt gerät, überlegt und Entscheidungen trifft. Dieses Ich ist eine  Kraft  (Seite 95), deren Zustände und Modifikationen sich gegenseitig durchdringen, im Gegensatz zum oberflächlichen Ich, das sich ohne große Anstrengung unsererseits gleichsam in einem homogenen Milieu abspielt (also als Neben-, Nach- und Außerhalb-einander oder unter dem Aspekt des Scharfpräzisierten, Unbeweglichen und Unpersönlichen (Seite 98). Das innere Ich, "oú succesion implique fusion et organisation" [des Ineinanderübergehens, des Verschmelzens und der Organisation - wp] (Seite 97), enthält natürlich auch eine Vielheit (une multiplicité) von Zuständen, aber, im Gegensatz zur  multiplicité distincte  [bestimmten Vielzahl - wp] des oberflächlichen Ich, eine "multiplicité confuse" - konfus, unscharf eben deswegen, weil hier alles Verflechtung und Durchdringung ist. Dafür ist dieses innere Ich aber unendlich beweglich, in seiner Beweglichkeit jedoch "inexprimable" [unaussprechlich - wp]; denn die Sprache kann es nicht erfassen, ohne seine Beweglichkeit aufzuheben (sans en fixer la mobilité, Seite 98).

Die beiden Arten der Multiplizität führen uns von selbst nun auch auf die beiden Arten der durée, des Zeitbegriffs. Der scharf gesonderten, in quantitativen Bestimmungen ausdrückbaren Vielheit (multiplicité distincte) entspricht die Zeit als Quantität (le temps-quantité), von der wir wissen, daß sie aus einer Verwechslung mit dem Raum entspringt, Zeit "in der Form" des Raumes ist, der multiplicité confuse hingegen entspricht die Zeit als Qualität (le temps-qualité), die durée vraie, réelle oder durée vecué (Seite 98). Hier handelt es sich um die Zeit als einmaligen erlebten Zeitverlauf, um die  wirkliche,  nicht umkehrbare Zeit, von der BERGSON sagen kann, sie sei "pas une ligne sur laquelle on repasse" [eine Linie, auf der man nicht zurückgehen kann - wp] (Seite 139).  Dieser  wirklichen, wahren Zeit entspricht das Bewußtsein als Krat oder Fortschritt (progrés, Seite 99); der Zeit-Quantität hingegen entspricht die Welt der Dinge, der isolierten Objekte. Die vom Bewußtsein  gelebte,  wirkliche Zeit (la durée vécue par la conscience, la durée réelle) ist keineswegs dieselbe Zeit, "qui glisse sur les atomes inertes sans y rien changer" [dahingleitend auf leblosen Atomen ohne Veränderung - wp] (Seite 118). Für gewöhnlich verwechseln wir diese beiden Zeitbegriffe miteinander, da, nicht gewohnt, uns unmittelbar zu betrachten, wir uns stets nur durch die Formen der Außenwelt wahrnehmen (à travers les formes empruntées au monde extérieur); "on a identifié la durée vraie avec la durée apparente" [Die Echtzeit wurde mit der scheinbaren Länge identifiziert - wp] (Seite 119), wie schon oben gegen KANT moniert wurde. Eine angestrengte, aufmerksame Analyse der Bewußtseinstatsachen wird uns aber zeigen, daß eine jede von ihnen, für sich betrachtet, einen doppelten Apsekt zeigt, je nachdem man sie betrachtet (Seite 98). Hierin finden wir wohl die klarste Scheidung der beiden Aspekte ausgesprochen.

Nunmehr können wir die Tragweite der Auffassung der "wirklichen Idee, die unser ganzes Ich erfüllt" erst recht überblicken: Der Assoziationspsychologe reduziert das Ich, wie BERGSON sagt (Seite 126), auf ein Aggregat von Bewußtseinstatsachen, Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen. Aber wenn er in diesen verschiedenen Zuständen nichts anderes sieht, als was ihr Name ausdrückt, und nur ihren unpersönlichen, allgemeinen "Aspekt" zurückbehält, so kann er sie bis ins Unendliche nebeneinandersetzen, ohne etwas anderes zu erhalten als ein Ich-Gespenst oder den in den Raum projizierten Schatten des Ich (Seite 126f).

Hier nun finden wir die nähere Bestimmung dessen, was BERGSON unter dem  freien, schöpferischen Charakter  des Seelenlebens versteht. Wir sehen, wie eng seine Vorstellung von der Seele als schöpferischem Prinzip, als force, durée réelle, multiplicité confuse, organisation usw. verbunden ist mit dem Begrif des  freien Aktes  und der  Einheit  des seelischen Individuums. Es bleibt uns nur übrig, zuzusehen, wie er diese Auffassung im einzelne durchführt.

Wenn BERGSON also erklärt, daß eine Vorstellung, die  wirklich  uns gehört, unser Ich vollständig erfüllt, und umgekehrt, daß als ein  freier  Akt ein solcher bezeichnet werden muß, dessen Urheber das Ich  allein  ist oder welcher das Ich  voll und ganz  ausdrückt, so gewahren wir hier eine bestimmte Auffassung vom Verhältnis des Ich zu seinen "Zuständen", die in viel höherem Maße als die Assoziationspsychologie imstande ist, der unmittelbar erlebten "inhaltlichen Wirklichkeit des Seelenlebens" nahezukommen. Sie ist daher berufen, in der Psychologie und insbesondere in der Psychopathologie eine große Rolle zu spielen, wovon aber bis heute erst Ansätze zu verspüren sind (21).

BERGSON selbst erwähnt zunächst die Tatsache, daß viele unserer Vorstellungen gleichsam auf der Oberfläche unseres Ich schwimmen. Er versteht darunter Vorstellungen, die wir, indem wir sie denken, in einer Art Unbeweglichkeit vorfinden, wie wenn sie außerhalb unseres Geistes wären. Dazu gehören einmal diejenigen Vorstellungen, welche wir als fertig gebildete empfangen und die sich niemals unserem innersten Wesen assimilieren, sodann etwa solche Vorstellungen, welche wir nicht weiter "unterhalten" und die in der Vergessenheit eingetrocknet sind. Es handelt sich hier eben um diejenigen Vorstellungen, die immer mehr dazu tendieren, die Form einer numerischen Vielheit anzunehmen und sich in einem homogenen Raum zu entfalten, unnpersönlich und leblos (inertes), wie sie sind (Seite 103). Im Gegensatz zu all diesen auf der Oberfläche unseres Ich befindlichen Vorstellungen stehen nun diejenigen, die uns  mehr  angehören, die sich in der Tiefe unseres Ich finden. Dazu gehören in erster Linie unsere  Träume!  Hier wohnen wir dem Schauspiel bei, daß Vorstellungen , welche "dissoziiert", d. h. scharf getrennt, sich logisch ausschließen würden, sich superponieren [überlagern - wp] oder besser innig verschmelzen. BERGSON erwähnt hierbei den von FREUD als  Verdichtung  bezeichneten Vorgang der "Traumarbeit", der uns eine schwache Idee von der gegenseitigen Durchdringung unserer Begriffe im wachen Zustand zu geben vermag." (22)

Aber nicht nur der Traum führt uns "en présence de nous-mêmes"[in Gegenwart von uns - wp] (Seite 101) oder zum, "le moi redevient lui-meme" [das Selbst sich selbst - wp] (Seite 126), wie BERGSON auch sagt, wenn es sich um die inneren Tiefen des Bewußtseins handelt. Es gibt noch andere Wege zu Ich als Ganzem und Freiem.  Jeder  Versuch nämlich, das Persönliche, Individuelle der Bewußtseinszustände zu erfassen, führt dahin. Nur eine ganz grobe Psychologie, die auf die Sprache hereinfällt (dupe du langage), zeigt uns die Seele als beherrscht von einer Sympathie, einer Abneigung oder einem Haß. Jedes dieser Gefühle stellt, vorausgesetzt, daß es nur tief genug ist, die  ganze  Seele dar, und zwar in dem Sinne, daß sich der  ganze  Gehalt der Seele in einem  jeden  von ihnen widerspiegelt. Anerkennen, daß die Seele sich von irgendeinem dieser Gefühle bestimmen läßt, heißt daher anerkennen, daß sie sich selbst bestimmt. Selbstbestimmung und Freiheit bedeuten nun aber in der Philosophie dasselbe; jedoch brauchen wir gerade bei BERGSON keine Angst vor den Ausschweifungen der Metaphysik der Freiheit zu hegen, da er, wie wir oben sahen,  Grade  der Freiheit zuläßt und sich damit durchaus auf dem Gebiet der Erfahrungspsychologie bewegt. Nur derjenige Akt ist ja völlig frei, dessen Urheber das Ich allein und das  ganze  Ich ist. In Wirklichkeit wird dieser äußerste Fall ja nie eintreten; er muß aber  gedacht  werden können als Grenzfall der dynamistischen Methode!

Wie anhand der Traumes und der "tiefen Leidenschaft", so läßt sich auch anhand der  Suggestion  die dynamistische Auffassung des Seelenlebens durchführen. Eine in der Hypnose empfangene Suggestion verkörpert sich nicht in der Masse der Bewußtseinszustände; aber begabt mit einer eigenen Vitalität, "elle se substituera a la personne meme quand son heure aura sonne" [wird auf die Person übertragen, wenn seine Zeit gekommen ist - wp] (Seite 127). Ähnliche die Affekte: Ein heftiger Zorn, erweckt durch irgendeine zufällige Begebenheit, ein vererbtes Laster, plötzlich auftauchend aus den dunklen Tiefen des Organismus an die Oberfläche des Bewußtseins, wirken ähnlich wie die hypnotische Suggestion (23).

Weniger bekannt und psychologisch durchgeführt ist die Anwendung dieser  Grade  von Selbstbestimmung oder Freiheit auf die Vorstellungen, die uns "von außen kommen". Und zwar handelt es sich jetzt nicht nur um einzelne Vorstellungen, von denen schon oben die Rede war, sondern um komplexe Reihen von solchen, deren Elemente sich zwar  untereinander  fest durchdringen, die aber niemals als Ganzes mit der "kompakten Masse" des Ich verschmelzen. Hierzu gehört jenes Gemisch von Gefühlen und Vorstellungen, die von einer falsch verstandenen Erziehung herrühren, und zwar einer solchen, die sich mehr an das Gedächtnis als an das Urteil wendet. Hier, im Grund des Fundamental-Ich, bildet sich ein parasitäres Ich, welches ständig auf jenem lastet (Seite 128).

Wir haben hier in dynamistischer Wendung den Grundgedanken der mechanistischen BLEULER-JUNG'schen Komplexlehre, doch ohne Einfügung der FREUD'schen Verdrängungslehre.  Warum  etwas an der Oberfläche des Geistes bleibt oder tiefer in ihn eindrint, wird vorzugsweise aus der geistigen Organisation des Ich heraus zu erklären versucht, weniger aus seiner individuellen Geschichte. (24) Wie sehr ferner der Dynamismus BERGSONs und die Betonung des Freien, Schöpferischen im Seelenleben überhaupt geeignet sind für eine wissenschaftliche Darstellung der "unbewußten" Seelenvorgänge, muß jedem einleuchten.


d) WILLIAM JAMES

Wir sind über BERGSON ausführlicher geworden, um zu zeigen, in wie naher Beziehung das Problem des Freien, Schöpferischen im Seelenleben zum Problem der Methode der Psychologie überhaupt steht. Überdies ist BERGSON einer der Begründer der modernen Aktpsychologie. seine glänzende Beredsamkeit und überaus klare Darstellung machen ihn sehr geeignet zur Einführung in die nicht-naturwissenschaftliche, nicht-mechanistische Psychologie. Nur darf man sich auch nicht blenden lassen von seinen äußeren Vorzügen. Wer NATORP, HUSSERL und andere Aktpsychologen näher kennt, wird gewahr, daß hei BERGSON vieles noch Bild, Analogie, Gleichnis ist, was einer noch eingehenderen Analyse in Begriffe umzuformen möglich wurde.

Was die äußeren Vorzüge der Darstellung anlangt, so kommt JAMES BERGSON oft nahe; er übertrifft ihn durch seine innere Wärme und die leidenschaftliche Glut seiner Überzeugung; jedoch entbehrt seine Psychologie der inneren Geschlossenheit; heterogene Begriffssysteme, assoziationspsychologische und aktpsychologische, sind darin gleichermaßen untergebracht. Sein Hauptwerk, "The Principles of Psychology", 2 Bde. erschien 1890 (25), zwei Jahre nach BERGSONs "Données immédiates". Fast mit denselben Worten wie BERGSON bekämpft er den unheilvollen Einfluß, welchen Sprache und Außenwelt ("die Dinge") auf die Darstellung des Seelenlebens ausüben (26). "The thought is most easily conceived under the law of the thing whose name it bears." [Der Gedanke wird nur allzuleicht unter das Gesetz des Dings gebracht, dessen Namen er trägt. - wp], heißt es einmal (Seite 326); immer wieder "language works against our perception of the truth" [Die Sprache arbeitet gegen unsere Wahrnehmung der Wahrheit - wp] (Seite 241). Die Begründung ist dieselbe wie bei BERGSON. Das Wort "isoliert"; es nennt die Vorstellung ganz allein nach dem einen Objekt, das sie deutlich bezeichnet und von dem sie den Namen hat, während sie daneben, nur undeutlich, vielleicht noch tausend andere Dinge bezeichnet.

Ganz besonders wendet sich JAMES auch gegen die mechanistische Auffassung, als könnten seelische Vorgänge (facts) sich lediglich selbst zusammensetzen, kombinieren oder assoziieren oder sich  selbst  summieren; als ob der zusammengesetzte seelische Vorgang nichts anderes als die Summe der ihn zusammensetzenden Vorgänge wäre! Nein, die zusammengesetzte Vorstellung (the compounded idea) ist eine durch und durch neue psychische Tatsache. die sie zusammensetzenden Vorgänge verhalten sich zu ihr selbst nicht wie konstituierende Bestandteile, sondern wie  Bedingungen  ihrer Entstehung. Es handelt sich um eine "relation not of constituens, but of occasions of production" [Es handelt sich nicht um eine Beziehung zwischen Bestandteilen, sondern von Möglichkeiten der Produktion. - wp]. Wie im Parallelogramm der Kräfte nicht die Kräfte selbst sich zu einer diagonalen Resultante kombinieren, sondern eines Körpers bedürfen, auf den sie inwirken können, um die resultierende Wirkung zu zeigen, so muß auch im Seelenleben ein Drittes hinzukommen, damit jenes gänzlich neue seelische Gebilde entsteht, etwas,  an dem  sich jene Bedingungen erfüllen können. Hier sind wir wieder angelangt am schöpferischen Prinzip im Seelenleben, nennen wir es nun Seele, Subjekt, Ich, Bewußtsein, Dichtungsvermögen, Einbildungskraft oder sonstwie. Wir werden auf JAMES weiter unten, anläßlich des Problems des Zusammenhangs des Seelenlebens, noch zurückkommen.


e) WILHELM WUNDT

Auf eine einfache Formel gebracht finden wir das "Freie, Schöpferische im Seelenleben" auch bei WUNDT, Grundriß der Psychologie, Leipzig 1907, Seite 398), nämlich im  Prinzip der psychischen Resultanten und dem Prinzip schöpferischer Synthese. "Das Prinzip der psychischen Resultanten  findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß jedes psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind." "In den Resultanten kommt auf diese Weise ein Prinzip zur Geltung, das wir im Hinblick auf die entstehenden Wirkungen auch als das  Prinzip schöpferischer Synthese  bezeichnen können" (a. a. O. Seite 399).


f) CHRISTOPH SIGWART

Wie erwähnt, hat sich auch SIGWART, dessen Logik I 1873, II 1878 erschienen ist, dieser Auffassung angeschlossen: "Niemals läßt sich ja ein Moment unseres Lebens, in welchem wir eine Mehrheit unterscheidbarer Akte und Tätigkeitsformen sondern können, als eine bloße Summe von Elementen betrachten, oder unter dem Bild eines, aus verschiedenen Teilen bestehenden, räumlichen Ganzen darstellen; vielmehr ist die Art, wie das Einzelne im Bewußtsein zusammen ist, wieder etwas für sich, und nicht aus den Bestandteilen zusammenzusetzen" (Logik II, 4. Auflage, Seite 208). Wenn dem aber so ist, wenn also ein neuer Akt des Bewußtseins, "der eine Art  schöpferischer Synthesis  enthält", erforderlich ist, "wenn also in dem, was als Wirkung gelten soll,  mehr  ist als in der vorausgesetzten Ursache, wenn etwas  Neues,  im Gegebenen noch nicht Enthaltenes, hinzukommt, woher soll dieses Mhr, dieses Neue kommen? Ist dem so, dann kann eben darum das Frühere für sich, als bloßer Vorgang, nicht das Spätere wirklich erklären; erklärt ist es nur, wenn wir ein Subjekt voraussetzen, in dessen Natur es liegt, aus Veranlassung bestimmter Tätigkeiten andere aus sich zu erzeugen; der eigentliche Grund des Neuen liegt im entwicklungsfähigen Subjekt, dessen Funktion sowohl die spätere wie die frühere Tätigkeit ist" (a. a. O. Seite 214f). "Darum ist der viel geschmähte, weil viel mißbrauchte Begriff des  Vermögens  doch der Ausdruck des Verhältnisses, das hier vorliegt; das Wort bezeichnet, richtig gefaßt, diejenige Natur des geistigen Subjekts, vermöge deren es, aus sich selbst heraus, auf gewisse Veranlassungen hin, Tätigkeiten produziert, die nicht bloß Fortsetzungen der früheren sind, vermöge der es sich in der Zeit entfaltet und damit verwirklicht, was in seiner Anlage enthalten ist" (ebd.). Nur auf physikalischem Gebiet, und auch hier nur bis zu einem gewissen Punkt, läßt sich die Betrachtung durchführen, welche bloß Vorgänge kausal verknüpft; denn "das Prinzip der Erhaltung der Energie, die Äquivalenz der Bewegungen, welche vorangehen und welche nachfolgen, läßt das physikalische Geschehen als einen gleichmäßig fortfließenden Strom erscheinen, in welchem in einem späteren Zeitpunkt, nur in anderer Form, dieselbe Wirkungsfähigkeit vorhanden ist, wie in einem früheren; es geschieht nichts Neues, was nicht in den Bedingungen schon enthalten gewesen wäre". Auf geistigem Gebiet hingegen tritt dieses Neue ein, und "was wir jetzt in einem weiteren und ungenauen Sinne Ursache nennen, hat nur die Bedeutung, eine Bedingung herzustellen, unter der das geistige Subjekt neue Tätigkeiten produziert" (ebd.).

Diese Ausführungen SIGWARTs bedürfen keiner Ergänzung mehr; es sei nur darauf hingewiesen, wie nahe sich das Problem der schöpferischen Synthesis und das Kausalproblem miteinander berühren! SIGWARTs Ausführungen hierüber sind uns umso maßgebender, als seine Analyse des Kausalbegriffs (vgl. Logik II, Seite 73f: Der Begriff des Wirkens) in der modernen Logik Epoche gemacht hat. Wenn wir selbst hier auf die Frage der  psychischen Kausalität  nicht näher eingehen, so geschieht das deshalb, weil sie für uns mit der umfassenderen Frage: objektivierende oder subjektivierende Psychologie (vgl. den VI. Abschnitt dieses Kapitels) steht und fällt. Nicht von der Logik, Erkenntnistheorie oder Metaphysik erwarten wir also die Entscheidung dieser Frage, sondern von der Methodologie oder der Lehre von der wissenschaftlichen  Methode.  Die Frage, ob es eine psychische Kausalität "gibt", hat daher für uns, streng genommen, keinen Sinn; sondern soweit sich auch immer die objektivierende Begriffsbildung erstreckt, soweit herrscht auch das Kausalitätsproblem und umgekehrt. Nur darf das Prinzip der Kausalität oder die Kausalität als Kategorie nicht verwechselt werden mit der Kausalgesetzlichkeit,  d .h. mit dem Nachweis von Kausal gesetzen.  Die letzteren "reichen" so weit, wie die  naturwissenschaftliche  Betrachtung reicht, welche nicht etwa  die  objektivierende, sondern nur  eine  Art objektivierender Wissenschaft ist. Das Problem der historischen oder individuellen Kausalität sei hier absichtlich außer acht gelassen.


g) HERMANN LOTZE

Wir können diesen Abschnitt mit keinem würdigeren Namen beschließen als mit demjenigen LOTZEs. Schon oben sagten wir, daß er am ehesten KANT mit der modernen Psychologie verbindet. Wenn wir in KANT den Abschluß derjenigen Richtung in der Psychologie erblicken, die, für die neuere Zeit mit LEIBNIZ beginnend, sich über die Schweizer G. F. MEIER, SULZER, TETENS hin erstreckt, und wenn wir andererseits BERGSON für einen der Begründer der modernen Psychologie halten, muß uns derjenige Geist, der beide zu verbinden scheint, von besonderem Interesse sein. Nicht als ob BERGSON bewußt auf LOTZE fußen würde! Zwar scheint uns BERGSON mehr von JAMES beenflußt, als äußerlich erkennbar ist; zwar fußt JAMES offenkundig auf BRENTANO und dieser wieder stark auf LOTZE; jedoch kommt es uns hier weniger auf den historischen Hergang an, der eine Schrift für sich beanspruchen würde, als auf den objektiven Gehalt der für die Psychologie "systembildenden" Gedanken der Forscher. Wir zerreißen ja auch den Gang der Geistesgeschichte, indem wir Anfang und Ende jener ersten Epoche, indem wir LEIBNIZ und KANT erst betrachten, nachdem wir die Gegenwart abgehandelt haben. Ebenso zerreißen wir das historische Band, wenn wir LOTZE an dieser Stelle einfügen. Der erste Band seines  Mikrokosmus hier für uns der wichtigste, erschien 1856, die für uns weniger wichtige "Medizinische Psychologie" bereits 1852.

Es gibt kaum einen Geist in der Geschichte der Psychologie, der größere Klarheit über das Dunkel psychologischer Probleme ausbreitet als HERMANN LOTZE. Wir verlassen LOTZE nie, ohne von ihm in rigendeinem entscheidenden Punkt Aufklärung empfangen zu haben. Auch das Problem der schöpferischen Synthesis hat er, kantischen Geist atmend, einer Lösung entgegengeführt, die JAMES und BERGSON, WUNDT, SIGWART und DILTHEY, sowie die modernen Aktpsychologen überhaupt, im Grunde nur übernommen haben. Er bereits hat es ausgesprochen, "wie völlig uns auf diesem Gebiet (nämlich dem des Bewußtseins) die gewohnten Betrachtungsweisen der Naturwissenschaften verlassen". Auch er bekämpft schon die Verwechslung des Prinzips der  psychischen  Resultanten mit der Resultantenbildung in der Physik. "Die Vorstellungen vom Verschmelzen mehrerer Zustände zu einem mittleren, von resultierenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung einzelner Wirksamkeiten entsprangen, haben nachteilig genug auf die Erklärung der inneren Erscheinungen eingewirkt" (Mikrokosmus I, 5. Auflage, Seite 182f). Um die "ganz anders geartete Natur des Vorstellens" (was bei ihm soviel heißt wie des Bewußtseins) zu zeigen, geht er auf die Verhältnisse sowohl bei den Empfindungen als bei den Gefühlen, aber besonders auch auf diejenigen beim Urteil ein.

Im Bewußtsein sehen wir keinen Übergang von zwei  Bewegungen  in Ruhe oder in eine dritte mittlere, in welcher sie unkenntlich untergehen; vielmehr bewahren unsere Vorstellungen durch alle verschiedenen Schicksale hindurch denselben Inhalt, "und nie sehen wir die Bilder zweier Farben sich in unserer Erinnerung zum Gesamtbild einer dritten aus ihnen gemischten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der eines einfachen zwischen ihnen gelegenen, niemals die Vorstellungen von Lust und Leid zur Ruhe eines gleichgültigen Zustandes sich mischen und ausgleichen" (a. a. O. Seite 183). Daß wir hie und da von Mischempfindungen, z. B. von Mischfarben reden, darf uns dabei nicht irremachen; denn wo wir eine Mischfarbe wahrnehmen, wie etwa an den Rändern von sich im Raum unmittelbar berührenden Farben, da ist die Mischung oder Verschmelzung nicht vom "Geist" erzeugt, sondern "nach physischen Gesetzen" vollzogen. "Nur solange verschiedene der Außenwelt entspringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebietes, durch dessen Vermittlung sie auf die Seele wirken, nach physischen Gesetzen einen Mittelzustand erzeugen, läßt uns dieser, als einfacher Anstoß nun dem Geist zugeführt, auch nur die einfache Mischempfindung entwickeln, statt der beiden, die wir getrennt wahrgenommen haben würden, wenn die Reize uns gesondert hätten zukommen können" (ebd.). Es handelt sich also gar nicht um eine Mischung auf  seelischem  Gebiet; vielmehr ist auch die Mischempfindung, als "psychisches Phänomen", wie BRENTANO sagen würde, eine  einfache  Empfindung. Erst recht findet keine solche Mischung statt in der Erinnerung; "die Bilder der Farben, die in unserer Erinnerung raumlos und ohne Scheidewand zusammen sind, rinnen nicht in das einförmige Grau zusammen, das wir als Mittelergebnis erwarten müßten, wenn überhaupt das Verschiedene in unserer Seele sich ausgleichend verschmölze. Aber das Bewußtsein hält im Gegenteil das Verschiedene auseinander in dem Augenblick selbst, in welchem es seine Vereinigung versucht; nicht in der Mischung läßt es die mannigfachen Eindrücke unkenntlich zugrunde gehen, sondern indem es jedem seine ursprüngliche Färbung läßt, bewegt es sich vergleichend zwischen ihnen und wird sich dabei der Größe und der Art des Übergangs bewußt, durch des es vom einen zum andern gelangte. In dieser Tat des Beziehens und des Vergleichens, den ersten Keimen allen Urteilens, besteht das, was auf geistigem Gebeit, völlig anders geartet, der Resultatenbildung physischer Ereignisse entspricht; hierin liegt zugleich die wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtseins" (Seite 183f). Die logische Trennung zwischen dem Begriff des "Eindrucks" und dem einer "vergleichenden Bewegung" des Bewußtseins (der "Tat des Beziehens und Vergleichens"), welche schon bei LEIBNIZ-TETENS-KANT in gewissem Sinne vollzogen war, macht eben LOTZE zum Bindeglied zwischen jener Epoche und den Modernen. Gerade bei LOTZE erscheint diese Trennung zum erstenmal im modernen Sprachgewand, wie ein Vergleich mit WUNDT oder SIGWART zeigen kann.

Sehr klar wird jene Trennung auch ausgesprochen im folgenden: "Rot und Gelb verschmelzen, wenn sie, schon im Auge sich mischend, nur als einfacher mittlerer Reiz unserer Seele sich nähern; in unserer Erinnerung bleiben die getrennt empfundenden getrennt und es entsteht aus ihnen nicht der Eindruck von Orange; entstände er, so wäre auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die Vergleichung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir uns der Form des Wechsels bewußt werden, den unser Zustand im Übergang von Rot zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch sie die neue Vorstellung qualitativer Ähnlichkeit und Unähnlichkeit" (Seite 184f). Hier ist jene Trennung sprachlich eingekleidet in den Unterschied zwischen dem  vergleichbaren  Material und der  Vergleichung  oder der Tat (heute sagt man: dem Akt) des Vergleichens, durch welche es dann zur Vorstellung der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit kommt.  Diese  Vorstellung ist keineswegs im Material selbst enthalten oder aus ihm zu gewinnen, sondern sie ist ein Akt des Bewußtseins selbst. Überall zeigt gerade das "innere Leben" (TETENS und KANT würden sagen: die innere Erfahrung oder der innere  Sinn),  "daß alle höheren Aufgaben unserer Erkenntnis und unserer ganzen geistigen Bildung auf derselben Schonung beruhen, mit welcher das Bewußtsein das Mannigfaltige der Eindrücke in seiner Mannigfaltigkeit, in allen Unterschiden seiner Färbung bestehen läßt, und daß nichts so weit von den notwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt sein kann, als jene Bildung resultierender Mischzustände, mit deren Hilfe man so oft und so unbedacht alle Weiterentwicklung, ja selbst alle ursprüngliche Entstehung unserer inneren Regungen erklären zu können glaubt" (Seite 185).

Schon LOTZE spricht es klar und bestimmt aus, daß es sich bei der "Mannigfaltikeit der Eindrücke" einerseits, den "Taten eines beziehenden oder vergleichenden Wissens" (wie sein in die Geschichte übergegangener Terminus heißt) andererseits, um "zwei unvergleichbare Kreise von Erscheinungen" handelt, nämlich um die Kreise der körperlichen und der seelischen Erscheinungen. Das Kennzeichen der letzteren aber ist, wie wir noch vielfach zu hören Gelegenheit haben werden: Tat, und damit  acte libre,  schöpferische Synthese, Einbildungskraft, Dichtungsvermögen, oder wie immer man das Wesen des Bewußtseins kennzeichnen mag.
LITERATUR - Ludwig Binswanger, Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie, Berlin 1922
    Anmerkungen
    9) Darunter versteht man eben die Aufgabe der  Erklärung. 
    10) Wir bestimmen also damit den Begriff der Naturwissenschaft, wie es uns allein möglich erscheint, durch ihre begriffliche  Methode  und keineswegs durch einen beliebigen  Gegenstand,  wie ihn der Begrif der Körperwelt darstellt. "Naturwissenschaftliche Erklärung" wird, insbesondere in der Psychiatrie, oft als synonym aufgefaßt mit "Erklärung aus  physischen (oder körperlichen)  Vorgängen". Ein besonders deutliches Beispiel hierfür bildet BLEULERs "Versuch einer naturwissenschaftlichen Betrachtung der psychologischen Grundbegriffe" aus dem Jahre 1894. Unter naturwissenschaftlicher Betrachtung versteht er hier "die konsequente Durchführung der neurologischen Auffassung" oder den Nachweis, "daß ein Komplex physischer Funktionen alle psychischen Phänomene, inklusive Bewußtsein, hervorbringen, bzw. erklären könne (Seite 134).
    11) Diese Frage führt zu dem Gegensatz zwischen der "wertbeziehenden" Begriffsbildung der historischen Wissenschaft und der generalisierenden oder "naturwissenschaftlichen" Begriffsbildung der Körperwissenschaften und der Psychologie.
    12) Nach dieser Lehre "halten wir eine Sache erst dann für wirklich begriffen, wenn wir von der sinnlichen Anschauung absehen können" (RICKERT, Zur Lehre von der Definition, Seite 64)
    13) Ein solcher Versuch ist z. B. die WUNDT'sche Psychologie, insofern sie die "Ergänzung" seelischer Vorgänge durch körperliche zur Grundlage hat.
    14) Vgl. hierzu das Beispiel aus POINCARÉ, Wissenschaft und Hypothese weiter oben.
    15) Vgl. RICKERT, Grenzen etc., Seite 157: "Es würde also bei der Erörterung der psychologischen Idealwissenschaft und der Konstruktion eines logisch vollkommenen Begriffssystems der Psycholgie auch Rücksicht auf sachliche Eigentümlichkeiten des Psychischen zu nehmen sein." RICKERT denkt dabei an eine psychologische Idealwissenschaft im Sinne der "letzten" Naturwissenschaft, während wir zeigen wollen, daß  gerade  die Berücksichtigung der  sachlichen Eigentümlichkeiten  des Psychischen notwendig auf ein ganz anderes Begriffssystem führt und seit langem geführt hat, als auf dasjenige der Naturwissenschaft.
    16) Die Untersuchung der Zürcher "Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungskraft zur Ausbesserung des Geschmacks" erschien zuerst 1727, BREITINGERs Hauptwerk, die "Critische Dichtkunst", 1740.
    17) Den tiefsten Ausdruck dieses Gedankens finden wir in KANTs Lehre vom Genie (vgl. Kritik der Urteilskraft § 46 - 50).
    18) Schon vorher aber ist es wieder die Lehre vom Genie, in der wir eine Verbindung der bisherigen psychologischen und ästhetischen Begriffe (Dichtungsvermögen als Erzeuger von Gattungsbegriffen) mit den Grundanschauungen von LEIBNIZ (von der unbewußten Wirksamkeit der Vorstellungen) finden. Es handelt sich um des Schweizers JOHANN GEORG SULZER "Allgemeine Theorie der schönen Künste" (1771 - 1774).
    19) Auch MÜNSTERBERG, Grundzüge der Psychologie I, Seite 308, betont den organisierenden Charakter des Bewußtseins: "Der psychische Vorgang organisiert; er bildet das Chaos der Eindrücke zu einem einheitlichen Geschehen aus."
    20) Vgl. hierzu die Argumentation TETENS' gegen die "gewöhnlichste Idee vom Dichtungsvermögen" (Seite 39), welche auf ganz dasselbe hinausläuft.
    21) Ich verweise z. B. auf die psychologischen und psychopathologischen Studien SCHELERs und HAAS', die uns später noch beschäftigen werden, und auf diejenigen SIMMELs. Vgl. als klassisches Beispiel für die Anwendung einiger BERGSON'schen Gesichtspunkte: SIMMEL, "Das Abenteuer" (Philosophische Kultur, 2. Auflage, Seite 7).
    22) Wir können hier darauf aufmerksam machen, daß im Grunde genommen die  "Verdichtung"  gar keine aktive und sekundäre Verbindung getrennter Vorstellungen ist, sondern den primären normalen Zustand in den tieferen Bewußtseinslagen darstellt, und daß die begriffliche "Dissoziation", die  Trennung  des ursprünglich dicht Vereinigten, einer  Arbeit  des Geistes zu verdanken ist. Wenn wir von Verdichtung reden, denken wir an die Vereinigung oder Konzentrierung des vorher Geschiedenen, während es sich im Traumleben um ein Zusammensein des nachher, d. h. durch Analysis zu Trennenden handelt. Durch die assoziationspsychologische Auffassung des Bewußtseinslebens wird, wie BERGSON einmal mit Recht sagt, alles auf den Kopf gestellt!
    23) Man denkt hier an BLEULERs Lehre von den nahen Beziehungen zwischen Affektivität und Suggestibilität ("Affektivität, Suggestivität, Paranoia", Halle a. d. Saale, 1906).
    24) Einen deutlichen Niederschlag der Lehre BERGSONs in dieser Hinsicht finden wir bei SCHELER: "Die Idole der Selbsterkenntnis" (Abhandlungen und Aufsätze II, 1915).
    25) Wir zitieren nach der Auflage London 1901.
    26) Ob BERGSON etwa durch frühere Schriften JAMES' oder dieser durch die "données immédiates" beeinflußt wurde, kann ich nicht sicher entscheiden. Da das hier hauptsächlich in Betracht kommende Kapitel "The stream of thought" zum großen Teil schon in einem Aufsatz vom Jahr 1844 enthalten war (vgl. Principles Seite 224, Anm.), muß ich der ersteren Möglichkeit den Vorrang geben.