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JULIUS von KIRCHMANN
(1802 - 1884)
Die Lehre vom Vorstellen

"Man entwickelt beim Sehen kein Wollen, keine Kraft und empfindet auch nicht den Druck oder die Wirkung einer fremden Kraft; der Vorgang ist vielmehr ein  reines Geschehen,  und zwar ein solches, das  plötzlich  eintritt. Mit dem Aufschlagen der Augen ist das Sehen vollendet."

"Man hat neuerlich allerdings elektrische Ströme in den Nerven entdeckt, welche schwächer oder stärker stattfinden, je nachdem der Nerv erregt ist oder nicht. Aber der Zusammenhang dieser Ströme mit dem Sehen ist nicht aufgeklärt. Noch weniger ist bekannt, wie der Übergang aus diesen letzten Enden des Körperlichen in das Geistige stattfindet und wie das Geistige durch die Zustände des Sehnerven und des Gehirns zu einem Sehen bestimmt wird."


Vorwort

Die Philosophie ist kein Buch mit sieben Siegeln für den gesunden Menschenverstand; vielmehr hat sie mit den besonderen Wissenschaften nicht bloß den Gegenstand gemein, sondern auch die Mittel der Erkenntnis und die Weise der Darstellung.

Der  Gegenstand  der Philosophie ist das  Allgemeinste  der Dinge, oder deutlicher sind es die höchsten Begriffe und Gesetze des Seins und des Wissens, die, weil sie die höchsten sind, sich durch die besonderen Wissenschaften als deren Band hindurchziehen und ihren gemeinsamen Kern bilden. In den Gegenständen besteht keine Grenze für die Philosophie und die besonderen Wissenschaften; in den Gegenständen ist das Allgemeine und das Besondere in Einheit. Nur das Wissen bringt die Trennung und sucht eine Grenze zu ziehen, die aber schwankend bleibt und die Philosophie in die besonderen Wissenschaften und diese in jene übergreifen läßt.

Die  Mittel der Erkenntnis  für die besonderen Wissenschaften sind in ihrer vollen Allgemeinheit die  Wahrnehmung  und der  Widerspruch Aus deren vereinten Benutzung geht ihr Inhalt und seine Wahrheit hervor. Auch die Philosophie hat keine anderen Mittel für ihre Wahrheit. Zwar bekämpft sie, seit ihrem Bestehen, diese Mittel und sucht nach besseren; aber die Erkenntnis, daß es deren keine gibt, wird dereinst zu den größten Fortschritten der Philosohie zu gehören. Mit dieser Erkenntnis wird die andere sich verbinden, daß diese Mittel weiter führen, als man sich in ihrer Verachtung hat träumen lassen.

Auch in der  Weise der Darstellung  hat die Philosophie keine Besonderheit, keine bevorzugte Stellung. Die Gemeinsamkeit der Wege zur Wahrheit führt von selbst zur Gemeinsamkeit ihrer Darstellungsweise. Die Bestimmtheit des Gedanken ist nicht bloß in den besonderen Wissenschaften fähig, Ausdruck der Wahrheit zu sein, sondern auch innerhalb der Philosophie. Der Widerspruch ist nicht zugleich das Kennzeichen der Unwahrheit in jenen und der Wahrheit in dieser.

Wenn dessen ungeachtet die Erkenntnis in der Philosophie dem gewöhnlichen Vorstellen eigentümliche Schwierigkeiten bereitet, so liegt das nur in der Ungewohnheit, das begriffliche Trennen in der vollen Trennung von den bildlichen Resten des gewöhnlichen Vorstellens festzuhalten. Dabei kann die Philosophie nicht, wie die besonderen Wissenschaften, den Lohn der Mühe schon nach den ersten Schritten bieten. Ihre Lust ist die höchste, welche die menschliche Seel erreichen kann; abr gleich der Fernsicht vom erhabenen Bergesgipfel, fordert sie ein mühsames Aufsteigen durch Schluchten und Einöden, wo selbst die beschränkte Rundsicht, wie sie die Ebene bietet, verschwindet und die Hoffnung schwankt, ob die Höhe zu erreichen sei.

Der Philosophie des  Wissens  steht die Philosophie des  Seienden  zur Seite. Sein und Wissen, im Inhalt gleich, haben in den Formen den höchsten Unterschied; diese Formen des Wissens werden damit für sich Gegenstand der Erkenntnis. Zu ihnen gehört auch die  Sprache welche der Mitteilung des Wissens dienend, nur das wahrnehmbar gemachte Wissen ist.

Das  Seiende  zerfällt in Körperliches und Geistiges; die Philosopihe der  Natur  und der  Seele Im Handeln richtet sich gegen die Natur oder gegen den Menschen; oder es dient nur der freien Darstellung des schöpferischen Gedankes. Danach teilt sich die Philosohie des Handelns in die Philosophie der  Gesellschaft  (Technik, Volkswirtschaftslehre), des  Rechts  (Moral, Recht) und in die Philosophie der  Kunst  und  Religion Der beiden letzten Gegenstand geht aus dem schöpferischen Vorstellen hervor und hat keine Wirklichkeit. Die Kunst ist sich dessen bewußt; die Religion nicht. Jene schafft das Schöne; diese das Erhabene.

Das Handeln hat keinen Kreislauf, sondern zeigt einen Fortschritt in der Zeit. Dieser Fortschritt ist die Geschichte; mit der Philosophie der  Geschichte  schließt die Reihe ihrer Besonderungen.

Das vorliegende Werk bietet die Philosophie des Wissens; die der Sprache ist dabei nur kurz berührt. Das Wissen trennt sich in  Vorstellen  und  Erkennen,  je nachdem sein Inhalt mehr nach dem Wissenden oder nach dem Gewußten hin erfaßt wird. Die Lehre vom Vorstellen bildet den Inhalt des ersten; die Lehre vom Erkennen den Inhalt des zweiten Bandes.

Das vorliegende Werk geht von den zwei Fundamentalsätzen aus: das Wahrgenommene  ist  und: das sich Widersprechende  ist  nicht. Die vereinte Anwendung beider führt zur Wahrheit und es gibt keinen anderen Weg zu ihr, sowohl auf dem Gebiet der Natur und der Seele wie in dem des Rechts, der Kunst und der Religion. Die Trennung oder die Beseitigung dieser Sätze ist die Quelle aller Unwahrheit.

Dieses Werk tritt damit ebenso dem Idealismus KANTs, FICHTEs und SCHOPENHAUERs entgegen, wie der Identitätsphilosophie SCHELLINGs und HEGELs, von denen jener den ersten dieser Fundamentalsätze und diese alle beide auf den Kopf stellt und in ihr Gegenteil verkehrt.

Mit diesen Fundamentalsätzen kehrt die Philosophie zu den allgemein-menschlichen Grundlagen des Wissens zurück, wie sie in den Einzelnen und in die Völker von Natur gelegt sind. Das Denken des gegenwärtigen Jahrhunderts ist von diesen Fundamentalsätzen mehr, wie jedes frühere, durchdrungen, und die Kategorien der herrschenden Philosophien sind ihm damit zu einer unerträglichen Fessel geworden, aber die besonderen Wissenschaften, außerstande, diese Kategorien zu widerlegen, haben nur bittweise ihr Werk auf diesen Grundlagen errichtet und es ist hohe Zeit, daß dieser scheue Besitz in das sichere selbst-bewußte Recht umgewandelt wird. Das ist das Ziel dieses Werkes.

Im Besonderen sind den eigenen Ansichten, die bisherigen Ergebnisse der Philosophie vergleichend gegenübergestellt worden, weniger um Kritik zu üben, als um die Auffassung des hier Gegebenen zu schärfen und den Zusammenhang mit dem Vorhandenen zu erhalten. Es wurde dadurch möglich, eine eingehende Prüfung der Philosophie HEGELs anzufügen; jenes großen Mannes, der von seinen Gegnern bisher wohl ignoriert oder beschimpft, aber nicht widerlegt worden ist.

Bei der Bestimmtheit des Denkens, zu welchem jene Fundamentalsätze führen, konnte jene abschreckende philosophische Phraseologie über Bord geworfen werden, welche jetzt nur noch der Unklarheit dient und die Darstellung konnte zur Einfachheit der großen Griechischen Muster zurückkehren. Nur auf diesem Weg wird es der deutschen Philosophie gelingen, den Kreis ihrer Wissenden auszudehnen, in den Verkehr mit anderen Nation wieder einzutreten und sich von jenen wesenlosen Schatten und Schnörkeln zu lösen, in welche sie beim Qualm der Studierlampe und eingebannt in den engen Kreis ihrer Eingeweihten, geraten ist.



Das Sehen

1) Ich sehe diesen Rosenzweig. So wie ich in diesem Sehen eine Zeit lang verharre, treten unterschiedene Bestimmungen in diesem Gesehenen hervor. Ich sehe das Grün der Blätter, das Rosa der Blumen; ich sehe den Grad dieser Farben und zwar unterschieden, je nach ihrer Stellung zur Sonne; ich sehe ihre Dauer und indem ich den Zweig ins Feuer werfe, sehe ich seine Bewegung und seine Veränderung. Die Blätter schrumpfen zusammen, die Farben bleichen. Beim Sehen jedes anderen Gegenstandes zeigen sich die gleichen Bestimmungen. In  jedem  Gesehenen werden demnach acht unterschiedene Bestimmungen wahrgenommen:
    1) Farbe, 2) Grad, 3) Größe, 4) Gestalt, 5) Richtung,
    6) Dauer [Zeitgröße], 7) Bewegung oder Ruhe und 8) Veränderung oder Beharren.
Jedes Gesehene enthält diese acht Bestimmungen; keines enthält  noch  andere; jede dieser Bestimmungen wird  gesehen. 

2) Die  Farben  zerfallen, als gesehene, in vier; weiß, gelb, rot und blau. Alle anderen Farben gelten dem Sehen als eine Mischung jener einfachen. Nach der neueren Physik gehört Weiß ebenfalls zu den Mischfarben und entspringt aus der Mischung aller andern; aber für das  Sehen  gilt das Weiß nur als einfache Farbe. Schwarz ist keine Farbe, sondern der auf Null gesunkene Grad jeder Farbe. Jede Farbe geht durch Abnahme ihres Grades in Schwarz über. Schwarz ist dasselbe, wie Dunkel, es ist nur ein durch Farben begränztes Dunkel. Nach der Physiologie gilt auch das Schwarz bei geschlossenen Augen noch als Farbe von einer gewissen Helligkeit; aber für das Sehen ist das Schwarz überall das Nichts der Farbe. Das Weiß ist nicht der Gegensatz von Schwarz, nicht bloßes Licht oder bloßer Grad.  Alle  Farben gehen wohl durch Abnahme ihres Grades in Schwarz über; aber rot, gelb, blau bleiben dies auch bei den stärksten Graden und werden nie zu Weiß. Das vollkommen Spiegelnde und das vollkommen Durchsichtige sind das Nichts der eigenen Farbe des Gegenstandes. Das Glänzende ist das unvollkommen spiegelnde, das Trübe ist das unvollkommen durchsichtige; deshalb hat beides eine Farbe. Die Tiefe der Farbe bezieht sich auf die vollkommene Deckung des Gegenstandes durch die Farbe; das Reine der Farbe ist das gleichmäßige der bestimmten Farbe an allen Stellen.

3) Der  Grad  der Farben wird dann bestimmter gesehen, wenn die gleiche Farbe dem Licht mehr oder weniger ausgesetzt ist, wie der Schnee im Schatten und im Sonnenlicht daneben. Auch mit der Entfernung des Sehenden vom Gesehenen nimmt der Grad der Farben ab. Das Licht ist der Grad der Farben, so wie das Dunkel das Fehlen dieses Grades. Der Schatten ist der verminderte Grad der Farbe, aber kein Nichts, wie KANT meint. Zu schwache oder zu starke Grade der Farben werden nicht gesehen, wie die blendende Mittagssonne oder die entfernteren Gegenstände in der Dämmerung. Die Unterschiede des Grades können stetig oder springend ineinander übergehen; das erstere geschieht z. B. bei der allmählichen Entfernung des Gegenstandes; das letztere bei Verstärkung des Lichts durch den elektrischen Funken. Der Kampf GOETHEs gegen die physikalische Theorie der Farben beruth auf der Verwechslung des Lichts oder Grades mit dem Weiß oder der Farbe.

4) Die räumlich  Größe,  unterschieden von der Gestalt, wird gesehen; jedes unbefangene Vorstellen zweifelt nicht daran und weiß von keinem aus ihm selbst kommenden Hinzufügen der räumlichen Ausdehnung zur gesehenen Farbe. Die Größe dieses Talers nimmt zu und ab, je nach seiner Entfernung vom Sehenden, ohne daß sich die Gestalt desselben ändert. Es werden nur zwei Richtungen des Raums gesehen, d. h. nur Ebenen; die dritte Richtung wird nicht gesehen. Um diese zu sehen, muß die Richtung des Gesehenen geändert werden, entweder durch Bewegung des Gesehenen oder des Sehenden. In einem, aber nicht merkbarem Maße findet dies schon durch die verschiedene Richtung beider Augen statt. Wo dies nicht möglich ist, wie beim Mond, bleibt die Körperlichkeit für das Sehen ungewiß. Zu kleine und zu große Gegenstände werden nicht gesehen, wie die Infusionstierchen, oder die ganze Erde.

5) Die gesehene  Gestalt  ist nur die Gestalt in der Ebene; die körperlich Gestalt wird nicht gesehen. Die Gestalt kann im Sehen sich ändern, ohne daß sich die Größe des Gesehenen ändert; so bei einem Dreieck, das ohne Veränderung seiner Höhe und Grundlinien seine Spitze verschiebt. Die meisten gesehenen Gegenstände ändern im Drehen ihre Gestalt; keine dieser gesehenen Gestalten desselben Gegenstandes ist wahrer als die andere. Ein Ei sieht von dessen Spitze gesehen, rund aus; ein Taler von der Seite gesehen, hat die Gestalt eines Rechtecks. Das Sehen bemerkt noch Unterschiede in der Gestalt, wo die feinsten Instrumente diese Unterschiede nicht mehr messen können, z. B. in der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Lichtbilder. Ähnlichkeit ist Gleichheit der Gestalt bei ungleicher Größe. Im allgemeinen Dunkel wird nichts gesehen; aber falsch ist es, wenn von HEGEL behauptet wird, daß auch in einerlei Farbe, z. B. im Nebel, sei er weiß oder gelb, nichts gesehen werden könne. Die Farbe und ihr Grad werden auch dann noch gesehen. Das Sehen bedarf zum Sehen einer bestimmten Farbe und ihres Grades nicht des Unterschiedes einer anderen Farbe oder eines anderen Grades. Der Satz: Omnis definitio est negatio [Jede Definition ist Negation. - wp] gilt hier nicht.

6) Die  Richtung  des Gesehenen ist durch die Stellung des Sehenden bestimmt. Der Ort des Gesehenen wird in der Richtung nicht mit gesehen. Ein Stern wird auf das genaueste nach seiner Richtung gesehen, aber seine Entfernung ist damit nicht gegeben.

7) Die  Zeitgröße  oder Dauer des Gesehenen scheint dem gewöhnlichen Vorstellen nicht so sicher im Sehen enthalten zu sein, wie die früheren Bestimmungen. Indessen kommt dieser Schein nur daher, daß in der Regel das Gesehene eine längere Dauer hat als das Sehen. Wo das nicht stattfindet, fällt auch jener Zweifel. Ein feuriger Meteor in der Luft wird nur durch das Sehen wahrgenommen und dennoch kent man seine kurze Dauer, die daher nur gesehen sein kann. Bei einer Sonnenfinsternis wird Anfang und Ende  gesehen.  Von zwei sich Bewegenden  sieht  man, daß das eine sich schneller als das andere bewegt, d. h. man sieht die kürzere Dauer der Bewegung für den gleichen Raum. Die Raumgröße kann durch künstliche Vorrichtungen (Gläser) für den Sehenden vergrößert oder verkleinert werden. Für die Zeitgröße gibt es kein solches Mittel, ausgenommen die gesteigerte Aufmerksamkeit auf den Zeitverlauf selbst.

8) In der  Bewegung  des Gesehenen wird nicht bloß die Grenze, der Anfang oder der einzelne Ort, den die Bewegung durchläuft, gesehen, sondern die Bewegung selbst, als eine stetige, einen Raum und Zeit ausfüllende Bestimmung. Das Sehen der Bewegung beruth auf der Bewegung des Bildes vom Gegenstand über die Netzhaut des Sehnervs im Auge. Diese kann auch durch die Bewegung des Auges herbeigeführt werden, ohne Bewegung des Gegenstandes; daher die Täuschung über diese, wenn der Sehende die Bewegung seines Auges nicht kennt oder nicht beachtet. Die wichtigsten Unterschiede in der Bewegung, welche gesehen werden, sind das Gerade und das Krumme, das Schnelle und das Langsame der Bewegung. Es gibt für das Sehen eine Grenze in diesen Bestimmungen, über die hinaus die schnellere oder langsamere Bewegung nicht gesehen wird; so die Bewegung einer abgeschossenen Flintenkugel, die Bewegung des Stundenzeigers an der Uhr und das Wachsen der Pflanzen. Das Gegenteil der Bewegung, die Ruhe, wird gesehen, wenn das Bild auf der Netzhaut des Auges seinen Ort nicht ändert. Es können hier dieselben Täuschungen eintreten.

9) Die  Veränderung,  welche gesehen wird, kann die Farbe, den Grad, die Größe, die Gestalt, die Richtung und die Bewegung betreffen, und zwar einzelne oder mehrere dieser Bestimmungen auf einmal. Die Veränderung kann allmählich oder sprungweise erfolgen. Das Sehen der Veränderung besteht nicht bloß im Sehen dieser Bestimmungen zu einem bestimmten Zeitpunkt und dann wieder derselben in anderer Weise zu einem anderen Zeitpunkt; sondern im Sehen der Veränderung wird entweder das stetige, eine Zeit ausfüllende der Veränderung gesehen und nur dadurch die Veränderung selbst gesehen, oder es wird der augenblickliche Wechsel oder Sprung aus einer Bestimmung in die andere gesehen. Diese letzte Art von Veränderung sieht man z. B. beim plötzlichen Eintritt des Hellen durch einen Blitz in der Nacht, oder bei der durch einen Stoß bewirkten neuen Richtung in der Bewegung eines Körpers. Zu langsame Veränderungen werden nicht gesehen; deshalb sieht man nicht die Veränderungen werden nicht gesehen; deshalb sieht man nicht die Veränderung in Farbe, Größe, Gestalt der Pflanzen bei ihrem Wachsen. Das Gegenteil der Veränderung, das Beharren wird ebenfalls gesehen.

10)  Nicht gesehen  wird:
    1) die Entfernung des Gesehenen vom Sehenden
    2) die körperliche Gestalt des Gesehenen,
    3) die Bewegung in der Richtung vom Sehenden zum Gesehenen.
Einen Anhaltspunkt für die Wahrnehmung der Entfernung nicht allzuweiter Gegenstände gibt die dabei nötige Veränderung im Innern des Auges, um die Brechung der Lichtstrahlen mit der Entfernung des Gegenstandes zu ändern, und die Muskelbewegung der Augen, um die Kreuzung der Sehachsen beider Augen nach dieser Entfernung zu ändern. Deshalb wird von manchem, wie SCHOPENHAUER, auch die Entfernung als eine Bestimmung behauptet, welche  gesehen  werde. Aber wenn auch jene Vorgänge, die den Anhaltspunkt dazu geben, zum Teil wahrgenommen werden, so sind sie doch kein  Sehen,  sondern fallen unter den Sinn des  Fühlens.  Da die Änderung der Entfernung eines Gegenstandes mit einer Änderung seines gesehenen Farben-Grades und seiner gesehenen Größe verbunden ist, so gibt das Sehen dieser letzten Bestimmungen der Seele einen Anhalt, um daraus die Entfernung zu  schließen.  Ähnlich wird die dritte Richtung im Raum, oder die körperliche Gestalt des Gesehenen aus dem gesehenen Farben-Grad oder Licht und Schatten abgeleitet. Die lange Übung hierin verleitet das gewöhnliche Vorstellen dazu, diese Bestimmungen auch als gesehene zu nehmen.

11) Jedes Gesehene gilt dem Sehenden trotz dieser in ihm enthaltenen Unterschiede als  Eines,  als eine Einheit Unterschiedener. Diese Einheit ist für den Unbefangenen nicht erst von der Seele zu den gesehenen Unterschieden hinzugefügt, sondern sie ist ebenso unmittelbar wie die Unterschiede gegeben und im Gesehenen ansich enthalten. Die gespannteste Aufmerksamkeit bemerkt beim Sehen nichts von einer solchen, von der Seele selbst ausgehenden, die Unterschiede einigenden Tätigkeit. Jedes Gesehene gilt dem Sehenden als  Seiend,  und zwar als seien  außerhalb  des sehenden Ichs. Es ist unmöglich, diese Bestimmungen vom Gesehenen abzuhalten; sie sind ebenso unmittelbar darin enthalten, wie die Einheit. Jedes Gesehene gilt dem Sehenden in all seinen Bestimmungen als  gegeben und nicht als ein von der Seele des Sehenden erst Gesetztes. An den Bestimmungen des Gesehenen ist durch keine Willkür, durch keinen Wunsch etwas zu ändern; sie sind gegeben, so wie sie gesehen werden.

12) Vom Gesehenen ist das  Sehen  zu unterscheiden. Das Sehen gilt aufgrund der Selbstwahrnehmung und der Beobachtung an fremden Augen als ein Vorgang in der Seele, begleitet von einem Vorgang in einem Organ des Körpers. Der erstere enthält, soweit die Selbstwahrnehmung darüber Aufschluß gibt, weder ein Tun noch ein Leiden. Man entwickelt beim Sehen kein Wollen, keine Kraft und empfindet auch nicht den Druck oder die Wirkung einer fremden Kraft; der Vorgang ist vielmehr ein  reines Geschehen,  und zwar ein solches, das  plötzlich  eintritt. Mit dem Aufschlagen der Augen ist das Sehen vollendet. Der Vorgang ist ferner ein  einiger;  wenn auch verschiedene Zustände im Organ oder in der Seele dabei möglicherweise ineinandergreifen, so weiß doch die Selbstwahrnehmung davon nichts. Das Sehen gilt endlich dem Sehenden als ein  notwendiger  Vorgang; es kann, wenn die Augen geöffnet sind, nicht verhindert werden; es stellt sich dar als gebunden an den gesehenen Gegenstand, so daß wenn dieser für das Auge da ist, auch das Sehen eintritt.

13) Das Sehen weiß nicht von seinem körperlichen Organ und von den, in demselben, beim Sehen eintretenden Zuständen. Um hierüber einen Aufschluß zu erhalten, muß ein fremdes Auge zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden. Das Organ teilt sich in einen Vorbau und in den Sehnerv. Der Vorbau hat die Einrichtung einer Camera obscura und hat lediglich den Zweck, das Bild des gesehenen Gegenstandes auf die im Innern des Auges ausgebreitete Netzhat des Sehnerven zu leiten. Dieses Bild besteht nach der gegenwärtigen Auffassung der Physik in sehr schnellen Stößen der Äthermoleküle, welche sich in einer Wellenbewegung befinden.

14) Die Netzhaut besteht aus den aufrecht nebeneinander stehenden Ende einer außerordentlich großen Zahl von feinen Nervenfasern, welche, jede Faser in einer besonderen Hülle und dadurch von der anderen gesondert, sich in das Gehirn bis zu den Sehhügeln fortsetzen und dort in die allgemeine Masse des Gehirns verlaufen, ohne daß ihre Enden bestimmt nachgewiesen werden können. Der Sehnerv jedes Auges tauscht einen Teil seiner Fasern mit denen des andern Auges aus, ehe sie ins Gehirn eintreten. Der Inhalt der einzelnen Nervenfaser ist breiartig und hat die gleichen elementaren Bestandteile wie das Gehirn. Der Vorgang im Sehnerv und im Gehirn während des Sehens ist völlig unbekannt. Die schärfsten Beobachtungen und feinsten Instrumente haben keine Veränderung entdecken lassen. FECHNER sagt in seiner Psychophysik (II, Seite 378):
    "Was Anatomie und Physiologie uns vom inneren Getriebe lehrt, das unserem geistigen Treiben unterliegt, ist bisher bei weitem zu unvollständig, um sichere Schlüsse auch nur über das Allgemeinste zu erlauben. Sind es elektrische, chemische, mechanische, so oder so geformte Bewegungen eines ponderablen oder imponderablen [unwägbaren - wp] Mediums? Sagen wir einfach, wir wissen es nicht."
Man hat neuerlich allerdings elektrische Ströme in den Nerven entdeckt, welche schwächer oder stärker stattfinden, je nachdem der Nerv erregt ist oder nicht. Aber der Zusammenhang dieser Ströme mit dem Sehen ist nicht aufgeklärt. Noch weniger ist bekannt, wie der Übergang aus diesen letzten Enden des Körperlichen in das Geistige stattfindet und wie das Geistige durch die Zustände des Sehnerven und des Gehirns zu einem Sehen bestimmt wird.

15) Wenn ein Gegensatz oder Unterschied zwischen Körperlichem und Geistigem im Menschen angenommen wird, so wird der Übergang vom einen in das andere durch keine noch so große Verfeinerung des Körperlichen erklärt; denn der Unterschie zwischen ihm und dem Geistigen oder der Seele wird damit nicht gemindert. Die Annahme eines elektrischen Stromes oder eines anderen feinen Fluidums hebt daher die Schwierigkeit dieses Übergangs nicht. Soll zur Beseitigung dieser Schwierigkeit der Gegensatz zwischen Körper und Seele fortfallen, so bleibt doch der Unterschied zwischen der Vorstellung, dem Wissen, und dem Körperlichen unvertilgbar und es ist unmöglich, sich einen solchen Zustand des Körperlichen zu denken, der damit dasselbe wäre, was unter Vorstellen und Wissen verstanden wird.

16) Einzelne Vorgänge beim Sehen vergrößern noch diese Schwierigkeit. Man hat zwei Augen und sieht nur einfach. Der Austausch der Fasern im Chiasma [Sehnervenkreuzung - wp] kann das nicht erklären. In den beiden Netzhäuten sind korrespondierende Punkte, die allein dieses einfache Sehen bedingen; fallen die Bilder nicht darauf, so tritt Doppelsehen ein. Dennoch gehen auch diese korrespondierenden Fasern, jede isoliert, bis ins Gehirn. Die Bilder auf der Netzuhaut sind verkehrt; dennoch werden sie aufrecht gesehen. Die Physiologie hat zwei Erklärungen dafür; die wahrscheinlicheres beruth darau, daß das Sehen die Bilder nicht als Bilder der Netzhaut wahrnimmt, sondern in die Richtung des Gegenstandes durch die Pupille hinaus verlegt, wodurch das Verkehrte sich wieder in ein Aufrechtes verwandelt. Die sorgfältige isolierte Fortführung der einzelnen Fasern nach dem Gehirn spricht für die Überleitung der Erregung jeder Faser nach dem Gehirn. Dennoch drehen und ballen sich diese Fasern in ihrem Verlauf nach dem Gehirn in einen formlosen Strang, der sich ebenso im Gehirn verliert. Die scharfen Bilder der Netzhaut, welche auf der bestimmten Stellung und Lage der einzelnen Fasern in ihr beruhen, müssen deshalb schon durch den Lauf der Sehnerven zum Gehirn zugrunde gehen. Das Sehen gibt die stetige Erfüllung der Raums durch die Farbe und die stetige Begrenzung der Gestalt. Dennoch sind die Nervenfasern, als die Vermittler, jede von der anderen gesondert und ohne stetige Verbindung; es müßte also das Gesehene mehr die Natur eines Mosaiks haben.

17) Jede künstliche Erregung des Sehnerven erzeugt ebenfalls ein Sehen, aber niemals ein Hören, Fühlen oder sonstiges Wahrnehmen. Zu diesen künstlichen Mitteln gehört die Erregung des Sehnerven durch Druck, durch Elektrizität und durch narkotische, in das Blut eintretende Stoffe. Auch eine Überreizung des Nerven beim natürlichen Sehen hat ähnliche Folgen. Im Allgemeinen wird das, durch solche Mittel erregte Sehen sehr bestimmt vom natürlichen Sehen unterschieden. Dieses künstlich erregte Sehen ohne Gegenstand wird als Hauptgrund dafür benutzt, daß Einzelnes oder auch aller Inhalt des Gesehenen nichts Gegenständliches Sei, sondern nur ein Zustand des Sehnerven und ein bloßes Vorstellen. Die Erörterung dieser und anderer hier angeregten Fragen kann erst später erfolgen.
LITERATUR - Julius von Kirchmann, Die Philosophie des Wissens I, Berlin 1864