p-4 Rudolf WillyMax WalleserLudwig PongratzC. M. GießlerErnst Laas     
 
WILLIAM STERN
Psychologie der
individuellen Differenzen


"Die laienhafte Anschauung, daß das Individuum  X  gewisse  Eigenschaften  hat, die  Y  nicht besitzt, ist aufzugeben. Diese selbständigen, in der Luft schwebenden  Eigenschaften  sind unpsychologische Einheiten. Ihr geschlossenes Gepräge erhalten sie aus gewissen praktischen Rücksichten heraus; für den Seelenforscher aber müssen sie sich zurückführen lassen auf allgemeingültige, in allen Menschen vorhandene psychische Phänomene, von denen sie nur besondere Daseinsformen verkörpern."

Vorwort

Individualität, Problem des zwanzigsten Jahrhunderts! Es will nicht die Hauptprobleme bisheriger Wissenschaft: Gesetze und Allgemeingültigkeiten, zurückdrängen, wohl aber sich neben ihnen einen ganz anderen Platz als bisher erobern und mit ihnen in fruchtbarste Wechselwirkung treten. - Bei der gewaltigen Arbeit an diesem Problem wird die Psychologie nicht fehlen dürfen. Wie nun aber von der heutigen Seelenforschung her ein erster Schritt zur Individualitätsforschung hin zu machen sei, dies zu untersuchen möchte ich der  "differentiellen Psychologie"  als Aufgabe zuweisen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den individuellen Verschiedenheiten des menschlichen Seelenlebens ist nicht völlig neu - man vergleiche die Bibliographie am Schluß des Buches -; aber sie ist über einige zaghafte Anfänge und beiläufige Berücksichtigungen, über ein unsicheres Tappen und prinzipienloses Tasten noch nicht hinausgekommen; sie entbehrt noch jedes In-sich-gefestigt-Seins, jedes garantierten Bürgerrechts im Reich des Wissens. Dieser Zustand läßt sich nicht mit einem Schlag beseitigen und eine differentielle Psychologie als Wissenschaft mit festen Fundamenten und gesicherten Inhalten nicht mit einem Schlag begründen: so vermochte auch ich jetzt nicht mehr zu geben, als  Ideen  zu einer solchen - schon zufrieden, wenn man das lose aneinandergefügte Stückwerk und die provisorischen Erörterungen dieses Buches als  Hinweis  auf Erforschenswertes und als  Programm  künftiger Arbeit einiger Beachtung für wert hält. Denn die differentiell-psychologische Untersuchung bedarf mehr als ein anderer Zweig der Seelenkunde einer programmatischen Vorbereitung und Empfehlung, weil ihre Aufgaben zum großen Teil nur durch planmäßige Arbeitsgemeinsamkeit einer ganzen Reihe von Forschern zu lösen sind.

Die Abhandlung zerfällt in zwei an Länge und nach Inhalt sehr verschiedene Hauptteile. Der  erste  kürzere (der sich aus einigen in der Berliner und der Breslauer Psychologischen Gesellschaft gehaltenen Vorträgen herausgebildet hat) gibt eine Reihe von  prinzipiellen  Betrachtungen. Es wird hier die differentielle Psychologie als ein besonderer Wissenszweig mit eigenen, genau zu formulierenden Aufgaben, Zielen und Schranken postuliert; es werden die Hauptbegriffe des neuen Gebietes, wie der des Typus und der Individualität, endlich die verschiedenen Untersuchungsmethoden besprochen.

Der  zweite  Hauptteil wendet sich schon dem  Speziellen  zu und behandelt in freier Folge dieses und jenes seelische Funktionsgebiet, um festzustellen, nach welchen Richtungen hin im einzelnen das Studium der individuellen Abweichungen, insbesondere das experimentelle, Erfolge verspricht oder auch schon erzielt hat. Hierbei habe ich freilich von vornherein darauf verzichtet, sämtliche einschlägige Arbeiten zu berücksichtigen, und nur die wichtigsten und mir leicht zugänglichen verwertet.

Dagegen versuchte ich, wenigstens eine  bibliographische  Aufzählung der bisher vorhandenen differentiell-psychologischen Literatur in einem  dritten  Abschnitt zu geben.



Erster Abschnitt
Wesen, Aufgaben und Methoden
der differentiellen Psychologie


Das Besondere unterliegt ewig dem Allgemeinen
Das Allgemeine hat ewig sich dem Besonderen zu fügen.
Goethe.      

So jung die Psychologie als Spezialwissenschaft ist, so hat sie doch schon zahlreiche jüngere Sprossen gezeitigt, die sich zu kräftigen Zweigen zu entwickeln versprechen. Psychophysik und Experimentalpsychologie, Völker- und Sozialpsychologie traten in Erscheinung. Und gegenwärtig erleben wir wiederum eine Erweiterung des psychologischen Forschungskreises, von der wir vieles erhoffen dürfen; gilt es doch, sich den tiefsten Problemen, die den Menschengeist je beschäftigten, ein wenig zu nähern; gilt es doch, begriffliche Klarheit zu gewinnen über Fragen, deren Beantwortung die Wissenschaft im Bewußtsein der ungeheuren Schwierigkeiten bisher künstlerischer Intuition oder "gesundem Menschenverstand" überlassen zu müssen glaubte.

Es ist das gewaltige Problem der Individualität  - vorsichtiger ausgedrückt, das Problem der individuellen Eigenarten und Unterschiede - das zur Lösung gestellt ist.

Aber gerade weil es sich um Aufgaben handelt, die nicht nur wissenschaftliche, sondern auch die intensivsten allgemein-menschlichen Interessen berühren, ist doppelte Besonnenheit und Kritik von Nöten. Denn nur zu leicht kann es sonst geschehen, daß Hoffnungen und Wünsche die Resultate der Forschung trostlos verfälschen, daß man Hypothesen zu unrechtmäßigen Dogmen erheben und mit wenigem viel oder alles beweisen will. Darum ist, wenn irgendwo, bei einer Psychologie der Individualität die größte Langsamkeit im Vorwärtsschreiten geboten. Nur durch fortwährende Selbstbesinnung auf das, was sie leisten will und kann, durch Prüfung der Mittel, mit denen sie es zu leisten vermag, durch Innehaltung der Etappen, die sie zu berühren hat, wird sie die Klippen vermeiden, welche - die bisherige Gestaltung des jungen Forschungszweiges zeigt es leider schon - versteckt und offen ihre Wege gefährden. Eine solche "Selbstbesinnung" soll dieser Abschnitt darstellen, der sich daher zum Teil in negativ-kritischen Gedanken bewegen muß. Die hier gewonnenen Gesichtspunkte werden es uns dann ermöglichen, im zweiten Abschnitt eine Reihe von Ausblicken auf eine künftige positive Bearbeitung des neuen Gebietes zu geben.



I. Kapitel
Wesen und Aufgaben

Generell und "differentielle" Psychologie. -  Einer der wenigen Züge, der so ziemlich allen früheren Bestrebungen wissenschaftlicher Psychologie gemeinsam war, bestand darin, daß das Problem  generell  und lediglich generell gefaßt wurde. Die Forschungen galten den letzten Elementen, aus denen sich alles psychische Leben aufbaut, den allgemeinen Gesetzen, nach welchen sich die Seelenphänomene vollziehen. Hierbei suchte man von der unendlichen Mannigfaltigkeit, in der sich seelisches Sein und Leben bei verschiedenen Individuen, Völkern, Ständen, Geschlechtern usw. darstellt, möglichst zu abstrahieren; man strebte, aus dieser Mannigfaltigkeit gerade das Gemeinsame herauszudestillieren, und bezog die Resultate, bald mit Recht, bald mit Unrecht, auf  das  Seelenleben, nicht auf diese oder jene Erscheinungsweise psychischen Geschehens. Eine solche Abstraktion ist gerechtfertigt, solange sie aus einer verständigen Einsicht in die zeitweiligen Grenzen unseres Könnens hervorgeht; aber die Gefahr liegt nur allzu nah (und wird auch nicht immer vermieden), daß man vergißt, eine Abstraktion vor sich zu haben, und daß man glaubt, eine solche generelle Behandlungsweise sei fähig,  alle  von der Psyche aufgegebenen Probleme zu lösen. Dem gegenüber bricht sich erfreulicherweise jetzt mehr und mehr das Bewußtsein Bahn, daß auch das bisher Vernachlässigte, eben die differentiellen Eigentümlichkeiten der Seele, ihre Beachtung verdienen. Es wiederholt sich hier ein in der Geschichte der Wissenschaften und insbesondere unserer Wissenschaft häufig auftretender Zug: was man bisher als Fehlerquelle, als notwendiges, mit allen Hilfsmitteln zu kompensierendes Übel ansah, wird plötzlich zum selbständigen Problem. (1) Die individuellen Differenzen waren ein crux für die Lehre von der - wenn ich mich so ausdrücken darf - schablonisierten Menschenseele; sie werden zum eigenen Forschungsobjekt einer Lehre von der differenzierten Menschenseele:  der generellen Psychologie sucht sich als Ergänzung eine differentielle Psychologie anzureihen. 
    Ich berühre zunächst einen  terminologischen  Punkt. Für den neu erstehenden Forschungszweig finden wir bereits jetzt verschiedene Namen angewandt, die mir nicht recht zusagen wollen: "Charakterologie" (BAHNSEN), "Ethologie" (MILL), "Individual-" oder "individuelle Psychologie" (BINET, HENRI, KRÄPELIN u. a.). Die beiden erstgenannten Ausdrücke sind entschieden zu eng. Charakter, Ethos bezeichnet nicht die gesamte Eigenart einer Psyche, sondern wesentlich die Gemüts- und Willenssphäre derselben. Die im populären Denken übliche Scheidung zwischen Charakter und Intellekt spricht das deutlich aus, und es ist kein Grund vorhanden, eine solche Scheidung zu verwischen. Die differentiellen Eigentümlichkeiten im Funktionieren des Gedächtnisses, in der Empfänglichkeit für sinnliche Eindrücke und ästhetische Gebilde (man denke an das musikalische Gehör), in der intellektuellen Begabung usw. als "charakterologische Merkmale" betrachten zu wollen, geht doch wohl nicht an. - Brauchbarer wäre der Name "Individualpsychologie" - wenn derselbe nicht schon anderweitig festgelegt wäre. So aber hat er bereits seinen wohl eingebürgerten Sinn als Gegensatz zur "Völker-" und "Sozial"-Psychologie, und umfaßt dann  alles,  was sich auf das Seelenleben des Individuums bezieht, beschränkt sich also nicht nur auf das  Trennende verschiedener  Individuen. Hierzu kommt noch, daß das zu taufende Wissenschaftsgebiet nicht nur die Unterschiede zwischen Individuum und Individuum, sondern auch diejenigen zwischen Völkern, Ständen, Geschlechtern, Tiergattungen usw., kurz  alle psychischen Differenzierungsmöglichkeiten überhaupt  zum Gegenstand haben soll. (2) Diesem umfassenden Programm scheint der Terminus "differentielle Psychologie" am besten zu entsprechen (3)
Aufgaben der differentiellen Psychologie. -  Die Aufgaben, denen sich die differentielle Psychologie zu unterziehen hätte, bilden eine Trias: sie betreffen die  Differenzen selbst,  ihre  Bedingungen  und ihre  Äußerungen.  Die erste Frage lautet daher: Worin  bestehen  die Differenzen? Wodurch unterscheiden sich Individuen, Völker etc. in ihrem psychischen Leben? Ihre Beantwortung obliegt der eigentlichen  Differenzlehre.  Die zweite Frage, läßt sich formulieren: Wodurch sind die Differenzen  bedingt?  Es wäre hier die Beziehung der seelischen Beschaffenheit zu objektiven Faktoren wie Vererbung, Klima, Stand, Erziehung, Anpassung etc. zu untersuchen; wir dürfen dann vielleicht von einer psychischen Ätiologie [Ursachenlehre - wp] oder besser von einer  differentiellen  Psychophysik' sprechen. Zum dritten endlich kann man fragen: Worin  äußern  sich die Differenzen? Hierher gehören jene bisher freilich ungenügenden Versuche, aus Gesichtsschnitt, Handschrift und anderen Symptomen seelische Eigenheiten rückschließend erdeuten zu wollen. Ganz allgemein gefaßt würde sich hier eine psychische  Symptomenlehre  und  Diagnostik  ergeben. (4)

Von diesen drei Problemen ist das erste, d. h. die wirkliche Ergründung der psychischen Differenzen, dem Forscher bisher als Problem noch am wenigsten zu Bewußtsein gekommen; und doch ist es das wissenschaftlich wertvollste jener Dreiheit. Freilich aber auch das theoretischste. Von praktischen Motiven getrieben, stürzte man sich auf ätiologische und symptomatologische Untersuchungen, und glaubte hierbei mit jener Kenntnis individueller Verschiedenheiten auszukommen, die das Alltagsleben lieferte - ein verhängnisvoller Irrtum, der all jenen Unternehmungen den Weg zu einer wirklich exakten Durchführung versperrte. Man suchte etwas abzuleiten oder aus Zeichen zu erdeuten, was man wissenschaftlich genommen überhaupt noch nicht kannte! Vergleichen wir doch diese Bestrebungen mit den entsprechenden in anderen Wissenssphären. Wenn der Biologe nachzuweisen sucht, wie die Variationen der Tierarten durch Vererbung und Anpassung entstanden seien, begnügt er sich etwa damit, häufig in den zoologischen Garten zu gehen und sich eine praktische Tierartenkenntnis anzueignen? Um nicht als Pfuscher zu gelten, muß er doch wohl seine vergleichende Anatomie beherrschen. Der Psychologe aber soll sich bei der Beantwortung der entsprechenden Frage (wie psychische Verschiedenheiten bedingt seien durch Vererbung, Stand, Erziehung) mit der "praktischen Menschenkenntnis" zufrieden geben! - Und wenn der Arzt am Krankenbett aus gewissen, besonders aufdringlichen Symptomen im Moment eine Krankheit diagnostizieren will, so muß er zuvor in gründlichster klinischer Tätigkeit diese und andere Krankheiten in ihrem Wesen, ihrem Verlauf, ihren inneren und äußeren Erscheinungsformen kennen gelernt haben und darf sich nicht mit dem oberflächlichen pathologischen Wissen des gebildeten Laien begnügen. Anders beim "Seelendiagnostiker": was dort jeder verwirft, das Unzulängliche, hier wird es Ereignis. Er beachtet nur gewisse auffallende Symptome: Handschrift, Physiognomie, Schädelform; das aber, worüber diese Symptome Aufschluß geben sollen: das Charakteristische einer menschlichen Persönlichkeit, er kennt es - kraft des gesunden Menschenverstandes, Er weiß z. B., daß ein oben offenes  O graphologisch  Offenheit des Charakters zeigt. Aber weiß er denn, was "Offenheit des Charakters"  psychologisch  bedeutet? Hat er eine Ahnung davon, in welch besonderer Weise sich die verschiedensten psychischen Prozesse funktionieren und die verschiedensten psychischen Elemente gruppieren müssen, um jene Erscheinung hervorgehen zu lassen, die man also bezeichnet? Nein, dieses Wissen fehlt und muß fehlen;  denn  eine wissenschaftliche Lehre von den psychischen Differenzen existiert eben noch nicht.' Der Graphologe freilich entbehrt kaum einer solchen Lehre; der Psychologe aber sieht in ihr die Grundlage jeder Individualitätsforschung überhaupt, sowie die unumgängliche Vorbedingung für eine etwaige spätere Ätiologie und Diagnostik der psychischen Verschiedenheiten.

Gerade diesem Gebiet, das bisher so vernachlässigt wurde oder ganz unbeachtet blieb, sollen allein die folgenden Darlegungen gelten. Sie werden also mit voller Absicht lediglich im Psychischen bleiben und die Bezugnahme auf irgendwelche objektiven Bedingungen seelischer Differenzierung beiseite lassen. Um ein Beispiel zu geben: wir versuchen, die Varietäten kennen zu lernen und zu analyisieren, in denen Urteilstätigkeit auftreten kann, beschäftigen uns aber nicht mit der Frage, welches die spezifische Form der Urteilstätigkeit bei Mann oder Frau oder beim "Halbwilden" oder beim Handwerker sei. Ich hoffe gerade dadurch, daß ich von der jetzt so beliebten psychophysischen Fragestellung eine zurückhaltendere, vorbereitende absondere, der Forschung einen neuen und gangbaren Weg zu weisen.

Was verlangen wir von der psychischen Differenzlehre? Auffindung und Beschreibung der wirklich vorhandenen seelischen Verschiedenheiten; Nachweis derselben als besonderer Erscheinungsformen jener allgemeinen psychischen Elemente, Gesetze, Funktionen und Dispositionen, die uns die generelle Psychologie kennen lehrt; Einordnung der psychischen Besonderheiten in Typen; Untersuchung, wie aus dem Zusammentreffen gewisser einfacher Typenformen komplexere Typen entstehen; schließlich Einblick in das Wesen der Individualität, indem man sie als Kreuzungsprodukt verschiedener Typen betrachtet.

Schon diese Problemformulierung zeigt zur Genüge, wie wenig es erlaubt ist, sich mit den im unwissenschaftlichen Denken aufgespeicherten Vorstellungen und Namen zufrieden zu geben. Bei aller Achtung vor dem vieltausendjährigen Erfahrungsschat populärer Menschenkenntnis und seinen schon recht fein abgestuften Begriffen und Bezeichnungen für individuelle Besonderheiten, die sich im praktischen Alltagsleben wohl bewähren - müssen wir doch sagen: als Fundament wissenschaftlicher Forschung dürfen diese Tugenden und Laster, Begabungen und Neigungen, Charaktereigenschaften und Temperamente nicht anstandslos akzeptiert werden. Höchstens können sie zunächst als Leitfäden dienen, die uns in diesem Labyrinth seelischer Mannigfaltigkeiten eine vorläufige Orientierung ermöglichen. - Die großen Fortschritte der Wissenschaft bestehen ja nicht in einem plötzlichen Hervortauchen neuer Begriffe und Ideen aus dem Nichts; vielmehr darin, daß gewissen Alltagserfahrungen gegenüber, die man ehedem ohne weiteres hingenommen hatte, ein kritischer Standpunkt gewonnen, das Problematische an ihnen erkannt und an die Stelle der Selbstverständlichkeit das Streben nach Verständlichkeit gesetzt wurde. Durch eine Analyse des Gegebenen, die Ausscheidung des Unbrauchbaren und die Aufdeckung der Beziehungen zu anderen Sphären des Erkennens werden aus roh empirischen Vorstellungen wissenschaftliche Begriffe geschaffen: man denke nur an "Kraft" und "Entwicklung". Ähnliches wird auch bei unserem Problem von Nöten sein, um weiter zu kommen. Wir wollen das vorhandene Wissen und Meinen nicht schlechthin verwerfen, aber wir müssen es gründlich um- und durcharbeiten und es vor allen einzureihen suchen in die schon bekannten Zusammenhänge exakten Wissens. Zur Verwirklichung dieser Forderung fehlt bisher nichts weniger als alles. Die zahlreichen Begriffe für charakteristische Eigentümlichkeiten der Menschenseele entbehren noch jeder Beziehung zu jenen Begriffen, welche die wissenschaftliche generelle Psychologie geschaffen hat; zwei Gedankensysteme, die sich auf einen und denselben Gegenstand, nämlich die menschliche Psyche, beziehen, stehen sich völlig fremd gegenüber, ohne jeden Kontakt, ohne jede Spur von Solidarität. Wenn wir diesen einen Pedankten und jenen einen Leichtfuß nennen, wenn wir dem einen Verschwendungssucht und einem andern Geiz zusprechen - wer denkt daran, daß es sich um eine besondere Erscheinungsweise jener psychischen Phänomene und Gesetze handelt, welche die allgemeine Psychologie untersucht! Und selbst wenn jemand daran dächte, er wäre nicht imstande, das Eine mit dem Anderen in einen befriedigenden Zusammenhang zu bringen. Wer vermöchte schon heute nachzuweisen, in welcher besonderen Form die generellen Dispositionen und Gesetzmäßigkeiten des Auffassens und Vorstellens, des Fühlens und Wollens sich beim "Pedanten" geltend machen?

Dies also wird eine wissenschaftliche Differenzlehre stets beachten müssen, daß sie Schritt für Schritt die Verbindung mit der allgemeinen Psychologie wahre. Die laienhafte Anschauung, daß das Individuum  X  gewisse "Eigenschaften" hat, die  Y  nicht besitzt, ist aufzugeben. Diese selbständigen, in der Luft schwebenden "Eigenschaften" sind unpsychologische Einheiten. Ihr geschlossenes Gepräge erhalten sie aus gewissen praktischen Rücksichten heraus; für den Seelenforscher aber müssen sie sich zurückführen lassen auf allgemeingültige, in allen Menschen vorhandene psychische Phänomene, von denen sie nur besondere Daseinsformen verkörpern.

Die "Eigenschaften" der natürlichen Menschenkenntnis sind demnach nicht Erklärungsprinzipien, sondern erklärungsbedürftige Komplexe. Sie haben für die differentielle Psychologie eine ähnliche Bedeutung, wie die "Seelenvermögen" für die generelle; ja, sie stehen mit diesen in einem inneren Zusammenhang, indem sie sich als deren Abarten darstellen. Denn die differentiellen Eigenschaften, die der Laie kennt, sind solche des "Verstandes" oder des "Gemüts", oder der "Phantasie" oder des "Gedächtnisses". Und deshalb kennt auch die Vulgärpsychologie nicht die oben geschilderte Kluft zwischen genereller und differentieller Betrachtungsweise; da sie in erster Linie durchaus noch Vermögenspsychologie ist, so paßt es sehr wohl, daß sie in der letzteren Hinsicht Eigenschaftspsychologie ist. Anders in der wissenschaftlichen Seelenkunde. Der alte Vermögensbegriff ist für sie längst und für immer überwunden. Zwar regt sich neuerdings das Bedürfnis, den ihm ähnlichen Begriff der "Disposition" in der psychologischen Gedankenwelt einzubürgern; doch wird sich dieser auf alle Fälle, um überhaupt wissenschaftlich brauchbar zu sein, zum populären Vermögensbegriff verhalten müssen, wie der Kraftbegriff des Physikers zu dem des Laien. Einem solchen Läuterungsprozeß werden sich dann auch die entsprechenden "Eigenschaften" anzuschließen haben, damit sie ihre isolierte Stellung als Rudimente früherer Wissensstufen verlieren und sich in das gegenwärtige Gedankensystem einordnen lassen. Was dem Seelenvermögen "Verstand" recht sein mußte, das darf auch der Eigenschaft "Verständigkeit" billig sein.

So genügt uns also jetzt nicht mehr die einfache Fragestellung: Durch welche psychischen Eigenschaften unterscheiden sich Menschen voneinander? Wir fragen vielmehr: In welchen besonderen Formen treten bei verschiedenen Individuen die psychischen Elemente auf und wie vereinen sie sich zu komplexen Gebilden und Zusammenhängen? In welcher besonderen Weise funktionieren die allgemeinen psychischen Gesetze? In welchen verschiedenen Formen, Stärkegraden und Verbindungsweisen sind die psychischen Tätigkeiten und die Dispositionen zu ihnen vorhanden? - Kurz, die differentielle Psychologie hat als "Eigenschaft" eines Menschen nur das zu akzeptieren, was sich als  besondere  Daseinsform, als "Varietät" einer  generellen  psychischen Erscheinung ausweisen kann. Und nur in diesem Sinne ist auf den folgenden Blättern der nicht gänzlich vermeidbare Terminus zu verstehen.

Der psychologische Typus. -  Um uns aber in der Mannigfaltigkeit seelischer Differenzen orientieren zu können, um im fließenden Chaos die so notwendigen Ruhepunkte des Denkens zu finden, bedürfen wir eines sehr wichtigen Hilfsbegriffs, den wir nunmher unseren wissenschaftlichen Zwecken dienstbar machen müssen: des  Typus. 

Zunächst sei betont, daß wir, gemäß der oben gegebenen Beschränkung, lediglich Typen rein  psychologischer  Natur berücksichtigen werden. Man halte einmal folgende Bezeichnungen nebeneinander: Typus des Sanguinikers, des Pedanten, des Jovialen, des Musikalischen einerseits - und: Typus des klassischen Griechen, des Süddeutschen, des Militärs, des Verbrechers, des Jünglings andererseits - so wird man erkennen, daß es sich um ganz disparate Gruppen von Gesichtspunkten handelt. Die erstgenannten Typen wollen Eigentümlichkeiten bezeichnen, die der psychischen Natur des Individuums als solcher zukommen; die letztgenannten dagegen beziehen sich auf besondere Erscheinungsformen des seelischen Lebens, insofern sie durch bestimmte objektive (physische) Bedingungen: des Alters, des Standes usw. determiniert sind. Ich bezeichne daher die letzteren als psychophysische bzw. psycho-physiologische Typen und scheide sie sofort aus der Betrachtung aus, um nur die psychologischen Typen zu besprechen; denn ihr Studium scheint mir, wie schon anderwärts bemerkt, die Grundlage für das Studium jener zu sein.

Aus der ungeheuren Breite der Differenzierungsmöglichkeiten irgendeiner psychischen Funktion heben sich stets einige Gegenden charakteristischen Gepräges heraus - sei es, daß die hier vorhandene Besonderheit eine verhältnismäßig einfache Form annimmt, sei es, daß sich diese bestimmte Art der Differenzierung besonders häufig verwirklicht findet. Solche Punkte benutzen wir als Prinzipien der Einteilung und der Zurechtfindung und nennen sie typische Besonderheiten, kürzer  "Typen";  der Inbegriff der für irgendeine seelische Funktion vorhandenen Typen sei als  "Typik"  bezeichnet (z. B. Typik des Anschauens, des Willens usw.). Diese Typen sind nun nicht streng gegeneinander abgegrenzte Klassen, sondern bezeichnen im Kontinuum der Variationsmöglichkeiten nur die Wellengipfel; um die Formen, welche gewissermaßen die idealen Typen darstellen, gruppieren sich in stetiger Abstufung andere, die zu den benachbarten Typen derselben Funktion überleiten. Man denke an die vulgärpsychologische Typik der Temperamente, bei denen es ohne Zwangsanwendung unmöglich ist, alle Individuen in die vier Fächer des Sanguinikers, Cholerikers, Phlegmatikers und Melancholikers einzuordnen. (5)

Oder wählen wir als Beispiel lieber ein Gebiet, dessen wissenschaftliche Erforschung bereits mit Erfolg eingeleitet worden ist: das der  "Anschauungstypen".  Die Art, wie Sinnesdaten beim Zustandekommen mehr oder minder hoher intellektueller Prozesse mitwirken, ist bei verschiedenen Menschen sehr verschieden. Da gibt es Individuen mit einem starken Vorherrschen des Gesichtssinns. Sie phantasieren und träumen in den lebhaftesten optischen Bildern, sie behalten besonders leicht Farben, Formen, Gesichter, dagegen schlecht Schälle, Töne, Sprachtimbre. Sie reproduzieren Sprachliches vorwiegend mit Hilfe der Schriftbilder - ja sie bauen sich überhaupt ihre Vorstellungswelt zum großen Teil aus optischen Elementen auf. Man spricht hier von einem  "visuellen"  Typus, dem man dann ganz entsprechend einen "auditiven" entgegensetzt. Niemals aber treten die Typen in völliger Reinheit auf. Ein restloser Primat einer Sinnessphäre und die völlige Ausschaltung der anderen ist natürlich nicht denkbar, und der sogenannte "type mixte", gekennzeichnet durch eine ziemlich gleichmäßige Verwertung der beiden Hauptsinne, ist die weitaus häufigste Form (innerhalb welcher dann wieder mannigfache Schattierungen möglich sind). Demnach wird es als Regel angesehen werden müssen, daß Typenbezeichnungen niemals absolut, sondern nur a potiori [der Hauptsache nach - wp] gelten. (6)

Aus dem Bisherigen folgt, daß es verkehrt ist zu wähnen, ein Individuum sei als Ganzes charakterisiert, wenn man es unter irgendeinen Typus rubriziert hat (wie das im gewöhnlichen Leben oft genug geschieht). In jedem Einzelwesen findet sich eine Mehrheit, ja eine Unzahl von Typen vereinigt, und es hat überhaupt keinen Sinn, irgendeinen Typus sich auf eine Gesamtheit eines Seelenlebens erstrecken zu lassen. Wie es den Typen des Anschauens gibt, so gibt es Typen des Willens- und Gefühlslebens (den melancholischen, sanguinischen), der Begabung (den künstlerischen, mathematischen), des Urteilens (den objektiven, subjektiven) usw. Wenn man daher sagt, daß jemand einem Typus angehöre, so sollte man damit stets, stillschweigend oder ausdrücklich, den Sinn verbinden: in Bezug auf diese oder jene genau zu umschreibende Seite seelischen Lebens. Wir können zuweilen von den anderen Seiten abstrahieren, dürfen aber, sobald wir sie doch in Betracht ziehen, nie vergessen, daß dann ganz andere Typengruppen in Frage kommen.

Diese Erwägung führt uns zu einer weiteren Aufgabe der differentiellen Psychologie: zur Untersuchung der  Typen-Beziehungen.  Eine und dieselbe Psyche gehört unter verschiedenen Gesichtspunkten verschiedenen Typen an: in welchen Relationen stehen diese zueinander? Wir glauben - vorbehaltlich künftiger exakter Untersuchungen - annehmen zu dürfen, daß sich zwei Hauptfälle herausstellen werden. Entweder bleibt es bei einem Nebeneinander der Typen: sie stehen nicht in einem inneren Zusammenhang, bilden lediglich einen  Typenkomplex.  Oder aber: mehrere typische Besonderheiten gehören innerlich zusammen, sind durcheinander bedingt, voneinander abhängig und stellen so einen  komplexen Typus  dar.

Wenn sich in einem Individuum visuelle Anschauungstendenz und melancholische Gemütsart beisammen finden, zwei Besonderheiten, die nichts miteinander zu tun haben, so ist der erste Fall, der Typenkomplex, verwirklicht. Der zweite aber tritt z. B. dort in Erscheinung, wo sich Visualität mit starkem ästhetischem Empfinden paart; es ist der komplexe, aber doch geschlossene Typus des für optische Kunst- und Naturschönheit leicht Empfänglichen. Noch komplizierter und inhaltsreicher wird das Bild durch das Hinzutreten produktiver Tendenzen: Typus des schaffenden Bildners oder Malers.

Als komplexe Typen werden sich zum großen Teil jene oben kritisierten "Eigenschaften" erweisen, mit denen die Laienpsychologie arbeitet, und die sie als letzte irreduktible Tatbestände ansieht. Hierzu wird sie verleitet durch den Eindruck der Einheitlichkeit, den eine solche psychische Erscheinung hervorruft. Diese Einheitlichkeit ist auch wirklich vorhanden, aber sie ist - in den meisten Fällen - nicht identisch mit Einfachheit. Vielmehr bedeutet sie eine Synthese zahlreicher elementarer Einzelerscheinungen, eine Synthese, die sich aber dann in der Tat als geschlossenes Ganzes darstellt und deren Glieder innerlich zu einander gehören. Ein vorzügliches Beispiel bietet der Typus des "Musikalischen". Für das vulgäre Denken ist das "Musikalisch-Sein" eine selbständige Eigenschaft, die einem Menschen in höherem oder geringerem Grad zukommen oder auch gänzlich abgehen kann. Und welche Mannigfaltigkeit psychischer Besonderheiten wird in Wirklichkeit durch jenen Ausdruck umschlossen! Feinheit der Sinneswahrnehmung und des Sinnesgedächtnisses (Empfindlichkeit für Tonunterschiede, Gedächtnis für Intervalle und für absolute Tonhöhen); starke Gefühlserregbarkeit für musikalische Eindrücke; das mehr intellektuelle Verständnis für Gebilde der Musik; die Fähigkeit der Reproduktion von Melodie und Harmonie ("nach dem Gehör spielen"); und dann, als höchste Stufe, die Fähigkeit, selbst musikalische Gebilde zu schaffen. Durch die verschiedene Beziehung der Bestandteile zueinander, durch das Überwiegen bald der einen, bald der anderen Seite erklären sich zahlreiche Schattierungen und Differenzierungen jenes Typus, für deren Verständnis es dem vorwissenschaftlichen Denken am zureichenden Organ fehlen muß. - In ähnlicher Weise werden sich, so glaube ich, auch die schon öfter genannten, berühmten "vier Temperamente" als komplexe Typen herausstellen, die in ihrer Konstitution durch Stärke, Richtung und Konstanz von Willenstendenzen, durch Vorwiegen gewisser Gefühsformen und wohl auch durch intellektuelle Faktoren (insbesondere Eigentümlichkeiten des Urteilens) bestimmt werden. (7)

Hiermit ist schon einer der beiden Wege angedeutet, die zur Erforschung komplexer Typen eingeschlagen werden können: man verfährt analytisch, indem man ds bekannte Gesamtgebilde zum Ausgangspunkt nimmt und seine einzelnen Elemente herauszusondern sucht. Aber auch eine synthetische Methode ist denkbar. Beginnend mit den typischen Besonderheiten einfachster psychischer Gebilde, untersucht sie, welche derselben in einem funktionellen Zusammenhang stehen. Finden sich z. B. in zahlreichen Einzelfällen gewisse Formen der Urteilstypik stets verbunden mit charakteristischen Eigenarten des Wollens oder Handelns, so hat man das Recht, diese Verbindung als eine typische zu betrachten, mit anderen Worten, hier einen neuen komplexen Typus anzunehmen. - Das analytische Verfahren dientwesentlich zur Erklärung alter, das synthetische zur Ermittlung neuer Typen. Beiden Methoden sind geeignet, einander in erfreulicher Weise zu ergänzen. (8)

Individualität. -  Nunmehr sind wir in der Lage, dem Problem der Individualität seines Stellung in einer wissenschaftlichen Differentialpsychologie anzuweisen. Als die höchste Aufgabe unseres Wissensgebietes hatten wir in den einleitenden Worten dieses Problem hingestellt; und wahrlich, es ist die höchste, zugleich aber auch die letzte, schwierigsten und voraussetzungsreichste. Von den einfachen Typen ausgehend, schreiten wir fort zu den Typenkomplexen immer höherer Ordnung, zu komplexen Typen immer größerer Komplikation; und je zusammengesetzter der Komplex, umso geringer die Zahl der Individuen, auf die er sich bezieht. Das einzelne Individuum wäre demnach in seiner Eigenart nur zu erschöpfen, wenn man es als Kreuzungspunkt einer unbegrenzten Zahl von Typen, als Synthese unendlich hoher Ordnung begriffe. "L'individualité enveloppe l'infini." [Das Individuum in einem Umschlag aus Ewigkeit. - wp] (9) Diese Forderung ist natürlich nie zu erfüllen und an ihre Stelle muß die Wissenschaft eine anspruchslosere setzen; nicht die Individualität zu erschöpfen, sondern sie zu  charakterisieren  kann allein ihr Ziel sein. Die an Zahl unendlichen Besonderheiten, welche an einem Individuum in Erscheinung treten, haben nämlich nicht alle für die Kennzeichnung seiner Eigenart einen gleich hohen Wert; es gibt viele von fast verschwindendem Belang, andere, die als sekundäre Folge- und Begleiterscheinungen wichtigerer auftreten. So reduzieren sich die Besonderheiten von grundlegender Bedeutung auf eine überschaubare Anzahl, und es wird möglich sein, diejenigen seelischen Funktionen zu bestimmen,  deren Variationsformen als spezifische Kennzeichen einer Individualität gelten dürfen. 

Aber selbst diese bescheidenere Leistung überschreitet noch weit die Kräfte unseres heutigen differentialpsychologische Könnens; zur Zeit wissen wir noch nichts von den Differenzierungsmöglichkeiten der einfachsten, geschweige denn der verwickelten psychischen Phänomene; es fehlt uns noch jeder Anhalt zur Entscheidung, welche von den unzähligen Besonderheiten eines Menschen als jene  charakteristischen  Merkmale anzusehen sind, die wir als Reagentien bei einer Individualitätsprüfung benutzen möchten; alle diese Vorarbeiten müssen erst geleistet sein, ehe wir zu einer Psychologie der Individualität reif sind. (10) -

Wir deuteten schon oben an, daß die wissenschaftliche Individualitätsforschung außer dieser zeitweiligen auch eine ewige Grenze hat. Jeden Individuum ist etwas Singuläres, ein einzig dastehendes, nirgens und niemals sonst vorhandenes Gebilde. An ihm  betätigen  sich wohl gewisse Gesetzmäßigkeiten, in ihm  verkörpern  sich wohl gewisse Typen, aber es  geht nicht restlos auf  in diesen Gesetzmäßigkeiten und Typen; stets bleibt noch ein Plus, durch welches es sich von anderen Individuen unterscheidet, die den gleichen Gesetzen und Typen unterliegen. Und dieser letzte Wesenskern, der da bewirkt, daß das Individuum ein Dieses und ein Solches, allen anderen durchaus Heterogenes vorstellt, er ist in fachwissenschaftlichen Begriffen unausdrückbar, unklassifizierbar, inkommensurabel. In diesem Sinne ist das Individuum ein Grenzbegriff, dem die theoretische Forschung zwar zustreben, den sie aber nie erreichen kann; es ist, so könnte man sagen, die  Asymptote der Wissenschaft. 

Darum wird die Spezialforschung niemals einen vollgültigen Ersatz bieten können für jene Betrachtungsweisen der Individualität, die wir bisher schon besaßen: die künstlerische und die metaphysische. Denn diese suchen gerade die Singularität des Individuums zu erfassen, sie lassen uns ahnen, daß hinter jener Fülle verschiedenster Äußerungsweisen - dem alleinigen Betätigungsgebiet nüchtern ordnender Wissenschaft - eine verknüpfende höhere Einheit wirkt. Was der Dichter uns intuitiv schauen läßt, ist nicht ein Komplex von Differenzierungsformen psychischer Phänomene, sondern eine wirkliche In-dividualität, etwas Unteilbar-Einziges, eine Persönlichkeit. Und was es bedeutet die "haecceitas" [Diesheit - wp] der Scholastiker, LEIBNIZens Monade, der "intelligible Charakter" KANTs und SCHOPENHAUERs anderes, als einen Versuch, die Überzeugung von der unableitbaren und unvertilgbaren Wesenseinehit und -Einzigkeit des Individuums metaphyische zu formulieren?

Die Differentialpsychologie wird mit diesen beiden Betrachtungsweisen weniger in Konflikt als in eine fruchtbare Wechselwirkung treten. Künstlerische Individualitätsschilderungen wird sie als Belege für ihre eigenen Befunde benutzen können; und der Künstler seinerseits wird es mit der Zeit lernen, in den wissenschaftlichen Resultaten schätzenswertes, wohl geläutertes und geordnetes Material für seine Schöpfungen zu sehen; - hat er sich nicht in ganz entsprechender Weise auch der Anatomie bedienen gelernt? - In ihrem Verhalten zur Metaphysik aber mag sich die differentielle Seelenkunde nach ihrer älteren Schwester, der generellen Psychologie, richten. Wie es die letztere verstanden hat, bei aller empirischen Detailforschung die metaphysische Seelenfrage möglichst unberührt zu lassen, so mag es auch mit der metaphysischen Individualitätsfrage geschehen. Beide aber mögen sich stets dessen bewußt bleiben: sobald sie von der Detailsarbeit aufblicken, die Augen ins Weite schweifen und in die Tiefe dringen lassen, treiben sie Metaphysik und müssen sich daher mit den metaphysischen Ideengängen vertraut machen und verständigen.
    Ich will diese Betrachtung nicht beschließen, ohne zweier höchst anregender Arbeiten zu gedenken, die inhaltlich zum Teil an die hier vorgetragenen Gedankengänge anklingen, wenn sie auch von anderer Seite her die Probleme zu fassen suchen. DILTHEY (11) sowohl wie DESSOIR (12) erkennen, daß der allgemeinen Psychologie ein Wissenszweig anzureihen sei, der die dort vernachlässigten Eigenarten des Individuums zum Gegenstand habe, und den DILTHEY  vergleichende Psychologie,  DESSOIR Seelenkunst oder  Psychognosis  nennt. Sie bringen aber das neue Gebiet in eine viel größere Nähe zur Kunst und rücken es dafür von der generellen Psychologie weiter ab, als ich es getan habe. (13) Diese Auffassung ergibt sich daraus, daß sie nicht die Differenzen in bestimmten seelischen Einzelfunktionen, sondern die Differenzen der Individualitäten als einheitlicher Phänomene zum ersten, ja alleinigen Problem erheben. Die eigenartige Daseinsform, die dem gesamten Strukturzusammenhang einer Psyche zukommt, dasjenige, was das Individuum zu dieser individuellen Persönlichkeit, zu diesem singulären Faktum macht, es interessiert sie - und mit Recht. Allein das hat auch schon früher jeden wirklichen "Menschenkenner", jeden Biographen und Historiker und vor allem jeden Künstler interessiert. Wenn man also die Frage nach dem Gegenstand einer  neuen  Wissenssphäre machen will, so ist es nötig, neue Wege zu bahnen, auf denen man ihr näher kommen kann, neue Standpunkte ihr gegenüber zu gewinnen. Dies aber scheint mir bei DILTHEY und bei DESSOIR versäumt zu sein. Ihre Forderungen könnte man dahin zusammenfassen: man soll jene Fähigkeit intuitiver Einfühlung in fremde Individualitäten, welche bei praktischer Menschenkenntnis, künstlerischer Darstellung und ästhetischem wie historischem Nachempfinden ins Spiel tritt, verfeinern und methodisch anwenden, um das Studium der Individualitäten zu einem besonderen Zweig menschlicher Geistesarbeit zu machen. In diesem Sinne arbeitet DILTHEY, wenn er in einer höchst anziehenden Schilderung der europäischen Poesie zeigt, welche Stufen die dichterische Auffassung der menschlichen Individuation durchlaufen hat. So wertvoll nun eine solche Forderung sein mag, so ist sie allein doch nicht imstande, ein  besonderes  Wissensgebiet vergleichender Psychognostik gegen praktische Menschenkenntnis, Kunst und Geschichte abzugrenzen. Der hierzu erforderliche neue Gesichtspunkt aber scheint mir gerade durch dasjenige geboten zu werden, was DESSOIR prinzipiell abweist und DILTHEY zumindest nicht mit hinreichendem Nachdruck behandelt: durch die Beziehung des Individualitätsstudiums zur generellen Psychologie. Diese Beziehung glaube ich eben herzustellen durch die differentielle Psychologie, welche einerseits die individuellen Besonderheiten als Varietäten  allgemeiner  psychischer Tatbestände' zu begreifen, andererseits auf diesen Besonderheiten eine Charakteristik der  Gesamt-Individualitäten  aufzubauen sucht.
Normal und Abnorm. -  Endlich sei noch eines Begriffspaares gedacht, das, obwohli in der reinen wie in der angewandten Seelenlehre schon längst eingewurzelt, dennoch erst von einer zukünftigen Differentialpsychologie eine wissenschaftliche Konsolidierung erhoffen darf. Mit den Worten  "normal"  und  "abnorm"  ist viel Gebrauch und viel Mißbrauch getrieben worden. Man bezeichnete als "Norm" irgendeines seelischen Phänomens eine Idealform, die man a priori oder als Extrakt aus einer mehr oder minder kleinen Zahl von Beobachtungen gebildet hatte; und man glaubte sich nun berechtigt, als "abnorm" alles das ansehen zu dürfen, was von diesem Ideal nach der einen oder anderen Seite hin abwich. Wehe dem Dichter oder Gelehrten, dem Dieb oder Mörder, der einem solchen "Psychologen" unter das Seziermesser kam - er konnte sicher sein, daß ihm bald eine ganze Serie psychischer Abnormitäten herauspräpariert werden würde! Und dabei hielt und hält man es sogar nicht einmal für nötig, das Ideal ausdrücklich zu formulieren, d. h. anzugeben, wie denn nun das Normale genau beschaffen sein müsse, und mit welchem Recht man gerade diese Funktionierungsweise der Psyche für die allein legitime halte - das "Normale" ist eben das Selbstverständliche; erst wo die Abnormität beginnt, da wird es "interessant". Es sollten nur einmal alle Psychologen, die mit dem bequemen Schlagwort "normal" arbeiten, gezwungen sein zu definieren, was sie darunter verstehen - sie würden erst merken, daß sie unbewußt einen Turmbau zu Babel hatten aufführen wollen. Es möchten nicht viel weniger verschiedene Idealnormen zur Aufstellung gelangen, als Berichterstatter vorhanden sind, und so manche der postulierten Normalseelen dürften den Seelen ihrer Schöpfer nicht so ganz unähnlich ausfallen.

Kurz: das Normale ist nicht durch einen Punkt, durch  eine  Funktionierungsmöglichkeit, sondern lediglich durch eine Strecke, durch eine ganze Reihe von Funktionierungsmöglichkeiten bestimmbar. Dieser Satz enthält für die Mediziner eine Trivialität; sie sind längst gewöhnt anzugeben, innerhalb welcher "physiologischen Breite" eine Funktion variieren kann, ohne "pathologisch" zu werden - für die Psychologen muß man das Entsprechende noch ausdrücklich hervorheben. Die Breite des psychisch Normalen gilt es festzustellen. Hierzu aber ist erforderlich, daß man zunächst sämtliche vorkommenden Varietäten einer psychischen Funktion oder Disposition überhaupt bestimmt - dies aber hatten wir ja oben als die erste Aufgabe der differentiellen Psychologie bezeichnet - und daß man sodann diejenigen Formen als "abnorm" aussondert, die sich relativ selten oder sogar nur ausnahmsweise zeigen. Der ganze kompakte Rest der häufig auftretenden Differenzierungsformen hat als normal zu gelten; und man wird überdies - so vermute ich - in den meisten Fällen nicht einmal sagen dürfen, daß dieser Komplex des Normalen in einer einzigen Form, der Idealnorm, kulminiere. Vielmehr zerfällt das Gebiet des Normalen, wie wir früher fanden, in eine Reihe solcher Kulminationspunkte, in Typen; und es wird daher bei gründlicherer Forschung die grobe Scheidung "normal" und "abnorm" der feineren:  "typisch"  und  "atypisch"  in vielen Fällen weichen müssen. Innerhalb der Typen aber Bewertungen ihrer Normalität vorzunehmen, hat niemand a priori das Recht. Ist es normaler, visuell oder auditiv zu behalten, sanguinisch oder phlegmatisch temperiert zu sein? Hierfür wäre die Statistik der alleinige Maßstab; der Normalitätsgrad einer Differenzierungsform ist - so könnte man vielleicht formulieren - proportional ihrer Häufigkeit. Aber man vergegenwärtige sich die Schwierigkeit und den Umfang der zu dieser Bestimmung nötigen Vorarbeiten und Materialsammlungen!

Es wird sich der Einwand erheben, daß durch diese Betrachtungsweise die Übergänge zwischen Normalität und Abnormität fließende werden. Gewiß, aber diese Verwischung der Grenzen ist kein Mangel, da sie nicht einem subjektiven Auffassungsfehler entspringt, sondern den objektiven Tatbestand bildet. Denn sicher nähert sich die obige Anschauung mehr der Wirklichkeit, als jene Meinung, welche  eine  Variationsform ganz willkürlich und unnatürlich kanonisiert und alle anderen zu Abnormitäten und Minderwertigkeiten herabwürdigt. Das wäre gerade so, als wenn man etwa den Spitz als alleinige Normalform der Spezies Hund, dagegen Pudel, Dogge oder Windhund als krankhafte Abweichungen ansehen wollte.



LITERATUR - William Stern, Psychologie der individuellen Differenzen [Ideen zu einer differentiellen Psychologie], Leipzig 1900
    Anmerkungen
    1) So brachte die den Astronomen in Verzweiflung setzende persönliche Gleichung dem Psychophysiologen die höchst wichtige Reaktionszeitmessung; und die optischen Täuschungen, dem Physiker ein Hemmnis, wurden die wertvollsten Hilfsmittel zur Psychologie der Raumwahrnehmung.
    2) Und deshalb würden auch Ausdrücke wie "Individualitätspsychologie", "Psychologie der Persönlichkeit" und ähnliche nicht weit genug sein.
    3) Man könnte auch an  "vergleichende Psychologie"  in einer Nachbildung von "vergleichender Anatomie", "vergleichender Sprachwissenschaft" etc. denken. So finden wir z. B. bei DILTHEY diesen Ausdruck angewandt. Allein unsere Wissenschaft soll ja nicht das Übereinstimmende in der Verschiedenheit, sondern gerade das Differentielle hervorheben; sie soll weniger vergleichen als unterscheiden. - Außerdem hat sich die obige Bezeichnung bereits für eine andere Betrachtungsweise, die vergleichende Tierseelenkunde, eingebürgert.
    4) KANT spricht in diesem Sinne von einer "anthropologischen Charakteristik" (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, Teil II)
    5) KANT freilich ist anderer Meinung (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798, Teil II A 2); nach ihm gibt es weder Übergänge zwischen den Temperamenten, noch Mischungen derselben.
    6) Die Anschauungstypen werden uns später noch einmal begegnen 7) Eine nach modernen psychologischen Gesichtspunkten vorgenommene Untersuchung dieser interessanten Typik wäre eine Aufgabe, des höchsten Interesses würdig. Bemerkenswert ist, daß die Vierteilung der Temperamente so ziemlich die einzige Zahlenbestimmung darstellt, die sich aus der Antike zu uns herübergerettet ht. Die drei Weltteile, vier Elemente und fünf Sinne haben der Sonde der neueren und neuesten Forschung nicht standhalten können; ob es den vier Temperamenten ähnlich gehen wird?
    8) Auch für die Praxis der seelischen Diagnostik wird künftig die Nachweisung  typischer Verbindungen  Bedeutung gewinnen. Nehmen wir einmal an, es sei festgestellt, daß die typischen Funktionsformen irgendeines wichtigen seelischen Phänomens Besonderheiten im Funktionieren anderer Prozesse im Gefolge haben. Sind nun die primären Erscheinungen der Beobachtung schwerer zugänglich als die sekundären, so können die letzteren als wertvolle Symptome für das Vorhandensein der ersteren benutzt werden. Als Beispiel diene Lebhaftigkeit, Form und Tempo irgendwelcher Bewegungen; wenn diese schon heute Rückschlüsse auf das Temperament gestatten, so werden künftige Untersuchungen sicherlich noch weit exaktere und spezifiziertere Beziehungen zutage fördern.
    9) LEIBNIZ, Nouveaux essais III, Kap. III
    10) Dieser Betrachtung werden wir uns zu erinnern haben, wenn wir späterhin die sogenannten "mental tests" einer kritischen Würdigung unterziehen.
    11) WILHELM DILTHEY, Beiträge zum Studium der Individualität, Sitzungsbericht der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1896, Seite 295 - 335
    12) MAX DESSOIR, Seelenkunst und Psychognosis (Beiträge zur Ästhetik I, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 3, Seite 374 - 388)
    13) Und zwar geht hierin DESSOIR noch weiter als DILTHEY, indem er übehaupt jeden Übergang zwischen psychologischer Wissenschaft und Psychognosis bestreitet.