p-4p-4Lew WygotskiErnst MeumannClara u. William SternGustav Lindner    
 
JOSEPH CHURCH
Präverbale Wahrnehmung

Begriffsbildungstests
Anfänge des Sprechens
Bestimmte Klassen der Ursache-Wirkung -Relationen sind dem Kind ganz offenbar unzugänglich, so diejenigen mit einem langen Zeitintervall zwischen der Verursachung und ihrem Effekt.

Einleitung
Dieser Text behandelt die Frage, auf welche Weise menschliche Wesen im Laufe des Heranwachsens dazu kommen, die Wirklichkeit zu entdecken: die Menschen, die Dinge, die Eigenschaften von Menschen und Dingen, Raum, Zeit, Werte, Meinungen, Ideen, ihren eigenen Körper, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Absichten und die mannigfaltigen funktionellen und formalen Beziehungen zwischen all dem. Kurz, er behandelt den Erwerb von Wissen und den modifizierenden Einfluß neu dazukommenden Wissens auf das Verhalten.

Ganz besonders berücksichtigt es den Erwerb der Sprache und die dadurch ermöglichten Verhaltensweisen. Aber das Buch kann sich nicht auf eine faktische Beschreibung der Entwicklung von Sprache und Erkennen beschränken. Fakten werden erst dann signifikant, wenn sie nach systematischen Prinzipien geordnet werden. Nun sind aber diejenigen Prinzipien, die den Tatsachen der kognitiven Entwicklung am besten zu entsprechen scheinen, nicht die gebräuchlichen der allgemeinen Psychologie. Aus diesem Grund werden wir gelegentlich vom heimatlichen Terrain abschweifen, um zu zeigen, daß die Grundsätze, nach denen sich die geistige Entwicklung vollzieht, wenn auch nicht mit den Prinzipien, so doch mit den Fakten der psychologischen Wissenschaft insgesamt in Einklang stehen.


Soweit es möglich ist, werden metaphysische und metatheoretische Diskussionen vermieden. Der Text geht nur von wenigen Voraussetzungen aus. Er setzt voraus, daß es eine physische Wirklichkeit gibt und daß Menschen sie erfassen können. Er setzt ferner voraus, daß menschliches Wissen ein unvermeidliches Moment von Mehrdeutigkeit hat: In ständiger Wiederholung entdecken wir, daß der realen Wirklichkeit zugeschriebene Eigenschaften in Wahrheit Spiegelungen unseres eigenen Selbst sind - Projektionen, wenn man will.

Der Text setzt unsere Fähigkeit voraus, aus dem, was eine Person sagt und tut, etwas von ihren inneren Vorgängen, der  Logik,  die sie leitet, zu rekonstruieren. Er setzt das Prinzip der Intentionalität voraus: daß jedes Verhalten auf ein Objekt gerichtet ist sei es etwas substantiell Dingliches oder ein Ereignis, eine Situation, eine Halluzination, eine Kombination von Symbolen oder auch der sich verhaltende Organismus selbst. So repräsentieren die Grundbegriffe, die wir einführen werden, nicht schlechthin Eigenschaften des Organismus, sondern Formen von Organismus-Objekt -Relationen.

Schließlich sei noch erwähnt, daß der Text - obwohl er von ihnen wird sprechen müssen - die veralteten metaphysischen Antinomien ablehnt, die das psychologische Denken lange nach seiner angeblichen Loslösung von der Philosophie noch immer behindern: Materialismus - Spiritualismus, Determinismus - Voluntarismus, Biologismus - Umwelttheorie, Zentralismus-Peripheralismus, Optimismus - Pessimismus. Menschen sind, was sie sind, und es ist die Aufgabe der Verhaltensforschung, die Fakten des menschlichen Verhaltens begrifflich zu ordnen, ohne Rücksicht auf irgendwelche apriorischen Bindungen.

Die große Verschiedenheit in den Verhaltensweisen der Kinder und Erwachsenen ist unverkennbar. Weniger deutlich dürfte sein, daß wir zur Erklärung dieser beiden Verhaltensweisen auch zwei Gruppen von Prinzipien brauchen. Darüber hinaus erfordert die Einsicht in den Übergangsprozeß vom unreifen zum reifen Verhalten noch eine dritte Gruppe. Obwohl unser Thema das Problem der Entwicklung ist, ist der Stoff nicht durchgehend chronologisch angeordnet.

Wir werden vielmehr zwischen Kindheit und Erwachsenalter hin- und herwechseln, einmal, um die Kontraste schärfer herauszuarbeiten, dann aber auch, um das Fortwirken primitiver Komponenten im Verhalten des Erwachsenen zu demonstrieren. Wie wir sehen werden, verdrängen nämlich die Orientierungen des reifen Verhaltens die des unreifen nur partiell. Wir behaupten nun, daß der Entwicklungswandel am besten im kognitiven Bereich untersucht werden kann, und zwar mit folgender Fragestellung: Auf welche Weise nimmt das Individuum die Wirklichkeit wahr, faßt es sie in Begriffe und des es über sie?

Von zentraler Bedeutung für dieses Erfassen der Realität ist der Gebrauch von Sprache und Symbolen. Vieles von dem, was der Mensch von der Wirklichkeit weiß - oder zu wissen glaubt -, wird nicht ausdrücklich gewußt und einfach für selbstverständlich gehalten. Darum werden wir viel Zeit darauf verwenden müssen, diese unausdrücklichen Merkmale der Erfahrung bewußt zu machen, also eine Umkehrung von  Figur und Grund  vorzunehmen, die der Leser wohl nicht ohne Schwierigkeit nachvollziehen wird.

Zu allererst müssen wir ein Postulat angreifen, das besonders bei denen Geltung hat, die nicht Fachleute auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklungslehre sind - allerdings auch bei einigen wenigen, die es sind. Es ist dies die Voraussetzung, die materielle Welt mit allen physischen Eigenschaften und objektiven Zusammenhängen sei uns von Beginn an in der Wahrnehmung gegeben, so daß wir, um sie zu sehen, nichts weiter tun müßten, als hinzuschauen.

Von diesem Aspekt her wäre die Sprache praktisch ein System von Etiketten, die man der bereits vorhandenen Wahrnehmungswirklichkeit nur anzuheften brauchte. Gemäß ihrer Theorie einer angeborenen Organisationsfähigkeit beim Akt des Wahrnehmens nimmt die Gestalttheorie eine primäre Erfahrung reiner, von uns unabhängiger Objekte an, die durch Benennungen, Wertungen, Bedeutungen weder verhüllt noch beseelt werden. Eine häufig in Psychologiebüchern abgebildete Ansicht des Kinderzimmers, wie das Babyauge es sieht, hat stets die Annahme zur Voraussetzung, die Welt liege von Geburt an vor unserem spähenden Blick offen da und nur die Perspektive sei den kindlichen Größenverhältnissen angepaßt.

Viele Semantiker scheinen zu glauben, die Sprache sei für die Wahrnehmung geradezu ein Hindernis; sie versperre einen andernfalls unmittelbaren Kontakt mit den Dingen, wie sie wirklich sind. Wir behaupten nun folgendes: Das Individuum entdeckt die charakteristischen Merkmale der Realität im Einklang mit seiner fortschreitenden Entwicklung; in der Reihenfolge seiner Entdeckungen gibt es voraussagbare Regelmäßigkeiten; bei diesen Entdeckungen spielt die Sprache in beiderlei Form, als von anderen Gesagtes und als selbst Gesagtes, eine wesentliche Rolle; sie trägt entscheidend zu der Fähigkeit bei, die Welt als einen kohärenten, festgefügten Raum wahrzunehmen, in dem man lebt und handelt.

Für den Säugling erstreckt sich der Raum allem Anschein nach nicht weiter als auf das kleine ihn umgebende Gehäuse und alles, womit er in Berührung kommt. Man kann beobachten, wie sein Raum sich auszudehnen beginnt, wenn er nach einigen Wochen anfängt, die Richtung von Lauten zu beachten und den Personen bei ihrem Kommen und Gehen mit den Augen zu folgen. Die polare Ausrichtung des Raumes nach den üblichen Dimensionen - oben-unten, links-rechts, vorn-hinten - scheint mit der vertikalen Dimension zu beginnen.

Das zeigt sich Ende des ersten Jahres, an einem fast zwanghaften Eifer, umgekippte Gegenstände aufrecht zu stellen. Der horinzontale Raum bleibt als Aktionsraum noch für längere Zeit mehr durch konkrete Ziele und Laufwege als durch formale Koordinaten bestimmt. Beim Kriechen und Laufen weiß das Kind Hindernisse zu umgehen; kurz vor den Kanten von Betten oder an den Rändern der Treppe hält es inne. Der Raum hinter ihm ist weniger strukturiert; es kann vorkommen, daß es, im Glauben, rücklings auf das Bett zu plumpsen, über dessen Kante niederpurzelt. Bezeichnend ist auch sein dauerndes Umschauen zur rückwärtigen Orientierung, wenn es eine Treppe rückwärts auf allen vieren hinunterkriecht.

Es ist nachdrücklich zu betonen, daß die ersten Objektwahrnehmungen des Babys feste Körper im ausgedehnten Raum betreffen und daß die zweidimensionale Perzeption erst später einsetzt. Sobald das Kind in seiner Entwicklung weit genug vorgeschritten ist, um Gegenstände untersuchen zu können, inspiziert es bei einem ihm neuen Objekt systematisch auch die abgewandten Seiten und beweist damit, daß seine frühen Wahrnehmungen  implizite  Hinweise dafür enthalten, daß sich die Dinge außerhalb der Sicht rundherum fortsetzen.

Noch mehr überrascht uns seine erste Reaktion auf zweidimensionale Muster, etwa diejenigen auf dem Polster seines Laufstalls oder die Sonnenflecke auf dem Fußboden oder die Astmaserung im Holzwerk: Es versucht beharrlich immer wieder, diese "Dinge" aufzuheben. Abgebildete Objekte kann das Kind zuerst nicht wiedererkennen, und wenn es sie später identifiziert, ist seine Unterscheidung zwischen den Objekten und den sie darstellenden Bildern nur mangelhaft. Nicht genug damit, daß es sie von der Buchseite abzuheben versucht - es streichelt auch die gemalten Tiere und bemüht sich, das Ticken der Uhr auf dem Papier zu hören.

Chromatische Farben, die für den Erwachsenen das Aussehen der Objekte wesentlich mitbestimmen und in seinen Augen mit den achromatischen Farben und auch untereinander stark differieren, scheinen in der Erlebniswelt des Säuglings nur eine geringfügige Rolle zu spielen. Der Grund dafür ist durchaus nicht Farbenblindheit; denn sobald der Farbe Relevanz gegeben wird, lernt das Kind sehr rasch, Farben zu unterscheiden.

Das sieht man z.B. an Experimenten, bei denen es seine Normalnahrung aus einer Flasche mit bestimmter Farbe bekommt und gesalzene aus einer andersfarbigen. Auch zeigen sich nach VALENTINE und anderen Autoren Vorlieben für bestimmte Farben schon bei Säuglingen von drei Monaten, und Zufallsbeobachtungen deuten darauf hin, daß Spielsachen in hellen, glänzenden Farben solchen in grau-braunen vorgezogen werden.

Aber erst spät erkennt das Kind die Farbe als eine relativ unabhängige Dimension des Objektes; spät auch lernt es, Farben mit Sicherheit zu unterscheiden. Da Farbe nicht greifbar ist, wäre die Stabilisierung der Farbwahrnehmung später zu erwarten als die der Formwahrnehmung; somit hätte die Entdeckung von BRIAN und GOODENOUGH, daß die Form gegenüber der Farbe als eine Grundlage der Begriffsbildung entwicklungsgeschichtliche Priorität hat, einen guten Sinn.

Die Welt, die vom Erwachsenen wahrgenommen wird, enthält nicht nur Objekte und den sie umschließenden Raum; sie enthält auch all die Relationen, durch die die Objekte mit dem Raum, untereinander, mit Vergangenheit und Zukunft und auch mit dem Wahrnehmenden selbst verbunden sind. Vielleicht ist es eben diese Relationsstruktur der Wirklichkeit, die den Hauptunterschied zwischen unreifem und reifem Wahrnehmungsverhalten ausmacht.

Ein sechs Monate altes Kind kann nicht sehen, daß es ein entfernter liegendes Wunschobjekt durch Ziehen an einer in Greifnähe befindlichen Schnur zu sich heranholen könnte. Entdeckt es nun beim Spielen mit der Schnur diese Möglichkeit, so nutzt es seine Entdeckung gerade nur zu einem einzigen heftigen Ruck aus, ist aber völlig unfähig, sie Hand über Hand einzuholen. Ferner sieht es z.B. nicht die Unmöglichkeit, Wasser mit einem Sieb zu schöpfen, und macht gleich dem dummen Hans hartnäckig immer wieder neue Versuche. Noch mit drei Jahren nimmt ein Kind vertrauensvoll an, es könne von zwei Bildern, die auf den entgegengesetzten Seiten eines und desselben Blattes abgedruckt sind, zuerst das eine und dann das andere Bild ausschneiden.

Bestimmte Klassen der Ursache-Wirkung -Relationen sind dem Kind ganz offenbar unzugänglich, so diejenigen mit einem langen Zeitintervall zwischen der Verursachung und ihrem Effekt. Ein Beispiel hierfür wäre das Begießen einer Pflanze und ihr Aufblühen, ein anderes eine Beleidigung und die eventuelle Rache des Beleidigten (im allgemeinen sind Ursachen psychologischer Natur mit ihren dunklen Wegen dem kindlichen Verständnis ohnehin verschlossen). Ferner gehören hierher die Fälle, bei denen die kausale Antriebskraft oder auch das resultierende Ereignis verborgen sind, wie etwa beim Schlagen einer Uhr oder bei der Immunität nach einer Schutzimpfung.

Sind die Beziehungen direkter, so begreift das Kind eine ganze Reihe von pragmatischen Ereignisabfolgen: Wenn es einem Turm aus Bauklötzen einen Schlag versetzt, kippt er um; wenn es an sein Glas Milch stößt, schwappt sie über; tritt es der Katze auf den Schwanz, dann jault diese auf; wenn es an der Lichtschnur zieht, so geht das Licht an oder aus usw. Aber anscheinend kommt das Kind niemals ein Verwundern über das Wie dieser Vorgänge an, über den Mechanismus, durch den solche Effekte zustande kommen.

Gleich den Generationen vor GALILEI und NEWTON, die die Schwerkraft nicht entdeckten und doch mit ihr lebten, weiß auch das Kind nichts von ihr. Der Fernsehapparat mag wohl interessante Dinge tun, aber in der Tatsache, daß von einem Kasten aus Metall und Glas sinnvolle Bilder und Laute ausgehen können, liegt nichts eigentlich Erstaunliches. Fragt man Kinder von vier Jahren, was beim Fernsehen denn vor sich gehe, so scheinen sie tatsächlich anzunehmen, die agierenden Personen, die sie sehen, befänden sich zur kritischen Zeit im Innern des Apparates.

Immerhin, auf dieser Altersstufe bemerkt man Anfänge einer sich entwickelnden Zwiespältigkeit. Einerseits nimmt das Kind die wunderbaren Geschehnisse im Fernsehen oder in Erzählungen als wirklich an; andererseits weiß es aus der eigenen Erfahrung, daß es solche Dinge nicht gibt - und so steht es vor dem Rätsel: Wie kann man Dinge bezweifeln, die man doch mit eigenen Augen gesehen hat?

An der kausalen - oder akausalen - Erfahrung des Kindes scheinen drei Komponenten beteiligt zu sein, deren erste das ist, was PIAGET  Realismus  nennt. Realismus als ein Charakteristikum für primitive Erfahrung, bedeutet weder Überempfindlichkeit für die rauhen und häßlichen Seiten des Daseins, wie sie die sogenannte  realistische  Literatur schildert, noch kahle, rein praktische Nüchternheit; vielmehr bezieht PIAGETs Realismus sich auf die Tatsache, daß dem Kind ursprünglich alle Dinge gleichartig real sind, real im gleichen Sinn und auf der gleichen Ebene: Bilder, Wörter, Leute, Dinge, Kräfte, Träume, Gefühle. Alle sind gleich materiell oder immateriell, und alle vermengen sich innerhalb einer gemeinsamen Erfahrungssphäre.

Dieses  konkrete  Vermischtsein von Realitäten ist es, was z.B. dem dreijährigen Kind beim  Backen  im Sandkasten oder am Strand erlaubt, tatsächlich ein kleines bißchen von seinem Sand-Kuchen zum Kosten in den Mund zu stecken - und das, obwohl es den Unterschied zwischen Kuchen und Sand durchaus kennt. Realismus hat auch nichts mit Fatalismus oder passivem Resignieren zu tun; er ist nur eben die Unfähigkeit, an der Realität dessen zu zweifeln, was uns ins Bewußtsein tritt, mag das sein, was es will.

Auch der Erwachsene verliert seinen Realismus nicht; nur wird dessen problematische Vieldeutigkeit miteinbezogen und bleibt ständig bewußt. So können wir bei einem melodramatischen Film zu Tränen gerührt sein und uns gleichzeitig sagen: "Bilder auf der Leinwand, nichts weiter!" Im allgemeinen sind wir nicht allzu kritisch und gern bereit, etwa eine phonographische Wiedergabe durchaus als Äquivalent für eine Darbietung in persona zu akzeptieren.

Wie die Suche nach immer größerer Naturtreue in der Hi-Fi-Technik beweist, erreicht auch die elektronische Reproduktion nicht die Vollkommenheit, die ein hochentwickeltes Unterscheidungsvermögen befriedigt. Generell sind wir weit mehr geneigt, das Abbild für das reale Objekt zu halten, als daß wir es als artifiziell ablehnten. Realismus tritt in verschiedenen Variationen in Erscheinung. Die frühkindliche Reaktion auf Abbildungen als reale Objekte wurde schon erwähnt. Später werden wir das Phänomen des Wortrealismus wieder aufnehmen.

Sehr nahe dem Realismus steht der  Phänomenalismus,  der die Dinge als einfach gegeben akzeptiert, ohne nach Hintergründen oder Einflüssen außerhalb des im Blickpunkt stehenden Geschehens zu forschen. Phänomenalismus ist ebenfalls einer der von PIAGET geprägten Begriffe und darf nicht mit der gleichnamigen philosophischen Auffassung verwechselt werden, wenn auch eine gewisse Verwandtschaft mit ihr nicht zu übersehen ist. Unter den ersten Ansätzen des Kindes zu kausalen (nicht so sehr motivationalen) Erklärungen sind viele phänomenalistisch.

Das drückt sich in Zusammenstellungen von Dingen aus, die zusammen vorkommen und auch tatsächlich in irgendeiner Art kausal verknüpft sind; man denke an Formulierungen wie: "Der Donner läßt es regnen" oder "Bäume lassen den Wind wehen". Koinzidieren zwei Ereignisse, so besteht die nahezu unwiderstehliche Tendenz, sie als kausal verknüpft aufzufassen. Ein schlagendes Beispiel hierfür berichtet eine Überlebende bei einer Schiffskollision. Gerade im Moment des Zusammenstoßes knipste sie das Licht in ihrer Luxuskabine aus und war fest davon überzeugt, daß sie die Notbremse gezogen hatte.

Alle unsere Erfahrung birgt eine unvermeidbare Komponente der Mehrdeutigkeit. Nichtsdestoweniger gründet jede unserer Handlungen - als menschliches Wesen, als Bürger, als Wissenschaftler - auf der Voraussetzung, daß es eine Wirklichkeit gibt und daß wir sie wahrnehmen können. In einem leidlich fortgeschrittenen Entwicklungsstadium, in dem der  Realismus  abnimmt, werden wir gewahr, daß manches von unserem vorgeblichen Tatsachenwissen ein Irrtum und manches von unserer Wahrnehmungserfahrung illusorisch ist.

Nur der Schizophrene bezweifelt ernsthaft seinen fundamentalen Kontakt mit der Wirklichkeit. Der normale Mensch, in Erkenntnis seiner eigenen Fehlbarkeit, tut alles nur Mögliche, um sich vor speziellen Irrtümern zu hüten, nimmt aber andererseits an, und das mit gutem Recht -, daß er weiß, was was ist. Daß es Illusionen und Halluzinationen gibt, ist kein Grund, die Gültigkeit unserer Wahrnehmungen in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil! Unsere Fähigkeit, jene Phänomene als nicht verifizierbar zu erkennen, bedeutet, daß wir im Besitz einer Realitätsnorm sind, mit der wir sie vergleichen können.

Kurz gesagt, wir nehmen als Ausgang die Voraussetzung des gesunden Menschenverstandes, daß der Mensch Objekte wahrnimmt und nicht nur blasse Phantome, die man Wahrnehmungen nennt. Diese Denkweise wird diejenigen, die zur Metaphysik neigen, nicht befriedigen, aber wenn die Forschung nicht in Sterilität und Unsinn absinken soll, muß sie einen pragmatischen Standpunkt einnehmen und die Metaphysik beiseite lassen.

Die Erfahrung des Babys - das, was es lernt - wird als Wissen konsolidiert, und die fundamentalste Form des Wissens ist das  Schema.  Eher logisch als psychologisch interpretiert bedeutet Schema ein implizites Prinzip, nach welchem wir Erfahrung systematisch ordnen. Psychologisch hat das Schema ein doppeltes Gesicht: Von der Umwelt her gesehen, sind wir empfänglich für die Regelhaftigkeiten in Aufbau und Funktion der Dinge, sod aß wir die Umwelt als kohärent und geordnet wahrnehmen.

Der Erwachsene kann sich diese Art des Gegebenseins mit Hilfe von Prinzipien erklären, welche für das kleine Kind nur in dem Sinn existieren, daß es darauf vertraut: Hier ist die Welt, und alles ist gut geregelt. Vom Organismus her gesehen, existieren un unseren Mobilisationen Schemata zu Aktion und Reaktion, welche jeweils diejenigen Umwelteigenschaften widerspiegeln, für die wir sensitiv sind.

Es ist klar, daß Schemata sehr generell oder sehr spezifisch sein können. Im höchsten Maße generell ist die Orientierung der gesamten Aktivität unseres Organismus auf ein breites räumliches, zeitliches und situationsbezogenes Rahmensystem. Diese Orientierung, die wir wohl als unsere Fähigkeit zu identifizieren bewerten können, ist in eine als unser fundamentales Bewußtsein zu denkende Mobilisation eingebettet. Dieses Fundamentalbewußtsein geht sogar im Schlaf nicht gänzlich verloren, da wir bekanntlich auch dann für bestimmte Signale empfänglich bleiben.

Und tatsächlich ist es so zäh verwurzelt und so gegenwärtig, daß wir bisweilen zu Drogen greifen müssen, um seine Herrschaft soweit zu lockern, daß wir überhaupt Schlaf finden können. Ein echter Verlust des Fundamentalbewußtseins tritt nur unter pathologischen Bedingungen ein. Unsere mehr spezifischen Schemata betreffen einzelne Objekte oder Objektklassen - bisweilen Begriffe oder Kategorien genannt - ferner Relationsarten, die alle in der Umwelt existieren, uns jedoch zugänglich werden, wenn sie unsere konkreten gefühls- und verhaltensmäßigen Fähigkeiten ansprechen.

Alle diese spezifischen Schemata jedoch helfen allgemeinere Orientierungsmuster aufbauen, die wir Attitüden, Haltungen, nennen können. Diese offenbaren sich in der subjektiven, bewertenden Färbung unserer Umwelt und in der Art und Weise, wie wir dieser Umwelt gegenüberstehen, in unserem Persönlichkeitstypus.

Gewöhnung ist ein Segen, weil wir viele Prozeduren ihren Automatismen überlassen können, aber bisweilen auch eine Plage: Zum Beispiel kommt man nach Hause und hat keine Eiscreme mitgebracht, nur weil man den gewohnten direkten Weg ging und den Umweg versäumte. Glücklicherweise ist der Mensch fähig, für habituelle Handlungen überlegte einzusetzen - anders als die Ratten von CARR und WATSON in ihrem Labyrinth, die mit großer Hartnäckigkeit in einen Gang hineinzulaufen versuchen, der nicht mehr vorhanden war.

Selbst da, wo das Endergebnis des Lernens Gewöhnung ist - Gewöhnung an ein Raumgebiet, an eine bestimmte Art von Umständen, an den Vollzug habitueller, stereotyper Akte -, dürfen wir nicht ohne weiteres voraussetzen, daß Lernen über Gewohnheitsbildung zustande kommt. Nur wenn wir ein Problem einmal einsichtig gelöst haben, werden wir dieses und verwandte Probleme in Zukunft routinemäßig lösen können. Aber auch hier kann Routine gegenüber Tatsachen blind machen: Wir übersehen, wenn sich das Problem geändert hat, so daß wir unangemessen reagieren.

Wir haben darauf hingewiesen, daß Lernen selten auf einen besonderen Akt oder eine besondere Situation eingeschränkt ist; das Tier  lernt lernen,  das menschliche Wesen wir  testerfahren  oder entwickelt Fähigkeiten zur Problemlösung. Diese allgemeinere Art des Lernens, die sich im Transfer, der Übertragung von Übung, und vor allem im  learning sets  genannten, nichtspezifischen Transfer widerspiegelt, dürfte auf Schematisierung beruhen.

Die Schemata unserer Warhnehmung bestimmen die Stabilität unserer Umwelt und gelegentlich auch unserer Selbstwahrnehmung. Mitunter nehmen sie eine quasi-imaginäre Eigenexistenz an, besonders dann, wenn sie uns im Stich lassen, wenn Erwartetes nicht eintritt. Der Komiker muß erst seine Pointe ausspielen, bevor wir überhaupt merken, daß er sorgfältig ein Schema aufgebaut oder ein fertiges benützt hat, um uns eine bestimmte Folgerung erwarten zu lassen, die er dann durch eine andere, logisch ebenso mögliche ersetzt.

Wir lachen, wenn wir beim Halten eines winzig kleinen Wagens sehen, wie ihm ein endloser Strom von Fahrgästen entquillt. Daß wir uns nach einem Schema gerichtet haben, merken wir auch dann, wenn wir beim Hinaufsteigen einer Treppe im Dunkeln den Fuß auf die vermutlich letzte Stufe stellen, und plötzlich durch leere Luft treten. Der niedrige Tordurchgang signalisiert sich durch ein Kribbeln in unserer Kopfhaut, vielleicht an der Stelle der damaligen Beule, dem Lehrgeld für dieses Torschema.

Wir sind verwirrt und desorientiert bei der Entdeckung, heute sei ja Donnerstag, während wir doch den ganzen Tag über alles so verrichteten, als wäre bereits Freitag. Die Mode von vor ein paar Jahren erscheint uns lächerlich, da sie mit dem jetzigen Schema in Widerspruch steht. Im Zustand stark gefühlsbetonter religiöser Erweckung können Schemata geradezu sichtbare Gestalt in Form von Halluzinationen annehmen.

Es sind Schemata, die uns wissen lassen, daß die Umwelt sich jenseits unserer momentanen Sichtgrenze fortsetzt, daß z.B. der Körper eines Modells, von dem wir nur die nackten Schultern über einem Wandschirm sehen, hinter dem Wandschirm in Gänze vorhanden ist, und zwar nackt. Wir erwähnten schon die Unsicherheit des Kleinkindes bezüglich der Raumregion hinter seinem Rücken; wenn aber ein Erwachsener sich dauernd umblicken muß, als wollte er sich vergewissern, daß hinter seinem Rücken nichts Schlimmes passiert, so erkennen wir das als einen pathologischen Zug.

Säuglinge von weniger als acht oder neun Monaten verraten kein Anzeichen von Frustration, wenn eine Tätigkeit plötzlich abgebrochen oder ihnen ein Spielzeug fortgenommen wird; und noch mit drei Jahren zeigen Kinder nur begrenzt den Trieb, etwas zu Ende zu führen. Sie können beim Singen mitten in der Melodie oder beim Zeichnen mitten in einer Strichführung aufhören während ein Erwachsener im gleichen Fall ein Gefühl des Unbehagens spürt: Das jeweilige Schema muß ausgefüllt sein.

Unser Wahrnehmen von Fremdem, Seltsamem, Widersinnigem, Unglaubhaftem, Unmöglichem beruht auf einem Mangel an Übereinstimmung zwischen Phänomenen und Schema. Die Furcht des Kindes vor Fremden entwickelt sich erst, nachdem es seine Familienmitglieder als solche identifizieren kann. Es darf nicht angenommen werden, daß Fremdheit nichts weiter sei als das Fehlen von Vertrautheit. Phänomenologisch gesehen ist Fremdheit ein positives Attribut.

Auch die Entwicklung von Furchtsamkeit scheint mit der Bildung von Schemata zusammenzuhängen. Ohne Scheu spielen die Schimpansenkinder mit den verschiedensten Einzelteilen einer Mannequinpuppe; doch in etwas späterem Alter, wenn sie eine  Idee  vom normalen Aufbau der Puppe bekommen haben, werden ihnen die Köpfe, die Arme, die Beine zu etwas Erschreckendem. Es kommt selten vor, daß wir uns ausdrücklich sagen, unser allernächster Nachbar sei kein Krimineller. Gerade wegen dieser impliziten Voraussetzung in unserem Schema von ihm reagieren wir mit fassungslosem Unglauben bei der Nachricht, er sei wegen Unterschlagung oder Rauschgifthandel verhaftet worden.
LITERATUR - Joseph Church, Sprache und die Entdeckung der Wirklichkeit, Über Spracherwerb des Kleinkindes, Ffm 1971