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CHRISTIAN WOLFF
(1679 -1754)
Von den philosophischen Vorlesungen

"Als ich gegen das Ende des Jahres 1704 auf der Hohen Schule zu Leipzig, um eine Stelle in der philosophischen Fakultät zu erhalten, zum letzten Mal disputierte, so hatte ich unter anderen Sätzen, so fast am Ende dieser  Disputation  beigefügt stehen, der Schluß sei kein Mittel Wahrheiten zu erfinden. Die Materie, wovon in dem damaligen akademischen Versuch disputiert wurde, war der  Algorithmus infinitesimalis differentialis,  etwas zu damaliger Zeit auf unseren Hohen Schulen noch ganz fremdes und unbekanntes. Als ich daher auf Anraten des Herrn Menckens, meine Dissertation dem berühmten Herrn von Leibniz, als Erfinder dezidiert hatte; so antwortete derselbe nach seiner Leutseligkeit, und ließ unter anderen Dingen, auch dieses einfließen: Ich sollte nicht leichtfertig sagen, daß der Schluß kein Mittel sei die Wahrheit zu erfinden."

Erstes Hauptstück
Vom Endzweck der
philosophischen Vorlesungen

§ 1. Wenn ich den Grund meiner philosophischen Vorlesungen anzeigen soll: so bin ich nicht darum bekümmert, was andere sich für einen Endzweck dazu vorsetzen, und ob sie denselben erreichen oder nicht. Es ist mir genug, von demjenigen Endzweck welchen ich suche, und von den Mitteln, wodurch ich meinen Endzweck zu erhalten bemüht bin, hier zu handeln.

§ 2. Als ich 1709 meine Anfangsgründe der Aerometrie bekannt machte, so gab ich in der Vorrede derselben eine Definition der Philosophie, auf welche ich 1704 gekommen war, da ich bei Gelegenheit des kopernikanischen Weltbaus untersuchte, ob man philosophische und absonderlich physikalische Fragen aus der heiligen Schrift entscheiden könne oder nicht; Und wie ich im folgenden Jahr hiervon in einem Brief an den berühmten Breslauer Theologen NEUMANN, davon etwas erwähnt; so machte er zwar anfänglich einige Einwürfe dagegen: nachdem er aber meine Meinung deutlicher einsah; bekannte er aufrichtig, daß seine Einwürfe nicht ausrichten könnten.

§ 3. Die Philosophie ist nämlich nach meiner Meinung eine Wissenschaft aller möglichen Dinge insofern sie möglich sind, dergestalt, daß alle Dinge, sie mögen Namen haben wie sie wollen, einen Vorwurf der Philosophie abgeben, insofern sie möglich sind, sie mögen wirklich da sein oder nicht. Daher betrachtet man in der Philosophie die Dinge überhaupt, nicht aber was insbesondere bei jedem vorkommt, und die Philosophie geht mit allgemeinen Wahrheiten oder Begriffen um; gleichwie die Historie mit solchen Geschichten zu tun hat.

§ 4. Da nun die Worterklärungen willkürlich sind; so wird niemand von mir allererst Beweis begehren, daß die Philosophie eine solche Wissenschaft sei, wie ich sie erkläre. Weitläufig aber habe ich in obiger Vorrede gezeigt; daß meine Erklärung dem gemeinen Gebrauch zu reden nicht zuwider sei: welches ich hier nicht wiederholen will.

§ 5. Es sei nun wie es wolle; so will ich darum nicht streiten, ob andere diese Erklärung der Philosophie zugeben oder nicht: es ist genug, wenn die Leser sehen, was ich als eine Philosophie lehre.

§ 6. Ich pflege nämlich die Philosophie nicht durch das materialische, sondern durch das formale Objekt von der Mathematik, wie auch von den Wissenschaften der höheren Fakultäten (wie man sie zu nennen pflegt) und von der gemeinen Kenntnis der Dinge, nicht durch die vorhabenden Dinge selbst, sondern nur durch den Vortrag zu unterscheiden. Die Philosophie hat eine eigene Art zu erkennen, nämlich eine solche, mittels welcher wir den Grund aller möglichen Dinge deutlich einsehen.

§ 7. Daher gibt es überall kein Objekt, über welches man nicht philosophische Betrachtungen anstellen könnte: ja auch dasjenige, was in den Wissenschaften der höheren Fakultäten auf gemeine Art und Weise abgehandelt wird, lernt ein Philosoph viel vollkommener einsehen.

§ 8. Zum Beispiel was man in der Theologie von den göttlichen Eigenschaften, und von anderen vermischten Artikeln lehrt, das ist wie jedermann erkennt auch den philosophischen Betrachtungen unterworfen. Nach meiner Meinung aber kann nur derjenige von Eigenschaften philosophisch reden, der von den göttlichen Eigenschaften deutliche Begriffe hat, und dieselbe mit dem Begriff, den er sich von GOtt macht, zu verknüpfen weiß. Ein Rechtsgelehrter legt die Gesetze aus, und appliziert sie auf die vorkommenden bürgerlichen Handlungen. Wenn er nun die Gesetze versteht, und sie zur Entscheidung bürgerlicher Streitigkeiten geschickt anzuwenden weiß, so tut er seinem Amt ein Genügen. Hingegen redet derjenige philosophisch von den Gesetzen, der von jedem darin enthaltenen Wort deutliche Begriffe gibt, und die Ursachen der Gesetze aus ihren wahren Gründen herleitet; auch aus dem Begriff des Subjekts von welchen die Rede ist, und aus dem Prädikat welches diesem Subjekt daselbst beigelegt wird, den Inhalt des Gesetzes dergestalt bestimmt, daß dasselbe mit philosophischen Gründen oder mit anderen Gesetzen übereinstimmt. Wenn ein  Medicus  die medizinische Kraft der Kräuter, welche er durch Versuche und Beobachtungen kennengelernt hat, zur Heilung der Krankheiten rechtschaffen anwendet; so tut er seinem Amt ein Genügen: derjenige aber redet philosophisch von den medizinischen Kräften der Pflanzen, welcher sie deutlich erklärt und anweist, wie dadurch die Krankheiten geheilt werden können. Ein Moralist trägt die heilsamen Sittenregeln vor, wie er sie entweder aus der Erfahrung oder aus anderen Bücher gefunden hat: derjenige aber philosophier von den Sitten, der von allen deutliche Begriffe geben, und die Gründe aus der inneren Natur der Seele anzeigen kann, wie es möglich sei, daß die Seele Fertigkeiten zur Tugend erlangen könne. Ein Ackersmann verläßt sich auf seine Erfahrung, und weiß dadurch, wie er den Acker bauen soll, damit ihm der ausgestreute Same eine erfreuliche Saat bringt: aber vom Ackerbau philosophieren heißt von allem, was man dabei beobachten muß, den hinlänglichen Grund einsehen. Auf diese Weise kann man von allen menschlichen Beschäftigungen philosophieren.

§ 9. Aus den jetzt angeführten Exempeln kann ein jeder ersehen, der seinen Verstand von allen Vorurteilen gereinigt und aufmerksam gemacht hat, daß es einen höheren Grad der Erkenntnis gibt, als die gemeine Erkenntnis ist; welche allein den Namen einer Wissenschaft verdient, und der Philosophie, welche durch eine Wissenschaft erklärt wird, eigentlich zukommt.

§ 10. Hieraus aber erhellt sich schon ohne mein Erinnern, welches der Endzweck meiner philosophischen Vorlesungen sei; ich will nämlich geschickte junge Leute zu einer deutlichen Erkenntnis führen, und ihnen hinlängliche Gründe beibringen, wodurch in jeder von ihnen die Begriffe von dem, was ihm zu erkennen vorfällt, genau einzusehen geschickt werde, und darin eine Fertigkeit erlangt.

§ 11. Ich bilde mir gar nicht so viel ein, daß ich versprechen sollte, meine Lehre sei zur Entdeckung der Ursachen aller möglichen Dinge hinlänglich: denn bisher ist die Philosohie weder von mir noch andern auf diesen Grad der Vollkommenheit gebracht worden. Jedoch wenn ich sage, daß die Philosophie genug und überflüssig ausreicht, die Ursachen oder Gründe von unzähligen Dingen anzugeben; so denke ich, nicht mwhr als die Wahrheit gesagt zu haben. Insoweit ich selbst aber diesen mir vorgesetzten Endzweck erhalten habe, davon können andere dereinst urteilen, wenn meine Gründe der Philosophie das Tageslicht erblicken werden. Und was aus den übrigen Erkenntnissen zu hoffen ist, ist aus demjenigen abzunehmen, was von mir seit der ersten Auflage dieser Abhandlung, außer der deutschen Logik, Ontologie, Kosmologie und Psychologie, in lateinischer Sprache herausgekommen ist.

§ 12. Ich finde aber auch nicht nötig den Nutzen einer philosophischen Erkenntnis weitläufiger darzutun; weil billige Kenner von selbst eine vollkommenere Erkenntnis der Dinge, der unvollkommeneren vorziehen werden; und weil auch ihr Gebrauch sich genugsam darlegen wird, wenn wir auf die besondere Abhandlung jedes Teils der Philosophie kommen werden.

§ 13. Damit ich aber nicht selbst durch Stillschweigen den Lästerern Gelegenheit gebe, eine solche philosophische Erkenntnis der Dinge, wie sie von mir beschrieben wird, unter unfruchtbare Subtilitäten zu rechnen; weil nach ihrer Denkungsart, die von mir sogenannte gemeine oder historische Erkenntnis zur Erhaltung und Beförderung der menschlichen Glückseligkeit schon genug sein soll: so lohnt es sich der Mühe, wenn ich einen und anders Nutzen berühre, welchen man von der philosophischen Erkenntnis der Dinge, nicht aber von der gemeinen Erkenntnis, erhalten kann.

§ 14. Ich habe sie bereits in der Vorbereitung meiner deutschen Abhandlung von den Kräften des menschlichen Verstandes berührt, nämlich 1.) Die gemeine Erkenntnis kann oftmals irren, wenn die Ausdrücke, auf welchen sie beruth, nicht allzeit verstanden werden. Zum Beispiel kann es keiner, wenn er die unnütze Verschwendung des Geldes in Betrachtung zieht, vom Saufen ablassen, und alsdann aus eigener Erfahrung behaupten, die Betrachtung der unnützen Verschwendung des Geldes sei ein gutes Mittel gegen das Saufen. Da er aber nicht einsieht, warum dieses Mittel stattfindet; so bedient er sich desselben oftmals vergebens. Ein Philosoph hingegen, welcher den Grund einsieht, durch welchen man die unnütze Verschwendung des Geldes den Menschen als eine böse und schädliche Sache vorstellt, unterscheidet die Fälle behutsam, wo man sich einiger Mittel mit Nutzen bedienen kann. Gleichermaßen ind die gemeinen Begriffe insgemein so undeutlich, ja öfters so unklar, daß daraus leicht eine Unbeständigkeit im Reden, und Fehler in besonderen Urteilen entstehen; keines aber ist von den deutlichen Begriffen eines Philosophen zu befürchten.

§ 15. Man kann 2.) aus demjenigen, wovon man nur eine gemeine Erkenntnis hat, entweder gar nicht, oder doch nicht ohne Gefahr eines Irrtums, etwas Unbekanntes herleiten: dasjenige aber, wovon wir eine philosophische Erkenntnis haben, gibt uns fruchtbare Gründe an die Hand, daraus wir vielerlei mit Gewißheit herleiten können.

§ 16. Endlich 3.) die philosophische Erkenntnis der Dinge klärt auch das Gemüt auf, und überschüttet dasselbe mit so großem Vergnügen, welches man mit keinem anderen vergleichen kann: denn es wird mit der Empfindung der Vollkommenheit sowohl unseres Verstandes, als auch anderer Dinge verknüpft. In dieser Empfindung nun besteht das Vergnügen: und je größer und wichtiger die Vollkommenheit ist, die wir in uns wahrnehmen; desto größer ist auch das Vergnügen.

§ 17. Man kann noch 4.) hinzufügen: daß eine gemeine Erkenntnis einem lehrbegierigen Gemüt kein Genügen tut; und daß im Gegenteil die philosophische Erkenntnis dasselbe vollkommen befriedigt; auch wenn die Mathematische noch dazukommt, alle seine Begierde zu stillen weiß.

§ 18. Ich kann auch 5.) noch dies beifügen, daß einer der nur allein die Sachen auf gemeine Art kennt, weder seinen Sinn anderen deutlich machen, noch was er behauptet, demonstrieren, und gegen alle Einwendung gründlich retten könne; dagegen einer, der von Sache eine philosophische Kenntnis erlangt hat, sich sowohl ausführlich zu erklären, als was er behauptet, zu demonstrieren, auch dasselbe wider alles Einreden tüchtig zu erhärten weiß.

§ 19. Hieraus folgt, daß die philosophische Erkenntnis demjenigen der andere lehren will, am allernötigsten sei.

§ 20. Damit ich aber den mir vorgesetzten Endzweck § 10. erreichen möge, so pflege ich daran Fleiß zu wenden, daß 1) meine Definition von der Sache, die ich abzuhandeln vorhabe genau abgefaßt ist, und daß dabei kein einziges Wort vorkommen muß, welches nicht deutlich erklärt würde. 2) Daß überall nichts ohne Beweis angenommen sein, auch 3) in den Beobachtungen und in den Versuchen oder Experimenten, nicht wie es sonst wohl geschieht, etwas erschlichenes, aus Mangel von Aufmerksamkeit oder aus vorgefaßten Meinungen, mit unterlaufen muß, und dadurch ein  vitium subreptionis  [unerlaubte Erschleichung - wp] begangen würde; von welchen bald hernach etwas ausführlicher zu sagen sein wird. 4) Daß jedes mit dem andern soviel als die Sache mit sich bringt, dergestalt verbunden werde, damit allezeit in dem vorhergehenden die Ursache des nachfolgenden liegt.

§ 21. Ich unterlasse auch nichts weniger, als diejenigen Autoren namhaft zu machen, deren Beobachtungen, Experimente und Erfindungen ich mich bediene. Denn nicht allein die Billigkeit erfordert, einem jeden das seine zuzueignen, sondern es wird auch dadurch das Andenken wohlverdienter Männer erhalten, ihnen der schuldige Dank bezeigt; die fähige Jugend aber aufgemuntert, daß sie mit ihren vorzüglichen Gaben wuchern lernen. Es hat aber aber auch den Nutzen die Anfänger beizeiten dreist zu machen, wenn sie sehen, daß niemand alle Geschicklichkeit, die er besitzt, sich selbst zu verdanken habe. Dahingegen ist meine Gewohnheit nicht, so manche Hypothesen her zu erzählen, noch vielweniger mag ich die Zeit mit deren Widerlegung hinbrnigen. Denn wir sollen nicht lehren, was dieser oder jener vor Zeiten für Meinungen gehabt habe, oder heutzutage meint; sondern es kommt darauf an, ob wir das was wir selbst behaupten, andern deutlich erklären, und mit festen Gründen bestätigen können. Sollte es nun geschehen, daß jemand wieder anderer Meinung wäre, aber keinen so festen Grund davon hätte, oder wider unseren Satz Einwendungen vorbringen wollte, so bedarf es gar wenig Vorteile aus der Logik, ihm die Quelle seines Irrtums zu entdecken und sein Einstreuen abzufertigen.

§ 22. Wer demnach sich einer deutlichen und gründlichen Erkenntnis recht befleißigt, der wir mir ein angenehmer Zuhörer sein; andere aber, die lieber eine historische Erkenntnis von vielerlei Meinungen haben wollen, und zufrieden sind, wenn sie von philosophischen Dingen nur viel herplaudern lernen, werden sehr ersucht, aus meinen Vorlesungen wegzubleiben; alle ihre Mühe wird bei mir nicht angewandt sein. Ich halte es mit den alten Philosophen, die solche Lehrschüler von sich wiesen, an denen sie die Fähigkeit ihre Lehren zu begreifen nicht finden konnten. Ein Lehrer zu sein, ist nicht um Lohn zu arbeiten, obgleich seine Mühe von den Zuhörern aus schuldiger Dankbarkeit vergolten werden muß.

§ 23. Daher erinnere ich auch, daß wenn meine Vorlesungen Nutzen schaffen sollen, zu deren fleißigem Besuch etwas mehr Aufmerksamkeit und Fleiß mit gebracht werden müsse, als es dessen sonst gemeinhin bedarf; weil hier auf eine genaue Lehrart gehalten werden soll. Eben dasselbe habe ich schon bei den mathematischen Vorlesungen § 26 zu erinnern gefunden.

§ 24. Daß die Erlernung der Philosohie vorhergehem müsse, ehe man sich auf die Theologie, Jurisprudenz oder Medizin legt, wird niemand leugnen, der nicht weniger in der Philosophie als in den jetzt gedachten anderen Wissenschaften beschlagen ist. Es wird auch aus vorhergehenden leicht erwiesen; weil die Philosophie jeder von diesen Wissenschaften das Licht anzünden und die Gründe darreichen muß.

§ 25. Dieses will ich zuerst von der Theologie etwas näher anzeigen. Der Grund der dogmatischen Theologie, auch der moralischen und polemischen ist die Auslegung der heil. Schrift. Zu dieser Auslegung aber reicht die Kenntnis der Grundsprachen und der Altertümer allein nicht aus; denn daraus kann nichts mehr erfolgen, als daß der Text in einer anderen Sprache richtig geliefert wird: sondern es kommt am meisten darauf an, daß die richtige Bedeutung jedes Worts entwickelt, auch deren Verbindung und Nachdruck gezeigt wird. Dies aber kann nicht anders als durch Regeln einer wahren Logik, wie auch einer philosophischen allgemeinen Redekunst und dergleichen Grammatik erfolgen. Durch viele Hilfsmittel kann eine Wahrheit demonstrativ werden; dasselbe aber ist allerdings notwendig, wenn man diese Wahrheiten gegen Widersacher behaupten, oder andern, die selbst die Fähigkeit haben, lehren und beibringen will.

§ 26. Die dogmatische Theologie hat ihre vermischten Artikel mit der natürlichen Theologie gemein. Weil nun von den Sachen die zu den vermischten Artikeln gehören, öfters nur bloße Benennungen vorkommen, folglich noch Begriffe vorausgesetzt werden, da GOtt, welcher nach seiner Weisheit nichts überflüssiges oder vergeblich tun kann, dasjenige nicht hat offenbaren wollen, was bereits durch recht mäßigen Gebrauch der menschlichen Vernunft erlernt werden kann: so lehrt uns schon die Erfahrung, daß zu einer deutlichen und gründlichen Abhandlung dieser Artikel, die Philosophie nicht ein Geringes beitrage. Überdiese aber müssen wir auch von den eigentlichen Glaubensartikeln Definitionen geben, die Thesen mit Beweisargumenten behaupten und Schlüsse aus den Sprüchen der Heiligen Schrift als deren Grundlehren ziehen. Zu jeden hiervon ist die lehrende und die ausübende Logik unentbehrlich. Ich will jetzt nicht davon sagen, daß die reinen Artikel oder welche der Offenbarung eigen sind, sowohl untereinander selbst, sowie mit den gemischten Artikeln auf eben diese Weise verbunden werden, wie es mit den mathematischen und philosophischen Wahrheiten geschieht; so daß der Grund von einer in anderen enthalten sein muß; und daß hierdurch eine völlige Verbindung der lauteren Glaubenswahrheiten erwächst; welches eine erleuchtete Vernunft heißt, wenn das Wort  Vernunft  für die Sache genommen wird, damit man umgeht oder damit die erleuchtete Vernunft, wie sie gemeinhin im Menschen selbst gesucht wird, sich beschäftigt. Diese Verbindung ohne alles Unterbrechen völlig darzulegen, hat sich noch niemand gefunden, ich habe sie endlich durch die Hilfe philosophischer Grundlehren und der mathematischen Lehrart eingesehen, glaube auch nicht, daß jemand durch andere Wege dahin gelangen wird.

§ 27. Wie sehr der Moraltheologie die Kenntnis der ausübenden Philosophie zustatten kommt, will ich hernach berühren, wo ich von den Vorledungen über diesen Teil der Philosophie reden werde.

§ 28. Was die polemische Theologie anlangt, da dieselbe bloß mit Widerlegung der Widersacher zu tun hat, diese aber ihre Einwürfe meistenteils aus der Philosophie hernehmen: so wird niemand sich unterstehen zu sagen, daß ohne die Theorie und Praxis der Logik, und ohne die übrige Philosophie jemand in deren Lehrart mit Nutzen fortkommen kann.

§ 29. Was Licht der praktischen Philosophie gibt, das gibt das Naturrecht, die Sittenlehre, die Ökonomie und Politik der bürgerlichen Rechtslehre und wie vieles diese aus jenen erborgen mß, wird unten ersehen werden, wo ich von den Vorlesungen über die praktische Philosophie zu sagen habe.

§ 30. Nicht weniger wird an seinem Ort klar werden, was die Medizin an Hilfe aus der Physik und Logik erwartet; und dieses haben auch unlängst die vortrefflichen Arzneilehrer erkannt.

§ 31. Mich selbst hat die Erfahrung belehrt, wenn jemand in den mathematischen und philosophischen Wissenschaften einigen Ruhm erworben aht, ehe er zur Theologie, Rechts- oder Arzneiwissenschaft geschritten, daß er in viel weniger Zeit, in diesen hernach erlernten Wissenschaften weiter gekommen ist, als andere, die die Mathematik und die Philosophie hintansetzt, und also mit ungewaschenen Händen zu den sogenannten oberen Fakultäten gekommen waren.

§ 32. Der Unterschied von beiderlei Studierenden darf nicht weit hergeholt werden. Denn wer in der Mathematik und Philosophie fleißig gewesen ist, und den Verstand dadurch wohl aufgeräumt hat, daß er Wahres vom Falschen, Gründliches vom seichten genau zu unterscheiden weiß; der kann die Grundlehren der oberen Fakultäten, zu welchen er sich hält, besser fassen, auch viele Lehren, die bisher nicht weiter als historisch gelehrt werden, gründlicher einsehen. Was ist demnach Wunder, wenn er auf geschwinderen und besser versichertem Weg fortgeht als andere, die fast nichts mehr als ihr Gedächtnis gebrauchen, die trockene Lehrsätze zu fassen.

§ 33. Endlich redet die Erfahrung selbst genügsam, was vor vielerlei Schaden daraus erfolgt, wenn der Fleiß auf philosophische und mathematische Wissenschaften verabsäumt wird. Denn daher kommt, daß nicht allein junge Leute, wenn sie ihr akademisches Studieren geendet haben, oder um akademischer Würden willen promovieren; sondern auch in und wieder Gelehrte aller Fakultäten nichts ausführlich erklären, nichts zureichend beweisen, nichts tüchtiges auf Einwürfe antworten können. Es ist endlich die Ursache so vieler ungeheuren Meinungen die täglich in der Welt ausgeheckt werden. Dieses ganze Übel wird kein Ende nehmen, wo nicht die akademische Jugend zur gründlichen Erkenntnis mathematischer und philosophischer Wissenschaften angeführt wird, ehe sie sich zu den oberen Fakultäten begibt.


Das zweite Hauptstück
Von den Vorlesungen über die Vernunftlehre

§ 1. In diesen Vorlesungen habe ich mir vorgesetzt die Regeln zu erklären, nachwelchen der Verstand sich in gründlicher Erkenntnis der Wahrheiten richtet; auch den vielfältigen Nutzen, so diese Regeln leisten zu können zu zeigen.

§ 2. Ich will aber nicht nur Regeln, zur Beurteilung der von anderen vorgebrachten Wahrheiten abhandeln; sondern auch andere Regeln geben, die ihren Nutzen haben können, Wahrheiten durch eigenes Bemühen herauszubringen.

§ 3. Ich weiß zwar wohl (wie auch schon gemeldet haben), daß die Kunst zu erfinden keineswegs durch vorgeschriebene Lehren neuer Regeln, sondern durch Exempel müsse geübt werden; auch ist mir wohl bekannt, daß es bei denen zur Erfindungskunst vorgeschriebenn Sätzen oder Regeln am allermeisten auf vorhin bereits erkannte Wahrheiten ankommt: Jedoch erachte ich es nicht für unnütz, daß man von den Regeln eine deutliche Erkenntnis hat, welche diejenigen nur undeutlich erkennen, welche die Geschicklichkeit nachzudenken nur durch bloße Übung erworben haben. Auch habe ich mir nicht vorgenommen auf alle besondern oder zumindest an die allerbesondersten Regeln zu kommen, sondern ich bleibe nur bei den allgemeinen, fast auf eben die Art bestehen, wie ich in der  Algebra  einige Regeln gegeben habe.

§ 4. Weil jeder, der sich auf Wissenschaft legen will, das Wahre vom Falschen, und das Gründliche vom Seichten unterscheiden soll; so mache ich von der Logik oder dem Gebrauch der Vernunft zur Weltweisheit den Anfang. Weil aber niemand die Regeln, welche die Logik vorschreibt, rechtschaffen anzuwenden vermag, der ihrer nicht schon geläufig und darin geübt ist: so rate ich deswegen, bei Erlernung der Logik die Mathematik mit zu treiben. Denn die Regeln der Vernunftlehre geben an die Hand, was man in jeglichem gegebenen Fall vornehmen soll: der Fleiß in der Mathematik aber bringt das Vermögen zuwege, dasjenige hurtig ins Werk zu richten, was die Regeln haben wollen. Aus dieser Ursache, pflege ich auch die Vorlesungen über die Vernunftlehre, zu einer Zeit mit den kurzen Vorlesungen aller mathematischen Teile anzufangen.

§ 5. Ich hatte die scholastische Logik bereits erlernt, ehe ich auf Universitäten ging; allein sie tat mir kein Genügen. Denn ich konnte nicht absehen, auf was für eine Art, nach den Regeln derselben, die Wahrheiten, welche bereits von großen Gelehrten ans Licht gebracht waren, erfunden werden können. Daher ich denn alles andere, außer dem was sie von den Definitionen und von den Schlüssen lehrte, gar gering schätzte: unterdessen doch wahrnahm, daß die Schlüsse und Definitionen im Disputieren von ungemeinem Nutzen waren, da durch dieselbe, als dem sichersten und zuverlässigsten Mittel verhütet würde, von der Sache, über die gestritten wird, abzugehen, und auf Dinge, die nicht dahin gehören, zu verfallen.

§ 6. Als ich nun zur damaligen Zeit gelernt hatte, daß man eine Schlußrede (Syllogismus) aus dem gegebenen Schlußsatz (conclusio) und dem Mittelglied (medius terminus) machen könnte, mir auch noch kein Exempel bekannt war, darin man aus vorher bekannten Vordersätzen (praemisse) auf einen noch unbekannten Schlußsatz käme: so sah ich den Schluß nur allein als ein Mittel an, Wahrheiten zu beurteilen, die schon erfunden und bekannt wären: keineswegs aber als ein Mittel unbekannte Wahrheiten dadurch zu entdecken. Ich stand daher in der Meinung, daß die Scholastiker mit dem ARISTOTELES die Untersuchung (Examen) bereits erfundener oder bekannter Wahrheiten mit der Ausforschung unbekannter vermengt hätten.

§ 7. Dieses Vorurteil konnte mir, als einem jungen Menschen, weil ich kaum das 18. Jahr erreicht hatte, leicht zu gute gehalten werden, da Männer, die in der gelehrten Welt in großem Ruf und Ansehen standen, eben dieselben Gedanken gehabt hatten, wie solches aus ihren Schriften zutage liegt. Ich stelle auch nicht in Abrede, daß, da ich auf die Universität gegangen und etwas an des Herrn von TSCHIRNHAUSEN  Medicina mentis  geriet, darin die Schlußrede nicht nur als was Untaugliches zum Erfinden, sondern auch als etwas Unnützes zum Erforschen oder Untersuchen der Wahrheit gänzlich verworfen wird; durch dessen und anderer ihr Ansehen, aus dem was andere davon zu erzählen wußten bekannt war, daß sie eben solcher Meinung gewesen waren, wurde ich in meinem Vorurteil noch mehr bestärkt.

§ 8. Daher geschah es dann, daß ich die Wahrheit auf meiner Seite zu haben glaubte, und nicht weiter an die Untersuchung desselben dachte; auch deswegen mit vielem Zeitverlust und Mühe dasjenige vergeblich suchte, was ich doch schon längstens aus der scholastischen Logik gewußt hatte.

§ 9. Denn als ich gegen das Ende des Jahres 1704 auf der Hohen Schule zu Leipzig, um eine Stelle in der philosophischen Fakultät zu erhalten, zum letzten Mal disputierte, so hatte ich unter anderen Sätzen (theses), so fast am Ende dieser  Disputation  beigefügt stehen, auch mit behauptet, der Schluß sei kein Mittel Wahrheiten zu erfinden. Die Materie, wovon in dem damaligen akademischen Versuch disputiert wurde, war der  Algorithmus infinitesimalis differentialis,  etwas zu damaliger Zeit auf unseren Hohen Schulen noch ganz fremdes und unbekanntes. Als ich daher auf Anraten des Herrn MENCKENS, dessen Name und Ruhm auch nach seinem Tod in gesegnetem Andenken bleibt, meine Dissertation dem berühmten Herrn von LEIBNIZ, als Erfinder dezidiert hatte; so antwortete derselbe nach seiner Leutseligkeit, und ließ unter anderen Dingen, auch dieses einfließen: Ich sollte nicht leichtfertig sagen, daß der Schluß kein Mittel sei die Wahrheit zu erfinden.

§ 10. Weil ich nun schon damals die große Scharfsichtigkeit dieses großen Mannes hoch achtete; mich auch nicht bereden konnte, daß er aus einem in seinen jungen Jahren, da er viel Mühe auf die scholastische Weltweisheit gewandt hatte, eingesogenen Vorurteil sowas behauptete: so fing ich an mit mehrerem Fleiß zu untersuchen, was doch der Schluß zur Erfindung der Wahrheit helfen oder nutzen könnte? wie ich auch hernach weitläufiger ausführen will. Für jetzt aber muß ich wieder in meine Gleise kommen.

§ 11. Weil man jungen Leuten die sogenannten  locos topicos,  als ein Mittel anriet, das Mittelglied (medium terminum) aufzufinden, um dadurch den letzten Satz (conclusionem) eines Schlusses zu beweisen; so wollte ich mich derselben auch bedienen; ich wurde aber gar zeitig gewahr, daß solche Stellen aus der Topologie nur dazu dienen, daß man ein fertiges Gedächtnis bekommt dasjenige leicht wieder herzusagen, was man vormals erkannt und auswendig gelernt hat. Daher schien mir auch die gemeine Logik dazu keinen Nutzen zu haben, daß man dadurch die Wahrheiten erfinden könnte.

§ 12. Ich hatte demnach, wegen verschiedener Ursachen, die unten angezeigt werden sollen, ein äußerstes Verlangen die Kunst zu erfinden und zu demonstrieren recht kennenzulernen. Weil ich nun gehört hatte, daß die in der Geometrie erfahrenen ihre Sätze so überaus klar erwiesen, daß dadurch der Beifall erzwungen würde, so bald man sie nur gründlich verstünde; ja daß durch die Algebra unbekannte Wahrheiten zuverlässig erfunden würden: so wünschte ich nichts so sehnlich, als nur ein Mathematiker zu werden, und schmeichelte mir mit der ganzen Hoffnung, daß, wenn ich die Ursachen von der großen Klarheit, die in den geometrischen Beweisen vorhanden ist, auch den Kunstgriffen etwas zu erfinden, deren sich die Algebraiker zu gebrauchen pflegen, schärfer nachdächte, ich sodann von selbst auf allgemeine Regeln zu erweisen und zu erfinden geraten oder kommen würde; weil mir aus der scholastischen Vernunftlehre ganz wohl bekannt war, daß das allgemeine (genus) auch in den besondern (species) enthalten ist, und folglich der Begriff des allgemeinen vom Begriff des besondern abgezogen werden kann .

§ 13. Es war aber damals niemand in meinem Vaterland vorhanden, der meinem Verlangen ein Genügen geleistet hätte. Dann die Mathematik, wie sie daselbst auf dem  Gymnasio  vorgetragen wurde, ging nicht weiter als auf Erklärung der Kunstwörter (termini) und Beschreibung der Figuren. Und obgleich ich fest entschlossen war, durch eigenen Fleiß und Bemühen, in derselben weiter fortzugehen; so kamen mir dennoch allerlei Verhinderungen in den Weg, die mich aufhielten. Ich geriet über die Elemente des EUKLID, die CLAVIUS herausgegeben und mit  commentarien  erläutert hat; sie wollten mir aber, wegen der Weitläufigkeit nicht zusagen; denn die anderen Studien, welche ich traktierte und die ich, vieler Ursachen wegen, nicht verabsäumen konnte, verstatteten mir damals nicht soviel Zeit die Geometrie durch eigenen Fleiß durchzugehen. Auch war mir gleichermaßen von der Algebra keine andere Schrift oder Buch bekannt, als was CLAVIUS davon herausgegeben hatte, welches noch dazu nur in der Bibliothek nachgelesen werden konnte. Weswegen auch in dieser Wissenschaft nichts zu lernen war.

§ 14. Als ich im Jahr 1695 zu Leipzig des HEINRICH HORCH  Elementa aritmericae vulgaris & literalis  in deutscher Sprache herauskamen, und ich diese in dem darauf folgenden Jahr, von einem meiner Mitgenossen erhalten konnte, machte ich mir die Buchstabenrechnung (calculus literalis) daraus bekannt, ich bekam auch daraus einige Vorstellung von der Algebra. Und weil ich wahrnahm, daß der Verfasser einige allgemeine, wiewohl geringe Regeln, vom richtigen Gebrauch des Verstandes in Erkenntnis der Wahrheit, aus den Regeln beiderseitiger Rechnungsart und der Algebra hergeleitet hatte; so bestärkten dieselben meine Hoffung, zur Erlernung der Mathematik; ja ich suchte selbige nachzuahmen und machte mir andere Regeln von gleicher Art, erläuterte auch solche mit Exempeln, die aus anderen Wissenschaften hergenommen und mir bekannt waren. Ich hatte dabei ein Manuskript, darin ich zur selben Zeit die Regeln des  Algorithmi speciosi  vollständiger und deutlicher beschrieb, als ich sie in HORCHs  Elementen  gefunden hatte, und setzte diejenigen Regeln (canones), die mit Exempeln erläutert worden waren, darunter; wie ich mich dann auch erinnere, daß dieses Manuskript von einigen meiner Mitschüler abgeschrieben wurde. Dasselbe aber ist, als ich wegen Verfolgungen mißgünstiger Leute von Halle wegging, und meine Sachen andern zu besorgen überlassen mußte, nebst gar vielen anderen Dingen verloren gegangen.

§ 16. Zwar wie ich auf die Universität gekommen war, und die mathematischen Lehrschulen fleißig besuchte, hörte ich nichts anderes sagen, als daß die allgemeine Kunst zu erfinden keineswegs aus der Mathematik gelernt werden kann: jedoch da mir der Begriff von der Art und Weise, womit ich HORCH nachzuahmen einige allgemeine Regeln aus den Regeln des  Algorithmi  herausgebracht hatte, ob sie wohl in der Tat nicht viel auf sich zu haben schienen, immer in den Gedanken schwebte; mir auch die oben angeführten Ursachen (§ 12) nicht unerheblich schienen, so ließ ich mich von meinen Vorhaben durchaus nicht abwendig machen.

§ 16. Nachdem ich im Jahre 1700 vorerst STURMs  Mathesin enuelestam,  und nachher dessen  Mathesin compendiariam  oder  Tabulas in universam Mathesin  mit so gutem Nutzen angehört hatte, daß ich auch, nach Ende der Vorlesungen, imstande war, andern, denen vieles darin unverständlich geblieben war, klarer und deutlicher zu machen: so schaffte ich mir des berühmten Herrn von TSCHIRNHAUSEN  Medicinam mentis  an, welche ich zwar schon lange vorher noch in meinem Vaterland gesehen, aber nicht verstanden hatte, inbesondere darum, weil das meiste, was darin vorgetragen ist, mit mathematischen Exempeln erklärt wurde, welche ich mir einbildete, gründlich zu verstehen, weil ich in der Mathematik bereits etwas getan hatte.

§ 17. Alle die dieses Buch gelesen haben, werden daraus erkennen, daß was darin abgehandelt wird, auf drei Hauptstücke hinausläuft: Denn 1) wird darin das Kennzeichen oder Merkmal der Wahrheit angegeben, 2) die Methode etwas zu erfinden, und 3) die Mittel die Hindernisse aus dem Weg zu räumen gelehrt.

§ 18. Beim Merkmal (criterium) der Wahrheit, welches dieser geschickte Verfasser angibt, hatte ich bereits einen Zweifel, weil ich nicht genügend verstehen konnte, was das Wort  concipere  bedeuten sollte. Er sagt: wahr sei dasjenige, was sich  konzipieren  lasse; falsch aber, was sich nicht  konzipieren  lasse; und zweifelhaft, wovon wir gar keine Vorstellung hätten. Weil derselbe also nicht erklärte, was  concipere  bedeuten soll; sondern nur mit Exempeln erweist, daß wir einiges  konzipieren  können, einiges aber nicht: so unternahm ich selbst einen deutlichen Begriff vom Wort  conceptus  zu suchen.

§ 19. Indem ich also auf diejenigen Exempel achtgab, von welchen man sagt, daß sie  konzipiert  werden können, so nahm ich eine notwendige Verknüpfung wahr zwischen dem ausgesagten (praedicatum) und dem welchen das ausgesagt beigelegt wird, (subjectum) des letzten Satzes (conclusionis), dergestalt, daß, wenn wir setzen, dem Subjekt komme dasjenige zu, was im Begriff desselben enthalten ist, so müsse demselben auch dasjenige zukommen, was im Begriff des  praedicats  enthalten ist. Hingegen bemerkte ich in denjenigen Exempeln, von Dingen, welche, wie er sagt, sich nicht konzipieren ließen, daß der Begriff des  praedicats  dem Begriff des Subjekts widerstreitet. Und daher schien mir das Merkmal der Wahrheit darauf anzukommen, daß Gedanken nebeneinander bestehen können, oder daß sie nicht miteinander bestehen, sondern einer den andern aufhebt, nämlich so, daß wenn man den Begriff des Subjekts setzt, oder auch dasjenige, was vom  Subject  gesagt wird, man auch zugleich das  praedicat  setzt, oder aufhebt. Und hierbei ließ ich es eine Zeitlang bewenden: denn obwohl der sehr berühmte Breslauer Gelehrte NEUMANN, an welchen ich geschrieben hatte, nicht uneben [nicht unpassend - wp] urteilte, daß die Scholastiker ihre  praedicationes essentiales,  der CARTESIUS seine  clara atque distincta perceptio,  Herr von TSCHIRNHAUSEN sein  posse & non posse concipi,  und endlich meine  cogitationes se mutuo ponentes vel tollentes,  ein und dasselbe wäre oder auf einerlei hinausliefe: so dünkte mich doch, ich hätte zumindest klarer ausgedrückt, was andere dunkler vorgetragen hatten: was mir dann damals, als einem noch blutjungen Menschen, notwendig hat gefallen müssen. Ich nahm aber an, daß das Erste einer Sache darum zukommt, weil es entweder der Weg der Erfahrung lehrte oder der Weg des Beweises erhärtete.

§ 20. Von der Methode etwas zu erfinden, die der Herr von TSCHIRNHAUSEN angegeben hatte, nahm ich wahr, daß eine solche hauptsächlich darauf abgesehen sei, Sacherklärungen (definitiones reales) zu finden, welche zeigen, wie oder auf welche Art ein Ding entsteht oder hervorgebracht wird; und, diese zu erfinden, soll die vornehmste Sorgfalt dahin gehen, daß die anfangs- oder ursprünglichen Teile (elementa), das ist, dasjenige, was zur Entstehung oder Erzeugung eines Dings zusammenkommt, bekannt werden. In der Geometrie gibt sich nun die Anzahl ihrer ursprünglichen Dinge gabr bald zu erkennen; wie solche aber in anderen Wissenschaften entdeckt und aufgefunden werden sollten, schien mir damals nicht ebenso klar zu sein. Dann nahm es mich Wunder, warum der Verfasser in geometrischen Exempeln, die sich gleichsam von selbst zu erkennen geben, so gar weitläufig war; Dinge von anderer Art aber, kaum und fast gar nicht berührte, auch davon, wie man die ursprünglichen Dinge (elementa) erfinden soll, nicht ein Wort erwähnte: auf welche doch das Hauptwerk in der Sache anzukommen mir dünkte, weil man die übrigen Regeln gar leicht machen kann, wenn man nur eine Realdefinition eines Zirkels bedenkt, daß er nämlich durch die Bewegung einer geraden Linie um einen festen Punkt entsteht.

§ 21. Nun schien mir zwar diese ganze Methode, wenn sie außerhalb der Mathematik gebraucht wird, etwas gezwungen oder verwirrt; doch da ich solches lieber meiner eigenen Unwissenheit als der Methode selbst beimessen wollte, weil ich mehr Begierde hatte etwas zu lernen, als anderen Fehler zu erweisen, so dachte ich darauf wie dieser Schwieirigkeit abzuhelfen wäre. Ich unterschied deswegen zwei Fälle voneinander. Die Sache, von der wir eine Definition geben wollen, wie sie entsteht (definitionem geneticam), ist etweder so beschaffen, daß wir einige Eigenschaften davon erkennen, oder gar nichts. Im ersten Fall urteilte ich, man müsse solche Dinge annehmen, deren Möglichkeit uns entweder aus den bloßen Erfolgen, (a posteriori) oder vom Ursprung der Sache selbst, (a priori) bekannt ist; und indem selbige zusammen verknüpft werden, müsse man ihnen dasjenige oder solcherlei zueignen, was wir, entweder  a posteriori  oder  a priori  erkannt haben, daß solches von ihnen herkommt oder enstehen kann; oder man müßte bei organischen Körpern ihren Bau oder das Wesen (structuram) untersuchen; oder endlich müßte man auf die Bildung einer Sache, wodurch sie ihre Gestalt erlangt, achthaben. Weil man nun in diesem letzten Fall sich das Entstehen oder die Erzeugung dergestalt vorstellen müsse, daß die Eigenschaften dieser gegebenen Sache daraus herfließen; so habe ich dafür gehalten, daß aus den Begriffen dieser Eigenschaften zu beurteilen und zu schließen sei, von welcher Art die ursprünglichen Dinge (elementa) sein sollen und mit was für Kräften sie begabt sein müssen. Ich urteilte demnach, man müsse die vorausgehenden Erkenntnisse von den Dingen bei sich erwägen, damit offenbar würde, ob unter der Anzahl der Dinge, die uns bekannt sind, dergleichen vorkommen möchten.

§ 22. Gleichermaßen schienen mir die Regeln, welche der Herr von TSCHIRNHAUSEN von den Auflösungen der Aufgaben vorschreibt, gar zu allgemein. Daher ich auch hierin mancherlei Fälle voneinander unterschied, und mir von jeder Art derselben einige besondere Regeln ausdachte, welche aber hier nacheinander zu erzählen unnötig und überflüssig sein würde; nachdem ich von selbigen in der deutschen Schrift von den Kräften des menschlichen Verstandes und in meiner lateinischen Logik ausführlich gehandelt habe.

§ 23. Damit ich aber erfahren möchte, ob auch meine Erklärungen mit dem Sinn des berühmten Verfassers übereinstimmten; so besuchte ich ihn im Jahre 1702 und als ich sah, daß meine Gedanken seines Beifalls gewürdigt wurden, brachte ich seine Methode, jedoch mehr entwickelt und vermehrt, zu Papier; und, da ich gegen das Ende desselben Jahres, von der Universität Jena, wo ich mich Studierens halber aufgehalten hatte, nach Leipzig ging, um insbesondere die Mathematik zu lehren, so erklärte ich daselbst anfänglich  privatissime  des Herrn von TSCHIRNHAUSEN Methode zu erfinden, nach Anleitung meines oben erwähnten Manuskripts; nachher trug ich solche auch in Privatvorlesungen vor.

§ 24. Inbesondere aber suchte ich auch die gesamte unvermischte oder reine Mathematik, nach eben solcher Lehrart abzuhandeln: daher ist es gekommen, daß ich in den arithmetischen Beweisen die Zahlen gleichsam in ihre Elemente (oder Einheiten) zergliederte, aus welchen sie, vermöge der Definitionen entstehen, wie ich oben dargetan habe.

§ 25. Ob ich aber gleich den Nutzen, den diese Regeln hatten, gar wohl erkannte, so waren dieselben mir dennoch nicht ganz und gar zureichend, weil sie mir doch nicht so hell waren, wie ich an arithmetischen und algebraischen Regeln sonst erkannte. Es schien noch immer etwas dunkles, oder undeutliches darin vorhanden zu sein; daß ich auch selbige, wenn ich gleich von der Wahrheit höchstens versichert zu sein erachtete, niemals ohne Furcht, daß das Gegenteil statthaben möchte, anwandte.

§ 26. Als aber endlich, wie schon oben (§ 9.) angemerkt wurde, der einsichtsvolle Herr von LEIBNIZ mir zu verstehen gegeben hatte, daß er die Schlußrede oder Syllogismus keineswegs als etwas unnützes zum Erfinden ansieht, und er überdies auch die Bemühung um eine Methode etwas zu erfinden, gar für unnütz hielt, weil man vielmehr nach seinem Erachten, an die gegenwärtige Sache selbst gehen sollte;, so erinnerte ich mich wieder, daß ich, als ein noch junger Mensch, beim Disputieren mit einigen Mönchen in den Klöstern, die meine guten Freunde gewesen waren, mich des Schlusses mit dem besten Erfolg bedient hatte; und weil ich mich zu solchen Disputationen vorher bereit gemacht, eine lange Reihe von lauter Schlüssen, miteinander verbunden hatte: so fing ich an auf die geometrischen Beweise besser achtzugeben; und dadurch kam ich dahinter, daß solche Beweise, wenn sie mit aller Schärfe herausgesucht werden, aus Schlüssen (Syllogismis) auf gleiche und eben dieselbe Weise unter sich verknüpft waren, wie ich sie bereits als ein Jüngling an einander zu knüpfen pflegte, wenn ich meine Sätze beweisen sollte.

§ 27. Hieraus aber wird ganz offenbar, daß einige von den Neuern den Schluß (syllogismum) ohne allen Grund verwerfen; ja daß man sich auch vergeblich bemühe, ein Zeichen der Wahrheit zu suchen, weil dasjenige schon zureichend sein kann, was in der gemeinen Logik gelehrt wird, nämlich daß die Beweisgründe durch Schlüsse sollen untersucht, und in den Schlüssen nichts zum Grund- oder Vordersatz (praemissa) angenommen werden soll, welches nicht entweder vorher erwiesen worden, oder bereits auf unstreitiger Erfahrung beruth. Ich hatte auch schon erkannt, warum und auf welche Weise die Vordersätze uns zeitiger, als der Schlußsatz daraus (conclusio) bekannt würden, und daß daher auch noch unbekannte Schlüsse (conclusio) gezogen werden könnten, und dadurch war klar, wie weit der Schluß ein Mittel die Wahrheit zu erfinden abgibt. Außerdem hatte ich die Gedanken des Herrn von LEIBNIZ von der Erkenntnis, von der Wahrheit und von den Begriffen oder Ideen, welche in den  Actis Eruditorum  anno 1684, Seite 537 befindlich sind, nachgelesen; die mir in der Materie vom Unterschied der Begriffe ein unvermutetes Licht anzündeten.

§ 28. Deswegen als ich im Jahr 1709 nebst den mathematischen Vorlesungen auch in der Philosophie zu lehren anfing, setzte ich einige Anfangsgründe der vernünftigen Weltweisheit (elementa philosophiae rationalis) oder Logik, zum Nutzen der Zuhörer, in lateinischer Sprache auf, die nachmals im Jahre 1713 in deutscher Sprache unter dem Titel "Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihren richtigen Gebrauch in Erkenntnis der Wahrheit" im Druck ausgegeben wurden, und welche ich jetzt in meinen logischen Vorlesungen zugrunde lege.

§ 29. In diesen Anfangsgründen führe ich die Theorie der Logik zurück auf die Begriffe und auf deren Zeichen (symbola), welches die Wörter sind; sodann gehe ich zu den Sätzen (propositiones) fort, und untersuche dieselben nach Befinden,  a posteriori,  oder  a priori;  und komme endlich zu den Schlüssen (syllogismi). In der Ausübung der Logik wende ich die Theorie an, den Unterschied der sich zwischen Wissenschaft, Glauben, Meinungen und Irrtümern befindet, zu zeigen; und gebe Mittel an die Hand jedes hiervon zu prüfen. Ich lehre, wie man seine eigene und anderer Leute Kräfte abmessen soll; ferner die Methode, wie man Bücher recht und mit Nutzen lesen, desgleichen auch die heilige Schrift erklären soll; endlich auch wie man andere überführen und widerlegen, desgleichen wie man disputieren soll: welches da es etwas neues und vor meiner Zeit ungewöhnliches gewesen ist, andere nachher in ihren Schriften, die sie von der Vernunftlehre herausgegeben, nachgeahmt haben.

§ 30. Einen Begriff nenne ich eine Vorstellung einer Sache in unseren Gedanken. Den Unterschied der Begriffe erkläre ich, ebenso, wie der Herr von LEIBNIZ dieselben in den  Actis Eruditorum,  anno 1684, Seit 537 ausgeführt hat, und hierin dem VALERIAN MAGNI, einem berühmten Weltweisen des Kapuzinerordens, nachgefolgt ist; nur bin ich darin von ihm verschieden, daß ich die deutschen Begriffe (notiones distinctas) ferner unterscheide in ausführliche und unausführliche Begriffe (notiones completas & incompletas), davon jener diejenigen Merkmale in sich enthält, welche zureichen, eine Sache jederzeit zu erkennen, und von allen anderen zu unterscheiden: dieser aber faßt nicht alle, sondern nur einige Merkmale, die man zu erzählen weiß, und durch welche eine Sache von anderen unterschieden wird, in sich. Dann obwohl es das Ansehen haben könnte, als ob der Herr von LEIBNIZ eben den Begriff, welchen ich einen ausführlich deutlichen (distinctam completam) nenne, nur für einen Deutlichen gehalten habe; so finde ich jedoch sattsame Gründe, warum ich einem neuen Unterschied dieser Begriffe in die Vernunftlehre eingeführt habe. Denn es ist möglich, daß ein klarer Begriff zum Teil deutlich, und auch zum Teil undeutlich sein kann: in welchem Fall ich denselben einen unausführlichen Begriff (incompletam) nenne. Ein Exempel der Erläuterung kann des CARTESIUS' Erklärung des Körpers abgeben: daß solcher eine ausgedehnte Substanz sei, (substantia extensa). Dieser Begriff ist zwar wohl deutlich, aber unausführlich: weil außer der Ausdehnung, etwas zusätzlich erfordert wird um den Körper von allen andern Dingen zu unterscheiden, welche auch im Begriff von der Substanz auf dunkle Weise verborgen steckt.

§ 31. Ich weiß zwar ganz wohl, daß man die Kunst zu erfinden gar nicht dadurch erreichen wird wenn man Regeln mit dem Gedächtnis lernt oder faßt; sondern dadurch, daß man sich im Nachdenken oder Meditieren fleißig übt: jedoch ist mir auch nicht unbewußt, daß allgemeine Regeln uns in das Gedächtnis bringen oder erinnern können, was man in einer Sache zu tun oder vorzunehmen habe; und daß folglich selbige Übung erleichtern, ja zuwege zu bringen, daß man eher als sonst geschehen lassen und aus eigener Bemühung oder Fleiß darauf kommen kann. Es haben auch solche Regeln überdies diesen Nutzen, daß sie uns in den Stand setzen die Gründe oder Ursachen aufzufinden, wie und auf welche Weise dasjenige, was schon erfunden wurde, habe können entdeckt werden: wodurch dann die Lust andere nachzuahmen sehr befördert wird.

§ 32. Diese Ursachen haben mich bewogen, die Regeln etwas zu erfinden anzugeben, nach welchen ich mich mit vieler Mühe und Fleiß getrachtet hatte, und die ich auch hier sehr nützlich befunden habe; und solche in meinen Vorlesungen über die Vernunftlehre ausführlich abzuhandeln, damit die Anfänger, obgleich sie sich selbst an das Erfinden nicht machen können, bis sie erst dasjenige, was von andern erfunden wurde, gelernt haben, dennoch beizeiten sich angewöhnen mögen nachzuforschen, wie und auf welche Weise aus einigen Dingen, die man voraussetzt, andere haben erfunden und herausgebracht werden können.

§ 33. Und aus eben dieser Ursache ist mirs nicht genug mit dem Herrn von LEIBNIZ erklärt zu haben, was ein klarer Begriff, was hingegen ein dunkler (obscura) sei; was ein deutlicher und hingegen ein undeutlicher (confusa notio), was ein vollständiger und unvollständiger (aedequata & inadaequata) sei: sondern ich setze auch überdies noch hinzu, die Ursachen oder Gründe, warum einige Begriffe klar, andere aber dunkel sind; warum einige deutlich, andere undeutlich; einige ausführlich, andere aber unausführlich; weswegen endlich einige Begriffe vollständig, andere aber unvollständig sind, und wie auch verhütet werden kann, daß die bessern nicht verschlimmert werden.

§ 34. Ich zeige aber dreierlei Wege oder Mittel an, zu Begriffen zu gelangen. Der erste besteht darin, daß man über dasjenige, was man empfunden hat, nachdenken oder reflektieren soll; der andere, daß man das Allgemeine von den besonderen (universalia a specialibus) abstrahieren soll; bei welcher Gelegenheit die so fruchtbaren, wie deutlichen Begriffe von den allgemeinen Arten (genera), von den Gattungen (species) und einzelnen Dingen (individua) abgehandelt werden; der dritte Weg besteht in einer willkürlichen Zusammensetzung (in arbitraria compositione), darin bereits erfundene Begriffe zum Muster angenommen werden, danach auch in anderen Dingen nachahmend zu verfahren.

§ 35. Wenn die Lehre von den Begriffen zu Ende gebracht ist, so gehe ich zu den Definitionen oder Erklärungen; denn nicht alle Begriffe können Erklärungen heißen, sondern allein solche, die deutlich und ausführlich sind (notiones distinctae completae). Ich teile die Definitionen ein in Sacherklärungen und Worterklärungen (definitiones reales & nominales). Die Worterklärungen sind deutliche ausführliche Begriffe, eine Sache von allen andern ihresgleichen durch Eigenschaften zu unterscheiden: die Sacherklärungen aber unterscheiden die Sachen voneinander, dadurch, wie sie möglich zum Dasein werden, oder wie sie entstehen. Die Worterklärungen zu finden ist dasjenige dienlich, was wir davon, wie Begriffe zur Deutlichkeit gebracht werden sollen, gelehrt haben. Die Sacherklärungen aber zu finden, rate ich viererlei Methoden an; die vornehmste ist entweder demonstrativisch, oder sie ist empirisch. Hierauf bin ich damals verfallen, als die Regeln in des Herrn von TSCHIRNHAUSEN  Medicina mentis  mir gar zu allgemein schienen. Ich erläutere mit Exempeln, daß sie beides im menschlichen Leben sowohl, als in der Weltweisheit, ihren guten Nutzen haben, und daß man daraus die Ursachen oder Gründe von vielen Dingen geben kann, die in der menschlichen Erkenntnis noch sehr dunkel zu sein scheinen.

§ 36. Weil alle und jede allgemeine Erkenntnis symbolisch oder figürlich ist, die gemeinste gemeinschaftliche Figuren oder Zeichen aber in den Worten bestehen: so gehe ich deswegen von den Begriffen zum Gebrauch der Wörter fort; da ich dann insbesondere zeige, wie man verhüten soll, daß wir nicht leere Töne oder Wörter ohne allen Begriff vorbringen; wie es anzufangen sei, daß wir einen andern, der mit uns redet, vollkommen verstehen können; wie Wortstreite vermieder werden können; wie endlich von den Worten ihre Bedeutung die sie nach dem gemeinen Gebrauch haben, entdeckt werden kann.

§ 37. Indem ich von den Sätzen (propositiones) handle, so erwäge ich nicht nur die Einteilungen, welche in der Lehre von den Schlüssen ihren Nutzen haben, sondern ich setze auch andere hinzu, die beim Erfinden guten Vorteil leisten. Die ersteren Sätze sind so bekannt, daß wir nicht nötig finden, sie alle hier zu erwähnen; die letzten aber sind schon längst von den Meßkünstlern angenommen und gebraucht worden. Mit denselben teile ich solche Sätze ein in diejenigen, die sich nicht weiter erweisen lassen (indemonstrabiles), und in andere, die sich noch erweisen lassen (demonstrative propositiones). Die ersten teile ich wieder in Grundsätze (axiomata) und Behauptungen (postulata); die letzten aber in Lehrsätze (theoremata) und Aufgaben (problemata). Ich verfahre aber in der Abhandlung der Einteilungen der Sätze dergestalt, daß allemal zugleich der Grund davon aus der Natur oder inneren Beschaffenheit des Satzes selbst welcher überhaupt erwoen oder betrachtet werden soll, gegeben wird: denn einem Weltweisen gebührt nicht, etwas ohne Grund anzunehmen oder zuzugeben.

§ 38. Hierauf zeige ich, wie die Sätze entweder im Auf- oder Absteigen (a posteriori, a priori) sollen gefunden werden. In jenem Fall setze ich die Regeln von den Erfahrungen fest, damit nichts erschlichenes (vitium Subreptionis) mit unterlaufen kann, so wie wir nach unseren angenommenen Hypothesen die Erfahrungen verstehen, und ihnen dadurch etwas hinzusetzen möchten, wie doch insgemein zu geschehen pflegt; auch daß wir nicht durch andere falsche Schlüsse (fallaciae) verleitet werden etwas zu schließen, das doch aus den reinen Beobachtungen und Erfahrungen ganz und gar nicht folgt, noch geschlossen werden kann. Ich gebe drei Methoden an, wie die Eigenschaften der Dinge durch Erfahrungen aufgefunden werden; ich lehre auch, was wir für eine Behutsamkeit zu gebrauchen nötig haben, wenn wir aus den Wirkungen ihre Ursachen zu entdecken suchen: endlich gebe ich eine Methode an die Hand, wie man die besonderen Sätze (particulares propositiones) auf allgemeine (universales) bringen soll.

§ 39. Die Sätze werden a priori aus den Begriffen der Sachen hergeleitet. Die Art und Weise, wie man verfahren muß, zeigt die Schlußkette (concatenatio syllogismoram) in den Erweisen, wenn aus denjenigen, was vom  subjecto  angenommen wurde, das  praedicatum  hergeleitet wird. Daher handle ich auf die Art und Weise, wie die Sätze oder Propositionen gefunden werden könenn, allererst nach der Lehre von den Schlüssen. Hier kommt viele von der Auflösung der Aufgaben zu betrachten vor, bei welchen ich die Verschiedenheit der Fälle unterscheide, davon ein jeglicher seine eigenen besonderen Kunststücke erfordert; auf diese bin ich zur selbigen Zeit verfallen, da ich des Herrn von TSCHIRNHAUSEN seiner Methode die Aufgaben aufzulösen nachdachte.

§ 40. Die Lehre von den Schlüssen hole ich aus ihren ersten Quellen her; und da heutzutage die meisten an den Schlüssen einen Ekel haben, so bleibe ich deswegen nur bei der ersten Figur derselben bestehen, welche überall schon allein hinlänglich ist, daß alle Schlüsse danach eingerichtet werden können. Das übrige, daran jeder Leser genug haben kann, bringe ich in meiner lateinischen Logik vor. Ich zeige aber auch ausführlich, was für einen Nutzen die Schlüsse leisten und zwar sowohl im Erfinden, als im Erweisen. Inbesondere beweise ich mit ganz klaren Exempeln, daß auch außerhalb der Mathematik die Beweise am allerbesten auf eben solche Art, wie man in der Geometrie verfährt, eingerichtet werden können, wenn nämlich der Erweis in lauter Schlüsse oder  Syllogismos  gebracht oder zergliedert wird, und dieses so lange dauert, bis die Vorder- oder Obersätze (praemissae) entweder Grundsätze (axiomata) oder selbst Definitionen sind. Diesen setze ich noch hinzu, wie man mittels der Schlüsse allen Irrtümern und Verwirrungen begegnen und vorbeugen kann.

§ 41. Was ich von mancherlei Nutzen der Vernunftlehre vortrage, wird aus dem vorhergehenden als Folgen derselben (corollaria) hergeleitet. Hierdurch legt sich absonderlich der ansehnliche Nutzen von der Einteilung der Wahrheiten in Erklärungen, Grundsätzen und Behauptungen, in Lehrsätzen und Aufgaben, von selbst an den Tag. Weil aber dieser Nutzen sonst in der Vernunftlehre insgeheim übergangen oder unterlassen wird, so hat von den Vernunftlehren anderer keineswegs dasjenige erfolgen können, was ich vom Nutzen meiner Logik sage.

§ 42. Ich haben oben (§ 29.) erwähnt, daß unter den mancherlei Nutzen, den die Vernunftlehre leistet oder gewährt, die Methode billig obenan steht, wie ma sowohl die Kräfte anderer, als auch seine eigenen Kräfte oder Vermögen, die zur Erkenntnis der Wahrheit nötig sind, recht abzumessen und zu beurteilen habe. Wenn ich nun hierzu allgemeine Regeln gegeben habe, so führe ich insbesondere aus, woher wir wissen können, ob 1) die Beobachtungen und Erfahrungen, 2) die Erklärungen und 3) die Auflösungen der Aufgaben in unserer Gewalt oder Vermögen sind? Gegen das Ende füge ich noch bei, was noch weiter dazu nötig ist, wenn man vom Vermögen oder der Geschicklichkeit eines anderen richtig urteilen soll.

§ 43. Die Art und Weise über die Erfindungen, sie mögen von uns selbst, oder von anderen herkommen, zu urteilen kommt darauf an, daß man die Erklärungen, die Lehrsätze, die Beweise und die Auflösungen der Aufgaben nochmal untersucht und prüft. Doch werden sehr viele Fälle unterschieden, in welchen man den wahren Weg, der zur Vollkommenheit führt, verfehlen kann; auch wie allgemeine Urteile (judicia universalia) zuwege gebracht werden, die man dann auf besondere Fälle oder einzelne Begebenheiten ohne Hindernis oder Schwierigkeit anwenden kann; weil hierzu keine andere Richtigkeit vonnöten ist, als die, die wir sonst gebrauchen, um einen vorkommenden Fall oder Exempel unter seine gehörige Regel zu bringen.

§ 44. Wenn ich darauf komme, wie die Schriften anderer zu beurteilen sind: so unterscheide ich die Schriften in historische und dogmatische. In den historischen untersuche ich ihre Wahrheit, ihre Zulänglichkeit und ihre Ordnung: dann halte ich die Absichten oder Endzweck der natürlichen, bürgerlichen, Kirchen- und Gelehrten-Historie dagegen, damit ich die gewisse Richtschnur ihrer Vollkommenheit haben möge. Bei den dogmatischen Schriften unterscheide ich viele Fälle, und ziehe ebenso, wie kurz vorher erst von den Aufgaben angezeigt ist, aus den besonderen Urteile allgemeine, die dann auf einzelne Fälle ohne alle Mühe angewandt werden.

§ 45. Auch dient der Unterschied zwischen historischen und dogmatischen Büchern zu einer Methode, wie man Bücher mit Nutzen lesen soll. Bei der der Lesung historischer Bücher hat man wenig zu tun; hingegen dogmatische Bücher zu verstehen, ist weit mehr zu beachten. Insbesondere aber sind zwei Stücke hierbei zu bemerken 1) daß wir den Sinn des Verfasser deutlich einsehen und erklären, 2) daß wir auch, was er sagt genauer zu prüfen und zu untersuchen wissen.

§ 46. Zur Erklärung oder Auslegung dient, was vom rechten Gebrauch der Wörter gelehrt wrid. Die ganze Sache kommt nämlich darauf an, daß wir die Begriffe finden oder herausbringen, die der Verfasser einer Schrift mit jedem Wort verknüpft hat: jedoch müssen wir uns dabei erinnern, wie ungleich die Art zu reden ist, was inbesondere denen anhängt, die gewohnt sind sich mit undeutlichen, ja auch vielmals mit dunklen Begriffen zu behelfen.

§ 47. Die Untersuchung dessen, was ein Verfasser behauptet hat, wird nach Regeln angestellt, die wir angegeben haben, wie man nämlich sowohl seine eigenen Erfindungen, wie die anderer, beurteilen soll: daher gebe ich hier nur einen Unterriht, wie man erkennen möge, unter welche Art oder Klasse von Wahrheiten jeder einzelne Satz gehört.

§ 48. Was von der Auslegung der heiligen Schrift gesagt worden ist, das kann auch bei jeder anderen Schrift, die mit Verstand geschrieben ist, gebraucht werden. Ich bringe aber die hier vorgeschriebenen Regeln in zwei Klassen. 1) Zeige ich, wie die Begriffe nach der Absicht des Heil. Geistes, oder auch eines jeglichen vernünftigen und klugen Verfassers mit den einzelnen Worten zu verknüpfen sind, erforscht oder aufgefunden werden sollen; 2) wie die Verbindung der vorgetragenen Wahrheiten zu entdecken ist. Man weiß zuverlässig, daß eben dies auch recht gut bei den reinen oder bloß geoffenbarten Glaubensartikeln angehen kann. Ich setze aber dabei voraus, daß man der Grundsprachen und deren historischer Auslegungskunst oder der Philologie, und von der richtigen Übersetzung eines Textes genugsam versichert sei.

§ 49. Die Methode jemand zu überzeugen, gibt erst allgemeine Regeln; danach aber auch besondere, die man bei einer jeglichen Art der Wahrheit zu beobachten hat: wobei gezeigt wird, wie sehr der Gebrauch dieser Methode erleichtert wird, wenn die Mathematiker sich auf andere Stellen berufen und dieselbe anführen, wenn sie nichts in ihren Erweisen annehmen, als was schon anderwärts erwiesen oder doch erklärt ist. Denn auf diese Weise erhellt sich ohne Mühe, was man eigentlich zu erwägen hat, ehe und bevor man einen anderen von der Richtigkeit und Wahrheit eines Lehrsatzes überzeugen kann. Bei den Erfahrungen und Anmerkungen, die dann nicht gegenwärtig dargestellt werden können, hat man darauf zu achten, was wir von der Gewißheit des Glaubens weitläufig dargetan haben. Auch werden die Hindernisse angeführt, weswegen einer, entweder aus seiner eigenen Schuld, oder daher, daß er es dabei übersehen hat, nicht überzeugt wird; aber auch wie und durch welche Mittel solche aus dem Weg zu räumen sind. Insbesondere aber wird der Unterschied einer leeren Einbildung von einer gründlichen Überzeugung deutlich dargetan.

§ 50. Obgleich zur Widerlegung hauptsächlich gehört, daß man einen anderen seines Irrtums überführt, und folglich dasjenige hier stattfindet, was wir von der Art und Weise jemanden zu überzeugen gelehrt haben: so finden sich dennoch auch einige Dinge, die der Methode andere zu überzeugen eigentümlich sind, welche wir daher in einem besonderen Kapitel erklären. Unter anderem zeigen wir: wie die Wortstreite vermieden werden sollen; wie man Wörter, die nicht an gehörige Orte angebracht werden, vermeiden soll; wie und warum man sich des Scheltens und Schmähens enthalten muß; wann es erlaubt ist, seinem Gegner etwas hart zu begegnen; und noch andere Dinge mehr, die von gleicher Beschaffenheit sind. Davon unabhängig hebe ich deutlich den Unterschied hervor, zwischen der Methode einen durch Umwege (per indirectum) zu widerlegen, und derjenigen, welche sich Konsequenz-Macher angewöhnt haben. Daß man diesen Unterschied insgeheim nicht recht verstanden hat, ist die Ursache so vieler Unruhen und Verwirrungen die unter den Gelehrten und in der Kirche selbst entstehen.

§ 51. Was endlich davon, wie man disputieren soll, gelehrt wird, läuft hauptsächlich darauf hinaus, daß alles Beweisen, in Schlüsse gebracht werden muß; damit die Disputierenden nicht auf ein leeres Geschwätz und Ausschweifen geraten, wie es sonst gemeinhin zu geschehen pflegt, und von der Sache selbst, darüber disputiert wird, abkommen, hingegen auf ganz andere und fremde Dinge verfallen, die zur Sache um die gestritten wird keineswegs gehören, folglich nicht auf ein unnütztes Gezänke ausarten. Wollte aber jemand durch Fragen disputieren, (da gewisse Weise von einigen neueren Skribenten vorgezogen und mehr angepriesen werden wollen), so kann doch über solche Fragen nicht auf eine verständliche Weise disputiert werden, sofern man sich nicht allen und jeden Beweis derselben in Gedanken durch Schlüsse, die unter sich gehörig verknüpft sind, dabei beständig vorstellt. Daher dann auch das Disputieren durch Fragen und Antworten in der Disputation die durch ordentliche Schlüse geschickt begründet ist. Sonst aber gibt hierin dasjenige viel Licht, was bereits oben von der Belehrung in  horis privatissimis  durch Fragen und Antwort erwähnt wurde.

§ 52. Ich hoffen demnach, daß aus dem bisher Erwähnten deutlich erhellen wird, was man sich für Nutzen und Vorteil aus unseren Vorstellungen über die Vernunftlehre zu versprechen habe. Jedoch erinnere ich nochmals, was ich schon mehrmals fleißig eingeschärft habe, daß man nämlich sich eine Fertigkeit die angegebenen Regeln gehörig zu gebrauchen, durch Erlernung der reinen Mathematik und meiner Weltweisheit, besonders wie sie in den lateinischen Werken ausgeführt ist, erwerben soll. Dann außer diesem kann es gar leicht geschehen, daß jemand glaubten könnte, er denke und urteile so, wie es die Regeln der Kunst erfordern, wobei er aber keiner einzigen Regel ihr Recht tut.

§ 53. Es kann sich auch zutragen, daß jemand der sonst Einsicht hat, diese Regeln als unnütz ausschilt, wenn er selbst (aus Ungewohnheit) dadurch weder die zu wissen verlangte Wahrheit aufzufinden, noch auch wenn sie entdeckt wurde, genau zu beurteilen vermögend ist; da ich aber keine einzige Regel gegeben habe, die nicht mit sehr vielen Exempeln wäre bestätigt worden, ich auch aus diesen Regeln bis dahin die Ursachen oder Gründe anderer ihren Erfindungen habe anzeigen können; ja auch, dadurch daß ich mich nach derselben Vorschrift gerichtet, die Wahrheiten, welche ich suchte und zu wissen begehrte, selbst entdeckt habe, oder doch wenigstens auf ganz offenbare Ursachen gekommen bin, woraus ich verstehen kann, warum es nicht in meinen Kräften liegt, dieselben Wahrheiten aufzufinden.

§ 54. Alles, was bisher gesagt wurde, will ich künftig mit mehreren Gründen befestigen, wenn ich, nachdem die deutschen Anfangsgründe der Weltweisheit zuende gebracht sind, meine lateinischen Werke von der Weltweisheit herausgeben werde, so GOtt mir weiteres Leben, Gemüts- und Leibeskräfte, auch ruhige und müßige Zeit dazu verleihen wird. Dann in denjenigen kurzgefaßten Büchern, welche ich zum Besten der Anhänger, um ihre Bemühungen zu erleichtern, im Druck herausgebe, findet weder eine Weitläufigkeit statt, noch können solche Dinge darin vorgetragen werden, die ihnen zu hoch sind, oder, daran sie von selbst keinen Geschmack finden.
LITERATUR: Christian Wolff, Kleine Schriften und einzelne Betrachtungen, Halle a. d. Saale 1755