ra-2ra-1Oswald KülpeJonas CohnEdmund BurkeAugust Döring    
 
ROBERT VISCHER
(1847-1933)
Über das optische Formgefühl
[1/6]

    Vorwort
1. Über die Formen der räumlichen Auffassung
2. Gesichtsempfindung
3. Bildvorstellung
4. Gefühl und Gemüt
5. Der Phantasiewille
6. Der Künstler
7. Das künstlerische Umbilden

"Es ist also ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne. Bald aber sah ich ein, daß hiermit nur ein Teil der Formsymbolik erklärt würde, daß die Wirkung des Lichtes, der Farbe und die Wirkung der bloßen Umrisse, der reinen Linie nicht als eine Einfühlung bezeichnet werden, sondern daß hier nur eine unmittelbare Fortsetzung der äußeren Sensation in eine innere, eine unmittelbare geistige Sublimation der sinnlichen Erregung angenommen werden kann."


Vorwort

Die Anregung zur vorliegenden Arbeit ist hauptsächlich von jener Erörterung über die reine Form ausgegangen, welche mein Vater zum ersten Mal in der Kritik seiner Ästhetik von 1866 (1) in bestimmter Weise an die Spitze der ästhetischen Frage stellt. Soll es nämlich, wie er gegen die HERBARTsche Schule geltend macht, eine inhaltslose Form überhaupt nicht geben, so müssen diese kein eigenes Seelenleben darstellenden Formen, auf die sich jene Schule mit einem Schein von Recht beruft, als solche nachgewiesen werden, welchen wir, die Beschauenden, dennoch vermöge eines unwillkürlichen Aktes der Übertragung unseres eigenen Gefühles einen seelenvollen Inhalt zuschreiben. In seiner Ästhetik (2) selbst hatte er diesen Formbegriff nur gelegentlich angedeutet, z. B. in der Baukunst (3) (1851), ebenso in der Lehre vom Naturschönen (1847), wo er die ästhetische Wirkung aller anorganischen Erscheinung, - auch des ersten Organischen, der Pflanze, also des ganzen Landschaftsgebietes aus einem ahnenden Leihen, einem unbewußten Unterlegen von Seelenstimmungen (4) erklärt. Nun aber stellt er diesen Begriff scharf heraus und entwickelt ihnen unter dem Namen "Formsymbolik". Er bezeihnet dieselbe als ein "inniges Ineinsfühlen von Bild und Inhalt", (5) welches historische in den Naturreligionen zu einer völligen "Verwechslung" wird. Von dieser unterscheidet sich die im Wesen der Phantasei allgemen menschlich begründete, psychisch notwendige Formsymbolik dadurch, daß die Freiheit der Einsicht in das eigene Verfahren als ein bloß vergleichendes vorbehalten bleibt.

Wie kommen wir aber zu dieser tiefen, dunklen, sicheren, innigen und doch freien Ineins- und Zusammenfühlung? (6) -
    "Wir werden annehmen dürfen, daß jeder geistige Akt in bestimmten Schwingungen - und wer weiß, welchen? - Modifikationen des Nervs sich in der Art vollzieht und zugleich reflektiert, daß diese sein Bild vorstellen, daß also ein symbolisches Abbilden schon im Inneren des Organismus stattfindet. Die äußeren Erscheinungen, welche so eigentümlich auf uns wirken, daß wir ihnen unwillkürlich Seelenstimmungen unterlegen, müssen sich zu diesem inneren Abbilden verhalten, wie seine objektive Darstellung und Auseinanderlegung; der vorausgesetzten Neigung des Nervs zu den betreffenden Schwingungen kommt das entsprechende Naturphänomen entgegen, weckt sie zur Aktion, stärkt und bestätigt sie und hiermit die in ihr sich spiegelnder Seelenbewegung." (7)

    "Die verschiedenen Dimensionen der Linie und Fläche, die Unterschiede ihrer Bewegung wirken sinnbildlich; das Senkrechte erhebt, das Wagrechte erweitert, das Geschwungene bewegt lebhafter als das Gerade, gemahnt an Ausbiegung und Einlenkung des inneren Lebens von und zu gegebenen Punkten und Gesetzen." (8)
Es ist das ein Thema, vor dem schon viele stehen und geblieben sind, aber immer nur im Vorbeigehen. Den ersten konzentrierten Versuch, dieser Frage Genüge zu tun, macht J. V. VÖLKER in seiner "Analyse und Symbolik" (1861) (9); einer sinnigen Schrift, welcher ich mancherlei Aufmunterung und Anleitung zu eigenem Beobachten verdanke. Allein der Verfasser, so rein und scharf gezeichnet ihm auch die Erscheinungen gegenüberstehen, bringt es doch nicht zu einer klaren Abstraktion der Hauptbegriffe, um welche es sich hierbei handelt, um welche sich alle diese Eindrücke drehen. Dessen ist er selber auch in ganz freier Weise geständig (vgl. Vorwort). Übrigens ist es abgesehen von persönlichen Gründen immer ganz natürlich, wenn solche kühne Versuche, die fast ohne alle Prämissen der Tradition, ohne alle Stützen von Vorgängern gemacht werden, den Charakter eines primitiven, dunklen Wogens der Gedanken an sich haben. Es ist ein etwas trüb gährender Most, ein Sauser, den uns der Verfasser einschenkt. Leider vergißt er zuweilen beim Ausschenken von fremden Weinen, den Flaschen auch ihr "Etikett" aufzukleben. (10)

Bestimmt ausgesprochen und eingereiht in den Bau der systematischen Ästhetik wurde der Begriff der "Formensymbolik" zum erstenmal von KARL KÖSTLIN (1862) (11). Und besonders ist es der Begriff der "Vorstellungsassoziationen", welcher hier zugrunde gelegt wird (Seite 321). Der Verfasser weist im Eingang dieser Untersuchung darauf hin, wie in der Musik durch die Klangformen eine lebendig "anklingende" Vergegenwärtigung von "Gegenständen" erweckt werde, welche eben diese (Klang-) Formen "spezifisch als ihre Gattungseigenschaft an sich haben", so daß wir, wenn wir dieselben hören, "diese Gegenstände mitzusehen, mitzuvernehmen glauben können" ("sanfte, milde" Töne gleich geistiger Sanftmut; ferner wie von der Musik "durch Anklingen an die Vorstellung die Gegenstände indirekt symbolisch nachgebildet werden." Auch im Hinblick der räumlichen Erscheinung ist uns bewußt, daß "schon  eine  Form an eine andere erinnern, Symbol einer anderen Formgestaltung sein kann, so Körpergröße Symbol geistiger Größe, Bedeutsamkeit, Reife." - "alle quantitativen Formbeschaffenheiten erinnern an die ihnen entsprechenden qualitativen, alle sinnlichen an die ihnen entsprechenden qualitativen, alle sinnlichen an die ihnen entsprechenden geistigen Formbeschaffenheiten" -
    "Wie der menschliche Geist lebendig genug ist, um durch Ähnliches an Ähnliches erinnert zu werden, so ist er auch stark genug mit sich selber beschäftigt, auf sich selber gerichtet, sein selber sich bewußt, um namentlich Ähnlichkeiten äußerer Dinge mit seinen eigenen Zuständen, Erlebnissen, Empfindungen, Stimmungen, Affekten, Leidenschaften überall wahrzunehmen, in  allem  ein Gegenbild von sich, ein Symbol des Menschlichen wiederzufinden." (Seite 325).
Je länger ich mich nun mit diesem Begriff der reinen Formsymbolik beschäftigte, desto möglicher schien es mir auch, eine Zweiteilung desselben vorzunehmen, von den Vorstellungsassoziationen eine direkte Verschmelzung von Vorstellung und Objektsform zu unterscheiden. Das letztere Verhalten wurde mir klar anhand von SCHERNERs Buch über "das Leben des Traums." (12) Dieses tiefsinnige, fieberhaft im Verborgenen wühlende Werk enthält einen wahren Reichtum von strengen instruktiven Beispielen, welche  jedem,  der mit mystischen Form der allgemein abstrakten Abschnitte nicht sympathisieren will, eine selbständige Überzeugung ermöglichen. Besonders die Stelle über die "symbolischen Grundformationen für die Liebreize" (13) schien mir ästhetisch verwertbar. Hier wird nachgewiesen, wie der Leib im Traum auf gewisse Reize hin an räumlichen Formen sich selber objektiviert. Es ist also ein unbewußtes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektsform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne. Bald aber sah ich ein, daß hiermit nur ein Teil der Formsymbolik erklärt würde, daß die Wirkung des Lichtes, der Farbe und die Wirkung der bloßen Umrisse, der reinen Linie nicht als eine Einfühlung bezeichnet werden, sondern daß hier nur eine unmittelbare Fortsetzung der äußeren Sensation in eine innere, eine unmittelbare geistige Sublimation der sinnlichen Erregung angenommen werden kann. Zugleich wurde ich auf den durchgreifenden Unterschied von sensitiven und motorischen Reizen aufmerksam. Diesen Unterschied stellte ich hierauf als Grundschema an die Spitze und halte danach eine sensitive Zufühlung und motorische Nachfühlung, in analoger Weise eine sensitive und eine motorische Einfühlung (14) immer streng auseinander. - Und in der Entwicklung dieser Begriffe war es nun mein Hauptbestreben, die geistige Erregung immer genau an und mit der leiblichen zu erklären. So unzulänglich auch die physiologischen Kenntnisse sind, die mir hierbei zu Gebote stehen, scheint mir dennoch die Art ihrer Anwendung selbständig und nicht unwert zu sein, von der sicheren Hand eines tiefer Eingeweihten, eines Fachmanns, weitergeführt und ergänzt zu werden. Wir stehen hier vor einem "Geheimnis, das die Physiologie im Bunde mit der Psychologie aufzuklären hätte." Es muß nun eben einmal der Versuch gemacht werden und die täglichen, stündlichen Entdeckungen müssen es doch schließlich zulassen, das "undurchdringliche Dunkel, in welches jene Punkte gehüllt sind, wo Seele und Nervenzentrum  eines  sind", (15) wenigstens annähernd aufzuhellen. Es scheint "unmöglich, aus unseren spärlichen Beobachtungen in diesem dunklen Gebiet jemals ein System aufzubauen. (16) Ich habe nun doch mit Hilfe einiger allbekannter Merkmale unseres Körperlebens eine vorläufige einfache Gliederung des Verhaltens unseres Vorstellungsgefühles vorzunehmen gewagt und hoffe, daß hiermit, obgleich noch so manches unreif und problematisch klingen mag, ein schwaches Licht auf die dunklen Pfade dieser formsymbolischen Gefühlsgenesis geworfen ist.
LITERATUR Robert Vischer Über das optische Formgefühl - ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig 1873
    Anmerkungen
    1) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5
    2) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1846
    3) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, § 561
    4) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Heft 5, Seite 140
    5) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 141
    6) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 142
    7) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 143
    8) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 145
    9) J. V. VÖLKER, Analyse und Symbolik, Hypothesen aus der Formenwelt, Leipzig
    10) J. V. VÖLKER, Analyse und Symbolik, "Die Religion ist ein Heimweh des Geistes nach seiner Wahrheit und hiermit ist schon die Transzendenz über alles Endliche, sowie die Einigung der geteilten Zustandsmomente des sich Verlorenhabens in einen höheren Sammelpunkt als Konvergenz begründet". Vgl. FR. VISCHER, Ästhetik, 1. Teil, Seite 162. "Die Religion ist ein Heimweh des Geistes nach seiner Wahrheit. Schon dadurch ist die Transzendenz in der Religion bedingt" usw.
    11) KARL KÖSTLIN, Ästhetik, Tübingen, Seite 322-326
    12) K. A. SCHERNER, Das Leben des Traums, Berlin 1861
    13) K. A. SCHERNER, Das Leben des Traums, Berlin 1861, Seite 114
    14) Erst nach der Abfassung dieser Arbeit wurde ich auf LOTZEs Mikrokosmos, 2. Band, Leipzig, 1869, Seite 199) aufmerksam gemacht, wo ebenfalls, aber doch ohne systematische Verwertung, die von einer "mitlebenden Versetzung" ist, welche mit einer "verallgemeinerten Erinnerung an die Regsamkeit unseres eigenen Körpers" zusammenhängt. Die Seite 200 gebrachten Beispiele passen zu unserem Begriff der motorischen Einfühlung.
    15) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 142
    16) FRIEDRICH THEODOR VISCHER, Kritische Gänge, Neue Folge, Heft 5, Seite 146