cr-4S. J. Schmidt - Wilhelm von Humboldt    
 
WILHELM von HUMBOLDT
(1767 - 1835)
Über Denken und Sprechen

Eine Schwierigkeit ist, daß der Mensch von der Sprache immer in ihrem Kreis gefangen gehalten wird, und keinen freien Standpunkt außer ihr gewinnen kann.

1. Das Wesen des Denkens besteht im Reflektieren, d.h. im Unterscheiden des Denkenden von dem Gedachten.

2. Um zu reflektieren, muß der Geist in seiner fortschreitenden Tätigkeit einen Augenblick stillstehn, das eben Vorgestellte in eine Einheit fassen, und auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen.

3. Die Einheiten, deren er auf diesem Wege mehrere bilden kann, vergleicht er wiederum untereinander, und trennt und verbindet sie nach seinem Bedürfnis.

4. Das Wesen des Denkens besteht also darin Abschnitte in seinem eignen Gange zu machen; dadurch aus gewissen Portionen seiner Tätigkeit Ganze zu bilden; und diese Bildungen einzeln sich selbst untereinander, alle zusammen aber als Objekte, dem denkenden Subjekte entgegenzusetzen.

5. Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unsrer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam festhalten.

6. Die sinnliche Bezeichnung der Einheiten nun, zu welchen gewisse Portionen des Denkens vereinigt werden, um als Teile andern Teilen eines größeren Ganzen, als Objekte dem Subjekte gegenübergestellt zu werden, heißt im weitesten Verstande des Wortes: Sprache.

7. Die Sprache beginnt daher unmittelbar und sogleich mit dem ersten Akt der Reflexion, und so wie der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subjekt das Objekt verschlingt, zum Selbstbewußtsein erwacht, so ist auch das Wort da - gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst gibt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen und zu orientieren.

8. Der Sprache suchende Mensch sucht Zeichen, unter denen er, vermöge der Abschnitte, die er in seinem Denken macht, ganze als Einheiten zusammenfassen kann. Zu solchen Zeichen sind die unter der Zeit begriffenen Erscheinungen bequemer, als die unter dem Raume.

9. Die Umrisse ruhig nebeneinanderliegender Dinge vermischen sich leicht vor der Einbildungskraft, wie vor dem Auge. In der Zeitfolge hingegen schneidet der gegenwärtige Augenblick eine bestimmte Grenze zwischen dem vergangenen und zukünftigen ab. Zwischen Sein und Nicht-mehr-sein ist keine Verwechslung möglich.

10. Das Auge unmittelbar und für sich allein würde keine anderen Grenzen, als zwischen verschiedenen Farben, nicht aber durch ihre Umrisse zwischen verschiedenen Gegenständen bestimmen. Es kommt zu dieser Bestimmung, nur entweder durch die tastende, als in einer Zeitfolge der Körper umgleitende Hand, oder durch die Bewegung, mit welcher ein Gegenstand sich von dem anderen losreißt. Auf das eine oder andre bauet dasselbe nachher alle seine analogischen Schlüsse.

11. Die schneidendsten unter allen Veränderungen in der Zeit sind diejenigen, welch die Stimmer hervorbringt. Sie sind zugleich die kürzesten, und aus dem Menschen selbst mit dem Hauche, der ihn belebt, hervorgehend, und augenblicklich verhallend, bei weitem die lebendigsten und erweckendsten.

12. Die Sprachzeichen sind daher notwendig Töne, und nach der geheimen Analogie, die zwischen allen Vermögen des Menschen ist, mußte der Mensch, sobald er deutlich einen Gegenstand als geschieden von sich erkannte, auch unmittelbar den Ton aussprechen, der denselben bezeichnen sollte.

13. Dieselbe Analogie wirkte weiter fort. Als der Mensch Sprachzeichen suchte, hatte sein Verstand das Geschäft zu unterscheiden. Er bildete ferner dabei Ganze, die nicht wirkliche Dinge, sondern Begriffe, also eine freie Behandlung, abermalige Trennung und neue Verbindung, zulassend, waren. Diesem gemäß wählte also auch die Zunge artikulierte Töne, solche die aus Elementen bestehen, welche vielfache neue Zusammensetzungen erlauben.

14. Solche Töne gibt es sonst in der ganzen übrigen Natur nicht, weil niemand, außer dem Menschen, seine Mitgeschöpfe zum Verstehen durch Mitdenken, sondern höchstens zum Handeln durch Mitempfinden einladet.

15. Der Mensch nimmt daher keinen einzigen Naturlaut, roh wie er ist, in seine Sprache auf, sondern bildet immer nur einen demselben ähnlichen artikulierten.

16. Er unterscheidet sogar sein eignes Empfindungsgeschrei gar sehr von der Sprache; und hierin leitet die Empfindung auch den Gebildetsten sehr richtig. Ist er so bewegt, daß er nicht mehr daran denken kann, den Gegenstand von selbst wenigstens in der Vorstellung loszureißen, so stößt er den Naturlaut aus; im entgegengesetzten Fall redet er, und erhöht nur den Ton nach Maßgabe seines Affekts.


Über die Natur der Sprache im allgemeinen

Die meisten das Leben einer Nation begleitenden Umstände, der Wohnort, das Klima, die Religion, die Staatsverfassung, die Sitten und die Gebräuche, lassen sich gewißermaßen von ihr trennen, es kann, selbst bei reger Wechselwirkung noch, was sie an Bildung gaben und empfingen, gewissermaßen abgesondert werden. Allein einer ist von durchaus verschiedener Natur, ist der Odem, die Seele der Nation selbst, erscheint überall in gleichem Schritte mit ihr, und führt, man mag ihn als wirkend oder gewirkt ansehen, die Untersuchung nur in einem beständigen Kreis herum - die Sprache.

Ohne sie, als Hülfsmittel zu gebrauchen, wäre jeder Versuch über Nationaleigentümlichkeiten vergeblich, da nur in der Sprache sich der ganze Charakter ausprägt, und zugleich in ihr, als dem allgemeinen Verständigungsvehikel des Volks, die einzelnen Individualitäten zur Sichtbarwerdung des Allgemeinen untergehen.

In der Tat geht ein individueller Charakter nur durch zwei Mittel, durch Abstammung und durch Sprache, in einen Volkscharakter über. Aber die Abstammung selbst scheint unwirksam, ehe durch Sprache ein Volk entstanden ist. Denn wir finden nur selten, daß Kinder die Eigentümlichkeit ihres Stammes an sich tragen.

Auch ist die Sprache gleichsam eine bequemere Handhabe, den Charakter zu fassen, ein Mittel zwischen der Tatsache und der Idee, und da sie nach allgemeinen, wenigstens dunkel empfundenen Grundsätzen gebildet, und meistenteils auch aus schon vorhandenem Vorrat zusammengesetzt ist, so gibt sie nicht nur Mittel zur Vergleichung mehrerer Nationen, sondern auch eine Spur an die Hand den Einfluß einer auf die andern zu verfolgen.

Wir müssen daher hier erst vorläufig die Eigentümlichkeiten der griechischen Sprache untersuchen, erörtern, inwiefern sie den griechischen Charakter bestimmte, oder inwiefern dieser sich in ihr ausprägte.

Wenn schon die Schilderung des Charakters eines Individuums oder gar einer Nation in Verlegenheit setzt, so tut dies noch mehr die des Charakters einer Sprache. Wer sie jemals versucht hat, wird bald innewerden, daß, wenn er etwas Allgemeines zu sagen im Begriff ist, er unbestimmt wird, und wenn er ins einzelne eingehen will, die festen Gestalten ihm entschlüpfen, so wie eine Wolke, welche den Gipfel eines Berges deckt, wohl von fern eine feste Gestalt zeigt, aber in Nebel zerfließt, so wie man in dieselbe hineintritt. Es wird daher, um diese Schwierigkeit dennoch glücklich zu überwinden, notwendig sein, uns in eine ausführliche Abschweifung über Sprache überhaupt und die Möglichkeit der Verschiedenheit einzelner einzulassen.

Den nachteiligen Einfluß auf die interessanteste Behandlung jedes Sprachstudiums hat die beschränkte Vorstellung ausgeübt, daß die Sprache durch Konvention entstanden, und das Wort nichts als Zeichen einer unabhängig von ihm vorhandenen Sache, oder eines ebensolchen Begriffs ist. Diese bis auf einen gewissen Punkt freilich unleugbar richtige, aber weiter hinaus auch durchaus falsche Ansicht tötet, sobald sie herrschend zu werden anfängt, allen Geist und verbannt alles Leben, und ihr dankt man die so häufig wiederholten Gemeinplätze: daß das Sprachstudium entweder nur zu äußeren Zwecken, oder zu gelegentlicher Entwicklung noch ungeübter Kräfte notwendig; daß die beste Methode die am kürzesten zu dem mechanischen Verstehen und Gebrauchen einer Sprache führende; daß jede Sprache, wenn man sich ihrer nur recht zu bedienen weiß, ungefähr gleich gut ist; daß es besser sein würde, wenn alle Nationen sich nur über den Gebrauch einer und ebenderselben verstünden, und was es noch sonst für Vorurteile dieser Art geben mag.

Genauer untersucht zeigt sich nun aber von allem diesem das gerade Gegenteil.

Das Wort ist freilich insofern ein Zeichen, als es für eine Sache oder einen Begriff gebraucht wird, aber nach der Art seiner Bildung und seiner Wirkung ist es ein eignes und selbständiges Wesen, ein Individuum, die Summe aller Wörter, die Sprache, ist eine Welt, die zwischen der erscheinenden außer, und der wirkenden in uns in der Mitte liegt; sie beruht freilich auf Konvention, insofern sich alle Glieder eines Stammes verstehen, aber die einzelnen Wörter sind zuerst aus dem natürlichen Gefühl des Sprechenden gebildet, und durch das ähnliche natürliche Gefühl des Hörenden verstanden worden; das Sprachstudium lehrt daher, außer dem Gebrauch der Sprache selbst, noch die Analogie zwischen dem Menschen und der Welt im allgemeinen und jeder Nation insbesondere, die sich in der Sprache ausdrückt, und da der in der Welt sich offenbarende Geist durch keine gegebene Menge von Ansichten erschöpfend erkannt werden kann, sondern jede neue immer etwas Neues entdeckt, so wäre es vielmehr gut die verschiedenen Sprachen so sehr zu vervielfältigen, als es immer die Zahl der den Erdboden bewohnenden Menschen erlaubt.

Dies vorausgeschickt lassen wir hier eine möglichst kurze Analyse der Natur der Sprache im allgemeinen folgen, aus welcher sich dann bald ergeben wird, von welchen Seiten die besonderen Sprachen voneinander abweichen, und in ihrem Werte dem Grade nach verschieden sein können.

Die Sprache ist nichts anderes, als das Komplement des Denkens, das Bestreben, die äußeren Eindrücke und noch dunkeln inneren Empfindungen zu deutlichen Begriffen zu erheben, und diese zu Erzeugung neuer Begriffe miteinander zu verbinden.

Die Sprache muß daher die doppelte Natur der Welt und des Menschen annehmen, um die Einwirkung und Rückwirkung beider aufeinander wechselseitig zu befördern; oder sie muß vielmehr in ihrer eigenen, neu geschaffenen, die eigentliche Natur beider, die Realität des Objekts und des Subjekts, vertilgen, und von beidem nur die ideale Form beibehalten.

Ehe wir dies weiter erklären, wollen wir vorläufig als den ersten und höchsten Grundsatz im Urteil über alle Sprachen festsetzen:

daß dieselben immer in dem Grade einen höheren Wert haben, in welchem sie zugleich den Eindruck der Welt treu, vollständig und lebendig, die Empfindungen des Gemüts kraftvoll und beweglich, und die Möglichkeit beide idealisch zu Begriffenzu verbinden leicht erhalten.

Denn der reale aufgefaßte Stoff soll idealisch verarbeitet und beherrscht werden, und weil Objektivität und Subjektivität - an sich eins und dasselbe - nur dadurch verschieden werden, daß die selbsttätige Handlung der Reflexion sie einander entgegensetzt, da auch das Auffassen wirkliche, nur anders modifizierte Selbsttätigkeit ist, so sollen beide Handlungen möglichst genau in 'einer' verbunden werden.

Das heißt: es soll eine freie Übereinstimmung zwischen den ursprünglichen das Gemüt und die Welt beherrschenden Grundformen geben, die an sich nicht deutlich angeschaut werden können, die aber wirksam werden, sobald der Geist in die richtige Stimmung versetzt ist - eine Stimmung, die hervorzubringen gerade die Sprache, als ein absichtslos aus der freien und natürlichen Einwirkung der Natur auf Millionen von Menschen, durch mehrere Jahrhunderte, und auf weiten Erdstrichen entstandenes Zeugnis, als eine ebenso ungeheure, unergründliche, geheimnisvolle Masse, als das Gemüt und die Welt selbst, mehr, wie irgend etwas andres hervorzubringen imstande ist.

So wenig das Wort ein Bild der Sache ist, die es bezeichnet, ebenso wenig ist es auch gleichsame eine bloße Andeutung, daß diese Sache mit dem Verstande gedacht, oder der Phantasie vorgestellt werden soll. Von einem Bilde wird es durch die Möglichkeit ist, sich unter ihm die Sache nach den verschiedensten Ansichten und auf die verschiedenste Weise vorzustellen; von einer solchen bloßen Andeutung durch seine eigne bestimmte sinnliche Gestalt unterschieden.

Wer das Wort 'Wolke' ausspricht, denkt sich weder die Definition, noch ein bestimmtes Bild dieser Naturerscheinung. Alle verschiedenen Begriffe und Bilder derselben, alle Empfindungen, die sich an ihre Wahrnehmung anreihen, alles endlich, was nur irgend mit ihr in und außer uns in Verbindung steht, kann sich auf einmal dem Geiste darstellen, und läuft keine Gefahr, sich zu verwirren, weil der 'eine' Schall es heftet und zusammenhält. Indem er aber noch mehr tut, führt er zugleich von den ehemals bei ihm gehabten Empfindungen bald diese, bald jene zurück, und wenn er in sich, wie hier (wo man Woge, Welle, Wälzen, Wind, Wehen, Wald usf. mit ihm vergleichen darf, um dies zu finden) bedeutend ist, so stimmt er selbst die Seele auf eine dem Gegenstande angemessene Weisse, teils an sich, teils durch die Erinnerung an andere, ihm analoge.

So offenbart sich daher das Wort, als ein Wesen einer durchaus eignen Natur, das insofern mit einem Kunstwerk Ähnlichkeit hat, als es durch eine sinnliche, der Natur abgeborgte Form eine Idee möglich macht, die außer aller Natur ist, aber freilich nur insofern, da übrigens die Verschiedenheiten in die Augen springen. Diese außer aller Natur liegende Idee ist gerade das, was allein die Gegenstände der Welt fähig macht, zum Stoff des Denkens und Empfindens gebraucht zu werden, die Unbestimmtheit des Gegenstandes, da das jedesmal Vorgestellte weder immer vollkommen ausgemalt, noch festgehalten zu werden braucht, ja dasselbe vielmehr von selbst immer neue Übergänge darbietet - eine Unbestimmtheit, ohne welche die Selbsttätigkeit des Denkens unmöglich wäre - und die sinnliche Lebhaftigkeit, die eine Folge der in dem Gebrauche der Sprache tätigen Geisteskraft ist.

Das Denken behandelt nie einen Gegenstand isoliert, und braucht ihn nie in dem Ganzen seiner Realität. Es schöpft nur Beziehungen, Verhältnisse, Ansichten ab, und verknüpft sie. Das Wort ist nun bei nicht bloß ein leeres Substratum, in das sich diese Einzelheiten hineinlegen lassen, sondern es ist eine sinnliche Form, die durch ihre schneidende Einfachheit unmittelbar anzeigt, daß auch der ausgedrückte Gegenstand nur nach dem Bedürfnis des Gedankens vorgestellt werden soll, durch ihre Entstehung aus einer selbsttätigen Handlung des Geistes die bloß auffassenden Seelenkräfte in ihre Grenzen zurückweist, durch ihre Veränderungsfähigkeit und die Analogie mit den übrigen Sprachelementen den Zusammenhang vorbereitet, den das Denken in der Welt zu finden, und in seinen Erzeugnissen hervorzubringen bemüht ist, und endlich durch seine Flüchtigkeit auf keinem Punkt zu verweilen, sondern von allen dem jedesmaligen Zielen zuweilen gebietet.

In allen diesen Hinsichten ist die Art der sinnlichen Form, die nicht gedacht werden kann, ohne nicht auf eine weiter unten zu untersuchende vielfache Weise selbst als solche eine Wirkung auszuüben, auf keine Weise gleichgültig, und es läßt sich daher mit Grunde behaupten, daß auch bei durchaus sinnlichen Gegenständen die Wörter verschiedener Sprachen nicht vollkommene Synonyma sind, und daß wer 'equus' und Pferd ausspricht, nicht durchaus und vollkommen dasselbe sagt.

Wo von unsinnlichen Gegenständen die Rede ist, ist dies noch weit mehr der Fall, und das Wort erlangt eine weit größere Wichtigkeit, indem es sich noch bei weitem mehr als bei sinnlichen von dem gewöhnlichen Begriff eines Zeichens entfernt. Gedanken und Empfindungen haben gewissermaßen noch unbestimmte Umrisse, können von noch mehr verschiedenen Seiten gefaßt und unter mehr verschiedenen sinnlichen Bildern, die jedes wieder eigne Empfindungen erregen, dargestellt werden. Wörter dieser Art sind daher, auch wenn sie Begriffe anzeigen, die sich vollkommen in Definitionen auflösen lassen, noch weniger gleichbedeutend zu nennen.
LITERATUR - Wilhelm von Humboldt, Schriften zur Sprache, (Hrsg. Michael Böhler), Stuttgart 1973