p-4 Schubert-SoldernJ. G. FichteDas BewußtseinJ. Bergmann    
 
ARTHUR DREWS
(1865 - 1935)
Die Realität des Bewußtseins

"Es gibt kein Bewußtsein ansich, weder als funktionierenden Träger der psychischen Funktionen, noch als vorempirisches Subjekt der Kategorien, noch als Ort der sogenannten Normen und Gesetze. Es gibt daher auch keine  Tätigkeit des Bewußtseins,  weder als synthetische, noch als potenzierende, noch als reflexive, weder als verschmelzende oder integrierende, noch als summierende. Vielmehr was uns als Bewußtseinstätigkeit erscheint, das ist in Wahrheit nur ein unmittelbares Aufeinanderfolgen und sich Ablösen passiver Bewußtseinsinhalte, die nur durch die Schnelligkeit ihrer Folge den Schein einer eigenen Aktivität und Lebendigkeit vortäuschen."

Der Begriff des Bewußtseins gehört erst dem neueren Denken an. Die frühere Philosophie betrachtete das Denken nicht als innerlichen subjektiven Vorgang, sondern als eine Art objektiven Naturprozeß, weshalb dann auch die objektive gedankliche Wirklichkeit den Philosophen seit PLATO mit ihrer subjektiven Nachbildung oder Wiederholung im menschlichen Denken unmittelbar in eins zusammenfloß. Der Begriff des Seins, lehrt PLATO, ist der Begriff des Seins, d. h. der Begriff, den der Philosoph vom Sein hat, ist der Begriff, den das Sein selbst hat oder der es vielmehr  ist;  das Sein als Begriff, die Identität des Seins und des Begriffs; der Begriff des Seins ist das Sein des Begriffs. Nur unter dieser Bedingung, wenn der Begriff als solcher zugleich objektive Bedeutung hat, scheint die Möglichkeit einer apodiktischen [logisch zwingenden, demonstrierbaren - wp] Erkenntnis des Wirklichen gewährleistet. Das aber ist das treibende Prinzip der gesamten Philosophie seit SOKRATES, das Sein mit zweifelloser Sicherheit, es in einer solchen Weise zu erkennen, daß diese Erkenntnis jeden Zweifel an ihrer Wirklichkeit und Wahrheit ausschließt.

Der Begriff des Seins ist das Sein des Begriffs. Der Begriff ist selbst ein Sein, er ist  das  Sein als solches. Im Denken des Begriffs geht das Sein ins Denken über, schmelzen beide gleichsam im Überschwang der Liebesseligkeit (Eros) zusammen; und damit ist hier die Kluft beseitigt, die unser Denken von der Wirklichkeit trennt und im Hinblick worauf die Sophisten die Möglichkeit bestritten haben, eine wirkliche Erkenntnis, eine Erkenntnis des Wirklichen zustande zu bringen. Die ganze Philosophie nach PLATO ist nichts anderes als ein Fortspinnen des hiermit angefangenen Gedankenfadens, ein Entwickeln der in jener Voraussetzung enthaltenen gedanklichen Möglichkeiten. Bald verschlingt sich mit der philosophischen die religiöse Gedankenentwicklung und sucht sich der Identität von Denken und Sein auf mystischem Weg zu versichern. Hinter der metaphysischen Wirklichkeit urbildlicher Gedanken, zu welcher sich der Mensch im Denken des Seins erhebt, taucht das "reine Sein" als vordenklicher Träger, Subjekt, Grund und Halt des weltschöpferischen Denkprozesses auf und lockt die Denker, wie mit magischer Gewalt, sich auch noch über das Denken selbst emporzuschwingen und sich rückhaltlos in diesen Abgrund (Bythos) hinabzustürzen, um in der Vereinigung mit der Wurzel und den Urquell allen Seins sich die Wirklichkeit verbürgen zu lassen und die Herrschaft über sie zu gewinnen. Das Denken des  Seins  ist das  Denken  des Seins: aber das Sein ist schon nicht mehr bloß die Denktätigkeit als solche, sondern der Genitiv ist hier zugleich ein Genitivus subjectivus in dem Sinne, daß das Sein ein für sich selbständiges Subjekt ist, das die Tätigkeit des Denkens ausübt.

In der Philosophie PLOTINs finden alle bisherigen Auffassungen der Identität des Denkens und des Seins ihre einheitliche Zusammenfassung und extremste Zuspitzung. An der höchsten Stelle steht der platonische "Begriff des Seins", aber als vordenkliches, übervernünftiges Eines. Damit ist aber auch zugleich der Begriff des Seins als absolute Vernunft, Intellekt, als Logos, als vorweltliches und überweltliches Reich urbildlicher Ideen gegeben; und dieses ist selbst ein Denken des Seins, so zwar, daß das Sein der intelligiblen Wirklichkeit nur als Denken ist und das Denken wiederum nur als Sein der übersinnlichen Ideen ist. Das  Denken  des Seins ist das Denken des  Seins.  Das Sein ist mithin nicht ein bloßer toter Begriff, der nur durch uns erkannt wird, wie PLATO es verstanden hatte. Die Tätigkeit wird nicht etwa bloß vom Menschen an die intelligible Wirklichkeit herangebracht, die selbst aller Tätigkeit entbehrt, sondern die intelligible Wirklichkeit ist eben nur als dieses Leben, als dieser immanente Pulsschlag sich selbst erzeugender Begriffe oder Ideen; und diese ursprüngliche Identität des Denkens und des Seins, diese vorweltliche und überweltliche Selbstanschauung des Intellekts, diese "intellektuelle Anschauung", bei welcher das Angeschaute und das Anschauende unmittelbar in eins zusammenfallen, diese Selbstverwirklichung des Intellekts durch sein Sich-selber-Denken, diese ist die eigentlich wahre Wirklichkeit, das Reich der Wahrheit und Wirklichkeit, sofern in ihr der Gedanke das Sein, das Bild oder die Anschauung der Sache unmittelbar die Sache selbst ist.

In der in sich zurücklaufenden Denktätigkeit des Intellekts ist nach PLOTIN die Identität des Denkens und des Seins und damit die absolute Wirklichkeit enthalten und diese ist auch für uns erreichbar, weil unser Denken des intelligiblen Seins das Sein des Intelligiblen selbst und unser Sein mit dem Subjekt, dem Träger des intelligiblen Denkens eins ist. Aber dann, erklärt DESCARTES, ist jene Identität ja gar keine überweltliche, sondern sie ist uns unmittelbar in der Realität unseres eigenen Ich gegeben: das subjektive Denken als solches,  das Bewußt-Sein ist das Sein.  Das  Denken  des Ich ist das Denken des  Ich,  d. h. der Gedanke, den ich von meinem Ich habe, ist selbst das Ich. Indem ich mich denke, denkt sich das Ich in mir. Indem ich auf mich selbst reflektiere, reflektiert mein Selbst auf sich. Meine Selbstreflexion ist als solche selbst mein Sein. Selbstreflexion und Sein fallen im Ich unmittelbar zusammen. Mein Ich ist die von PLOTIN behauptete Identität des Denkens und des Seins. Ich brauche nicht aus mir hinaus in eine transzendente Welt zu schwärmen, sondern nur in mich hineinzugehen, so finde ich da die gesuchte absolute Wirklichkeit. Ich denke, also bin ich: cogito ergo sum.

Aus der übersinnlichen und vorweltlichen Sphäre, in welche sie von PLOTIN versetzt war und wo sie das ganze christliche Mittelalter gesucht hatte, wird die Wirklichkeit mit dieser Erwägung in die Sphäre der Erfahrung selbst hereingenommen. An die Stelle des plotinischen Intellekts oder objektiven Denkens tritt das subjektive Denken des Menschen. An die Stelle des Einen tritt das Ich, das die Tätigkeit des Denkens ausübt. An die Stelle des Seins tritt das  Bewußtsein.  Das Denken des Seins ist das Denken des Seins: das war die Grundvoraussetzung der bisherigen Philosophie gewesen, die in ihren verschiedenen Systemen nur die Möglichkeiten entwickelt hatte, wie sie in jener Voraussetzung enthalten waren. Das Bewußtsein des Seins ist das Bewußtsein des Seins, das Sein ist selbst Bewußtsein: in dieser Behauptung stimmen alle Denker seit DESCARTES zusammen. Die ganze neuere Philosophie ist nur die fortschreitende Entfaltung und besondere Durcharbeitung der möglichen Auffassungsweisen des Bewußtseins in seiner Eigenschaft als Identität von Sein und Denken.

Das Cogito ergo sum besagt, daß im Ich Bewußtsein und Sein unmittelbar in eins zusammenfallen. Das kann nun aber entweder heißen, daß unser eigenes reales Sein Bewußtsein oder daß unser Bewußtsein selbst als solches ein reales Sein ist. Dabei läßt jedoch der Ausdruck Bewußtsein selbst wieder eine doppelte Bedeutung zu. Entweder nämlich versteht man darunter den jeweiligen Bewußtseins inhalt:  unsere Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen usw., sofern sie eben bewußte seelische Gebilde sind. Oder aber man versteht darunter die Bewußtseins form,  die gemeinsame Bewußtheit aller bewußten Inhalte. Im ersteren Fall bedeutet die Identität des Bewußtseins und des Seins, daß der Inhalt unseres Bewußtseins, die Gesamtheit der sogenannten psychischen Phänomene selbst ein reales Sein, eine letzte ursprüngliche Wirklichkeit ist, zu welcher auch das Ich gehört. Im letzteren Fall drückt sie aus, daß die Wirklichkeit nur in und an unserem Bewußtsein, als ideeller Inhalt der an und für sich realen Form des produktiven und aktiven Bewußtseins ist, die wir so als unser Ich bezeichnen. Im ersteren Fall erkennen wir die Wirklichkeit unmittelbar und darum mit zweifelloser Sicherheit, weil die Bewußtseinsinhalte, die das Material unserer Erkenntnis bilden, zugleich die realen Gegenstände unserer Erkenntnis darstellen. Im letzteren Fall erkennen wir sie unmittelbar, weil das Subjekt unserer Erkenntnis, das Bewußtsein oder Ich zugleich der Gegenstand unserer Erkenntnis ist und folglich auch die Produkte dieses Ich nur unsere eigenen Erzeugnisse bilden.

Nun ist der Inhalt unseres Bewußtseins allerdings ein Sein und ich werde mit dieses Sein im Augenblick der Reflexion auf jenen Inhalt unmittelbar inne. Allein da er nur Bewußtseinsinhalt ist, so ist das Sein, dessen ich mir inne werde, auch eben bloß  Bewußt-Sein,  ideelles oder Vorstellungssein und auch das Ich, das jenem Inhalt angehört, ist lediglich eine Vorstellung unter Vorstellungen. Auf der anderen Seite gibt es keine Bewußtseinsform, die nicht Form eines bestimmten Bewußtseinsinhalts wäre, so wie es keinen Bewußtseinsinhalt gibt, der losgelöst von der Form des Bewußtseins existierte. Als Form eines bestimmten Bewußtseinsinhalts aber gehört auch sie nicht der Sphäre des Seins, sondern derjenigen des Bewußt-Seins an, da eben gerade sie es ist, die den Unterschied des ideellen und realen Seins begründet. Es ist mithin auch ein bloßer Schein, daß die Form des Bewußtseins etwas Ursprünglicheres als ihr Inhalt sei. Sie entsteht vielmehr immer zugleich mit dem Inhalt des Bewußtseins und vergeht mit diesem und nur die Stetigkeit dieses Wechsels, das teilweise verschmelzen der Bewußtseinsinhalte und das gedankenlose Absehen von den Zuständen der Bewußtlosigkeit im Schlaf und in der Ohnmacht erzeugt den Irrtum, als ob die überall mit sich identische Bewußtseinsform eine stetige und dauernde Einheit im Wechsel ihrer Inhalte wäre. Die Bewußtseinsform ist aber auch gar keine einfache Einheit, die als solche die Vielheit ihrer Inhalte aus sich hervorbringt, sondern eine bloße Folge stetig aneinandergereihter Bewußtseinsformen der wechselnden Bewußtseinsinhalte und ihre Aktivität und Produktivität ist genauso ein bloßer Schein, wie ihre Einfachheit und stetige Dauer gegenüber der Mannigfaltigkeit und dem Wechsel ihres Inhalts. Man kann das Ich somit allenfalls, wie KANT, als logisches, d. h. gedachtes, bewußtseinsimmanentes Subjekt, dem Objekt oder dem Bewußtseinsinhalt gegenüberstellen; allein ein reales Subjekt, der substantielle Träger und Produzent des Bewußtseinsinhalts ist es nicht. Vielmehr wird die Form des Bewußtseins selbst und zwar immer zugleich mit ihrem Inhalt produziert, ist also eine bloß synthetische, aber keine ursprüngliche Einheit und nur durch die von KANT sogenannte "Subreption des hypostasierten [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] Bewußtseins" kann sie zum realen produktiven Subjekt, d. h. zur Seele aufgebauscht werden.

Hiernach kann ich auch den Produzenten meiner Vorstellungen nur im Spiegel des Bewußtseins, aber niemals  als  Produzenten, niemals als realen oder vorstellenden vorstellen. Ich kann folglich auch die Wirklichkeit meiner selbst so wenig, wie irgendeine andere Wirklichkeit unmittelbar erleben. Was ich erlebe, ist immer nur die Tatsache des Vorhandenseins von Spiegelbildern, d. h. Bewußtseinsinhalten:  ich erlebe ein Bewußt-Sein.  Das Sein oder die Wirklichkeit als solche hingegen kann niemals unmittelbar erlebt, sondern höchstens nur mittelbar erschlossen werden; und hiervon macht auch unsere eigene Wirklichkeit keine Ausnahme. Wie sagt doch SCHILLER?
    "Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?
     Spricht  die Seele, so spricht - ach! schon die  Seele  nicht mehr."
Das Bewußtsein, wenn darunter die Form des Bewußtseins im Unterschied von ihrem Inhalt verstanden wird, ist eine bloße Abstraktion ohne irgendwelche Selbständigkeit und Aktivität. Ich kann mir die Bewußtseinsform zwar losgelöst von ihrem Inhalt  denken,  die Bewußtheit im Gegensatz zu den bewußten Vorstellungen, so wie ich mir das Alleinsein, das Identischsein, die Pferdheit im Unterschiede von den konkreten Pferden denken kann, aber eben nur durch Zergliederung meines Bewußtseinsinhalts und unter Absehung von allen besonderen Bestimmungen dieses Inhalts. Gilt dies schon von der individuellen Bewußtseinsform, dem sogenannten empirischen Ich, als der Form des empirisch bestimmten Bewußtseinsinhalts, so gilt es von der absoluten Bewußtseinsform, dem überindividuellen, unpersönlichen Bewußtsein, dem sogenannten "Bewußtsein überhaupt" erst recht. Denn dieses ist gar nur eine Abstraktion von Abstraktionen, die Abstraktion nämlich von der numerischen Verschiedenheit der Bewußtseinsformen der verschiedenen Individuen. Als solche aber ist sie ganz und gar nur ein  Inhalt meines individuellen Bewußtseins,  und  immanentes Objekt, mein Produkt  und folglich nichts weniger als der Träger, der Produzent und die reale übergreifende Form des Indvidualbewußtseins.

Man mag es anfangen, wie man will: es ist nicht möglich, dem Bewußtsein eine reale, selbständige und ursprüngliche Bedeutung zuzuschreiben, ganz gleichgültig, ob man es als Inhalt oder als Form betrachtet. Das ist aber auch nur selbstverständlich. Denn die Behauptung des Cogito ergo sum, die Annahme, daß wir im Bewußtsein selbst das reale Sein besäßen, verstößt gegen eine andere, die den unverrückbaren Ausgangspunkt, das unerschütterliche Fundament und den wahren Prüfstein aller erkenntnistheoretischen Überlegung bildet und diese ist der  Satz der Phänomenalität  oder  erkenntnistheoretischen Immanenz:  Alles Sein, was Inhalt des Bewußtseins ist, ist Bewußtseinsinhalt, Bewußt-Sein oder ideelles Sein; alles Bewußtsein ist Bewuß-Sein. Es ist dies der einzige Satz von apodiktischer Gewißheit, der eine Aussage über das Sein enthält und man sieht leicht, daß seine Apodiktizität [Notwendigkeit - wp] auf seiner tautologischen Beschaffenheit oder darauf beruth, daß er ein identischer oder analytischer im kantischen Sinne des Wortes ist, sofern Subjekt und Prädikat bei ihm dasselbe besagen. Keine erkenntnistheoretische Ansicht kann "kritisch" heißen, die gegen diesen Satz verstößt. Das gerade aber tun alle diejenigen Behauptungen, die dem Bewußtsein eine reale selbständige Bedeutung zuzuschreiben. Die Selbstreflexion im eigenen unmittelbaren Ichbewußtsein ist also ebensowenig imstande, uns eine apodiktische Erkenntnis der Wirklichkeit zu liefern, wie die Selbstreflexion im absoluten Denken, das mit dem endlichen Denken eins ist.

Das Cogito ergo sum ist, wie gesagt, nur die moderne Zuspitzung jener Grundvoraussetzung des antiken Denkens, wnoach das Denken des Seins das Denken des Seins, das Sein mithin selbst Denken ist. Diese Behauptung aber ist nicht geeignet, die gesuchte Wirklichkeitserkenntnis von zweifelloser Sicherheit zu begründen. Auch hier nämlich beruth die apodiktische Gewißheit des Satzes nur auf seiner tautologischen Beschaffenheit. Betrachten wir indessen jenen Satz genauer, so zeigt sich, daß er zwar  dem Wortlaut nach  ein identischer Satz ist, daß jedoch der  Sinn  seiner beiden gleichlautenden Bestandteile ein  ganz und gar verschiedener  ist. Das Denken des Seins ist das Denken des Seins - aber dort ist der Genitiv "des Seins" eines Genitivus objectivus, hier ist er ein Genetivus subjectivus. Mein Denken des Seins ist das Denken des Seins selbst, das Sein als Denken. Mein Gedanke, mein Begriff vom Sein ist als solcher selbst das Sein. Der subjektive Gedanke vom Sein ist die objektive Betätigung der Wirklichkeit als solcher. Das Sein ist Begriff, Gedanke, Denken. Das ist das antike Seitenstück der neueren Behauptung, daß das Bewußt-Sein selbst das Sein ist. Mein Denken des Ich ist das Denken meines Ich. Der Gedanke, den ich von meinem Ich habe, ist zugleich das Subjekt meines Denkens. Das Bewußtseins von meinem Sein ist das Bewußtsein meines Seins. Das Sein ist selbst Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein ist das Sein: immer komme ich nur dadurch über eine nichtssagende Tautologie hinaus, daß ich zwei grammatisch verschiedene Genitive dem Sinn nach als identisch setze. Immer bringe ich nur dadurch eine Identität des Denkens oder Bewußtseins mit dem Sein zustande, daß ich dem Gedanken oder der Vorstellung des Seins, dem bewußtseinsimmanten Objekt, das wirkliche Sein, das Sein als vom Bewußtsein oder Denken verschiedenes reales Subjekt, unterschiebe. Das aber ist eben die von KANT gerügte "Subreption des hypostasierten Bewußtseins", deren Durchschauung freilich KANT selbst nicht abgehalten hat, sie seiner gesamten Vernunftkritik unter dem Namen der "synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption" zugrunde zu legen, die FICHTE zu seinem absoluten Ich, SCHELLING zu seiner Identität des Idealen und Realen geführt, die HEGELs dialektische Selbstbewegung des Begriffs und metaphysische Logik verschuldet hat und die Philosophen bis auf den heutigen Tag dazu veranlaßt, das Bewußtsein in den Rang eines selbstätig funktionierenden Subjekts zu erheben und es mit dem Sein, der Wirklichkeit schlechthin identisch zu setzen.

Die Ansicht, daß Denken oder Bewußt-Sein und Sein unmittelbar identisch seien, ist die Grundvoraussetzung des  naiven Realismus  mit seiner Nichtunterscheidung der Gegenstände und unserer Vorstellungen von ihnen. In diesem Sinne ist die ganze Philosophie des Altertums und Mittelalters naiv realistisch gewesen, wenn sie das Denken des Seins mit dem Sein identifiziert und das letztere als eine Wirklichkeit objektiver Gedanken aufgefaßt hat. Die neuere Philosophie hat gemeint, den naiven Realismus überwunden zu haben, indem sie die subjektive Vorstellungswelt von der realen Welt der Dinge unterscheidet. Allein tatsächlich ist auch sie trotz alles ihres Pochens auf Kritik über den naiven Realismus doch nicht hinausgekommen, sofern sie das Sein um der apodiktischen Erkenntnis willen doch wieder mit dem Bewußtsein gleichgesetzt und dem letzteren eine selbständige, substantielle und funktionelle Bedeutung zuerkannt hat. Die Naivität ist aber ganz die gleiche, wenn ich das Bewußtsein, wie der unphilosophische Mensch, mit dem Sein oder wenn ich das Sein, wie der erkenntnistheoretische Idealist, mit dem Bewußtsein gleichsetze. Der Nerv des naiven Realismus ist ebensowenig durchschnitten, wenn ich das Sein, wie der Bewußtseinsidealist, in bloße psychische Phänomene auflöse, wie wenn ich in der begrifflichen Abstraktion der Bewußtseinsform oder im Ich das reale Subjekt der seelischen Tätigkeit als solches unmittelbar zu erfassen oder zu "erleben" glaube, wie der Bewußtseinsspiritualist.

Es ist naiver Realismus, an eine intellektuelle Anschauung, ein unmittelbares Zusammenfallen unseres Denkens, unseres Bewußtseins mit der Wirklichkeit in irgendwelcher Form zu glauben, sei dies nun eine endliche empirische oder die absolute göttliche Wirklichkeit. Es ist naiver Realismus, ein unmittelbares Innewerden unserer seelischen Wirklichkeit in der Selbstwahrnehmung zu behaupten, ganz gleichgültig, ob man diese Wirklichkeit mit HEGEL und HERBART als Vorstellung, mit SCHLEIERMACHER als Gefühl, mit SCHOPENHAUER und WUNDT als Willen bestimmt - als ob das Bewußtsein eine andere Wirklichkeit als diejenige von Gefühlen und Empfindungen und diese etwas anderes als Bewußt-Sein sein könnten! Es ist naiver Realismus, von "Bewußtseinsfunktionen", von einem aktuellen Bewußtsein in einem anderen Sinn als demjenigen der jeweilig gegebenen Bewußtseinsinhalte zu sprechen, da das Bewußtsein nur Gefühls- oder Empfindungs-Sein ist und das imer nur rein unproduktiv und passiv sein kann. Es gibt kein Bewußtsein ansich, weder als funktionierenden Träger der psychischen Funktionen, noch als vorempirisches Subjekt der Kategorien, noch als Ort der sogenannten Normen und Gesetze. Es gibt daher auch keine "Tätigkeit des Bewußtseins", weder als synthetische, noch als potenzierende, noch als reflexive, weder als verschmelzende oder integrierende, noch als summierende. Vielmehr was uns als Bewußtseinstätigkeit erscheint, das ist in Wahrheit nur ein unmittelbares Aufeinanderfolgen und sich Ablösen passiver Bewußtseinsinhalte, die nur durch die Schnelligkeit ihrer Folge den Schein einer eigenen Aktivität und Lebendigkeit vortäuschen. In unserer Zeit der Kinematographen und der "lebenden Photographien" hat diese Auffassung nichts Verwunderliches. Unsere Philosophen aber sitzen vor dem Vorhang des Bewußtseins, wie die Kinder, die sich einbilden, daß es die Bilder auf dem Vorhang unmittelbar selbst seien, die sich bewegen, während doch von einer hinter ihnen befindlichen Laterne die Bilder nur so schnell auf den Vorhang geworfen werden, daß die Nähte der Zusammensetzung sich dem Blick entziehen.

Dem naiven Realismus in erkenntnistheoretischer Beziehung entspricht in kosmologischer Hinsicht die Meinung, daß sich die Erde im Mittelpunkt des Weltalls befinde und die Sonne sich um die Erde drehe. Die Einsicht in die Verkehrtheit dieser Behauptung pflegt als die große Grenzüberschreiung vom Mittelalter zur Neuzeit angesehen zu werden. In erkenntnistheoretischer und metaphysischer Beziehung hingegen stehen wir noch immer im Mittelalter, wenn wir uns einbilden, im Bewußtsein unmittelbar das Sein zu besitzen und demnach einen zentralen Standpunkt im Umkreis der Wirklichkeit einzunehmen. Wir rühmen zwar den KOPERNIKUS, mit dem Nachweis der exzentrischen Stellung unseres Planeten uns in kosmologischer Hinsicht über das Mittelalter hinausgeführt zu haben und lächeln über die ohnmächtigen Versuche der Geister des Mittelalters, uns gewaltsam in der Ptolemäischen Weltanschauung festhalten zu wollen. Allein tun wohl diejenigen etwas anderes, die auf die zentrale, aktive und substantielle Bedeutung des Bewußtseins pochen, jeden Einspruch hiergegen entweder geflissentlich überhören oder a priori mit dem akademischen Bannfluch des "Dilettantismus" und der "Unwissenschaftlichkeit" belegen und jede gegenteilige Behauptung keiner Beachtung würdigen? Sollte es nicht endlich an der Zeit sein, nicht bloß die Natur, sondern auch den Geist aus den Fesseln des Mittelalters zu erlösen? Es gibt gegenwärtig keine philosophische Frage, die sich an Bedeutung mit derjenigen nach der Realität des Bewußtseins messen könnte und es gibt keine, die von der gesamten Philosophie der Welt geringschätziger und verständnisloser behandelt würde.

Unsere Philosophie ist, wie ich in einem Werk über PLOTIN gezeigt habe, als Philosophie des Bewußtseins, gegenwärtig auf erhöhtem Geistesniveau genau bei dem Punkt wieder angekommen, den sie als Philosophie des Seins während des Altertums in PLOTIN erreicht hatte. Sie hat alle Möglichkeiten ihrer Entwicklung durchlaufen und steht vor einem entscheidenden Wendepunkt. Nachdem sie ein halbes Jahrhundert hindurch mit den Naturwissenschaften um den Vorrang gestritten hat, schickt sie sich nunmehr an, die verlorene Herrschaft im Zeitbewußtsei zurückzugewinnen. Nur in einem ist ihr die Naturwissenschaft noch immer voraus: in der Erkenntnis der exzentrischen Stellung unserer Erde zur Sonne, als dem Urquell allen Seins und Lebens; ihr hat sie im Geistigen die entsprechende Erkenntnis noch nicht zur Seite gestellt. Wohlan! Bleiben wir auch hierin hinter jener nicht zurück! Lernen wir begreifen, daß auch die Sonne unseres Geistes, unser wahres Selbst, der Urgrund und der Schöpfer unseres Innenlebens außerhalb und jenseits unseres Bewußtseins sich befindet. Erst dann sind wir wahrhaft aus dem Mittelalter hinaus. Erst dann erfaßt sich der Geist in seiner Wahrheit, wenn der Glaube an die Realität und Ursprünglichkeit des Bewußtseins zerstört, wenn das Bewußtsein in seiner Unselbständigkeit und zuständlichen Beschaffenheit durchschaut und das "ewig Unbewußte" SCHELLINGs als "die Sonne im Reich der Geister" anerkannt ist. (1)


DISKUSSION

PALAGYI (Klausenburg): Es ist im hohen Grad erfreulich, daß wir durch den Vortrag des geehrten Herrn Professor Gelegenheit erhalten geradezu das Fundamentalproblem der Philosophie, das Verhältnis von Wissen und Sein, diskutieren zu können. Ich stimme mit dem Vortragenden völlig darin überein, daß der Satz von der Identität des Seins und des Bewußt-Seins, wie ihn BERKELEY formulierte: esse = percipi, durchaus unhaltbar ist, denn er führt in konsequenter Weise verfolgt notwendig zum Solipsismus und zur absoluten Skepsis. Es ist ein großes Verdienst EDUARD von HARTMANNs, daß er den "empirischen Idealismus", so wie alle seine Modifikationen und Abarten, scharfsinnig bekämpfte. Eine Identitätslehre des Seins und Bewußtseins ist aber meiner Auffassung nach nur in Bezug auf das "absolute Bewußtsein" aufrechtzerhalten. Nur im absoluten Bewußtsein sind Sein und Wissen identisch; für ein beschränktes Bewußtsein aber fallen sie notwendig auseinander. Die Darlegungen des Herrn Vortragenden lassen inbezug auf Tiefsinn nichts zu wünschen übrig; ich vermisse jedoch klare Begriffsbestimmungen über das menschliche Bewußtsein. Es müßten die Begriffe von Bewußtseinsakten und Bewußtseinsinhalten, ferner ihr Unterschied von Lebensvorgängen und physikalisch-chemischen Prozessen scharft gefaßt werden, damit eine echte Wissenschaft vom Bewußtsein zustande kommen könne.

DÜRR erklärt sich einverstanden mit dem Ergebnis des Vortragenden, wonach Bewußtsein und Sein niemals identisch sein können. Aber er wünscht eine nähere Bestimmung derjenigen Bedeutung des Wortes Sein, für welche dieser Satz gilt. Er unterscheidet das Sein im Gegensatz zum Geschehen und das Sein im Gegensatz zu dem, was vom Bewußtseins abhängig ist. Daß Bewußtsein mit dem Sein im ersteren Sinn nicht identisch sein kann, folgt daraus, daß alles Bewußtsein Geschehen ist. Aber mit dem Sein im letzteren Sinne ist das Bewußtsein identisch.

ARTHUR DREWS (Bericht des Redners): Herr PALAGYI hatte bemerkt, daß er zwar den "Tiefsinn" meines Vortrags und die weittragende Bedeutung desselben anerkenne, aber die "Methode" in der Darlegung vermißt habe. Ich erwiderte ihm, auch ich sei selbstverständlich kein geringerer Freund der "Methode", als er; wenn aman aber nur eine Viertelstunde Zeit zum Vortrag habe, sei es nicht gut möglich, sich auch noch auf weitläufige methodologische Erörterungen einzulassen, falls man sonst noch etwas Substantielles zu sagen habe. Da er in seiner Entgegnung beständig von "Bewußtseinsfunktionen" gesprochen hatte, hielt ich ihm entgegen, daß es gerade der eigentliche Zweck meines Vortrags gewesen sei, den modischen Begriff der "Bewußtseinsfunktion" als eine  haltlose  Fiktion nachzuweisen, daß das Bewußtsein als solche überhaupt nicht funktionieren könne, sondern, als "Empfindungs-Sein" absolut passiv und unproduktiv sei und daß es die von KANT gerügte "Subreption des hypostasierten Bewußtseins" sei, das Bewußtsein für ein handelndes, selbständiges und funktionierendes Subjekt anzusehen. - Herr Professor DÜRR hatte von verschiedenen Bedeutungen des Begriffs "Sein" gesprochen und eingewendet, daß ich diese nicht genügend unterschieden habe. Ich entgegnete ihm, daß ich den Begriff des Seins lediglich in derjenigen Bedeutung gebraucht habe, die auch DESCARTES bei seinem Cogito ergo sum ihm gäbe, nämlich als selbständige, funktionelle und produktive Realität und daß ich habe zeigen wollen, wie diese Art von Sein dem Bewußt-Sein nicht zugesprochen werden dürfe.
LITERATUR - Arthur Drews, Die Realität des Bewußtseins, Bericht über den III. Internationalen Kongress für Philosophie, hg. von Theodor Elsenhans, Heidelberg 1909
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu meine Werke "Das Ich als Grundproblem der Metaphysik - eine Einführung in die spekulative Philosophie" (1897); "Plotin und der Untergang der antiken Weltanschauung" (1908).