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ARTHUR KRONFELD
Das Wesen der
psychiatrischen Erkenntnis

[1/2]

"Die Abstraktion, ein logischer  Vorgang,  ist demnach die  Methode  zur Auffindung der Gesetze aus Urteilen: auf keinem Weg aber kann dieser Formalprozeß als die  Quelle,  der  Ursprung  der Erkenntnisinhalte dieser Gesetze angesehen werden. Und ebensowenig gewinnen die Erkenntnisinhalte durch Abstraktion den Charakter der Notwendigkeit. Allgemeinheit ist nicht Notwendigkeit, Gültigkeit für einen großen Umkreis von Tatsachen nicht notwendige Gültigkeit für jede unter den Begriff fallende Tatsache. Ernst Mach zieht hier den zweifachen - und beide Male falschen, von ihm selber hier und da als unzulänglich erkannten - Schluß: Was nicht aus der Erfahrung stammt, kommt von der Abstraktion her; und was nicht der Abstraktion entlehnt sein kann, ist Erfahrung."

Einleitung
"Das Höchste wäre zu begreifen, daß alles
Faktische schon Theorie ist."
- Goethe

"Auf die Möglichkeit einer Synthese kommt es
an, dann wird jede Fülle spielend bewältigt. Ein
entleerter, gewaltsam vereinfachter Begriff ist um
nichts anziehender als ein analytisches Chaos, dem
das einigende Band fehlt. Aber wir haben die Einheit
in der Hand, und so kann uns die Komplexität des
Inhaltes nicht schrecken.
- Karl Camillo Schneider


Die im Folgenden niedergelegten Gedanken sollten ursprünglich in der Homogenität eines geschlossenen systematischen Werkes aufgehen. Seit langen Jahren wissen mich meine Freunde mit einer systematischen Darstellung beschäftigt, welche eine  allgemeine  Psychiatrie als Wissenschaft,  im  Sinne einer logisch, theoretisch und methodologisch durchgebildeten Disziplin an die Stelle der bisherigen großen heuristischen Materialanhäufungen mit ihrem klinisch-konventionellen Charakter setzen sollte. Der Krieg, welcher mich an die Front führte, unterbrach die Arbeit an diesem Werk für fast 5 Jahre. Und für den Zurückgekehrten ergäbe sich nun die kaum zu erfüllenden Notwendigkeit, aufs Neue von Grund auf anzufangen und wieder aufzubauen, was so lange verschüttet und brach gelegen war. Dennoch erschien es mir als ein Verlust, wenn es dem Zufall dieses persönlichen Geschicks anheimgestellt bleiben soll, ob wenigstens die leitenden Ideen und Gesichtspunkte jener streng wissenschaftlichen allgemeinen Psychiatrie in die zeitgenössische Forschung zu gelangen vermögen oder nicht. Deshalb habe ich mich entschlossen, die Ganzheit jenes geplanten größeren Werkes aufzulösen, um seinen Grundgehalt wenigstens in vorläufiger Form zu retten. So ist das vorliegende Buch, wenn es auch sachlich in sich abgeschlossen ist, in seiner äußeren Form eine Sammlung von einzelnen Abhandlungen geworden, welche die durchgehende und einheitliche Struktur des gedanklichen Aufbaus, in den sie als einzelne Teile eingefügt sind, zwar erkennen lassen, aber nicht zur Schau tragen. Ich hoffe jedoch, daß auch diese vorläufige Form der Darstellung ihre Absicht voll erreicht.

Was alle die einzelnen Arbeiten dieses Buches innerlich verbindet, ist, abgesehen von ihrem Gegenstandsbereich, dem  Problem der Erkenntnis in der Psychologie und Psychiatrie,  das innere Zentrum, von welchem aus dieses Problem angefaßt und bearbeitet worden ist. Dieses innere Zentrum in seiner ganzen Bedeutsamkeit für die psychiatrische Forschung zu beleuchten, ist der wesentliche Zweck dieses Buches.

Es leitete mich bei seiner Zusammenstellung der Gedanke, nicht so sehr materiale und faktische Einzeluntersuchungen zur Darstellung zu bringen, als vielmehr alle diejenigen methodologischen, logisch- und theoretisch fundierenden und kritischen Gedankengänge und Entwicklungen mit einer präzisen Begründung zu versehen, durch welche  psychiatrisch-psychologisches Denken  ermöglicht, gesichert und zum Rang einer wirklichen Wissenschaft erhoben zu werden vermag. Es schwebte mir als Leitidee vor, die  Logik der Psychiatrie  und ihre  Wissenschafts- und Erkenntnislehre,  wenn auch noch nicht mit systematischer Geschlossenheit und Strenge, so doch implizit anhand ihrer grundlegenden Anwendungsweise zu entwickeln.

Dieses Buch erfordert also vom Verfasser wie vom Leser, sich intensiv innerhalb desjenigen Forschungsinstitutes für Psychiatrie und verwandte Gebiete zu betätigen, welches ein jeder von uns mit sich herumträgt:  des denkenden Geistes.  Dieser Geist wahrhaften psychologischen Denkens und Erfassens in seiner Tragweite und Bedeutung für die psychiatrische Gesamtforschung soll zu intensiverer, strengerer, schulmäßigerer und verantwortlicherer Arbeit hingeleitet werden, als unser Fachgebiet sie bisher kannte und zuließ, wo gerade die psychologischen und psychopathologischen Begriffsbildungen und Konzeptionen nur zu oft so beschaffen waren, daß sie einem Vertreter exakter Wissenschaften mit Recht den Eindruck einer befremdlichen Oberflächlichkeit, subjektiver Willkür, konventioneller Schematik, unpräzisen und verantwortungslosen Geredes machen mußten. Dieses Streben nach größtmöglicher Eindeutigkeit und Präzision in allen Ableitungen und Begründungen, Begriffen und Termini belastet naturgemäß die Geduld des Lesers erheblich. Es ist aber nicht Selbstzweck, sondern seinerseits nur wieder ein Ausdruck jenes inneren Zentrums, jener verborgenen und doch deutlichen Einheit, welche auch sachlich die Materien dieses Buches umfängt. Diese Einheit ist - in ihrer erkenntniskritischen Zuspitzung - letzten Endes eine "philosophische", eine weltanschauliche: die des kritischen Idealismus der kantisch-friesischen Lehre. Sie präjudiziert natürlich in absolut keiner Weise den Gehalt aller empirischen Forschung; das würde ihrem Wesen widersprechen; wohl aber ist sie eine Einheit der Prinzipien und der regulativen Maximen, der Methoden und kritischen Stellungnahmen denkender und forschender Empirie auch auf unserem Gebiet. Vor allem aber ist sie ein Norm der  Gesinnung,  mit welcher an die Erfassung psychologischer und psychiatrischer Probleme herangegangen werden sollte.

Wenn ich das Ziel und gleichsam die Idee dessen bezeichnen darf, was mir bei der Abfassung des vorliegenden Buches vorgeschwebt hat, und den Geist und die Gesinnung, aus der heraus diese Untersuchungen entstanden sind, so möchte ich mich dazu der Worte eines unserer unsterblichen Führer bedienen. HERMANN LOTZE schrieb im ersten Buch seiner medizinischen Psychologie (Leipzig 1852, Seite 4 - 8, Hervorhebungen A. K.) die folgenden Sätze:
    "Die Erkenntnis des Seelenlebens hat in größerem Maße als andere Wissenschaften, und in eigentümlicher Weise gelitten. In der Tat dürfen wir uns auf diesem Gebiet das innigste und eindringlichste Verständnis fast mit demselben Recht zuschreiben, mit welchem wir die  Unmöglichkeit  beklagen, gerade diesen Besitz  in wissenschaftlichen Formen festzuhalten.  Von frühester Kindheit an führt uns die Umgebung unzählige Wahrnehmungen geistigen Lebens zu; aber mancherlei Wünsche des Gemüts und die Triebe der Selbsterhaltung zeitigen aus ihnen mit allzu großer Beschleunigung jenen Instinkt unmittelbarer Menschenkenntnis, der sogleich den nutzbaren Gewinn seiner Wahrnehmungen zu verfolgen eilt. Mit dem schnellen Anwuchs dieser praktischen Klugheit vermag die wissenschaftlichere Neigung des Verstandes das Beobachtete auf seine ersten Quellen zurückzuführen niemals gleichen Schritt zu halten. Und so erneuert sich zwar im Lebenslauf jedes Einzelnen die rasche Ausbildung einer mehr oder minder gehaltvollen Kenntnis des geistigen Lebens, und die Lücken individueller Erfahrung ergänzend, haben die Überlieferungen der Geschichte und die Werke der Kunst einen Reichtum psychologischer Anschauungen um uns aufgehäuft, deren umfassende Mannigfaltigkeit und eindringliche Feinheit wenig zu begehren übrig läßt.  Aber diese lebendige Menschenkenntnis ist dennoch weder Wissenschaft, noch geeignet eine solche aus sich zu entwickeln. 

    Zwar entspringen gewiß auch aus ihr für jedes nachdenkliche Gemüt allgemeine Gesichtspunkte und zusammenfassende Ansichten genug, aber sie unterscheiden sich völlig von dem, was eine Wissenschaft anstreben würde . . . Auf schwebenden Grundlagen ruht jene lebendige Menschenkenntnis; und so wenig wir hoffen dürfen, ihren praktischen Blick jemals durch wissenschaftliche Überlegungen zu ersetzen, so wenig vermag sie selbst die Aufgaben der Wissenschaft zu lösen oder ihrer Lösung auch nur in genügender Weise vorzuarbeiten. Jenes Innere der Seele, das der Pädagoge nach bestimmten Zwecken auszubilden, dessen krankhafte Störungen der Arzt, dessen sittliche Verirrungen der Seelsorger zu heilen unternimmt, bleibt in seinem eigentlichen Wesen und in den ursprünglichen Gesetzen seines Wirkens ihnen allen unbekannt. Mit instinktiver Sicherheit bewegen sie sich in einem Kreis der zusammengesetztesten Ereignisse, die auf ihre unzähligen Bedingungen zurückzuführen die Wissenschaft, selbst im Besitz der festesten Prinzipien, verzweifeln müßte; manche Gewohnheiten ferner des Ineinandergreifens geistiger Tätigkeiten wissen sie den Beobachtungen geschickt genug zu entlehnen, aber die wesentlichste Frage lassen sie unberührt,  die  nach den elementaren Kräften, auf deren Wirksamkeit und Verbindung die Möglichkeit aller dieser Gewohnheiten allein beruth. Neben dem feinsten Verständnis menschlicher Charaktere im Leben und neben der schärfsten Zeichnung derselben in den Werken der Kunst pflegt daher doch selbst ein gebildetes Zeitalter gewissen Grundvorstellungen über die Natur des geistigen Wesens zu folgen,  über deren Roheit es selbst erschrickt, sobald eine empirische Psychologie ihm die Summe derselben in wissenschaftlicher Allgemeinheit vorhält  und abgelöst vom bestehenden Reichtum spezieller Anschauungen,  die allein in der lebendigen Anwendung ihre gänzliche Unzulänglichkeit verdeckten. 

    Dasselbe geistige Dasein nun, welches jene lebendige Kenntnis so fein in seinen letzten Verzweigungen  und so gar nicht in seinen Wurzeln  versteht, hat freilich stets auch den geordneten Angriffen der wissenschaftlichen Untersuchungen offengestanden. Aber ein doppeltes Mißgeschick hat auch diese ernstlichen Bestrebungen der Erklärung immer verfolgt. Zuerst hat die überwältigende Wichtigkeit des Gegenstandes jedes Zeitalter gedrängt, mit oft unzulänglichen Erkenntnismitteln eine abschließende Ansicht über ihn zu suchen. Wie sehr nun auch zur Beurteilung vieler Seiten des geistigen Lebens die nötigen Grundlagen nur im Innern des Geistes selbst liegen und daher dem Scharfsinn menschlicher Erkenntnis stets zugänglich sein müßten,  so wird doch seine vollständige Auffassung nie ohne jene klaren naturwissenschaftlichen Anschauungen möglich sein,  die im Verlauf unserer Bildung sich bekanntlich spät und allmählich entwickelt haben. Im Angesicht so vieler mißlungener Versuche, das geistige Leben zu erklären, dürfen wir deshalb die Hoffnung doch nicht aufgeben, wenigstens in Bezug auf die enger begrenzte Frage, welche den Gegenstsand unserer folgenden Betrachtungen bilden wird, glücklicher zu sein . . .

    Es ist daher nicht sowohl die eigene Dunkelheit des Gegenstandes, die wir scheuen, als vielmehr jenes andere Mißgeschick, dem, wie wir erwähnten, die Versuche psychologischer Erklärung stets ausgesetzt gewesen sind. In jener lebendigen Menschenkenntnis sind wir mit den Erscheinungen des Seelenlebens äußerlich zu bekannt geworden, um noch gern zu glauben, die Wissenschaft wisse über sie mehr Aufklärung zu geben, als unsere unerzogenen Reflexionen bereits enthalten. Wie jeder andere Kreis von Erfahrungen,  so ist auch der, den wir über psychische Erscheinungen uns gesammelt haben, durch die unablässige Tätigkeit halb unbewußter Überlegungen mit einer unfertigen Metaphysik allenthalben versetzt.  Jene äußerliche Vertrautheit aber mit den Phänomenen des geistigen Lebens trägt die Schuld, daß wir gerade auf diesem Gebiet  die Vorurteile jener unregelmäßigen Erklärungsversuche  mit viel größerer Hartnäckigkeit, als sonstwo, den Behauptungen gegenüberstellen, welche eine besonnene Spekulation geltend zu machen hat. Vieles erscheint daher der allgemeinen Meinung als eine klare und brauchbare Hypothese der Erklärung,  was jede philosophische Theorie als eine völlig unmögliche Verkehrtheit zurückweisen muß;  manches gilt umgekehrt jener fragmentarisch gebildeten Ansicht als unlösbares Rätsel, was die wissenschaftliche Auffassung als einfach und erledigt betrachten darf. So hat jener unangenehme Zustand der Dinge sich gebildet, daß zwar jeder zugibt, die Entscheidung physikalischer Fragen hänge von der genauen Kenntnis unbestreitbarer Grundsätze ab,  daß  dagegen der Bereich psychologischer Untersuchungen fast für ein vogelfreies Gebiet gehalten wird, in welchem bei dem Mangel aller festen Gesetze und der Unmöglichkeit sicherer Ergebnisse jeder den Einfällen folgen dürfe, die ihn am meisten anmuten. Zwar müssen wir zugeben, daß hier wie in allen Wissenschaften, einzelne unentscheidbare Fragen sich finden, deren Beantwortung für jetzt einem subjektiven Gefühl des Richtigen anheimgestellt bleiben muß; nicht minder aber  können wir das Vorhandensein ebenso sicherer Grundsätze behaupten, als sie irgendeiner anderen Wissenschaft zu Gebote stehen.  Der Genialität unserer Forscher mag das schöne Verdienst beschieden sein, diesen Grundsätzen durch individuellen Scharfsinn eine Reihe wichtiger Anwendungen abzugewinnen;  in Bezug auf die Grundsätze selbst dagegen müssen sie mit Aufgebung subjektiver Neigungen sich zu der aufrichtigen Stellung eines Lernenden verstehen. 

    Indem wir nun den Versuch wagen wollen, den Zusammenhang des geistigen Lebens in jenen Grundlagen zu schildern, die der Heilkunst von Wert sein können, müssen wir hoffen, daß eine ausdauernde Teilnahme unserer Leser  die Ungunst der Stellung  überwinden werde,  in der sich alle diese Bestrebungen gegenwärtig befinden.  Wir sehen uns einem Gegenstand gegenüber, dessen erste Frische längst durch unzählige vereinzelte und mißglückte Versuche seiner Erforschung für uns verloren ist; der Zugang zu dem ferner, was wir als feststehend und einer weiteren Entwicklung fähig behaupten möchten,  steht uns nur nach dem langen Weg einer erschöpfenden Kritik jener Vorurteile offen, die sich verwirrend um diese Fragen angesammelt haben;  schließlich und endlich ist, was wir als das Wahre vertreten wollen, nicht eine jener extremen und kapriziösen Ansichten, die gegenwärtig am meisten Hoffnung haben, die erschlaffte Empfänglichkeit für die Behandlung dieser Gegenstände wieder aufzustacheln. Unsere Absicht ist es vielmehr, eine Auffassung des Seelenlebens zu entwickeln,  die  den Anforderungen naturwissenschaftlicher Anschauungen ebenso vollständig Genüge leistet, wie sie andererseits unverkümmerten Raum läßt für die Anknüpfung jener geisteswissenschaftlichen Reflexionen, deren gleiches Recht an unseren Gegenstand zu leugnen wir der Leidenschaftlichkeit unserer Zeit nicht zugestehen dürfen. Wir wollen versuchen, diese allgemeinen Grundlagen der psychologischen Untersuchungen hier zusammenzufassen, ohne Bildung und Sprache einer bestimmten philosophischen Schule vorauszusetzen,  aber gleichzeitig auch ohne den Zusammenhang mit jenen Elementen der Bildung zu verlieren, die außer der Physiologie das menschliche Nachdenken bewegen, und deren Einfluß der Naturforscher sich weder im Leben noch in der Wissenschaft zu entziehen vermag, oder versuchen soll." 
Der Gesamtumfang des vorligenden Werkes ist auf drei Bände berechnet. Der erste Band behandelt, in einer völlig in sich abgeschlossenen Weise, den Wissenschaftscharakter, die Geltungsgrundlagen und die Erkenntnismethoden der allgemeinen Psychiatrie, sofern sie Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit erheben. Er enthält also irgendwelche materiale psychiatrische Einzelarbeit noch nicht. Dies sei sogleich bemerkt, um Enttäuschungen vorzubeugen; es soll aber damit nicht gesagt sein, daß sein Inhalt für den psychiatrischen Denker und Forscher unwesentlich ist. Das Gegenteil ist meine feste Überzeugung. Der zweite Band wird die materiale Durcharbeitung der psychischen Reihe von Daten, der dritte die im weitesten Sinne psychophysischen und außerpsychischen Problemgebiete behandeln, die im Bereich der Psychiatrie bestehen.

Dem hier vorliegenden ersten Band habe ich einen vorbereitenden Teil vorangeschickt, welcher eine Einführung des Lesers in die allgemeinen erkenntniskritischen Grundlagen gibt, auf denen sich das Fundament der eigentlichen theoretischen, phänomenologischen und methodologischen Gedankengänge erhebt, welche ich für den Wissenschaftscharakter der allgemeinen Psychiatrie als notwendige und hinreichende Bedingung erachte. Dieser erste vorbereitende Teil ist es nun besonders, welcher unter der Ungunst meines persönlichen Geschickes in seiner äußeren Form zu leiden hatte. Geplant war, ihm eine systematisch geschlossene Form strenger Ableitungen zu geben. Diese Absicht zu verwirklichen, mußte ich aufgeben. An ihre Stelle habe ich einige synoptische, kritische und polemische Ausführungen zur philosophischen Erkenntnislehre setzen müssen; ein Teil derselben ist, freilich in wesentlich anderer Form, schon an anderen Stellen teilweise schon vor einem Jahrzehnt von mir veröffentlicht worden. Wenn ich es dennoch nicht aufgegeben habe, diesen vorbereitenden Teil allgemeiner erkenntniskritischer Erörterungen überhaupt in dieses Werk aufzunehmen, so liegt hierfür ein doppelter Grund vor: Einmal nämlich soll durch ihn das Interesse für scharfe und präzise Fragestellungen gerade auf diesem allgemeinen Gebiet mehr geweckt werden, als dies beim praktisch-psychologischen und psychiatrischen Leser oftmals der Fall ist, der in der Erkenntnislehre sich entweder gerne durch einen Wust von historischer Gelehrsamkeit oder durch schwungvoll vorgetragene geistreiche Gedanken gefangennehmen läßt. Weder das eine noch das andere ist wesentlich:  es kommt ganz einfach auf richtiges Denken an;  dies und nichts anderes soll an den Ausführungen des vorbereitenden Teils dargetan werden. Der zweite Grund der Voranstellung dieses erkenntniskritischen Teils ist, die allgemeinen Grundlagen zu schaffen, welche uns zur wissenschaftlichen Bearbeitung unserer eigentlichen psychiatrischen Probleme festen Halt und Standpunkt gewähren.

Was ich bei den Gedankengängen dieses Teils menem Freund LEONARD NELSON, als dessen Schüler ich mich füle und freudig bekenne, zu verdanken habe, das wird aus jeder Zeile erkenntlich sein.

Weit wichtiger freilich als dieser vorbereitende Teil ist mir all das, was in den folgenden eigentlichen Hauptabschnitten dieses Buches gesagt wird. In ihnen glaube ich das Neue zu geben, was in psychiatrischen Erörterungen bisher noch nicht, in psychologischen nur allzu selten zum Ausdruck und zur Formulierung gelangt ist. Zwischen den einzelnen Abschnitten besteht, wenngleich ein jeder von ihnen eine in sich geschlossene und verständliche Abhandlung darstellt, der innigste Zusammenhang. Ein jeder von ihnen führt die Beantwortung des Problemkreises: Wie ist allgemeine Psychiatrie als Wissenschaft möglich? - in bestimmter Richtung weiter; und so wird hoffentlich der Leser am Schluß dieses Buches ein einheitliches Gesamtbild dessen besitzen, was ich grundsätzlich und methodologischen in das psychiatrische Denken eingeführt und an seinen einzelnen Materien verwirklicht sehen möchte. Um dem Leser trotz der hier gewählten äußeren Form der Einzelabhandlungen dieses Verständnis für die systematische Einheitlichkeit der vorgetragenen Gedankengänge zu gewährleisten, bin ich von bestimmten Gesichtspunkten der Auswahl und Anordnung des Problemgebietes ausgegangen. Zuerst gebe ich eine kurze Synopsis des gegenwärtigen Standes der psychiatrischen und psychologischen Forschungstendenzen. Es handelt sich hierbei um eine rein ontologische Zusammenstellung, aber eine solche, die - ohne Rücksicht auf Einzelarbeiten - auf die generelle Problemlage selber eingestellt ist. Aus ihr ergeben sich bereits bestimmte Anhaltspunkte für die zu leistende Arbeit. Diese besteht nun in der systematischen Durchdenkung der zwei Hauptgebiete der Erkenntnisproblematik der Psychiatrie: der  Wissenschaftstheorie des Psychischen  und der  Phänomenologie des Psychischen.  Die beiden umfangreichen Studien, welche sich mit diesen beiden Problemkreisen auseinandersetzen, betrachte ich als die Kernstücke des vorliegenden Werkes. Zwischen sie stellte ich einen Entwurf, welcher einige Linien für das allein mögliche Programm einer Grundlegung der allgemeinen Psychiatrie zieht. Ein Anhang zu diesen Prolegomenen jeder allgemeinen Psychiatrie, die mit dem Anspruch auf strenge Wissenschaftlichkeit wird auftreten können, beschäftigt sich mit dem Verhältnis immanenter Kritik und deren Bedingungen zu irgendwelchen konstruktiven Hypothesen und sogenannten Arbeitsgesichtspunkten, wie sie gerade in unserer Wissenschaft an der Tagesordnung sind. Dem phänomenologischen und psychologisch-theoretischen Problemgebiet lasse ich am Schluß noch einige Erörterungen folgen über die besonderen phänomenologischen Aufgaben der Psychiatrie, die psychiatrischen Krankheitsbegriffe und die Logik und die Theorie des Verhältnisses von Symptom und Krankheit in der Psychiatrie. Hierzu gehören auch Untersuchungen über das Verhältnis deskriptiver und normativer Typenbildungen in der Psychopathologie.

So bereitet dieses Buch die Anwendungen seiner logischen, erkenntniskritischen und phänomenologischen Ergebnisse auf die Einzelmaterien unserer Disziplin vor, welche zu geben Aufgabe der späteren Bände sein wird.

Darf dieser Versuch einer Logik der Psychiatrie noch eine negative Charakteristik erfahren, so kann diese durch einen doppelten Gegensatz bezeichnet werden: erstens durch den Gegensatz zur dogmatischen Starre aller konstruktiven Theoreme, welche, oft unerkannt und mit scheinbarer Selbstverständlichkeit, und dann am gefährlichsten, unsere Disziplin durchsetzen; mögen diese Konstruktionen empirischen, mögen sie geisteswissenschaftlichen Ursprungs sein, wobei letzterer gerade neuerdings in den Arbeiten mancher Phänomenologen und Psychopathologen wieder modern wird. Zweitens durch den Gegensatz zum analytischen Chaos der "reinen Phänomenologie" und ihrer Systemlosigkeit, ihrer Scheintiefe und Geschwollenheit. Welches der positive Ausweg aus dieser doppelten Gegensätzlichkeit ist, dies sagt ausführlich und eindeutig das Buch selber; nur so viel sei bemerkt, daß dieser Ausweg keineswegs der der gegenwärtigen klinischen Nosologie [Krankheitslehre - wp] ist, deren konventionalistische Willkür, kritiklose Sammelei und dogmatische Schubladeneinteilung, jedes beherrschenden theoretischen Gesichtspunktes bar, noch immer Orgien feiert. Wir setzen die überragende Leistung eines KRAEPELIN nicht herab, wenn wir feststellen, daß die Hypertrophie [Übermaß - wp] klinischer Gesichtspunkte und Dogmatismen, die in seinem großen Lehrbuch von Auflage zu Auflage wuchs, eben dieses Lehrbuch von Auflage zu Auflage verwässert und veräußerlicht hat. Sein Weg ist ganz gewiß nicht der unsrige: Er hat die psychiatrische Forschung in die Gefahr konventionalistischer Relativitäten getrieben; er hat Psychiatrie als autochthone Wissenschaft mehr und mehr ausgeschaltet; zur Zeit besteht eine Ära fast sklavischer Abhängigkeit der psychiatrischen Forschung von ihren heterologischen [in Form und Funktion nicht übereinstimmend - wp] Hilfswissenschaften, von deren Sondermethoden, die auf dem Boden fremder Disziplinen wachsen, sie in tatloser, steriler Gebundenheit die Vermittlung eigenen Fortschreitens erwartet, ohne sie zu finden. Wir aber wollen uns wieder auf die  autologischen  Grundlagen psychiatrischen Denkens, psychiatrischen Erkennens und Wissens besinnen.

Wir werden uns bei der Entwicklung dessen, was wir zu sagen haben, auf Vorgänger, die wir zum Teil als unsere eigentlichen Lehrer und Führer betrachten, stützen und berufen, soweit uns dies nur irgendwie möglich ist. Dennoch wird man die Eigenheit der Gedanken dieses Buches und ihre Neuheit darüber nicht verkennen wollen. Diese Berufung auf Eigenheit und Neuheit des Inhalts ist nun im allgemeinen nicht gerade ein günstiges Empfehlungszeichen für psychiatrische Werke. Und nun noch gar nicht für eines, in welchem materiale Psychiatrie selber noch gar nicht zu Worte kommt, welches sich in den vom Einzelforscher so gefürchteten oder belächelten "Allgemeinheiten" bewegt! Ich gestehe offen, daß ich in dieser Haltung niemals etwas anderes habe sehen können als ein arrogantes Vorurteil der Befangenheit. Ein klares Bekenntnis zur Subjektivität eines Standpunktes ist ehrlicher als der Relativismus einer skeptischen Scheinobjektivität; Streben zum Allgemeinen, zu Gesetz und Begründung ist wahrhafter Wissenschaft als das leere systemlose Sammeln disjunkter [unterschiedlicher - wp] Fakten unter äußerlichen Zweckgesichtspunkten. Um ein nur scheinbares Paradox meines Freundes NELSON aufzunehmen: Je subjektiver und ihrer Subjektivität bewußter, je mehr mehr in Synthese und System tendierend ein wissenschaftliches Werk sein wird, umso ehrlicher, unparteiischer und wissenschaftlicher wird es sein.

Die gesamte in Frage kommende Literatur zu berücksichtigen, war, so sehr wir uns die auch angelegen sein ließen, nicht möglich. Es hätte dazu eine Arbeit vieler Jahrzehnte gehört. Auch im Interesse der oft recht schwierigen Darstellung selber erschien es nicht geboten, sie mit gelehrtem Beiwerk allzu stark zu belasten. Wir stehen, schroff wir den sonstigen Standpunkt RICKERTs in diesem Buch ablehnen, wenigstens darin auf seiner Seite, "daß wir heute im allgemeinen viel zu zitieren", und machen uns seine Absicht zu eigen: "in bewußtem Gegensatz hierzu . . . einfach das darzustellen und zu begründen, was wir für richtig halten; und daher sind fremde Arbeiten nur dann ausdrücklich genannt, wenn uns dies im Interesse der Klarlegung eines Gedankens wünschenswert erschien."

Ich schmücke dieses Buch mit dem Namen HUGO LIEPMANNs, meines verehrten Lehrers, dem ich als hingebungsvollem Irrenarzt, als vorbildlichem Forscher und scharfsinnigen Denker mehr verdanke, als ich in wenigen Zeilen zu sagen vermag. Es ist mir eine Genugtuung, ihm dieses Buch in dem Augenblick widmen zu dürfen, wo ich durch äußere Verhältnisse genötigt bin, von der persönlichen Mitarbeit innerhalb seines Wirkungskreises dankerfüllten Abschied zu nehmen.



Vorbereitende Einführung
in die allgemeinen
erkenntniskritischen Grundlagen


Metaphysikfreie Naturforschung?

Es ist für den, der die tiefsten Grundlagen wissenschaftlichen Denkens der Lehre IMMANUEL KANTs verdankt, kein erfreuliches Zeichen, daß gerade in dieser Zeit in den Köpfen der Naturforscher das Vorurteil wieder Platz greift und sich befestigt, daß die Wissenschaft "Metaphysik" so etwas wie ein mystischer Dogmatismus sei. Und doch wird dies anscheinend mehr und mehr die allgemeine Meinung; und derjenige gilt als freier, bahnbrechender Forscher, der sich auf irgendeinem Weg bemüht, die "vorurteilslose" Forschung von der Metaphysik zu befreien.

In diesen Bahnen wirkte vor allem der berühmte Physiker und geistreiche Psychologe ERNST MACH. Er hat sich den Ruhm erworben, das metaphysische Denken aus der Naturwissenschaft von Grund auf eliminiert zu haben. Der Gehalt seiner - fast möchte man sagen: metaphysikfreien Metaphysik - die er in stolzer Bescheidenheit freilich nur als "Skizzen zur Psychologie der Forschung" wertet (1) ist vielen zur Weltanschauung geworden und gewinnt einen stetig wachsenden Einfluß auf das philosophische Denken in der Naturwissenschaft. Da ist es, scheint uns, nicht ohne Belang, daß die berufene Forschung, die  Fachwissenschaft Philosophie,  die Methoden und Thesen einer also propagierten Lehre einer besonderen Prüfung unterzieht. Diesem Zweck dient eine Arbeit des Göttingische Philosophen LEONARD NELSON (2). Die Ausführungen des Neubegründers der  Fries'schen Philosophie,  von hoher Achtung vor der wissenschaftlichen Bedeutung des großen Gelehrten MACH getragen, zeigen zugleich mit unwidersprechlicher Sachlichkeit, wie unversehrt und siegreich der Kritizismus KANTs dem versteckten Dogmatismus der MACH'schen Lehre gegenüber bestehen bleibt.

Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß NELSON den Gehalt des Empiriokritizismus von Beginn an nach den Kriterien der kantischen Lehre beurteilt. Das wäre immerhin eine Art jener Befangenheit in einem historisch vorliegenden System, gegen die MACH am Anfang seines Werkes mit Recht Einspruch erhebt. Vielmehr folgt der Kritiker dem Autor auf sein eigenes Forschungsgebiet; er beurteilt die Ergebnisse der empirisch-psychologischen Forschungen MACHs nach den Tatsachen der Selbstbeobachtung und prüft, ob die MACH'sche Lehre mit der inneren Erfahrung - auf die sie doch ausschließlich sich aufzubauen vermeint - selber in Konflikt kommt: oder ob sie in einwandfreier Methodik zu einwandfreien Resultaten führt.

MACH findet bekanntlich in den Empfindungen, den einfachsten psychischen Tatsachen, die "Elemente" unseres inneren Lebens, auf denen sich alle menschliche Erkenntnis aufbaut. Nun besagt der Satz: daß die Elemente psychischer Erlebnisse die Empfindungen sind - wobei er mehr sein will als eine bloße Namenerklärung -, nichts anderes als die  anschauliche  Grundlage aller Erkenntnis.

Schon dem wäre viel entgegenzuhalten. Indessen, folgen wir MACH vorläufig weiter und stellen wir nur die Forderung: daß der Forscher nunmehr gemäß seiner Annahme die gesamte menschliche Erkenntnis auf diese intuitive Basis der "Elemente" zurückführt. MACH unterzieht sich dieser Aufgabe; er nimmt hierzu die  Assoziation  zu Hilfe. Die "Elemente", sagt er, stehen in Beziehungen zueinander; hängen voneinander ab: und dementsprechend  assoziieren  sie sich, vergesellschaften sie sich zu Komplexen.

Damit ist aber nichts gewonnen. Daß tatsächlich die Inhalte der äußeren wie der inneren Erfahrung jeweils voneinander abhängen, ist ja unbestritten; das tiefere Problem aber bleibt zu lösen:  Wie gelangen wir zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge? 

Daß diese Frage berechtigt ist, räumt MACH ein. Jedoch kann die Erkenntnis der Verbundenheit von Elementen ihrerseits keine anschauliche, keine "Empfindung" oder "Beobachtung" (im Sinne MACHs) sein. Denn anschaulich, wie MACH es will, können wir doch nur in einer endlichen Reihe von Fällen die Folge eines Erfahrungselementes auf ein anderes beobachten; und nicht mehr. Wie aber erklärt sich die Möglichkeit der Erkenntnis von der  Notwendigkeit  der Verbundenheit, von der  Bedingtheit  des einen durch das andere? Diese  Notwendigkeit  des Verbundenseins zweier Phänomene ist doch von der zufälligen Tatsache, daß es beobachtet wird, ganz unabhängig. MACH bezeichnet sie als das "Ergebnis eines unwiderstehlichen Analogieschlusses". Gewiß, das wissen wir ja. Woher aber der psychologische Grund dieser "Unwiderstehlichkeit"?

KANT hatte auf diese Frage die Antwort gefunden. Notwendigkeit und allgemeine Gültigkeit hatte er als die Kriterien der  metaphysischen  und  mathematischen  Urteile, der  "apriorischen",  festgelegt. MACH weiß das wohl. Er wünscht aber den Begriff des Apriorischen, der ihm ein Stigma "metaphysischer Tendenz" ist, aus aller Erkenntniskritik auszuschalten. Dieser Wunsch entspringt einer merkwürdigen Verkennung der Sachlage. MACH glaubt nämlich, a priori bedeutet etwa "angeboren", zeitlich aller Erfahrung vorausgehend. Diese Auffassung ist aber falsche; und man sollte meinen, KANT selber habe ihr in den ersten Sätzen seines Hauptwerkes vorgebeugt. Dennoch spukt sie von BENEKE bis auf MACH immer wieder im Schrifttum der Philosophie. Nicht auf die zeitliche Genese geht das a priori - daß alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt, sind die Einführungsworte in die "Kritik der reinen Vernunft" -, sondern auf den  Grund,  die  Quelle  der Erkenntnis. Die liegt eben nicht in den zufälligen wahrgenommenen Tatsachen, sondern in unserer geistigen Organisation selber, in der reinen Vernunft, um mit KANT zu sprechen. In seiner dogmatischen Befangenheit gegenüber allem Metaphysischen sieht MACH diesen Irrtum nicht und versucht nun, die Relationskategorien, in specie die Kausalität, empirisch abzuleiten. Daß dieser Versuch unabwendbar scheitern muß, ist klar; das Beispiel HUMEs hätte es, wenn nichts anderes, dartun können.

So wenig MACHs Faktoren: Beobachtung und Assoziation, allein die Notwendigkeit des kausalen Verhältnisses zu erklären vermögen, so wenig ist es angängig, aus ihnen beiden das Schlußverfahren der Naturwissenschaften, die  Induktion,  psychologisch herzuleiten. Unter Induktion versteht man die Schlußform: eine für eine Reihe von Fällen beobachtete Regel für  alle  ähnlichen Fälle als gültig zu erwarten. Das soll nun die Assoziation fundieren. Diese Assoziation wird für den gegenwärtigen Empirismus tatsächlich mehr und mehr, was ihr der geistreiche Engländer  Allen  vor 30 Jahren voraussagte: "eine Art psychologischer  Deus ex machina  [Gott aus der Maschine - wp], der für jedes unvollkommen definierte Problem einsteht". Durch irgendeine Vorstellung können andere, ehedem gehabte Vorstellungen mit teilweise gleichem Bestand in die Erinnerung zurückgerufen werden: Dieser Nexus [Nabel - wp] ist Assoziation. Mitnichten aber enthält eine solche Verknüpfung bereits irgendeine Erwartung. Ein Beispiel: Tritt mein Freund, mich überraschend, in mein Zimmer, so assoziiere ich vielleicht vergangene Tage, an denen er mich bereits unverhofft besuchte. Keineswegs aber erwarte ich, wenn ich an meinen Freund denke (wohl gar mit denknotwendiger Sicherheit) - er müsse nun auch sogleich eintreten (3).

MACH sieht im Verlauf seiner Untersuchungen selber, daß mit der Assoziation allein die Erwartung ähnlicher Fälle nicht erklärbar ist. Zu ihrer Erklärung setzt er außer der Assoziation noch ein diese bestimmt beeinflussendes  "biologisches Interesse"  ein. Das drängt uns, bei allen auftauchenden Vorstellungskomplexen, an die sich früher gehabte assoziieren lassen, die uns "lebenswichtigen" Merkmale, die damals eintraten, aufs Neue zu suchen. Lebenswichtig ist ein sehr weiter Begriff: alles Nützliche und Schädliche, alles intellektuell Belangvolle steht darunter. Dies mag zugegeben sein; und es mag in der Tat richtig sein, daß wir bei allen Assoziationen nach jenen biologisch interessanten Elementen suchen. Aber wenn wir - irgendwie gespannt -  suchen, ob  sie vorhanden sind, so  erwarten  wir doch nicht,  daß  sie vorhanden sind. Daß wir gerade das aber erwarten, ist ein psychologisches Faktum. Das Interesse würde nur unsere Spannung auf die Entscheidung,  nicht aber die Voraussicht des Ergebnisses  erklären können. Dabei setzt das biologische Interesse, das uns auf die Entscheidung über das Auftreten bestimmter ähnlicher Fälle (nämlich nur der lebenswichtigen) gespannt macht, seinerseits schon wieder die Erwartung ähnlicher Fälle voraus! Denn wenn irgendwelche "Merkmale" uns nützlich oder schädlich waren, dann treibt uns das Interesse doch nur deshalb dazu, sie wiederum zu erwarten,  weil wir erwarten,  mit ihrem Wiedereintreten werde auch das damals eingetretene Nutzen oder Schaden (das Lebenswichtige eben) sich wiederholen. Man sieht den Zirkelschluß! Das Problem der Induktion bleibt bei MACH ein ungelöstes.

Er streitet dem induktiven Schluß der Naturwissenschaften freilich - von seinem Standpunkt aus konsequent - jede logische Berechtigung ab: Dieser ist ihm lediglich die sattsam besprochene gewohnheitsmäßige Erwartung des Ähnlichen aufgrund eines biologischen Interesses. Aber er kann natürlich nicht daran denken, ihn als wertlos zu verwerfen; das würde den Tatsachen der gesamten Naturwissenschaft widersprechen. So setzt er der Induktion anstelle ihrer logischen Berechtigung das Kriterium des  Erfolges

Dies ist nun eigenartig. Gewiß können induktive Hypothese auf dem Gebiet der Erfahrung insofern ihre Berechtigung erweisen, als ihnen selbst keine Erfahrung widersprechen darf und ihre theoretischen Folgen direkt empirisch geprüft werden können. Aber die Voraussetzung einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit des Geschehens überhaupt, die schließlich im Obersatz aller Induktion steht, ist aus der Erfahrung in keiner Weise abzuleiten. Der empirische Erfolg der Induktion soll, wie es scheint, nur die Berechtigung der Annahme beweisen, daß die beobachtete Regelmäßigkeit keine zufällige ist. Darin liegt aber doch weiter nichts als die Stabilisierung irgendeiner Gesetzmäßigkeit im Geschehen, also eben der - ausschließlich logische - Regreß auf jenen Obersatz aller Induktion. Was aber hat das mit dem Kriterium der Richtigkeit eines induktiven Schlusses zu tun?

Der Grundfehler, der MACH immer wieder scheitern machte, wird des öfteren auch ihm mehr oder minder deutlich bewußt: nämlich die Einseitigkeit des Dogmas, daß alle Erkenntnis aus der Beobachtung stammt. Ganz klar scheint ihm dies einmal zu werden; er schreibt: "Um angeben zu können, daß ein Element von einem oder mehreren anderen abhängt, und  wie  diese Elemente voneinander abhängen,  welche  funktionale Abhängigkeit hier besteht, muß der Forscher aus Eigenem, außer der unmittelbaren Beobachtung Gelegenem hinzufügen" (Erkenntnis und Irrtum, Seite 316). Daß der Denker nicht merkt, wie er mit dieser tiefen und wahren Einsicht allem früher Gegebenen widerspricht! - Was ist nun dieses "Eigene", das wir alle um die Erkenntnis Ringenden, in tiefem Bemühen zu ergründen suchen? Die Beobachtung nicht, wie er zugibt. Aber auch die Logik nicht. Sie ist leere Form und kommt nur als Mittel, nicht als Quelle der Erkenntnis in Frage, wie MACH mehrfach einräumt. Unbefriedigend ist MACHs Antwort: einmal spricht er von "instinktiven Erfahrungen" (a. a. O. Seite 272). Der Erkenntniswert gewisser "allgemeiner Prinzipien" beruht nach ihm darauf, "daß ihr Gegenteil sehr stark mit unseren gesamten instinktiven Erfahrungen kontrastiert". Aber eine Erfahrung, die nicht auf Beobachtungen, auf psychischen Eindrücken beruth, ist keine Erfahrung: so bleibt MACHs Terminus ein inhaltsleeres Wort.

Wir wissen die Antwort seit KANT. Sie gibt die  Vernunftkritik.  Jene "allgemeinen Prinzipien" sind die von MACH totgesagten synthetischen Urteile a priori.

Aber MACH will nun einmal um jeden Preis den Apriorismus aus der Erkenntnis eliminiert wissen: und so hat er noch eine letzte Abwehr gegen diese Rückkehr ins Metaphysische, deren Notwendigkeit sich dem Nachdenkenden hier schier übermächtig aufdrängt: seinen Begriff der "Abstraktion". Abstraktion füllt die Lücke in seiner Lehre aus; sie führt von Einzelurteilen zum Gesetz, zur Erkenntnis.

Sicherlich ist richtig, daß die Abstraktion von den zusammengesetzten, besonderen Einzelfällen des Urteils auf ein einfacheres Allgemeines, daß sie zuletzt auf die Prinzipien führt, unter denen wir alles Geschehen begreifen. Daß wir also die Abstraktion gebrauchen, um auf die Denkgrundsätze zu kommen, und daß wir anders nicht zu ihnen gelangen können, das hat kaum ein Erkenntniskritiker je bestritten. Diese Abstraktion, ein logischer  Vorgang,  ist demnach die  Methode  zur Auffindung der Gesetze aus Urteilen: auf keinem Weg aber kann dieser Formalprozeß als die  Quelle,  der  Ursprung  der Erkenntnisinhalte dieser Gesetze angesehen werden. Und ebensowenig gewinnen die Erkenntnisinhalte durch Abstraktion den Charakter der Notwendigkeit. Allgemeinheit ist nicht Notwendigkeit, Gültigkeit für einen großen Umkreis von Tatsachen nicht notwendige Gültigkeit für jede unter den Begriff fallende Tatsache. - MACH zieht hier den zweifachen - und beide Male falschen, von ihm selber hier und da als unzulänglich erkannten - Schluß: Was nicht aus der Erfahrung stammt, kommt von der Abstraktion her; und was nicht der Abstraktion entlehnt sein kann, ist Erfahrung. Stets, wenn er die Erfahrung als unzulängliche Erkenntnisquelle befunden hat, beruft er sich auf die Abstraktion; und wenn ihm umgekehrt ein Gesetz (wie z. B. das der Trägheit) nicht als in sich logisch notwendig erscheint (was es ja tatsächlich auch nicht ist), so führt er es auf einen empirischen Grund zurück. Das ist natürlich ein ganz unzulängliches Verfahren.

Indessen hat MACH einen Gedanken in die Erkenntniskritik getragen, der sich in dieser Zeit der soziologisch-genetischen Betrachtunsweise vielleicht bestechender und förderlicher ausnimmt als sonst wohl. Er hat das Entwicklungsprinzip, in etwas transformierter Gestalt, als  Prinzip der Denkökonomie,  in die Debatte geworfen. Dieses regulative Prinzip der biologischen und sozialen Wissenschaften, das sich logisch auf Induktionen mit Wahrscheinlichkeit aufbaut, scheint auch eine Reihe von Philosophen geradezu faszinierte zu haben: ich nenne die  Pragmatisten  verschiedener Provenienz: JAMES, SCHILLER, MARK BALDWIN, MAUTHNER, diesen Dogmatiker des Skeptizismus, und selbst SIMMELs überschauenden Geist. Keiner aber hat es auf geistreichere und bestechendere Weise auf das Erkennen angewand als MACH. Zum Teil ist seine Gedankenführung freilich auch da nicht neu. Ältere Logiker, ebenso tiefgründe wie in den Kreisen der Fachleute heute vernachlässigt, nennen bereits unter den heuristischen Maximen der Systematisierung von Erkenntnissen als "oberste Formel" das "Gesetz der Sparsamkeit", das nichts anderes besagt als MACHs "Prinzip der Denkökonomie": daß nämlich die Vollkommenheit der Naturerkenntnis dann erreicht ist, wenn es gelingt, alle Erscheinungen unter eine möglichst geringe Zahl von Gesetzen unterzubringen. Indessen will MACH über diese unstreitig richtige Maxime wissenschaftlicher Systembildung hinaus. Nich um die Form der Erfassung von Erfahrungserscheinungen unter Gesetzen handelt es sich, sondern  der Gehalt der Gesetze selber ist ihm in sich wandelnder.  Vernunft ist ihm eine Form der Adaption an das biologische Milieu; Denkvermögen, Denkformen ein Produkt des biologischen Vorteils. Was sich unter dem Druck der Prinzipien der Biogenes an ererbten und erworbenen geistigen Inhalten dem Organismus Mensch aufprägte, das wird dem Bewußtsein zum Werkzeug methodischer Forschung.

Das ist sehr kühn. Richtig, wahr wäre dann also nur noch das biologisch Förderliche! Nichts anderes besagen die Sätze wie ein solcher: "Eine Erkenntnis ist stets ein uns unmittelbar oder doch mittelbar biologisch förderliches psychisches Erlebnis. Bewährt sich hingegen das Urteil nicht, so bezeichnen wir es als Irrtum." (Und viele andere Stellen seiner Werke) (4). Gilt diese Betrachtung auch vom Prinzip der Denkökonomie - das dort wohl auch ein Naturgesetz ist -, so ist auch dieses Prinzip nicht im gewöhnlichen Sinn richtig oder wahr: sondern seine Annahme ist biologisch vorteilhaft. Und auch dieser Satz: es sei biologisch vorteilhaft, anzunehmen, daß das Wahre das biologisch Vorteilhafte sei - ist nicht wahr, sondern biologisch vorteilhaft anzunehmen. Und so fort. Der Wahrheitsbegriff MACHs scheitert an der Unauflösbarkeit dieses unendlichen Regresses. Überdies ist klar, daß dann, wenn mit diesem Prinzip die Denkersparnis als Kriterium der Richtigkeit in der Naturerkenntnis eingesetzt werden soll, es am "richtigsten" erscheint,  alle  Denkarbeit zu ersparen: womit dann die Möglichkeit aller Naturwissenschaft erlischt und das Prinzip sich selber aufhebt. Aufs entschiedenste sei betont, daß der Kritiker daran unschuldig ist, wenn diese Konsequenz wie eine Satire klingt.

MACH scheitert daran, daß er einen Nur-Empirismus proklamiert, der die Wirklichkeit apriorischer Erkenntnisquellen vorurteilsvoll und krampfhaft übersieht; der dabei zum Dogma erstarrt, das seiner eigenen Logik und den Tatsachen introspektiver Psychologie widerspricht; der in der Folge die Möglichkeit aller Naturwissenschaft, auf die er sich gründet, und mithin sich selbst vernichtet.

IMMANUEL KANT, dessen "philosophische Dekrete" MACH etwas geringschätzig behandelt, schrieb in der Vorrede zur "Kritik der praktischen Vernunft" die Worte: "Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwartete Entdeckung machte, daß es überall gar keine Erkenntnis a priori gibt noch geben kann. Allein es hat hiermit keine Not. Es wäre ebensoviel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keine Vernunft gibt."

ERNST MACH hat - trotz allem - diesen Versuch unternommen. Uns scheint aber - und NELSON hat es gezeigt -, er ist dabei nicht eben glücklich gewesen.

Uns bleibt eine Frage: Woher kommt diese "antimetaphysische Tendenz", die gerade in den Werken unserer größten Forscher immer wieder eklatiert [zum Ausbruch kommt - wp] und sie ins Abwegige führt? Hier hat ein glänzender Geist sich ein System der Erkenntnis geschaffen, das, in gerader Linie fortgeführt, mit der größten Konsequenz sich selber wieder aufhebt. Und das nur deshalb, weil ein Gegensatzgefühl ihn gegen eine Metaphysik antrieb, deren einzige Inhalte ihm dogmatische Phantasmen, "Nebel der Mystik" erschienen.

Gewiß trägt Metaphysik so, wie sie historisch getrieben wurde, den Charakter ins Maßlose führender Spekulation. Aber KANT hat den unsagbar tiefen Gedanken einer Kritik der Vernunf in fast vollkommener Weise durchgedacht und damit jede Möglichkeit ungegründeter Dogmatik auf seiner Basis aufgehoben. Wenn seit KANT noch fast nichts weiter erreicht wurde, wenn Epigonen sein Werk mißverstanden und ihre Mißverständnisse als Fehler KANTs ausgaben, wenn heute von COHEN bis LIPPS, vom "Transzendentalismus" bis zum "Psychologismus", jene spekulative Dogmatik herrscht wie ehedem - trägt die Metaphysik ihrem Wesen nach die Schuld daran? Weiter aber: glaubt man mit solchen Systemen wie diesem, des metaphysikfreien Empirismus, jene "Nebel", die aus verworrenen Geistern in der Metaphysik aufgestiegen sind, zu verscheuchen? Metaphysik ist die Wissenschaft von den in unserer geistigen Organisation - KANT sagt: "reine Vernunft" - gegebenen, alle Erfahrung erst ermöglichenden, aller Gesetzgebung überhaupt zugrunde liegenden Grundprinzipien der Erkenntnis. Entweder man stimmt dem zu, daß die Erfahrungsinhalte sich nach den notwendigen Gesetzen der Vernunft verbinden - dann treibt man Metaphysik - oder man leugnet das -, dann erklärt man alle Wissenschaft für amüsanten (oder nicht amüsanten) Phantasiesport. In der Tat: wer die Metaphysik ausschaltet, gerade der ist es, der das Wissen den "Nebeln" ausliefert, die er verdrängen wollte; gerade der setzt anstelle notwendiger und allgemeingültiger Erkenntnis das chaotische Spiel biologisch bedingter Assoziationen, in dem  alle  Verbindungsweisen ihre nur nach Simplizität, Dauer und Lungenkraft der Propagierung differente Berechtigung besitzen - ein Verfahren übrigens, das natürlich auch Metaphysik, freilich unerkannte und falsche, zur Voraussetzung hat. Eben der andere wundere sich nicht, wenn Auswüchse, skeptizistische oder mystische Outriertheiten [Übertreibungen - wp] gerade durch jene offenen Türen mit eintreten, die er für die "von konventionellen Schranken des Denkens" befreite Forschung eingerannt hat.

Was ist nach all dem das Wesen der immer wieder geforderten, bei ihren Verwirklichungsversuchen immer wieder mißglückten metaphysikfreien Naturwissenschaft?

Es ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst NELSONs, den Beweis hierfür in seiner systematischen Zergliederung der MACH'schen Erkenntnislehre wiederum erbracht zu haben. KANT sollte der Naturwissenschaft kein "Überwundener" sein, sondern ein Führer werden.

LITERATUR - Arthur Kronfeld, Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis, Berlin 1920
    Anmerkungen
    1) ERNST MACH, Erkenntnis und Irrtum, 2. Auflage, 1906
    2) LEONARD NELSON, "Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich?", Abhandlungen der Fries'schen Schule II, Seite 3
    3) Prinzipiell formuliert: Assoziation ist die Wiederbelebung eines früheren Vorstellungskomplexes durch einen neuen. Nie aber enthält sie die Erwartung, daß die in jenem ersten Vorstellungskomplex verbundenen Elemente, sobald ein Teil von ihnen sich in der Vorstellung erneuert, sich auch mit den übrigen damals wirksamen Elementen wieder verbinden werden. NELSON schafft hierfür die Antithese, daß die Assoziation eine Verbindung von Vorstellungselementen, die Erwartung ähnlicher Fälle die Vorstellung von einer Verbindung der Elemente enthält.
    4) Das Umgekehrte: daß alle Erkenntnis zugleich irgendwie einen biologischen Vorteil repräsentiert, ist am Ende richtig, aber für ihren Wahrheitsgehalt erst recht kein zureichendes Fundament.