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ÉMILE BOUTROUX
Wissenschaft und Philosophie

"Wenn man sich dazu entschließt, keine andere Form der Wahrheit als die positive, mathematische oder Experimental-Wissenschaft anzuerkennen, so täte man gut daran, den Ausdruck "Philosophie in die Rumpelkammer zu werfen; denn heutzutage kann er uns nur verwirren, weil er uns glauben macht, daß wir durch die Wissenschaft die Wissenschaft überholen können."

"Man muß zugeben, daß unser ganzes praktisches Leben auf Erkenntnissen beruth, welche wir durch keinerlei Mittel zur wissenschaftlichen Evidenz bringen könnten. Nicht allein im täglichen Leben werden die Tatsachen mehr erraten, gedeutet und konstruiert als wirklich objektiv beobachtet; ja sogar, wenn wir im Handeln überlegen, mischen sich fast immer bestimmend in unsere Urteile Betrachtungen über Nützlichkeit, Annehmlichkeit, Schicklichkeit, Verpflichtung ein; trotzdem denken wir niemals daran, diese Betrachtungen in eine wissenschaftliche Form zu bringen, was übrigens wahrscheinlich unmöglich wäre."

"Objektivität ist im Grunde genommen Objektivation. Der Geist selbst erbaut sich die Tatsachen und Gesetze, welche dann eine wirkliche Welt schaffen, die unabhängig von seinen Eindrücken und seinem Willen scheint. Sicherlich konstruiert er sie nicht willkürlich, und er ist berechtigt zu glauben, daß seine Konstruktionen eine Beziehung zur innewohnenden Anordnung der Dinge selbst haben; denn sie erreichen in immer wachsendem Maß ihr Ziel, nämlich die Natur zu bezwingen."


I.

Die Geschichte der neueren Philosophie, von den Nachfolgern KANTs bis auf unsere Tage, erscheint, was die Beziehungen der Philosophie zur Wissenschaft betriff, als das Schauspiel eines echt HEGELschen Rhythmus. Zuerst haben wir eine dogmatische Metaphysik, die hochmütig auf die Wissenschaft herabsieht oder sie höchstens so weit beachtet, als sie dieselbe ihren eigenen Gesetzen unterwerfen kann. Dann erhebt sich, im Gegensatz zu dieser Metaphysik, die Naturwissenschaft (1), welche jeglichen Einfluß der Philosophie als völlig nutzlos und unheilvoll zurückweist; welche sich rühmt, sowohl dem menschlichen Geist als auch sich selbst zu genügen; und welche jedes Problem für undenkbar und nicht vorhanden erklärt, das die Naturwissenschaft nicht selbst stellt, oder das sie zu lösen unfähig ist.

Der radikale Positivismus, welcher die zweite Hälfte des 19. und den Anfang des 20. Jahrhunderts beherrscht hat, konnte jedoch nicht endgültig triumphieren. Unterdrückt zwar, doch nicht ganz erdrückt durch die ausschließlichen Anhänger der Naturwissenschaft, hat der metaphysische Instinkt sich wieder erhoben; und nun wohnen wir, besonders seit ungefähr zwanzig Jahren, einem wahren Wiederaufblühen der Philosophie bei. Aber es handelt sich dabei nicht nur um eine einfache Auferstehung der Vergangenheit. Das ist nicht derselbe Fluß, der sich eine Zeit lang unter der Erde verloren hatte und jetzt wieder vor unseren Augen erscheint. Philosophie und Wissenschaft, die eine Zeit lang zueinander in einen Gegensatz getreten waren, vereinigen und durchdringen sich. Die Philosophen gehen bei der Naturwisenschaft in die Schle, und die Naturwissenschaftler reden die Sprache der Philosophie. Naturwissenschaft und Philosophie scheinen durch ihre Vereinigung einen ganz neuen Gesichtspunkt zu schaffen.

Auf welche Weise vollzieht sich nun diese Vereinigung? Nach einer sehr verbreiteten Ansicht, sowohl bei den Naturwissenschaftlern, welche sich mit Philosophie beschäftigen, als vielleicht noch mehr bei den Philosophen, die sich auf die Naturwissenschaft berufen, wäre sie eigentlich keine HEGELsche Synthese der beiden Prinzipien, welche ihrer Verwirklichung näher rücken. Vielmehr wäre es die bekannte Mahnung ERNST HAECKELs, welche endlich Gehör fände. Warum, sagt der berühmte Verfasser der "Natürlichen Schöpfungsgeschichte", ziehen sich die Naturwissenschaftler auf ihre Laboratorien zurück und lassen die Metaphysiker ganz ungestört und nach Belieben über die Fragen des Ursprungs und des Seins faseln? Die Naturwissenschaft ist keineswegs, wie man glaubt, außerstand, an diese Dinge heranzutreten. Bekanntlich gibt die Entwicklungslehre, eine streng wissenschaftliche Theorie, der Naturwissenschaft die Mittel an die Hand, die Philosophen sogar aus ihrem eigenen Gebiet zu verdrängen. Dieselben geistigen Fähigkeiten, dieselben Quellen der Erkenntnis, welche die Naturwissenschaft erzeugen, sind, wenn wir daraus allen Vorteil ziehen, den sie gewähren können, auch geeignet - alle wirklichen und zugleich interessanten Probleme zu lösen, von welchen die Philosophie handelt.

Wenn also, jenseits der Fragen, welche die Naturwissenschaft behandeln kann, sich die Philosophen versteifen, noch andere Fragen zu stellen, welche offenbar ihr Gebiet überschreiten, dann können wir bestimmt erklären, daß diese Probleme trügerisch sind und daß sich der menschliche Geist entwöhnen muß, ihnen einen Sinn zu verleihen.

Man hüte sich also wohl, so heißt es, die Erzeugnisse der naturwissenschaftlich denkenden Philosophen und der philosophierenden Naturwissenschaftler, die man von Jahr zu Jahr sich vermehren sieht, auf ein und dieselbe Stufe zu stellen. Die Werke derjenigen Mäner, welche den metaphysischen Begriffen treu geblieben sind und vorgeben, sie zu verjüngen und neu zu beleben, indem sie ihnen einen wissenschaftlichen Anstrich geben, sind in Wirklichkeit nur die letzten Überbleibsel einer überwundenen Vergangenheit. Wirklich lebendig sind nur diejenigen philosophischen Theorien, welche einzig aus der Wissenschaft geschöpft werden und die man nur durch das Nachdenken über die unmittelbaren Resultate der einzelnen Wissenschaften erhält, die ihren Methoden und dem Geist der Wissenschaft im eigentlichen Sinn gemäß sind.

Das wäre also, genau genommen, keine Synthese von Wissenschaft und Philosophie, die unser Zeitalter uns darbietet; es ist vielmehr eine autonome Entwicklung der Wissenschaft, bestimmt, allen erlaubten Ehrgeiz, welcher Philosophie heißt, zu verwirklichen. Nach dieser Lehre wäre das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft gegenwärtig durch die Tatsache selbst entschieden: ihre Beziehung bestände nur in einem analytischen Band, indem nämlich die Wissenschaft den Inhalt und die Unterlage für die Philosophie darbietet. Ist nun diese Lösung, die so einfach erscheint, auch ebenso gut begründet?


II.

Welche Vorstellung von der Philosophie machen sich diejenigen, welche glauben, man könne die Philosophie ganz und gar auf die Wissenschaft reduzieren? Eine der geläufigsten Behauptungen in dieser Hinsicht ist diejenige, welche die Philosophie als Synthese der einzelnen Wissenschaften erklärt. Man weist dabei darauf hin, daß auf die eifrige analytische Arbeit des Gelehrten des 19. Jahrhunderts mehr und mehr eine entschlossene Wendung zur Annäherung der Erkenntnisse und zur Synthese folgt. Neue Wissenschaften entstehen: die physikalische Astronomie, die biologische Chemie, die biologische Physik, die experimentelle Anatomie, die physikalische Chemie, die medizinische Physik, die experimentelle Pathologie und so fort, deren Eigentümlichkeit darin besteht, Forschungen oder Methoden zu vereinigen, welche voneinander unabhängig schienen. Warum sollte die Wissenschaft, die immer auf dem Weg vorwärts drängt, den sie ihr eigener wachsender Fortschritt führt, nicht durch angemessenes Nachdenken zur vollständigen Synthese der Erkenntnisse gelangen, zum Erfassen der Dinge in ihrem allgemeinen einheitlichen Urgrund? Es handelt sich hier nicht darum, die alte Metaphysik wieder herzustellen, welche a priori bestimmte, daß die oder jene Wesenheit (Entität) der Urgrund der Dinge ist, weil, so aufgefaßt, die Dinge dem Geist ein zusagendes System darbieten. Auf die wissenschaftliche Erfahrung und Verallgemeinerung wird sich der Geist stützen müssen, um philosophische Hypothesen aufzustellen, die den eigentlich wissenschaftlichen Hypothese vollständig gleichkommen, - freilich allgemeiner und kühner sind, aber darum nicht weniger der Kritik der Tatsachen unterworfen bleiben, und ebensogut abgeändert oder verbessert werden können.

Eine solche allgemeine Synthese kann wohl in Anbetracht der Methoden gewagt werden, und man kann, wenn man die Methoden der verschiedenen Wissenschaften analysiert, einen gemeinsamen Weg herausfinden. Es war zum Beispiel schon viel getan, um die Wissenschaften einander näher zu bringen, als man schließlich fand, daß die Mathematik, die sogenannte abstrakte und deduktive Wissenschaft in Wirklichkeit durch Induktion und Verallgemeinerung fortschreitet, ganz wie die physikalischen Wissenschaften. Und umgekehrt erschienen die auf Beobachtung gegründeten Wissenschaften den abstrakten Wissenschaften viel näher gerückt, als man sich über die entscheidende Rolle Rechenschaft gab, welche darin die Hypothese und der vorgefaßte Gedanke spielen. Und selbst die biologischen Wissenschaften vereinigen die anderen Wissenschaften oder rufen sie zu Hilfe, seitdem sie selbst, dank des Entwicklungsbegriffs, vom Gedanken des Naturgesetzes durchdrungen sind.

Andererseits kann man die Materie sowohl in den mathematischen, physikalischen, chemischen, wie auch in den biologischen Wissenschaften als das einzige Element betrachten, welches sich als notwendige und ausreichende Grundlage unter all der endlosen Verschiedenheit der Erscheinungen, die wir betrachten, wiederfindet. Kann nicht der mathematische Mechanismus auch heute noch als Urgrund der Dinge betrachtet werden? Oder muß diese Rolle der eigentlich physischen Kraft zugesprochen werden, die vielleicht noch ursprünglicher aufzufassen ist als die schwere und unbewegliche Masse der gemeinsamen Materie? Oder aber ist es das Leben selbst mit seinem unaufhörlichen Tasten und seiner immer erneuten Anstrengung, sich anzupassen, das die allgemeine wirkende Triebkraft der Natur darstellt? Da sie diese Probleme behandelt, kann die Philosophie, wie es scheint, das Bedürfnis nach Einheitlichkeit befriedigen, welches sie kennzeichnet, ohne dadurch ihre Zugehörigkeit zur Wissenschaft zu verlieren.

Gewiß, nichts ist gesetzmäßiger und nichts fruchtbarer als die methodische Annäherung und die Verbindung der Wissenschaften. Es wäre zu wünschen, daß diese Arbeit immer mehr begünstigt würde durch die Organisation der Fachstudien, welche, richtig verstanden, sowohl die zukünftige Wissenschaft vorbereiten, als auch die Erkenntnisse der erreichten Wissenschaftsstufe sammeln und verbreiten sollen. Aber ist es richtig, über die besonderen und vorsichtigen Synthesen, welche die experimentelle Wissenschaft versuchsweise aufstellt, durch eine rein geistige Tätigkeit, die kaum eine äußere Ähnlichkeit mit der wissenschaftlichen Induktion hat, weit kühnere Synthesen zu stellen, die zwar der Neigung des Verstandes nach Einheit mehr entsprechen, aber weniger den wirklichen Zusammenhang der Dinge darstellen?

Es ist heute zwecklos, der Wissenschaft im Namen der Philosophie klar zu machen, daß sie nicht nur teilen, sondern auch vereinigen soll und kann, nicht nur unterscheiden, sondern auch angleichen. Aus der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst entspringt das Streben nach Einheit der Wissenschaft. Das Dazwischentreten des Philosophen kann hier keine andere Wirkung haben, als den Fortschritt, der sich von selbst ergeben würde, unbedachtsam zu beschleunigen und die notwendigen Stufen zu überspringen. Die Wissenschaft sucht nach der Einheit, aber nur die Mehrheit (Vielheit) ist ihr gegeben, und sie weiß keineswegs a priori, ob die Synthesen, welche sie aufgebaut hat, nicht eines Tages durch Tatsachen widerlegt werden. Gestern noch schritt die Biologie vorwärts, bestrebt, sich mit der Mechanik, der Physik oder der Chemie zu identifizieren: heute sucht sie, ohne die mit ihr verknüpften Wissenschaften zu vernachlässigen, hauptsächlich das abzusondern, was ausschließlich der Physiologie oder der Biologie angehört. Eine gleiche Bewegung macht sich auch in der Psychologie bemerkbar. Man muß zugeben: vertritt man den Standpunkt der Synthese und der Vereinigung, so schafft die Philosophie da, wo sie die Wissenschaft nicht unnütz verdoppelt, in wissenschaftlicher Hinsicht ein unbedeutendes oder schädliches Werk.

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So sehen wir auch im Bestreben der Philosophie, eine wissenschaftliche Form anzunehmen, und besonders in der jüngsten Entwicklung, daß sie sich eine ganz andere Aufgabe stellt als diejenig, die Wissenschaften zu vereinigen. In der Philosophie die Wissenschaft der Wissenschaften zu sehen, was wohl den Vorsatz mit sich führt, den Dingen ein einziges und unveränderliches Prinzip aufzudrücken, heißt das nicht einem metaphysischen Wahn Vorschub zu leisten? Wenn die Philosophie wissenschaftlich werden will, wie es heute viele Forscher annehmen, so muß sie die Mathematik, die Physik und die Biologie nachahmen, welche auch anfangs abhängig von der Metaphysik gewesen sind. Diese Fachstudien haben sich als Wissenschaften ausgebildet, indem sie sich vom Joch der Metaphysik gänzlich befreit haben, um keine anderen Gesetze anzuerkennen, als die in ihren eigenen Objekten enthaltenen. Nun aber haben die Philosophen außer der nichtigen Wesenheit, welche im Grunde der Dinge herrschen soll, zu allen Zeiten als Studium verschiedene wirkliche und gegebene Objekte gewählt, z. B. die psychischen oder sozialen Erscheinungen, die Gesetze des Denkens, die Regeln des Tuns, die Bedingungen zur Beurteilung der Schönheit und der künstlerischen Erzeugung. Könnte es nicht gelingen, philosophische Wissenschaften zu begründen, die den anderen Wissenschaften genau gleichgestellt wären, indem man zum Studium ihrer Objekte die entsprechenden Methoden anwenden wollte, wie eben bei diesen Wissenschaften?

Daraus entspringt der Gedanke einer völlig wissenschaftlichen Psychologie, Soziologie, Logik, Ästethik und Ethik. Nach dieser Auffassung hält sich jede dieser Wissenschaften, weit davon entfernt von transzendentalen Grundsätzen auszugehen, eng an die Tatsachen ihrer Zuständigkeit und holt daraus die Eigentümlichkeiten und die Gesetze nach einer streng experimentellen Methode. So bildet sich eine Gruppe von Wissenschaften, die man philosophische heißen kann, soweit sie Gegenstände behandeln, welche zu allen Zeiten die Philosophie hauptsächlich beschäftigt haben, die aber durch ihre Methode den anderen Wissenschaften ähnlich sind. Die Probleme der Philosophie aber sollen von nun an, soweit es möglich ist, nach den wissenschaftlichen Methoden behandelt werden. Die durch die traditionelle Philosophie bisher behandelten Fragen jedoch, welche in diesem Rahmen keinen Platz finden, kann man ohne Bedenken, weil sie unnütz oder dem menschlichen Geist unerreichbar sind, außer Acht lassen. Nach dieser Auffassung bieten die philosophischen Wissenschaften die Eigentümlichkeit, von der eigentlichen Philosophie unabhängig zu sein.

Dies ist die heute vielleicht am meisten vertretene Auffassung der Philosophie als Wissenschaft. Die Philosophie wird darin durch eine Mannigfaltigkeit philosophischer Wissenschaften ersetzt. Sie wird zu einer neuen Gruppe von Naturwissenschaften, welche sich on den übrigen nur durch ihr Objekt unterscheidet und sich den schon früher losgelösten Gruppen anreiht.

Ist es möglich, daß diese Bemühung, sich den eigentlichen Naturwissenschaften ganz und gar anzugleichen, einen durchdringenden Erfolg erringt? Kann der Gegenstand, den diese neue Gruppe von Wissenschaften behandelt, in seinem hauptsächlichen und eigentümlichen Wesen durch die rein objektiven Methoden der Wissenschaft im engeren Sinn erfaßt werden? Dies wird von mehr als einem Kritiker in Zweifel gezogen. Man fragt sich bekanntlich, ob die Psychologie, die Logik, die Moral und die Soziologie sich wirklich so wie die Physik und die Mathematik zu einer Teilwissenschaft herabdrücken lassen, indem sie nur bestimmte einzelne Teile unter einem bestimmten Gesichtswinkel betrachten, mit Ausschluß aller anderen? Sehen wir nicht, wie z. B. die moderne Psychologie, durch die Beobachtung, daß jede Erscheinung ohne Ausnahme für uns in letzter Analyse ein Bewußtseinszustand ist, sich unmerklich zu einer universellen und fundamentalen Wissenschaft erhebt? Ist es nicht eben so begründet, wenn die andern erwähnten philosophischen Wissenschaften: Logik, Geschichtsphilosophie und Soziologie sich eine ähnliche Rolle anmaßen? Man glaubte, man hat es mit einzelnen Teilen zu tun, und nun sieht man, daß jeder dieser Teile beansprucht, ein Ganzes zu sein.
     "Du nennst dich einen Teil, und stehst doch ganz vor mir." 
Sind diese Wissenschaften denn positive Wissenschaften, sind sie den anderen Wissenschaften gleich?

Angenommen, diese Befürchtungen sind unbegründet, und die erwähnten philosophischen Wissenschaften sind wirklich dazu bestimmt, den anderen gleich zu werden: kann man dann sagen, daß durch ihre Existenz das Problem von der Möglichkeit einer wirklich wissenschaftlichen Philosophie entschieden wäre? Würden Psychologie, Logik, Ästhetik, Ethik und Soziologie, nach einer streng objektiven und induktiven Methode behandelt, wohl dadurch fähig werden, sich denjenigen Wissenschaften, welche man als die eigentlich positiven bezeichnet, anzugleichen? Würden sie dann noch die Bezeichnung philosophischer Wissenschaften verdienen? Wenn es für eine Wissenschaft, um philosophisch genannt zu werden, genügte, daß sie einen Gegenstand bearbeitet, welcher früher von der Philosophie für sich in Anspruch genommen wurde, so könnten Mathematik, Physik und Biologie mit vollem Recht als philosophische Wissenschaften bezeichnet werden, und es wäre dann unmittelbar klar, daß die Philosophie heute mehr denn je in Blüte steht, da diese Wissenschaften eine bewundernswerte Vollkommenheit erlangt haben. Damit Philosophie wirklich vorhanden ist, müssen diejenigen Probleme in Betracht gezogen werden, welche zu allen Zeiten deren hauptsächlichsten Gegenstand gebildet und ihre Existenzberechtigung begründet haben. Nun aber sind diese Probleme einerseits die Beziehung der Dinge zu den Ideen der Einheitlichkeit, Ordnung und Harmonie, welche dem menschlichen Geist als herrschend erscheinen; andererseits die Bestimmung der menschlichen Tätigkeit, sofern sie mit dem höchsten und vornehmsten Ideal übereinstimmen soll, das uns zu erfassen möglich ist.

Diese Probleme bleiben notwendigerweise und für alle Zeit unbeachtet von einer Philosophie, welche nichts anderes sein will, als eine Gruppe von besonderen Wissenschaften, entsprechend den mathematischen und Naturwissenschaften. Für eine solche Philosophie gibt es, und wird es immer nur Tatsachen geben, d. h. faktische, aus dem Handeln und dem Innenleben des Menschen objektiv ersichtliche Resultate. Für die Experimental-Wissenschaft ist es wertlos zu wissen, was im Grunde dieses Handeln ist, ob es dafür eine Möglichkeit und eine Notwendigkeit gibt, ob es einen Zweck hat, und ob es einen Wert und eine Vervollkommnung in sich trägt.

Wenn also die Philosophie als allgemeine Synthese der Wissenschaften, wohl einen philosophischen, aber keinen vollwissenschaftlichen Wert in sich trägt, so kann die Philosophie, in einzelne philosophische Wissenschaften umgesetzt, ohne Zweifel einen Platz unter den positiven Wissenschaften einnehmen, aber sie verdient dann nicht mehr den Namen Philosophie. Weder auf die eine, noch auf die andere Weise gelangt man dazu, den Gedanken einer eigentlich wissenschaftlichen Philosophie zu verwirklichen. Man muß darauf verzichten, die Philosophie auf einem analytischen Weg aus der Wissenschaft abzuleiten. Wissenschaft erzeugt, rechtfertigt und erlaubt immer nur Wissenschaft. Mit der Wissenschaft als dem einzigen Maßstab der Erkenntnis in Beziehung gebracht, kehrt die Philosophie entweder rein und einfach in die Wissenschaft zurück, oder wenn sie für dieselbe unauflösbar bleibt, verflüchtigt sie sich wei eine leeres Phantom.

Wenn man sich dazu entschließt, keine andere Form der Wahrheit als die positive, mathematische oder Experimental-Wissenschaft anzuerkennen, so täte man gut daran, den Ausdruck "Philosophie in die Rumpelkammer zu werfen; denn heutzutage kann er uns nur verwirren, weil er uns glauben macht, daß wir durch die Wissenschaft die Wissenschaft überholen können. Aber ist es auch ganz erwiesen? daß es keine Mitte gibt zwischen einer Philosophie a priori, welche behauptet ihre Prinzipien den Wissenschaften aufzudrücken oder deren Dasein zu ignorieren, und einer so genannten wissenschaftlichen Philosophie, welche aus den Wissenschaften, wie die Blüte aus der Pflanze, hervorginge? Gibt es, abgesehen von der dualistische Trennung und der analytischen Verbindung, für unseren Verstand keine andere faßbare Beziehung?


III.

Diejenigen Theorien, welche versucht haben, zwischen der Wissenschaft und der Philosophie eine rein analytische Beziehung herzustellen, sind aus dem Gedanken hervorgegangen, daß die Wissenschaft unsere einzige gültige Art der Erkenntnis ist; und daß folglich die Philosophie, soweit sie eine Erkenntnis zu sein behauptet, nur dann eine wirkliche Existenz hat, wenn sie sich mit der Wissenschaft identifiziert. Ist nun diese Meinung ein bewiesener Grundsatz oder eine Forderung, die noch der Prüfung bedarf?

Es ist bemerkenswert, daß die Philosophie zu allen Zeiten über die Evidenz und Gewißheit, die ihr eigentümlich sind, eine ganz andere Lehre verkündet hat, als diejenige, die man ihr heutzutage auferlegen will. Nicht auf die eigentlich positive Wissenschaft oder auf die reine Erfahrung, die Quelle der Wissenschaft, hat die Philosophie im allgemeinen geglaubt sich stützen zu müssen; sondern auf die Vernunft, insofern sie ein Erkenntnisvermögen ist, klar geschieden von der bloßen Feststellung und Klassifikation der Tatsachen. Wir stehen also vor der Frage, ob es angebracht ist, eine Identität zwischen der wissenschaftliche Evidenz und der vernünftigen Evidenz herzustellen, und ob diese Identität durch die Zurückführung der einen auf die andere erzielt wird. Um es kurz zu sagen, - alle angestellten Überlegungen, um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit nicht-wissenschaftlicher Begriffe zu beweisen, sind überflüssig, nachdam man einmal die absolute Vollkommenheit und Alleinherrschaft der wissenschaftlichen Evidenz als Dogma aufgestellt hat. Soll man nun sagen, daß außerhalb des Bereichs der Wissenschaft notwendigerweise das Leben, das Sein, die Tatsache existieren, welche ihr das Objekt liefern; und soll man daher die Philosophie unter die Dinge einreihen, welche in diesem Sinne als unmittelbar seiend gegeben sind? Wenn also die Philosophie nur eine rohe Tatsache wäre, ein Objekt für wissenschaftliche Untersuchungen, - wodurch würde sie sich dann unterscheiden von der Astrologie oder diesen und jenen trügerischen Spekulationen, welche ebenfalls Tatsachen sind und heute nur noch das Problem einer geschichtlichen, bzw. psychologischen Erklärung bieten, wie sie nämlich bei ihrer Unrichtigkeit eine so unberechtigte Anziehungskraft auf den menschlichen Geist ausüben konnten. Entweder hat die Philosophie irgendeine Beziehung zur Erkenntnis, zur Wahrheit, was sie übrigens immer beansprucht hat, oder sie ist nur, wie man manchmal gesagt hat, eine farblose Poesie, ein im wachen Zustand fortgesetzter Traum. Aber trägt denn jede Erkenntnis auch die eigentlich wissenschaftliche Form schon an sich? Da liegt eigentlich der Kern der Frage.

Man muß zugeben, daß unser ganzes praktisches Leben auf Erkenntnissen beruth, welche wir durch keinerlei Mittel zur wissenschaftlichen Evidenz bringen könnten. Nicht allein im täglichen Leben werden die Tatsachen mehr erraten, gedeutet und konstruiert als wirklich objektiv beobachtet; ja sogar, wenn wir im Handeln überlegen, mischen sich fast immer bestimmend in unsere Urteile Betrachtungen über Nützlichkeit, Annehmlichkeit, Schicklichkeit, Verpflichtung ein; trotzdem denken wir niemals daran, diese Betrachtungen in eine wissenschaftliche Form zu bringen, was übrigens wahrscheinlich unmöglich wäre. Dann sind jene Erkenntnisse, voll von Unendlichkeit und Leben, zwar unheilvoll verwirrend für unser klares Verständnis, aber doch wirklich und wichtig, wie LEIBNIZ zeigte. Man darf die verworrene Erkenntnis nicht verachten: wir leben davon und im Grunde ist sie der Stoff der Wissenschaft selbst.

Erkenntnis ist umfassender als Wissenschaft. Worin besteht denn eigentlich ihre Form? Ist es nicht eben diese selbe Fähigkeit, die wir Vernunft nennen, deren Wirkung sich bis in die kleinsten Schritte menschlicher Tätigkeit verrät, und welche die Philosophie, das höchste Streben menschlichen Nachdenkens, zu definieren und wirksam zu machen trachtet?

Die Wissenschaft ist eine bestimmte Form, eine gewisse Einteilung der Erkenntnisse. Sie ist die Überführung der lebenden und unendlichen Wirklichkeit in eine beschränkte Zahl fester und begrenzter Begriffe, fähig, streng miteinander verglichen und aufeinander zurückgeführt zu werden. Sie ist die handelnde und schaffende Natur, in ein Schauspiel verwandelt, das der Mensch sich gibt, und deren Peripetien [entscheidende Wendepunkte - wp] er vorauszusehen sucht. Die Vernunft hingegen ist menschlicher Verstand, im tiefsten Grund seines Wesens betrachtet, da wo er sich mit der Wirklichkeit und dem Leben vereint. Der wissenschaftliche Verstand oder derjenige Verstand, der sich vom Leben ablöst und es zu analysieren sucht, ist nur eine abgeleitete und künstlich hergestellte Form des Verstandes. An und für sich existiert und lebt der Verstand, beobachtet und schafft, vernimmt und lenkt, zielt ebensosehr auf die Praxis wie auf die Theorie, erkennt durch sein Handeln und handelt durch sein Denkvermögen. Die Vernunft ist der Untergrund für all die Grundsätze, Bestrebungen, die sich der Verstand bei der Berührung mit den Wissenschaften und dem Leben gebildet, definiert und dann verallgemeinert hat. Während sie die Wissenschaft aufbaut und as Leben zu ordnen sucht, regen die eigenen Schöpfungen sie zu weiterer Tätigkeit an. Sie wird sich der Zwecke bewußt, die sie verfolgt; sie richtet sich immer so ein, daß sie dieselben immer sicherer erreicht. Das ist es, was DESCARTES klar erkannte, als er sagte: das Ziel aller Studien müßte sein, den Geist so zu lenken, daß er fähig wird, sichere und wahre Urteile zu fällen über all die Gegenstände, die sich ihm darbieten können.

Und er wußte sehr wohl, daß die Vernunft keine Norm ist, die in der menschlichen Seele schon bereit liegt und die man nur passiv anzuwenden bräuchte. Für seine hauptsächlichste und dauernde Aufgabe hielt er es ja, seine Vernunft auszubilden, indem er ihr beständig sowohl wissenschaftlich bewiesene Wahrheiten als auch Lebenserfahrungen zuführte.

Da sie die Theorie wie die Praxis regiert, wirklich ist, sich selbst erschafft, als dieses Bestimmte erscheint, doch immer beweglich und für neue Bestimmungen empfänglich bleibt, so ist die lebende Vernunft ebensowohl wie die Wissenschaft eine ständige Quelle und Regel der Erkenntnis. So wie die Wissenschaft das für alle Menschen gleichmäßig wahrnehmbare Gesamtbild der Dinge ist, das abzusondern oder aufzubauen dem menschlichen Geist gelungen ist, - ähnlich ist die Vernunft eine Form des Verstandes, die in gewissem Maße allen gebildeten Menschen gemeinsam geworden ist. Zwar enthält sie nicht die der Wissenschaft eigene Art von Objektivität, nämlich die Gewißheit, jede Vorstellung auf sinnlich wahrnehmbare Erfahrungen zurückführen zu können, die unzähligemal durch irgendeinen Menschen wiederholt werden können. Aber sie besitzt eine Art Ersatz für diese Objektivität, in der inneren Übereinstimmung aller Intelligenzen hinsichtlich der Grundformen, wodurch sie sich ausdrückt. Und was die Wissenschaft selbst betrifft, wer könnte mit Bestimmtheit sagen, ob es gerade die äußerliche Tatsache ist, oder nicht vielmehr die innere Übereinstimmung der Intelligenzen, die das letzte Kennzeichen der Objektivität abgibt?

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Wenn also die menschliche Vernunft derart beschaffen ist, bietet sie dem Philosophen einen berechtigten Anhaltspunkt, um zu erforschen, ob die Wissenschaft sich und dem menschlichen Geist genügt, oder ob es außer der eigentlichen Wissenschaft noch für jenes Studium einen Platz gibt, den man Philosophie nennt. Welches ist nun in diesem Fall das Verhältnis der philosophischen Forschungen zu den wissenschaftlichen Forschungen?

Wenn die dogmatische Gebärde, mit der die Wissenschaft ehemals auftrat, berechtigt wäre und sich aufrechterhalten könnte, dann müßte sich die Philosophie allerdings bescheiden, unter der Herrschaft der Wissenschaft so dahinzuleben. Die Wissenschaft verschafft in der Tat dem Menschen eine Ehrfurcht gebietende Sicherheit. Wenn diese Gewißheit nicht nur von der Gleichartigkeit unserer Erfahrungsbegriffe, sondern auch selbst von den Grundlagen des Seins gilt, dann erscheint es völlig wertlos und töricht, auf einem anderen Weg noch andere Lehren über die Natur der Dinge zu suchen. Die wesentlichsten Resultate der Wissenschaft zu zerlegen, zu erklären und auf das praktische Leben anzuwenden, - darauf muß sich die Aufgabe derjenigen Philosophie beschränkten, die sich einer Wissenschaft nicht bloß der Erscheinungen, sondern auch des Seins gegenüberfindet, da eine solche Wissenschaft tatsächlich bereits eine Philosophie, eine Metaphysik ist.

Aber das ist heute nicht mehr die Forderung der Wissenschaft. Wesentlich experimentell, sucht die Wissenschaft ihre ausschließliche Arbeit darin, diejenigen Empfindungen aufzuzeichnen, welche die Menschen gleichmäßig unter denselben Bedingungen verspüren, und die Klassen derjenigen konstanten Verbindungen, welche unter diesen Empfindungen auftreten, auf eine möglichst kleine Anzahl zurückzuführen. Von da an bleibt die innerliche Natur der Dinge oder, wenn man so will, ihre Urelemente außerhalb des Arbeitsgebietes der Wissenschaft. Sie betrachtet nur Ergebnisse unmittelbar gegebener Erscheinungen, deren Bedingungen unzählbar sein können, und sucht aus diesen Erscheinungen dann Systeme zu bilden, welche unsere Erfahrungen zusammenfassen und uns helfen, besser die Vergangenheit zu rekonstruierenbzw. die Zukunft vorherzusehen.

Neben denjenigen Fragen also, welche die Wissenschaft behandelt, ist noch Raum für andere Fragen, und es ist erlaubt, auch diejenigen zu prüfen, welche die Philosophie stellt.

Man sagt oft, sie frage sich, was denn diese Dinge-ansich sind, deren äußere Erscheinungen nur die Wissenschaft studiert; und gewiß schien die klassische Philosophie herausfinden zu wollen, worin das absolute Sein besteht, ganz unabhängig von allen Vorstellungen, die wir davon haben. Aber wie die Wissenschaft auf den Dogmatismus verzichtet hat, so hat es wohl auch die Philosophie getan; und wirklich, wenn man ihr Werk in der Vergangenheit betrachtet, bemerkt man, daß sie tatsächlich nichts von all dem ausgeführt hat, was sie zu tun glaubte. Als sie nach dem Ding-ansich zu forschen vorgab, suchte sie augenscheinlich nur nach der Beziehung des Seins zum Menschen, worin es unsere Bestrebungen befriedigt oder hemmt, und wie wir es gebrauchen sollen, um unsere menschliche Bestimmung zu erfüllen. Und das ist in der Tat die eigentlich philosophische Frage.

Während der Gelehrte das gegebene Material der Erfahrung soviel wie möglich zu entmenschlichen sucht und es auf Dinge zurückführt, die einander bestimmen, stellt der Philosophie die alte Frage des Weisen:  ti pros heme;  was bedeutet es für mich? Was ist von meinem menschlichen Gesichtspunkt aus, in den Augen meiner Vernunft, dieses Weltall, von dem ich ein Teil bin? Hat es irgendeine nähere Beziehung zu meinem Verstand und meinen Wünschen, oder ist es nur eine ungeheure Entfaltung roher Kräfte? Ist es nichts als Zufall und blinde Notwendigkeit; oder hängt es durch irgendein dauerndes Band mit dem freien Willen zusammen, den ich in mir annehmen, - derart, daß die Handlung, die ich mir zuschreibe, Wirklichkeit besitzt und zugleich den Dingen irgendwelche Spuren meines Verstandes und Willens aufdrückt? Und weiter, was ist Individualität? Ist sie eine Täuschung und subjektiver Irrtum, wie die als Metaphysik auftretende Wissenschaft glauben machen will; oder läßt sie sich aussöhnen mit der erstaunlichen Teilbarkeit und Unbeständigkeit der Dinge, mit der allgemeinen gegenseitigen Abhängigkeit der Wesen, welche von der Wissenschaft täglich mehr erhellt wird? Was sind die Dinge um mich herum? was bin ich, ich selbst, für meine Vernunft? Bin ich wirklich, und in welchem Sinne? Schließlich, wenn mein Verhältnis zum Weltall fertig gegeben ist, wie kann ich mich des Weltalls bedienen, um mein menschliches Leben zu leben; und worin besteht eigentlich dieses Leben, wenn es nach meinem Willen ein möglichst hohes, schönes, wahres sein soll?

Derartige Fragen stellt beharrlich die Philosophie, sogar angesichts einer Wissenschaft, die, im Vertrauen auf die allgemeine Geltung ihrer Methoden, das Weltall zu erobern strebt. Und zwar drehen sie sich, wie es mir scheint, hauptsächlich um die zwei zentralen Fragen:
    1) Was ist diese Welt, die durch die Wissenschaft von mir losgelöst wurde, - was ist sie für mich?

    2) Was ist meine Bestimmung und was muß ich tun, um sie zu erfüllen?
Trennt sich nun die Philosophie, wenn sie diese Fragen stellt, vollständig von der Wissenschaft, oder bleibt sie, bei allem Unterschied, doch in einer gewissen Beziehung zu ihr?

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Die Philosophie unterscheidet sich von den Wissenschaften, sie unterscheidet sich selbst von der allumfassendsten Wissenschaft, insofern diese hauptsächlich eine reine Theorie ist. Der Unterschied, welcher sie von den Wissenschaften trennt, ist tiefer als derjenige zwischen zwei beliebigen Einzelwissenschaften.

In der Tat, jede Wissenschaft hat die Aufgabe, vom denkenden Subjekt ein Objekt loszulösen, welches faktisch als sich selbst genügend angesehen werden kann, - als würde es in sich selbst die Gründe für seine Entwicklung enthalten. Jede Wissenschaft zielt darauf ab, ausschließlich objektiv zu sein. Jede Wissenschaft schreitet dadurch vom Vielfachen zum Einen, vom Verschiedenen zum Gleichen. Zweifellos ersinnt die Wissenschaft Grundsätze, die geeignet sind, die gegeben Grenzen niederzureißen und die Gebiete zu vereinen. Aber diese geistigen Perspektiven sind immer nur Hypothesen, deren Wert den Tatsachen völlig untergeordnet ist, und die der Geist beständig zu verlassen bereit ist, wenn die Erfahrung sie widerlegt. Es ist völlig zulässig, daß die Wissenschaften füreinander unauflösbar bleiben, wie es AUGUSTE COMTE wollte. Ihre Vollendung besteht nicht darin, sie auf jeden Fall zu vereinigen, sondern mit gleichmäßiger Treue die Unterschiede zu verzeichnen, sowohl diejenigen, die wir nicht reduzieren können, als die andern, die uns zu verwischen gelingt. Wer bürgt uns schließlich dafür, daß die Natur einheitlich ist?

Ganz anders ist das Verhalten der Philosophie. Wie schon die Alten erkannt haben, ist sie nicht bloß Theorie, sondern auch gleichzeitig Praxis: sie ist Liebe zur Weisheit, d. h. zu einem mit dem Tun verknüpften Denken. Sie denkt also gar nicht daran, das Subjektive, Schöpferische, Mögliche, Anders-sein-könnende, das Leben, den Einfluß des Denken und Wollens auf die Tat, auszuschalten. Sie sucht im Gegenteil das Subjektive und das Objektive, das unserer Vernunft zufolge voneinander untrennbar ist, in seiner Vereinigung und festen Zusammengehörigkeit zu erfassen. Sie ist jene tätige Wissenschaft, jenes geistige Leben, dessen Idee die Griechen begeisterte; freilich ist es schwer, davon eine klare Vorstellung zu bekommen, wie der ewige Kampf zwischen dem Intellektualismus und Pragmatismus beweist.

Schon durch den Umstand, daß die Philosophie praktische Wissenschaft ist, Vereinigung von Spekulation und Tätigkeit, legt sie der Einheit einen ganz anderen Wert bei, als die eigentliche Wissenschaft tut. Ohne Zweifel gibt es bei beiden zwischen der Vorstellung von der Mehrheit und der von der Einheit eine Wirkung und Rückwirkung. Aber während die Wissenschaft sich vornimmt, das Eine dem Vielfachen anzupassen, sieht die Philosophie ihren Ehrgeiz darin, das Vielfache dem Einen anzupassen. Die Wissenschaft nimmt keine Kenntnis davon, ob in den Dingen Verstand und Harmonie waltet oder nicht. Die Philosophie forscht nach dem Geist, der danach trachtet zu existieren, zu leben, seinen Einfluß geltend zu machen, zu herrschen und zu vergeistigen. Der Geist des Philosophen  sucht  sich in den gegebenen Dingen wiederzufinden, sich ihrer zu bedienen, um selbst zu wachsen und das eigene Wesen zu vervollkommnen; sich mittels der Dinge zu entwickeln, entsprechend seinem Ideal und seiner Bestimmung. Er kann ohne Zweifel nicht verlangen, ein- für allemal das Einheitsprinzip zu finden, nach welchem er seine Begriffe und seine Entwicklung regeln kann. Im eigenen Gebiet sowohl wie in dem der Philosophie sucht er, tastet er herum, fängt wieder an und schlägt manchmal einen anderen Weg ein. Aber bei allen seinen Schritten zielt er nicht bloß nach einer mehr oder weniger verminderten Vielheit, nach einer mehr oder weniger gelungenen Einzelhypothese, einer empirischen Annäherung an eine verborgene Einheit; sondern vor allem schwebt vor ihm ein Gedanke, einheitlich und allgemein erfaßt, als ein Symbol des Absoluten; von diesem Gedanken steigt der Geist herab zu den einzelnen Dingen und zu seinen eigenen Taten, um sich darin zu verwirklichen und dadurch selber zu wachsen. Die Philosophie ist eine Seele, welche sich einen Leib sucht; und sie schafft sich einen Leib, indem sie in eigenartiger Weise auf die Wirkung der Welt, worin er versenkt ist, antwortet.

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Aber wenn die Philosophie in diesem Sinne sich tief von den Wissenschaften unterscheidet, so folgt daraus keineswegs, daß sie sich entwickeln könnte, ohne bei ihnen in die Schule zu gehen.

Zwar wird die Beziehung zwischen der Philosophie und den Wissenschaften nie analytisch sein dürfen, weder in dem einen noch in einem anderen Sinne. Die Philosophie kann sich nicht schmeicheln, den Wissenschaften ihre Prinzipien zu liefern und den Wert ihrer Ergebnisse zu bemessen. Seitdem die Wissenschaft wesentlich experimentell vorgeht, ist sie praktisch unabhängig. Sie duldet keinerlei anderweitige Voraussetzungen. Sie schafft sich ihre eigenen Methoden, gibt sich ihre eigenen Grundsätze und trägt die Triebfeder ihres Fortschritts in sich selbst. Um das zu sein, was sie sein will, braucht sie nur die Beobachtung der Natur und die Freiheit. Andererseits wäre eine Philosophie, die sich analytisch aus der Wissenschaft ableiten läßt, nur die Wissenschaft selbst, lediglich unter einem anderen Namen. Aber gibt es zwischen Philosophie und Wissenschaft keine andere faßbare Beziehung als ein analytisches Band?

Seit PLATO haben die Philosophen zu zeigen gesucht, daß zwischen der einfachen tatsächlichen Nebeneinanderstellung, die ohne irgendeine ersichtliche Regel lediglich durch den Zufall geschieht, und der eigentlich logischen bzw. analytischen Verknüpfung noch für eine dritte Art von Beziehung Raum bleibt, welche vereint ohne zu identifizieren, die Unterschiede anerkennt und verstärkt gerade dadurch, daß sie dieselben zur gleichen Harmonie zusammenwirken läßt. So greifen PLATOs Ideen ineinander über, vermählen sich miteinander, ohne sich zu vermischen und ineinander zu verschwinden. Und die neuere Philosophie von DESCARTES bis HEGEL ist nur die Verwirklichung dieses Gedankens von einer wirklichen und synthetischen Verknüpfung der Dinge, die sich weder auf die empirische noch auf die analytische Verknüpfung zurückführen läßt. Eine fruchtbare Idee, welche in alle ihre Folgerungen fortgesetzt, uns verständlich macht, wie die Dinge zugleich vielfach und einfach, verknüpft und unabhängig, notwendig und frei sein können. Das ist die eigentlich vernünftige Verknüpfung, zugleich wirklich und kontingent, konkret und mit dem Verstand faßbar (intelligibel), durch ein Gesetz der Übereinstimmung und nicht durch mechanische Notwendigkeit beherrscht.

Wenn man Philosophie und Wissenschaft weder der gegenseitigen Beziehung beraubt, noch sie aufeinander zurückführt, könnten sie dann nicht in jenem feinen und lebendigen Sinn verknüpft sein, den die Metaphysiker zu bestimmen bemüht waren?

Betrachten wir die Wissenschaften nicht allein vom wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus, sondern auch vom eigentlichen Standpunkt der Vernunft, so können wir nicht umhin, eine sonderbare Ungleichheit unter ihnen festzustellen, nämlich was ihr Verhältnis zur Praxis und zum Leben anbetrifft. Während es den mechanischen und physischen Wissenschaften beinahe gelingt, die von ihnen abhängigen praktischen Wirkungen aus ihren abstrakten Begriffen a priori zu regeln, wären die biologischen und moralischen Wissenschaften beständig in Verlegenheit, wenn nicht ihre Lehren bei jedem Schritt gedeutet und vervollständigt würden mit Hilfe der lebendigen Erkenntnis, die anhand des gesunden Menschenverstandes und der Vernunft aus der konkreten Erfahrung gewonnen wird. Ein mathematischer oder mechanischer Begriff wird beinahe adäquat durch andere Begriffe definiert, die entweder wiederum definiert werden, oder sich als so einfache allgemeine Erfahrungen darstellen, daß sie keinerlei Unklarheit zu bieten oder eine besondere Analyse zu verlangen scheinen. Anders steht es mit denjenigen Begriffen, die von den biologischen, psychologischen, moralischen Wissenschaften verwendet werden. Die Gegenstände, mit denen sich diese Wissenschaften beschäftigen, werden nur sehr unvollständig und unvollkommen durch die verfügbaren Begriffe erfaßt; und es ist vielmehr die Rolle dieser Begriffe, an die unmittelbare Erfahrung der Menschen zu appellieren, als sich an ihre Stelle zu setzen. Betrachten wir z. B. das psychologische Gesetz, nach welchem die Assoziation der Gedanken durch die Ähnlichkeit oder Nachbarschaft bestimmt wird. Welchen Wert hätte dieses Gesetz, wenn man nicht hinzufügte, daß die Ähnlichkeit und Nachbarschaft ihrerseits wieder wesentlich vom Zustand des Subjekts, seiner Aufmerksamkeit, seiner Person, seinem eigentlichen Wesen abhängen? Sobald es sich um lebende Wesen handelt, bestehen die Erscheinungen wesentlich in eigenartigen Reaktionen. Der Gedanke einer eigenartigen Reaktion ist an denjenigen eines Subjekts gebunden, welches als solches existiert und auf die rein objektive Wirklichkeit nicht zurückgeführt werden kann. In dem Maße, wie man in der Psycologie diejenigen Funktionen untersucht, welche von den Eigenschaften der rohen Materie fernliegen, muß man notwendigerweise dem Subjekt eine wachsende Wirklichkeit zuerkennen, wenn man nämlich die Erscheinung in ihrer Eigentümlichkeit erfassen und nicht über die Angleichung an die elementarsten Erscheinungen aus den Augen verlieren will. Wenn man z. B. die religiösen Erscheinungen nur durch ihre objektiven Kennzeichen definieren will, so erhält man zwar leicht eine wissenschaftlich klingende Theorie; aber man läßt sich dabei den eigentlichen und eigentlichen Untergrund entschlüpfen. Dieser läßt sich nur dann entdecken, wenn man jene Kennzeichen nicht bloß aus einem objektiven Standpunkt aus betrachtet, sondern auch innerlich und subjektiv erfaßt. Ritus und Dogma erhalten ihre religiöse Färbung nur von einem geheimen und innerlichen Sinn, den ihnen die menschliche Seele beilegt.

So stehen nicht alle Wissenschaften auf derselben Stufe. Sie bilden eine Hierarchie. Unten an der Leiter kann sich die Wissenschaft offenbar in einer rein objektiven Welt bewegen: oben am Gipfel würde sie leer und bedeutungslos erscheinen, wenn sie nicht beständig durch die Erinnerung an subjektive Vorstellungen belebt würde. Was will das anderes besagen als dies: zur selben Zeit, wie sie aus den Dingen eine objektive gleichwertige Vorstellung herauszuziehen sucht, treibt sie uns zu dem Zugeständnis, daß in der wahrhaften Wirklichkeit das Subjektive ebensogut seine Existenz und Wirksamkeit hat wie das Objektive; daß also die Philosophie, welche das Verhältnis vom Objektiven zum Subjektiven aufspürt, ihre Berechtigung hat neben den positiven Wissenschaften. Man kann nicht sagen, daß dieses Studium durch das Studium der Wissenschaften logisch gefordert oder anbefohlen wäre, aber das eine ruft das andere hervor und fordert dazu auf, sich ihm hinzugeben.

Noch eine andere Seite der Wissenschaften treibt uns, wenn unsere Vernunft es erwägt, zum Philosophieren. Die Wissenschaften haben die Aufgabe, von den individuellen Bewußtseinszuständen ein Objekt loszulösen, das wahrnehmbar für sich selbst ist und sich aus sich selbst erklärt. Und teilweise verwirklichen sie ihren Zweck, aber nicht ohne an eine Initiative, an eine selbständige geistige Arbeit zu appellieren, die bei jedem Schritt die Wirklichkeit und Wirksamkeit des subjektiven Lebens bezeugt, und gleichzeitig damit das Dasein einer Welt, die von allen bewußten Wesen ähnlich empfunden wird. Es wäre vergeblich, aus der bloßen Einwirkung dieser äußeren Welt auf die denkenden Subjekte - die ganze Rückwirkung (Reaktion) erklären zu wollen, durch welche welche die Subjekte dahin gelangen, die Welt für sich als etwas Festes und Allgemeines anzunehmen.

Objektivität ist im Grunde genommen Objektivation. Der Geist selbst erbaut sich die Tatsachen und Gesetze, welche dann eine wirkliche Welt schaffen, die unabhängig von seinen Eindrücken und seinem Willen scheint. Sicherlich konstruiert er sie nicht willkürlich, und er ist berechtigt zu glauben, daß seine Konstruktionen eine Beziehung zur innewohnenden Anordnung der Dinge selbst haben; denn sie erreichen in immer wachsendem Maß ihr Ziel, nämlich die Natur zu bezwingen. Aber wenn man das außerordentliche Mißverhältnis betrachtet, das zwischen der Wirkung der Dinge auf den Geist und seiner Rückwirkung auf jene zutage tritt, so kommt man auf den Gedanken, daß der Erfolg der subjektiven Arbeit des menschlichen Geistes wahrscheinlich aus einer Verwandtschaft der Dinge mit dem Geist hervorgeht; viel eher als aus einem unverständlichen Vorgang, bei welchem die Dinge sich selbst, im Innern des menschlichen Bewußtseins, zur Wissenschaft verwandeln würden.

Der Geist in der Wissenschaft setzt sich vor, seine eigenen Spuren aus den Dingen zu verwischen. Es gelingt ihm nur durch scharfsinnige und ausgeklügelte Erfindungen. Und niemals erhält man ein so vollständiges Resultat, daß die Wissenschaft fernerhin sich selbst verfolgten könnte, ohne die Hilfe des lebendigen Gedankens, des geistigen Tastens und des Wettkampfes des Genies. Die Wissenschaft ist eine Schöpfung von Sinnbildern, und diese Sinnbilder, welche niemals den Dingen gleichwertig sind, werden niemals ganz notwendig und endgültig. Niemals kann dieses Werk, wenn es sich aufrecht erhalten und entwickeln will, des Arbeiters entbehren. Die Wissenschaft ist kein für sich bestehendes Wesen; es existiert nur die wissenschaftliche Arbeit, nämlich die endlose Arbeit, um die Dinge dem Geist und den Geist den Dingen anzupassen. Das Allerwirklichste in der Wissenschaft ist der Geist, der sie erschafft.

Der Übergang von der Wissenschaft zum Geist ist also natürlich, und das Nachdenken über die Wissenschaft führt uns zum Philosophieren.

Das ist also das Verhältnis der Wissenschaft zur Philosophie: weder notwendig, noch willkürlich, ihr Verhältnis ist vernünftig und kontingent, kontingent, insofern es eben vernünftig ist.

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Das Verhältnis der Philosophie zu den einzelnen Wissenschaften hat denselben Charakter. Zwischen einer Philosophie, welche die Wissenschaften geflissentlich übersieht, und einer Philosophie, welche nur ein Auszug aus den Wissenschaften sein würde, gibt es ein Mittelding. Die Vernunft begreift, wie die Philosophie sich der Wissenschaften bedienen kann, ohne sich mit ihnen zu vermengen. Es ist heute mehr als je augenscheinlich, daß die Philosophie nicht zu existieren und fortschreiten kann, wenn sie am Fortschritt der positiven Wissenschaften keinen Anteil nimmt. Die Wissenschaften bieten uns die Gesamtheit all derjenigen Formeln, welche sich als die geeignetsten erwiesen haben, uns im Labyrinth der Erscheinungen zurecht finden zu lassen und uns ihrer Erfüllung unserer Wünsche zu bedienen. Aber das ist noch nicht alles. Sie durchforschen auf ihre Art dieselben Gegenstände, womit sich die Philosophen beschäftigen: sie versuchen Erklärungen über das subjektive Leben, über das Denken, das Erkennen, das Handeln, das gesellschaftliche Leben, die Künste, die Wissenschaften, Philosophien, Religionen. Sie streben bei allen Dingen nach bewiesenen oder beweisbaren Begriffen, die sich jedermann, jedem vernünftigen Wesen aufdrängen. Wie sollte man nicht erkennen, daß sich der Kultus der Wissenschaft dem Philosophen sowohl als dem im praktischen Leben stehenden menschen aufdrängt, überhaupt jedem Geist, der unparteiisch die Wahrheit sucht?

Der Philosoph soll sich von der Wissenschaft nähren, wie DESCARTES sagte: die Vervollkommnung seiner Vernunft und die Gründlichkeit seiner Urteile hängen davon ab; aber welchen Gebrauch soll er eigentlich davon machen?

Die Wissenschaft ist, bei genauester Untersuchung, die Erkenntnis des Tatsächlichen. Das philosophische Problem ist der Übergang von der Tatsache zur Ursache und zum Zweck. Diese heterogenen Grundsätze mittels einer wissenschaftlichen Induktion aus der Tatsache herausziehen zu wollen, ist offenbar phantastisch. Aber man kann keine Erklärung eines Textes erfolgreich unternehmen, wenn man ihn nicht vorher so sorgfältig wie möglich untersucht hat. Die Wissenschaften sind das unmittelbar gegebene Tatsachenmaterial für das philosophische Problem. Sich auf ihre Definitionen zu stützen, das ist die ganz notwendige Bedingung, wenn man sie übertreffen will. Wenn man auch kennen kann ohne zu verstehen, so kann man doch nicht verstehen, ohne zu kennen.

Es ist also unmöglich, praktisch eine Abgrenzungslinie zwischen der wissenschaftlichen Arbeit und der eigentlich philosophischen Arbeit zu ziehen. Beim wahren Philosophen trennen sie sich niemals voneinander, und die erstere strebt immer zur zweiten. Das ist der Grund, warum manchmal die philosophische Arbeit ausschließlich auf die Wissenschaft gegründet erscheint. Ein philosophischer Geist, der große wissenschaftliche Erkenntnisse besitzt, wird es niemals unterlassen, seine Gedanken im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Daten, von denen er angeregt wurde, vorzutragen; und wenn man nur auf seine Sprache achtet, könnte man meinen, man habe es mit einem reinen Wissenschaftler zu tun. Aber wenn man seine Gesichtspunkte und Überlegungen etwas näher betrachtet, bemerkt man in jedem Augenblick den Beitrag der Vernunft und des geistigen Lebens, der die reinen Induktionen der Wissenschaft überragt. Der wissenschaftliche Philosophie zielt sicherlich immer nach einer Art Objektivität; aber sofern er philosophiert, nimmer er als Maßstab der Gewißheit nicht mehr bloß die Übereinstimmung seiner Gedanken mit den gegebenen Tatsachen, die doch nur ein negatives Kriterium wäre, sondern die Übereinstimmung seines Verstandes mit allen Intelligenzen.

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Diese Auffassung von Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften wäre schwerlich aufrecht zu erhalten, wenn die Philosophie hauptsächlich als ein System abstrakter Begriffe betrachtet werden sollte, das sich während der Zeiten fortsetzt und entwickelt. Ein System, das will eben die Wissenschaft sein. Die vollendete Wissenschaft wäre ein einziges System, worin alle Formen des Seins, klar definiert, ihren bestimmten Platz hätten. Um vor allem die systematische Form aufzufinden, könnte die Philosophie nichts anderes tun als bei der Wissenschaft einzuspringen und sich schließlich mit ihr zu vermengen oder zu ihr in Gegensatz treten. Die verwirklichte systematische Erkenntnis ist eben die Wissenschaft.

Die Philosophie hat Systeme errichtet. Wer kann ihr nachsagen, daß sie damit Zeit verloren hat? Sie hat Systeme immer dann errichtet, wenn sie von der Wissenschaft losgelöst war, und wenn sie, ihrer Eigenart ungenügend bewußt, eine Form annahm, die nur jener zukommt. Sie verband träge die konkrete Allgemeinheit, die gesuchte lebendige Einheit mit dem abstrakt Allgemeinen, dem unbeweglichen und ein- für allemal gegebenen Einen, das von der Wissenschaft in ihren Hypothesen vorausgesetzt wird. In Wahrheit ist das System, das für die Wissenschaft Ziel und Grenze bildet, für die Philosophie nur Ausgangspunkt und Mittel. Die Wissenschaft schreitet von den Tatsachen zu Gesetzen, vom Vielfachen zum Einfachen, vom Zufälligen zum Notwendigen, von den zerstreuten Erkenntnissen zum System. Die Philosophie bewegt sich von der Formel zur Idee, von der Idee zum Gedanken und zum inneren Leben. Sie steigt vom System, von der Wissenschaft zur eigentlich konkreten Tatsache auf, nämlich zur Tatsache, insofern sie in ihrer innigen Vereinigung mit der Ursache, der freien schöpferischen Tätigkeit, betrachtet wird.

Was heißt das anderes, als daß man über die philosophischen Systeme den philosophschen Geist befragen muß, aus dem sie hervorgehen, der sich in ihnen ausdrückt, aber sie auch überholt? Sicherlich sind die philosophischen Systeme großartige Schöpfungen, worin sich sehr wirkungsvoll der Glaube des Geistes an eine tiefbegründete Harmonie zwischen den Dingen und ihm selbst bekundet hat. Aber ihr hauptsächlicher Nutzen bestand darin, den philosophischen Geist, der sich darin auszudrücken suchte, zu schaffen, zu stärken und zu entwickeln. In dem Maße, wie der philosophische Geist, dank der Vielfältigkeit und Kraft seiner Konstruktionen, sich seiner Natur immer klarer bewußt wird, gibt er sich auch Rechenschaft darüber, daß ihm schließlich Systeme ferner liegen und daß er sich nur einkerkern würde, wenn er sich darauf beschränken wollte.

Der philosophische Geist sucht nicht eine gegebene Einheit zu betrachten, von der eine bestimmte Anzahl gleichfalls gegebener Linien ausgehen, sondern zusammenstimmende und vernünftige Beziehungen von Harmonie zwischen den Wesen zu schaffen. Er stellt, unabhängig von den zufälligen Beziehungen der Koexistenz oder von den notwendigen Beziehungen der Identität, noch andere synthetisch genannte Verknüpfungen auf, nämlich zwischen solchen Wirklichkeiten, die nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Und er muß, wie es scheint, sogar jenen kantischen Begriff von einem synthetischen Verhältnis überschreiten, weil KANT die untereinander verbundenen Wesen doch wieder auseinander bestehen läßt, gleich raumerfüllenden, füreinander undurchdringlichen Körpern. Die metaphysische Verbindung ist kein Faden, der mit seinen beiden Enden an zwei voneinander getrennte Objekte geknüpft wäre. Vielmehr kann man, wie schon die Griechen es sich dachten, ein getreues Abbild dafür in der Harmonie finden, welche aus zwei Noten, dank ihres Unterschiedes und ihrer gegenseitigen Durchdringung, einen ästhetisch ganzen Klang erzeugt:  palintonos harmonie.  Die Philosophie ist nicht die Wissenschaft von dem Einen, sondern von der Versöhnung und vom Einklang. Sie vereint ohne zu vermindern: sie stellt zwischen dem Einen und dem Vielfachen eine Verwandtschaft und einen festen Zusammenhang her.

Dem philosophischen Geist seine Systeme wegnehmen, hieße ihn entkräften und dahinschwinden lassen. Der Geist verwirklicht sich nur im Buchstaben. Aber die Systeme selbst werden sich mehr und mehr geschmeidig und lebensvoll gestalten. Schon bemerken die Geschichtsschreiber der Philosophie ganz klar, daß Geister, deren Gedanken nur unvollkommen in eine systematische Form gekleidet waren: Dichter, Moralisten, Gelehrte, religiöse Geister, Künstler, - ein LUTHER, GALILEI, NEWTON, MONTAIGNE, PASCAL, ROUSSEAU, GOETHE auf die Entwicklung des philosophischen Denkens einen ebenso tiefen Einfluß ausgeübt haben wie die eigentlichen Philosophen. Der philosophische Geist wird sich also immer direkter in seiner geistigen Wirklichkeit offenbaren, indem er sich bald der gelehrtesten Systeme bedient, bald sie verschmäht, ganz wie der Künstler, dessen Genie über den Werken steht, in denen er sich ausdrückt.


IV.

Das ist wohl der Sinn der philosophischen Entwicklung, der aus der Gegenüberstellung der Philosophie mit der Wissenschaft hervorgeht. Dadurch wird nun das Verhalten bestimmt, das unsere Philosophie im Hinblick auf die früheren Philosophien einnehmen muß.

Wenn die Philosophie einzig und allein ein Auszug aus der Wissenschaft sein sollte, dann wäre das Interesse, das uns die alten Systeme der Philosophie bieten, beinahe gleich Null. Die wissenschaftlichen Kenntnisse, worüber die Philosophen der früheren Zeiten verfügten, sind heutzutage nur Rudimente, Unwissenheit oder Irrtümer. Noch mehr, die Philosophen hatten die Naivität, an den Verstand zu glauben und zur Befriedigung ihrer Vernunft zu "denken". Das Studium ihrer Systeme kann für einen reinen Naturwissenschaftler nur ein Zweig der Geschichte vergangener und überwundener Tatsachen sein. Wenn er aus ihnen etwas lernen kann, so könnte es nur eine Betrachtung vom psychologischen Gesichtspunkt aus sein, indem er darin die mechanische Bedingtheit des menschlichen Denkens sucht, wie der Geologe in der Übereinanderlagerung der Schichten, woraus die Erdrinde gebildet wird, die Entfaltung der bei der Erdbildung wirksamen Kräfte zu erkennen sucht. Auch dem Inhalt dieser philosophischen Lehren einige Beachtung zu schenken, wie sie sich nämlich zur Wahrheit verhalten, - ein solcher Gedanke könnte niemals im Geist eines Menschen entstehen, für den es keinen anderen Ausdruck der Wahrheit gibt als die positive Wissenschaft.

Anders ist es, wenn der Geist eine eigene Existenz und eigenen Wert besitzt, und wenn die Aufgabe, die dem Philosophen zufällt, darin besteht: dieses Wertes sich bewußt zu werden und nach bestem Können den erhabensten Gedanken nachzuahmen, den ARISTOTELES folgendermaßen definierte:  noesis noeseos noesis  [Denken des Denkens - wp]. In diesem Fall stellt sich die Philosophie, statt ein ständiger Wiederanfang zu sein (wie es unvermeidlich wäre, wenn sie das Gesamtbild aller gleichzeitigen wisenschaftlichen Erkenntnisse sein sollte), als eine einheitliche Entwicklung dar, als ein wesentlich Ganzes trotz aller seiner Wechselfälle, als ein gleichsam ewiges Werk, wo die Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft durch ein fortlaufendes Band verknüpft ist: die  perennis philosophia  von LEIBNIZ.

Indem sich der Geist sowohl mit den Wissenschaften als mit den Lebenserfahrungen nährt, empfäng er sein eigenes Wesen weder von den einen noch von den andern; aber er wächst und bestimmt sich ebensowohl dadurch, daß er sich den Dingen unterwirft, als durch die Herrschaft, die er über sie ausübt. Und in seiner Entwicklung immer einheitlich, findet er sich, je mehr er die Vergangenheit kennt, desto besser darin wieder, ebenso wie man in der Kindheit eines Menschen, wenn man alle Einzelheiten durchforscht, ihn in gewissem Maße vorgebildet sieht. Das Studium der großen Philosophen wird also dadurch, daß sich die Philosophie immer enger mit den Wissenschaften vereinen wird, keineswegs sein Interesse und seinen Nutzen verlieren. Es ist die Eigenschaft des Geistes, sagt GOETHE, daß er den Geist ewig anregt.
LITERATUR: Emile Boutroux, Wissenschaft und Philosophie, Logos, Bd. 1, Tübingen 1910/11
    Anmerkungen
    1) Im Original steht  science;  gemeint ist die "exakte" Wissenschaft. Der Übersetzer glaubte, für den Anfang den Ausdruck "Naturwissenschaft" setzen zu sollen. Im Fortgang des Textes versteht man, nach diesem Präzendenzfall, unter "Wissenschaft" immer die "exakte". [Anm. d. Übersetzers]